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Anderswo: Katalonien
Ich treffe den 74-jährigen Ramon mit seinem Enkel Neil, der nächste Woche 2 Jahre alt wird, inmitten seiner Olivenplantage am Rand der Stadt Esparreguera. Neil kann die Bezeichnung für Grossvater auf katalanisch, avi, nicht aussprechen, und nennt ihn stattdessen Mom (abgeleitet von Ramon). Neils Tante Marta (33) hat ihn von der Schule abgeholt und hierhergebracht. Da sie als Managerin eines Reisebüros momentan viel Freizeit hat, kann sie ihrer Schwester Anna (43) mit der Betreuung von Neil unter die Arme greifen. Die Corona-Massnahmen sind in ganz Spanien sehr strikt, ausserhalb vom Zuhause muss immer eine Maske getragen und der Abstand eingehalten werden. Aus diesem Grund treffen wir uns für das Interview draussen. Das bedeutet leider, dass Ramons Frau Francina (71) nicht dabei sein kann. Sie hat starke Knieschmerzen und kann kaum gehen. Während des dreimonatigen Lockdowns in Katalonien sahen die Grosseltern ihre Enkelkinder nicht persönlich. Doch dank der modernen Technik konnten sie jeden Abend über Videotelefonie Kontakt halten, obwohl Ramon diese Alternative gar nicht gefiel. Für ihn ist das, besonders mit dem kleinen Enkel Neil, kein zu vergleichender Ersatz für physisch zusammen verbrachte Zeit. Ramon hat hier in Esparreguera 350 Olivenbäume stehen. Ende Oktober werden die Oliven geerntet und weiter zu Olivenöl verarbeitet. Für jedes seiner drei Enkelkinder hat er einen Baum gepflanzt. Der für Neil ist noch ganz klein, wohingegen jene von Paul (14) und Bruna (11), seinen beiden anderen Enkelkindern, schon bald erntereif sind. Zu seinem Bedauern sieht er Paul und Bruna nicht mehr regelmässig. Sie leben in Barcelona, und sein Sohn Xavier (50) hat sich von der Mutter der Kinder getrennt. Ramon sagt, das Verhältnis sei nicht ganz einfach für die Familie, das scheint ihn zu belasten. Trotzdem versucht er zumindest in den Schulferien, immer ein paar Tage gemeinsam mit Paul und Bruna zu verbringen. Ramon ist mit seinen 74 Jahren noch sehr aktiv und liebt die Natur, deshalb
KATALONIEN (SPANIEN)
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Einwohner 7,6 Mio (Spanien total: 46,9 Mio) Fläche 32 000 km2 (Spanien total: 506 000 km2) Hauptstadt Barcelona Sprache Katalanisch und Spanisch Politische Situation Aufgrund der historischen, sprachlichen und kulturellen Unterschiede zum übrigen Spanien sieht sich Katalonien als eine eigene Nation. Das katalanische Regionalparlament erklärte nach einem umstrittenen Referendum Katalonien am 27. Oktober 2017 zu einer unabhängigen Republik, die von der internationalen Staatengemeinschaft nicht anerkannt wurde. Die Katalonien-Krise schwelt weiter. Wirtschaft Katalonien ist eine hochindustrialisierte Region. Bedeutende Zweige sind Pharmazie, Automobilbau, Textilien sowie der Tourismus. Patum de Berga Die Patum findet jedes Jahr in der Fronleichnamswoche in Berga in der Provinz Barcelona statt. Sie ist eine Mischung aus Volksfest und Strassentheater, hält Unesco-Welterbestatus und ist gleichzeitig eine riesige Party. Protagonisten der Festlichkeit sind kunstvoll inszenierte Fabelwesen wie Drachen, Riesen, Zwerge und Dämonen, die auf den Strassen tanzen. Lebendige Krippen Dezember und Januar widmet sich Katalonien den Krippenspielen, in denen Szenen der Weihnachtsgeschichte mit lebendigen Personen nachgestellt werden – sei es im historischen Viertel eines Dorfes, in einem Wald, an der Quelle eines Flusses oder auf einem Landgut. ~KD sind seine Lieblingsaktivitäten mit den Enkelkindern Wandern, Pilzesuchen, Fischen und Zelten. Als er davon erzählt, fällt ihm eine Geschichte ein, bei der er lachen muss. Als er Paul und Bruna einmal für ein Wochenende mit in die Pyrenäen zum Fischen genommen hatte, waren sie mitten in der Nacht mit ihren Schlafsäcken aus dem Zelt gegangen, nachdem sie eine gefühlte Ewigkeit versucht hatten, ihren laut schnarchenden Grossvater zu wecken. Neil ist zwar noch etwas zu klein für lange Ausflüge mit Ramon, da er aber ebenfalls in Esparreguera wohnt, sehen sie sich drei- bis viermal die Woche. Entweder zum Abendessen oder spontan für einen Spaziergang oder Spielplatzbesuch, wenn Marta oder Anna ihn anrufen, wenn sie mit Neil in der Stadt unterwegs sind. Ramon und Francina haben keine verbindlichen Verpflichtungen, was die Enkelkinderbetreuung anbelangt. Ramon betont aber, dass sie wenn immer möglich einspringen würden, wenn Hilfe gebraucht wird. Er findet die Kinderbetreuungsangebote der heutigen Zeit sehr wichtig, da oft beide Elternteile die Möglichkeit auf Arbeit haben, was zu seiner Zeit leider nicht der Fall gewesen sei. Ausserdem sieht er die Chance, dass Kinder voneinander lernen, indem sie mit Gleichaltrigen spielen und sprechen. Im Zusammenhang mit dieser Offenheit für Veränderung erzählt Ramon, dass ihm früher, unter dem spanischen Diktator Franco, neben vielem anderem auch der Katholizismus aufgezwungen worden war, und als er endlich frei entscheiden durfte, war für ihn die Loslösung von der Religion gleichbedeutend mit Freiheit. Obwohl aus diesem Grund seine ganze Familie nicht mehr religiös ist, lebt er trotzdem weiterhin nach den Werten, die er von seinem Vater mit auf den Lebensweg bekommen hat, und gibt diese nun an seine Kinder und Enkelkinder weiter. Beispielsweise sei ihm Ehrlichkeit sehr wichtig, und dass man Träume verfolgen kann. Aber auch das Bewusstsein dafür, dass das Verwirklichen dieser Träume harte Arbeit ist. •