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Linard Bardill
Der Bündner Autor und Liedermacher LINARD BARDILL (64) schreibt und singt für Erwachsene und Kinder, auf Hochdeutsch, Schweizerdeutsch und Rätoromanisch. Zu seinen bekanntesten Kinder-CDs zählt «Luege, was dr Mond so macht». bardill.ch
Foto: Urs Oskar Keller
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Bis auf einen grossen Unbekannten habe ich alle meine Vorfahren kennengelernt: Die Eltern meines Vaters, die Adoptiveltern meiner Mutter und später auch ihre leibliche Mutter. Die Identität des leiblichen Vaters allerdings verschwieg uns diese. Mit etwa 10 Jahren erfuhr ich, dass meine Grosseltern mütterlicherseits nicht mit mir blutsverwandt waren. Diese Entdeckung hat in mir einiges ausgelöst, liess mich die Grosseltern anders wahrnehmen als zuvor. Mir ging plötzlich auf, weshalb ich meine Mutter oft als leidend empfunden hatte. Sie vertraute mir in der Folge an, dass sie stets das Gefühl hatte, ihre Adoptiveltern wünschten sich, sie wäre eine andere. Jetzt verstand ich, weshalb sie so früh von zu Hause weggegangen ist, jung geheiratet hat. Für sie war der Vater ihrer Adoptivmutter, also mein nicht-leiblicher Urgrossvater, die wichtigste Bezugsperson ihrer Kindheit gewesen. Bei ihm fand sie grossen Zuspruch. Ich gewann die Erkenntnis, dass einem Kind ein einziger Mensch genügt, der es bedingungslos annimmt. Und mit diesem Menschen muss man nicht zwingend verwandt sein. Meine drei Geschwister und ich verbrachten jeweils die gesamten Sommerferien bei diesen Grosseltern. Sie sprachen romanisch und waren für uns der Kosmos, in dem wir die Sprache hörten und praktizierten. An die Grosseltern väterlicherseits habe ich unterschiedliche Erinnerungen. Die Grossmutter war eine kleine, zierliche Frau, die sechs Kinder geboren hatte und, während mein Grossvater im 2. Weltkrieg 1000 Tage an der Grenze stand, allein für deren Betreuung und ein Bauerngut sorgen musste. Als ihre Kinder draussen waren, lebte sie nicht mehr allzu lange und ich habe das Gefühl, als hätte sie dies geahnt. Sie wollte in ihrer verbleibenden Zeit keine Enkelkinder betreuen. Ich kann das verstehen. Ich glaube, ich konnte es schon als Kind verstehen. Ihr Mann war der wichtigste Grosselternteil für mich. Als Bauernsohn aus dem Bündnerland konnte er in den Zwanzigerjahren in Deutschland studieren. Er war ein grosser Schiller-Verehrer und wollte deshalb unbedingt in Jena studieren. Für ihn war das der Ort des Idealismus. Er war ein kulturell interessierter Mensch, ein Suchender, Philosoph und Literat. Schliesslich wurde er Sekundarlehrer und Bauer. Damals gingen die Kinder nur von Oktober bis März zur Schule, den Sommer über halfen sie den Eltern. Deshalb brauchte auch er den Nebenerwerb als Landwirt. Später wurde er politisch aktiv, als Grossrat und Landammann. Grossmutter väterlicherseits war der erste verstorbene Mensch, den ich gesehen habe. Ich war etwa acht Jahre alt. Damals war es normal, eine dreitägige Totenwache zu halten, was für mich weder schockierend noch ein anderweitig negativ geprägtes Erlebnis war. Ich empfand das Ganze schon damals als einen sehr natürlichen Vorgang. Als eine Dekade später der Adoptivvater ~
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3 Die Grosseltern väterlicherseits. Grossvater war Sekundarlehrer und Bauer. 4 Die leibliche Mutter der Mutter: Omi. 5 Die Adoptiveltern der Mutter mit Baby Linard.
meiner Mutter starb, wollte ich unbedingt wieder Totenwache halten. In der Zwischenzeit war dieser Brauch allerdings etwas aus der Mode gekommen. So sass ich allein drei Tage und zwei Nächte am Bett meines Grossvaters. Ich habe mit ihm gesprochen, Zeitung gelesen und viel Gitarre gespielt und gesungen. Ich blickte in sein Gesicht und nahm die Veränderungen wahr, was viele metaphysische Fragen in mir weckte. «Was ging weg?», «Ist das bloss die Entspannung der Muskeln oder liegt mehr dahinter?» Diese Erfahrung hat dazu beigetragen, dass ich Theologie studiert habe und mich in Sterbebegleitung ausbilden liess. 1971 trat Omi in unser Leben. Meine Mutter hatte begonnen, nach ihrer leiblichen Mutter zu suchen und fand schliesslich diese lebenslustige Frau. An jeder Hand hatte sie mehrere Verehrer und war noch mit 80 ein kleines Mädchen. Ich erkannte, woher meine Mutter ihr sonniges Wesen hatte und ich meinen gewissen Hang zur Oberflächlichkeit. Meine Mutter sei das Resultat einer Tanzpause gewesen, sagte sie jeweils. Da war Omi 20. Den Erzeuger verschwieg sie uns eisern. Und machte damit das Geheimnis um seine Identität noch grösser. Dieser unbekannte Grossvater war und ist ein schwarzes Loch in meiner Herkunftsgeschichte, das ich erst mit Omis Auftauchen überhaupt wahrgenommen habe. Es beschäftigte mich eine Zeit lang sehr, und er war doch «nur» ein Grossvater. Wie viel mehr musste es meine Mutter beschäftigt haben? Bis zu Omis Auftauchen waren unsere Weihnachten nicht so toll. Meine Mutter war an einem 24. Dezember, 10 Tage nach ihrer Geburt, von ihrer Mutter weg in ein Kinderheim gebracht worden, und obwohl sie daran natürlich keine Erinnerung hatte, wurde sie an Weihnachten immer unendlich traurig. Das hat unsere Festtage geprägt. Mit Omi fiel diese Traurigkeit weg. Tabus müssen angesprochen und abgearbeitet werden. Fallen Tabus weg, werden Weihnachten schön. •