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Braucht es Krisen, um glücklich zu sein?
Solidarität, Ängste, Familienbande: Psychoanalytiker und Satiriker Peter Schneider im Gespräch über das schwierige Jahr 2020.
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Braucht es Krisen, um glücklich zu sein?
Wie bleiben wir zuversichtlich? Braucht der Mensch Regeln?
Von GERALDINE CAPAUL und KARIN DEHMER (Interview) und IRENE MEIER (Illustrationen)
Peter Schneider, braucht es Krisen, um glücklich zu sein? Peter Schneider: Es mag Menschen geben, die erst in Krisensituationen aufblühen. Aber generell? Nein. Allenfalls gibt es ein Glücksgefühl, eine Krise gemeistert oder doch wenigstens heil überstanden zu haben.
Aber dieses Glück ist dann vermutlich nicht von langer Dauer? Ich fürchte nicht.
Glücksmomente sind generell eher flüchtig. Man kann ohne Mühe Verletzungen, Krisen und Momente grossen Unglücks der letzten zehn Jahre abrufen. Wenn es aber darum geht, sich daran zu erinnern, wann man besonders glücklich gewesen ist, gerät man ins Stocken. Weshalb ist das so? Ich vermute, dass es damit zusammenhängt, dass Glücksmomente diffuser sind und die Stimmung wichtiger als das Ereignis selber: Sie sind nicht Erfolgserlebnisse im Gegensatz zu Misserfolgen oder Schicksalsschlägen.
2020 war ein schwieriges Jahr. Ist es unangebracht, wenn wir versuchen, ihm etwas Positives abzugewinnen? Darf ich etwas ausholen?
Gerne. 1969, auf dem Höhepunkt der Frankfurter Studentenrevolte, haben zwei Journalisten des «Spiegel» Theodor Adorno interviewt. Sie begannen ihre erste Frage mit der Feststellung «Vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung ...». Adorno unterbrach sie: «Mir nicht». Man darf bei allem Pandemie-Elend 2020 nicht vergessen, dass in den Jahren zuvor auch nicht alles überall auf der Welt «in Ordnung» war und dass es selbst bei Pandemien nicht einfach ein «Wir» gibt. Für eher menschenscheue Zeitgenossen mag der Lockdown mit dem Homeoffice sogar eine Erleichterung gewesen sein, für manche war die Unterbrechung eingefleischter Gewohnheiten vielleicht eine Gelegenheit, diese zu überprüfen und zu verändern. Aber man sollte trotzdem nicht in diese «Krise als Chance»-Rhetorik verfallen. Für Alleinerziehende oder Eltern in beengten Wohnverhältnissen war das Homeschooling mehr als nur eine Herausforderung, wer um seine Existenz fürchten musste, wird das alles kaum als positiv in Erinnerung behalten. Man muss also immer schauen, wer weshalb und unter welchen Umständen dem Krisenjahr etwas abgewinnen konnte.
Nun hat sich die Situation wieder verschlechtert. Wir wissen, was das bedeuten kann. Macht es dieses
Wissen schlimmer? Oder sind wir nun alle besser vorbereitet? Ich glaube, es ist schlimmer. Im Frühling hatte man den Eindruck, Bundesrat und BAG machten auf eine besonnene Weise ihre Arbeit; es gab für einen kurzen Moment eine solidarische Stimmung in der Bevölkerung. Nun sind diese Illusionen sichtbar zerstört. Die Erzählung von der Maske, die nicht schützt, war eine dreiste Notlüge; kleinteilige Eigeninteressen und Lobbyismus haben sich über epidemiologische Vernunft hinweggesetzt; die Rede von der Eigenverantwortung in einer Pandemie ist so sinnvoll wie der Versuch, die Feuerwehr abzuschaffen und stattdessen jedem einen Feuerlöscher in die Hand zu drücken.
Eigenverantwortung in einer Krise ist also fehl am Platz. Der Mensch braucht Regeln? Nicht «der Mensch» braucht Regeln, sondern «Gesellschaften bei der Bewältigung gesellschaftlicher Aufgaben». Es geht dabei auch nicht einfach um «Regeln», sondern um soziale Institutionen, die funktionieren müssen.
Es ist auffallend, wie sich Gräben auftun zwischen Alt und Jung, zwischen Menschen mit unterschiedlichen Haltungen. Warum war für Sie klar, dass sich die solidarische Stimmung nicht halten kann? Solidarität setzt in einem gewissen Mass gleiche Interessen voraus. Die gibt es aber nicht über eine gesamte Gesellschaft gesehen. Die einen bekommen Kurzarbeitsgeld, die anderen können sehen, wo sie bleiben. Keinen Erwerbsersatz bekommen die, denen man empfohlen, aber nicht befohlen hat, ihr Geschäft zu schliessen.
Ganz konkret: Was raten Sie Menschen, die beim Gedanken an die nächste Zeit in Panik geraten? Was soll ich sagen? Panik ist nie hilfreich – aber ein solcher Tipp ist seinerseits auch meist nicht hilfreich. Die Angst jedenfalls ist berechtigt. Und Panik entsteht dann, wenn man hinsichtlich der Vorsorgemassnahmen, zu welchen einen die Angst anhält, keinerlei Zutrauen mehr haben kann.
Wäre in diesem Fall eine Kopf-in-denSand-Strategie angebracht? So wenig wie möglich über die aktuelle Situation lesen oder nachdenken. Ausblenden, Durchhalten, Abwarten? Kein Mensch ist eine Insel. Man kann sich nicht vom Strom der Nachrichten abkoppeln – ausser man zieht wirklich in die Wildnis, wo einen diese Ereignisse tatsächlich nicht mehr betreffen. Während des Lockdowns hiess es immer, der Mensch sei schliesslich ein soziales Wesen, darum sei es so schlimm, wenn ein Social Distancing gefordert werde. Darüber vergisst man, dass Menschen auch in anderer Weise sozial sind, und zwar in der Weise, dass man ein gemeinsames Fundament von begründeten und begründbaren Anschauungen teilt.
Haben Sie persönlich Angst? Selten, weil ich Situationen meide, in denen ich berechtigterweise Angst haben müsste. Aber ich habe Angst um andere Menschen, wie meinen Vater, der bald 89 Jahre wird und in dessen Strasse es bereits mehrere Covid-Erkrankungen gegeben hat. Oder um meine Frau, die zehn Jahre älter ist als ich.
Besuchen Sie Ihren Vater? Zwischen uns liegen 700 km. Da kann man nicht einfach mal vorbeigehen. Aber wir telefonieren jeden Tag. Mit meiner Frau und meinem Sohn war ich im Spätsommer bei ihm. Wir konnten uns damals nur draussen aufhalten, auf der Autofahrt haben wir Masken getragen. Danach bin ich Anfang Oktober noch einmal alleine zu ihm gefahren, gerade noch rechtzeitig, bevor die Schweiz zum Risikogebiet wurde. ~
Niemand weiss, wie lange die Pandemie noch dauern wird, wann es einen Impfstoff geben wird und wie wir wirtschaftlich davonkommen werden. Dieses Aushalten des «Nichtwissens» ist eigentlich eines der grössten Probleme, oder? Dem kann ich nicht widersprechen. Allerdings müssen wir uns nicht auf eine völlig unbestimmte Zeit einstellen. Dass verschiedene Impfstoffe im Lauf des nächsten Jahres zur Verfügung stehen und vermutlich auch Medikamente gegen Covid-19, ist höchstwahrscheinlich. Ich glaube aber, dass noch ein weiteres Unbehagen eine Rolle spielt: nämlich die Frage nach der Normalität, zu der wir angeblich baldmöglichst zurückkehren wollen oder sollen. Dieses Konzept der Normalität ist bröckelig geworden. Diese Krise ist ein Ereignis, das die Lebensgewohnheiten erschüttert hat, bei manchen Menschen vielleicht nachhaltig. Sie haben sich von ihrer sogenannten Normalität entfremdet. Nicht alle, die im Homeoffice waren, wollen beispielsweise nichts lieber, als ihre Arbeitskollegen wiederzusehen.
In unserem Umfeld nehmen wir Ermüdungserscheinungen wahr. Wie bleiben wir zuversichtlich und vor allem motiviert? Warum sollte man in einer verschissenen Situation auch unbedingt motiviert bleiben? Um zuversichtlich zu bleiben, kann man sich sagen, dass es oft – aber leider eben nicht immer – besser kommt als in den schlimmsten Befürchtungen. Wer sich besonders motivieren mag, kann ja jeden Morgen laut singen «Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei ...»
Würde mir die momentane Situation psychisch ernsthaft zusetzen, wäre diese Antwort jetzt ein etwas zynischer Schlag ins Gesicht. Sie ist nicht zynisch, aber sarkastisch gemeint. Der Zwang «zuversichtlich und motiviert» zu bleiben, scheint mir eher zynisch zu sein.
Kann es sein, dass uns diese Monate, in denen wir uns von unseren Eltern, die Kinder sich von ihren Grosseltern fernhalten mussten, noch näher zusammengebracht haben? Auch das dürfte eine sehr individuelle Angelegenheit sein. Ehepaare, welche ohnehin die Zweisamkeit lieben, haben diese Monate vielleicht auch geniessen können. Wer vielfältige soziale Kontakte braucht, hat sicher gelitten. Wer auch sonst nach Ausreden sucht, um sich vor einem Besuch der alten Eltern zu drücken, konnte erleichtert aufatmen; wer seine Eltern vermisst, dem ist diese Zeit schwergefallen.
Grundsätzlich: Schwächen schwere Zeiten bereits schwierige Familienbande? Das ist wohl so. Ausser in romantischen Komödien. Die bringen Familienmitglieder zusammen, die schon vor dreissig Jahren den Kontakt abgebrochen haben.
Viele Grosseltern, die aufgrund der Empfehlungen auf ihre Enkel verzichten mussten, sprechen von gestohlener Zeit. Kann man diese verlorene Zeit gefühlt aufholen? Mithilfe von Zoom, Facetime, Telefon kann man die Zeit der Trennung sicher erträglicher gestalten. Ich lese zum Beispiel meinen Göttimeitli jeden Abend, wenn ich nicht zu lange in der Praxis arbeite, eine Gutenacht-Geschichte per Facetime vor. Solche Gewohnheiten machen es leichter.
Unsere Kinder sind in der Kita und in der Schule von Erwachsenen mit Masken umgeben. Auch beim Einkaufen und im öffentlichen Verkehr. Was macht das mit unseren Kindern?
Vermutlich nichts Schlimmes. Aber ich wette, dass irgendwelche Theorien durch die Medien geistern, dass Kinder, die nicht den ganzen Tag unverhüllte Erwachsenengesichter sehen, in der Entwicklung mindestens fünf Jahre zurückbleiben und zehn Jahre früher sterben.
Wird diese Corona-Zeit unser Miteinander in der Gesellschaft nachhaltig verändern? Jedenfalls nicht so gravierend und nachhaltig, wie sich das manche Menschen beim Ausbruch der Pandemie gewünscht haben. Hoffentlich aber wird man ein paar Lehren zur Vorsorge für ähnliche künftige Ereignisse ziehen.
Nun war 2020 vor allem, aber nicht nur Corona. Viele von uns hatten und haben schöne Erlebnisse und Begegnungen wie in jedem anderen Jahr auch und stecken diese Pandemiezeit weg. Verglichen mit anderen Ländern geht es uns immer noch gut. Was halten Sie generell von etwas mehr stiller Dankbarkeit? Dem Bundesrat gegenüber oder gegenüber dem Schicksal? Wir haben eine der höchsten Infektionsraten in Europa! Aber Sie haben insofern recht, dass man aufpassen muss, nicht in einen Dauerempörungsmodus zu verfallen. •
PETER SCHNEIDER (63) ist Psychoanalytiker mit eigener Praxis in Zürich und Satiriker. Er lehrt an den Universitäten Zürich und Berlin, ist Kolumnist sowie Autor. 2020 erschienen von ihm drei Bücher: «Normal, gestört, verrückt – Über die Besonderheiten psychiatrischer Diagnosen» (Verlag Klett-Cotta), «Follow the Science? Plädoyer gegen die wissenschaftsphilosophische Verdummung und für die wissenschaftliche Artenvielfalt» (Verlag Edition Tiamat) sowie «Jungbleiben ist auch keine Lösung – Ein Buch übers Älterwerden» (Verlag Zytglogge). peterschneider.info
Foto: Claudia Herzog