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ZWISCHEN LIEBE UND ZOFF
Oft ist die Verbindung zu Bruder oder Schwester die längste Beziehung unseres Lebens. Obwohl das Geschwisterverhältnis individuell und in jeder Familie anders ist, findet es immer auf einer ganz besonderen Ebene statt. Doch was macht dieses einzigartige Band aus? Wir haben verschiedene Personen dazu befragt – und festgestellt, dass man für solche Gefühle gar nicht zwingend verwandt sein muss.
GESCHWISTERBANDE
GESCHWISTER SIND VERSCHIEDENE BLUMEN AUS DEMSELBEN GARTEN.
Unbekannt
Geschwisterkinder sind sozialer und teilen gerne, müssen sich aber stärker durchsetzen. Einzelkinder sind verwöhnt und nicht konkurrenzfähig.“ Solche Vorurteile hört man immer wieder. Doch diese Thesen sind unzutreffend und schon lange widerlegt. Die Wahrheit ist nämlich: Die Geschwisterkonstellation bestimmt nicht schon im Vorhinein, welche positiven und negativen Charaktereigenschaften wir ausbilden werden, sondern ist nur einer von vielen Teilen der individuellen Entwicklung. So mag es für das Erlernen von erfolgreichem menschlichem Miteinander zwar von Vorteil sein, mit vielen anderen zusammenzuleben, doch kann ein Kind sich ebenso gut sozial entwickeln, wenn der Kontakt zu Gleichaltrigen „nur“ in Kindergarten, Schule und Freundeskreis besteht.
Trotzdem ist es auch nicht von der Hand zu weisen, dass das Vorhandensein von Bruder oder Schwester lebenslangen Einfluss auf unsere Persönlichkeit hat. Denn selbst falls der Kontakt im Laufe des Lebens abbrechen sollte, bleibt oft eine prägende Basis, die durch langes Zusammenleben, die gleiche Erziehung, ähnliche Wesenszüge oder Erinnerungen und Traditionen für immer ein Teil von uns ist.
GESCHWISTER IM GEISTE Darüber hinaus drücken die Worte „Bruder“ und „Schwester“ ein spezielles Verhältnis aus, das nicht zwangsläufig den Verwandtschaftsgrad voraussetzt. Deshalb können sich auch nicht verwandte Menschen als Geschwister bezeichnen – im Geiste sozusagen: Berühmtestes Beispiel sind Winnetou und Old Shatterhand, die trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft Blutsbruderschaft schlossen, aber auch im Kloster oder in politischen Gruppierungen begreifen sich Menschen seit Jahrhunderten als Brüder und Schwestern, um ihre besondere Verbundenheit untereinander zu zeigen. Alle diese Beispiele haben jedoch eines gemeinsam: Solidarität und eine ähnliche Gesinnung, die so tiefgreifend sind, dass sie über Freundschaft hinausgehen.
Wie unterschiedlich eine Geschwisterbeziehung aussehen kann, erfahren Sie auf den folgenden Seiten in unseren Porträts. Dabei erzählen uns unsere Interviewpartner, was sie besonders an der Beziehung zu ihren Brüdern und Schwestern schätzen, aber zeigen auch, dass diese nicht selbstverständlich ist und man nicht unbedingt immer zusammenfindet. ›
VON SCHWESTERN UND BRÜDERN
Ein großes Stück Arbeit
Mein Vater und seine erste Frau hatten bereits Anfang der 1970er eine Familie mit zwei Töchtern und einem Sohn, die kurz darauf auseinanderbrach. Ende der 1970erJahre kamen dann mein Bruder und ich zur Welt. Wir wohnten trotzdem alle in der Nähe und von unserer Erdgeschosswohnung konnten wir quer über die Gärten hoch zur Wohnung meiner Halbgeschwister und ihrer Mutter schauen. Mit meinem Halbbruder hatte ich so gut wie nichts zu tun, das Verhältnis zu den Mädchen war aber gut und ich war gerne bei ihnen oder sie bei uns. Wir verbrachten Wochenenden und Ferien gemeinsam. Welches Kind hätte nicht gerne zwei ältere Schwestern, die einen später sogar zu sich in ihre WGs einluden, wo man Filme gucken, Süßigkeiten essen und sogar übernachten durfte. Aber es gab auch Neid und Eifersucht, die Beziehung zwischen meinem Vater und meinen Halbschwestern wurde in den folgenden Jahren immer schwieriger. Im Erwachsenenalter versuchte ich zwischen ihnen zu vermitteln, doch da dies nicht gelang, distanzierte ich mich langsam von den beiden Frauen. Es war alles zu kompliziert geworden.
Als mein Vater vor zwei Jahren im Sterben lag, kamen meine Halbschwestern ins Krankenhaus – mein Bruder, meine Mutter und ich waren die ganze Zeit schon bei ihm. Da kam uns der Gedanke, unseren Halbbruder informieren zu müssen, obwohl dieser nie eine Beziehung zu unserem Vater hatte aufbauen können und wir alle kaum Kontakt zu ihm hatten. Nachdem wir ihm eine Nachricht hinterlassen hatten, stand er plötzlich am Krankenbett. Mein Bruder und ich waren sehr berührt, plötzlich hatten wir das Gefühl, einen lang vermissten Bruder wiederzusehen. Man unterhielt sich vorsichtig, tastete sich aneinander heran, hatte die Hoffnung, dass man sich nicht sofort wieder aus den Augen verlieren würde. Noch dazu sah er unserem Vater so ähnlich, wie eine jüngere Version. Mein Vater reagierte sehr emotional auf diesen Moment. Danach schlief er wieder fest ein und wurde auch nicht wieder wach.
Mit einer meiner Halbschwestern halten wir seit dem Tod meines Vaters weiter Kontakt, die andere hat sich von uns abgewandt und meinen Halbbruder haben wir leider nicht wiedergesehen.
Als Kind dachte ich, wir wären trotz der besonderen Situation irgendwie alle für immer zusammen. Jetzt weiß ich, dass es viel Kraft und Mühe kostet, alles einigermaßen zusammenzuhalten.
Anna Berge
Sind wir zwei oder drei Brüder?
Ich wurde zuerst geboren. Zweieinhalb Jahre später kam mein Bruder zur Welt. Ich war also immer der Ältere, was sich auch gefühlsmäßig nie verändert hat. Natürlich hatte ich mich über das Brüderchen gefreut! Und die Freude hielt auch an: Wir machten alles zusammen. Hatten dieselben Freunde. Fuhren zusammen zur Schule. Waren einfach zwei Brüder, die zusammengehörten. Dann gab es eine (kurze) Zeit, da wollte ich nicht mehr im Doppelpack auftreten. Ich nahm demonstrativ eine Straßenbahn vor meinem jüngeren Bruder zur Schule und versuchte, auch auf dem Schulhof nicht mit ihm zusammenzustehen. Ich brauchte Abstand. Ich wollte „mein Ding machen“. Die Zurückweisung war sicherlich nicht leicht für ihn, aber sie währte nur kurz und ich willigte wieder in meine mir scheinbar zugewiesene Rolle des älteren Bruders ein, der immer bereit war, Verantwortung zu übernehmen. Dann wurden aus zwei Geschwistern auf einmal drei, denn unsere Eltern hatten beschlossen, einen Pflegesohn aufzunehmen. Er war zehn Jahre alt, als er zu uns kam. Das Familienkonstrukt geriet etwas durcheinander: Auf einmal gab es da für meinen damals erst 14 Jahre alten Bruder jemanden, der viel mehr Aufmerksamkeit benötigte und einforderte als er, und ich als Ältester erweiterte mein Verantwortungsbewusstsein um eine weitere Person. Noch dazu, da unsere Mutter auch arbeitete und ich so aus der Rolle des „Kümmerers“ kaum rauskam. Ich glaube, ich konnte die Herausforderung Pflegekind mit Herz und Verstand annehmen. Mein jüngerer Bruder nur mit Verstand.
Matthias Fuchs
Gefunden, ohne zu suchen
Ich bin ein richtiges BilderbuchEinzelkind und fühle mich in dieser Rolle zugegebenermaßen auch sehr wohl. Dass ich dennoch hier einen Text zum Thema Geschwisterbeziehungen schreibe, liegt an meiner besten Freundin Ira. Uns verbinden nicht nur fast 20 Jahre Freundschaft, sondern auch eine Art Urvertrauen, dass wir, egal wie unterschiedlich unsere Leben auch sind, unweigerlich zusammengehören. Und ist es nicht genau diese Gewissheit, die Familie ausmacht? Als Teenager waren wir unzertrennlich und als die ungefähr zwei Jahre Ältere von uns beiden war ich nicht nur diejenige mit den cooleren Freunden, sondern auch die Aufpasserin und die „große Schwester“, in deren Begleitung Ira immer etwas länger ausgehen durfte als sonst. Dass dieser Spitzname sich heute so wahr anfühlt, liegt wohl daran, dass wir nicht nur die großen und kleinen Abenteuer der Jugend miteinander meisterten, sondern auch sämtliche Lebensereignisse, die sich sonst nur im Kreise der Familie abspielen. Ob Konfirmationen, Taufen, Weihnachtsessen oder runde Geburtstage – es gibt immer einen festen Platz am Tisch für mich. Noch heute gehe ich in ihrem Elternhaus ein und aus, als wäre ich tatsächlich das dritte Kind. Genauso ist Ira ein Teil meiner Familie, und als ich vergangenes Jahr ihre Trauzeugin sein durfte, bin ich vor Freude fast geplatzt. Das Mädchen, das ich vor 15 Jahren mit auf seine erste Party genommen habe, hat sein persönliches Glück gefunden. Wir sind gemeinsam erwachsen geworden und ich kann nicht abwarten zu sehen, was uns noch alles erwartet.
Kim Anika Vollrodt
Eine Art Schwestermama
„Eine geht, zwei kommen!“, so fasste es der damalige Leiter unseres Gymnasiums zusammen, nachdem ich Abitur gemacht hatte. Die eine, das war ich. Die zwei, das waren zwei meiner Schwestern, die in die fünfte Klasse kamen, als ich die Schule verließ. Neun Jahre Altersabstand liegen zwischen uns. Ich bin die Älteste, die beiden – Zwillinge – sind die Jüngsten. Meine dritte Schwester liegt dazwischen, sie ist vier Jahre jünger als ich. Mit ihr habe ich Barbie gespielt, als Detektivin ermittelt, unerlaubt Süßigkeiten gekauft und selbstverständlich auch ausgiebig gestritten.
Als meine zwei jüngeren Schwestern geboren wurden, war ich unglaublich stolz. Zwei so zerbrechliche, süße kleine Wesen, um die man sich richtig kümmern konnte. Ich will nun nicht sagen, es wären die perfekten lebendigen Babypuppen gewesen – vielleicht ein bisschen. Ich war jedenfalls gerne eine Art Schwestermama, habe beim Wickeln geholfen, babygesittet, später mit ihnen Fahrradfahren oder Lesen geübt. An einen Streit kann ich mich gar nicht erinnern. Es waren ja die „Kleinen“, die behütet werden sollten.
Mit dem Spruch unseres Direktors wurde mir bewusst, wie groß der Unterschied in mancher unserer Lebensphasen tatsächlich war. Wenn ich mich zurückerinnere, wie erwachsen und unerreichbar damals für mich als Fünftklässlerin die Abiturientinnen und Abiturienten wirkten … Heute sind die beiden Ärztinnen. Ich bin immer noch stolz auf sie – und es ist ein tolles Gefühl, die beiden nun um Rat fragen zu können. Ich glaube, sie genießen das auch.
Susanne Lang
GELIEBTES GESCHWISTERCHEN Zwei Jahre Altersabstand zwischen den Kindern ist ideal, Zwillinge können die Gedanken des anderen lesen und Einzelkinder teilen nicht gern. Um Geschwister ranken sich so einige Mythen, doch sind sie wirklich wahr? Wir legen einmal die Fakten rund um Geschwister auf den Tisch.
TAG DER GESCHWISTER … ist seit 1998 der
10. April
HAST DU GESCHWISTER? Laut Statistischem Bundesamt waren 2019 31 Prozent aller deutschen Minderjährigen Einzelkinder, also fast jedes dritte Kind. Die ZweiKindFamilie ist nach wie vor die häufigste: Knapp die Hälfte der Kinder lebt mit einem Geschwisterkind.
RISIKOVERLIEBTE NESTHÄKCHEN Frank Sulloway und Richard Zweigenhaft, beide USamerikanische Psychologen, fanden 2010 heraus, dass jüngere Geschwister häufiger Spaß an riskanten Aktivitäten hatten und sogar Extremsportarten betrieben. Dies führen sie darauf zurück, dass die Jüngeren mehr dafür tun müssten, die Aufmerksamkeit der Eltern zu erhaschen, und dabei würden sie ihre Neigung zum Risiko entwickeln.
GLÜCKLICHER ALS DU Geschwisterkinder sind glücklicher als Einzelkinder, heißt es oft. Doch das stimmt nicht. Bisherige Forschungen stellten fest, dass auch Mobbing oder Rivalität unter Geschwistern sowie das Bevorzugen eines Kindes durch die Eltern sehr belastend sein und zu psychischen Problemen führen können.
ZWEI JAHRE – NICHT MEHR, NICHT WENIGER Zwei Jahre Abstand galten als der optimale Altersunterschied für Geschwister. Doch das ist erstens inzwischen überholt und zweitens nur ein Mythos und wissenschaftlich nicht belegbar. Schließlich entscheidet jedes Paar selbst, wann der richtige Zeitpunkt für Nachwuchs ist.
ICH SPÜRE DEINEN SCHMERZ Viele Zwillinge behaupten, durch telepathische Kräfte die Schmerzen des anderen spüren zu können. Das konnte jedoch noch nicht wissenschaftlich belegt werden und bleibt daher vorerst noch im Reich der Zwillingsmythen.
ERST- UND ZWEITSCHLAUSTER In einer norwegischen Studie fanden Forscher heraus, dass Erstgeborene durchschnittlich einen höheren Intelligenzquotienten haben als ihre jüngeren Geschwister. Jedoch ist der Unterschied mit lediglich 1,5 bis 2 Punkten so gering, dass er nicht relevant ist.
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