MAGAZIN FĂœR RELEVANZ UND STIL
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Die Beistelltisch-Revolte Kritik ohne Kritik Risikofaktoren
MAGAZIN FĂœR RELEVANZ UND STIL
#6
Die Beistelltisch-Revolte Kritik ohne Kritik Risikofaktoren
Ronald Weller ronald@hate-mag.com
Johannes C. Büttner johannes@hate-mag.com
Gestaltung
Henning Lisson henning@hate-mag.com
Nina Scholz nina.scholz@hate-mag.com
Jonas Gempp jonas@hate-mag.com
Redaktion
Registernummer 34/518/53630
10245 Berlin
Krossener Straße 7
R+S Media
Herausgeber
10245 Berlin
Krossener Straße 7
Magazin für Relevanz und Stil
Hate
Kai Satake (Dog, Harajuku)
Sameheads
Ausstattung
Steffen Köhn
Modeproduktion
Phillip Kaminiak
Kenneth Bamberg, Johannes C. Büttner, Alexander Gehring,
Fotografen
Dora Mentzel, Jakob Schmidt, Helge Peters, Nisaar Ulama
Steffen Köhn, Moritz Jasper Kuhn, Björn Lüdtke, Neale Lytollis,
Matthias Appenzeller, Laura Ewert, Wolfgang Frömberg, Diane Hielscher,
Autoren
Jochen Werner
Schlussredaktion
Robert Härtel robert@hate-mag.com
Anzeigen
Wer HATE für 5 EUR bestellt, erhält ein auf 200 Stück limitiertes Post von JUST.
Die nächste Ausgabe erscheint am 14. Mai 2010
Auflage: 2.000
Adri, Emi, Jenny, Maria, Michael, Nicky, Nils, Raki, Sarasa
Und Den Models:
Laura Ewert und Carola
Michael Jean Kummermehr, Artur Schock, Lars Lewerenz, Daniela Siemon,
Fraenzen Texas, Ruede Hagelstein, Michael Nadjé, Carlos de Brito,
Clemens Pavel, Sven Dohse, Tony Ettelt, Mr. Ties, Ricardo Esposito,
Deborah Causton, Sandra Molnár, Venus Fort Odaiba, Wesley Walters,
Hate Dankt
山口洋佑(Yamaguchi Yosuke)
Lorenz Klingebiel, 湯本佳奈江 / Yumony(Yumoto Kanae),
Illustration
Harry Dukes, Leo Dukes, Nathan Dukes
Beatrium-Aoyama
Styling
WHAT WE Nina Scholz Tatort Hassort
„Ohne positiven Gehalt kann man in dieser Welt weder günstige,
Laura Ewert Vor & Zurück: aber das Gift & das Nichts
noch feindliche Passionen erwecken. Es gehört Feuer dazu, um die Menschen zu entzünden, sowohl zum Haß als zur Liebe.“
Helge Peters Die Beistelltisch-Revolte
Heinrich Heine
Die Herausgeber
Nisaar Ulama Kritik ohne Kritik
Alexander Gehring
Laura Ewert Ich komm nicht los von mir
Nina Scholz Televising my Generation
Matthias Appenzeller Ode an den Schwaben
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THIS ISSUE: HATEsechs
Jakob Schmidt Frühzeitige Förderung
Neale Lytollis Mark Reeder – It’s Mark with a ‘k’!
Diane Hielscher Risikofaktoren
Björn Lüdtke Die Zukunft wird Gaga
Steffen Köhn Black like him
Wolfgang Frömberg Mind the Gap
Johannes C. Büttner Odaiba Mall Rats
Dora Mentzel Digitale Kulleraugenhölle
Sameheads
Moritz Jasper Kuhn & Jonas Gempp Briefwechsel
HATEsechs
Tatort Hassort:
von Nina Scholz
„Wir fahren am Wochenende mal raus.“ ist die schlimmste Antwort, die ich mir auf die Frage „Was macht ihr am Wochenende?“ vorstellen kann. Ikea, Kaffee und Kuchen bei den Eltern, Operationen, keine Antwort ist so schlimm wie das Bild vermeintlich gestresster Großstädter, die am Wochenende raus aus der Stadt in die Natur müssen. Vielleicht ist die Frage auch schon falsch gestellt, denn bei Leuten, die ihren Monat in vier Wochen und dann noch vier, wenn sie Glück Vielleicht ist die Frage auch schon haben auch mal fünf Wochenenden einteilen, passt wohl auch die Dichotomie Stadt gleich Hektik, Natur gleich herrfalsch gestellt, denn bei Leuten, die ihren liche Entspannung. Was für ein schrecklicher Irrtum, denn es ist genau anders herum: In der Stadt geht der Kopf Monat in vier Wochen und dann noch an, da gibt es Menschen (na gut, das kann auch ein Nachteil sein), Buch- und Plattenläden, Restaurants, Cafés, vier, wenn sie Glück haben auch mal fünf Ausstellungen, Häuser und meist gerade Straßen. Kurz: Zivilisation. Im Wald gibt es Bäume, Tiere, Wochenenden einteilen, passt wohl auch Ungeziefer und das Schlimmste: Ruhe. Vor einigen Jahren war ich im Urlaub in Toronto. Das die Dichotomie Stadt gleich Hektik, Natur ist eine wirklich schöne Stadt und ich hatte auch einen fabelhaften Urlaub, bis ich am vorletzten Tag auf die gleich herrliche Entspannung. verrückte Idee gekommen bin, mir diesen sagenumwobenen kanadischen Wald, der aus Funk und Fernsehen bekannt ist, mal näher anzusehen. Ich bin also mit dem Bus in seine Richtung gefahren, in ihn reingelaufen und musste mich dann erstmal mit meinem glücklicherweise mitgebrachtem iPod und Zigaretten von der Ruhe und den Grün- und Brauntönen ablenken. Ich hab es dann noch eine Weile auszuhalten versucht, aber kurz bevor ich beinahe an Langeweile gestorben wäre, bin ich zurück in die Stadt gefahren. Immer schön in der Nähe der surrenden Autobahn. Ehrlich, ich versteh nicht, was die Leute in diesem Wald suchen. Ist das nicht auch einfach nur einer jener verrückten Ideen, die uns zurück zum ominösen Menschsein bringen soll, wie barfuss durch Schlamm laufen, Kamine anzünden und Cremes benutzen, die nach Mittelaltercholera stinken? Es ist ja so, dass die Stadt alles bietet, also auch Wälder, die heißen bloß Parks und man bekommt vor Augen gehalten, dass nicht der liebe Gott, sondern eine andere höhere Gewalt, wie zum Beispiel die Stadtverwaltung, sie angelegt hat. Das scheint für manche Leute blöd zu sein, für mich ist das eine beruhigende Gewissheit, weil ich meine waldängstlichen Neurosen sehr gut im Zaum halten kann, wenn ich weiß, dass das nächste Trottoir keine fünf Minuten entfernt ist. Sollten eine Decke und Bier vorhanden sein, setze ich mich sogar mal hin. Im Kleinen wie im Großen haben diejenigen, die gerne die Stadt gegen den Wald ausspielen, nichts
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verstanden. Im Kleinen scheinen sie selbst in der Vielfalt, die Städte anzubieten haben, nichts mit sich anfangen zu können. Dafür muss man ja nicht mal rausgehen, denn selbst auf einem Sofa liest es sich gemütlicher und konzentrierter als auf einem Ast. Im Großen wird ja immer vom Moloch gefaselt, von dem Dschungel, der bösen Stadt, die den Mensch entfremdet habe. Von was denn? Von im Wald in Hütten leben und kein Internet haben? Und dann immer diese tollen Vorschläge, dass man die Bäume anschreien und seine ganze Wut im einsamen Wald rausbrüllen soll. Das ist ja nun der Gipfel der Blödheit. Ich bleib weiterhin in der Stadt und brülle die Leute an, die schuld sind an meiner miesen Laune. Und wenn der Wald selbst schuld ist, dann trete ich stellvertretend gegen den Baum in meiner Straße. Der versperrt mir sowieso die Sicht.
K ampfhähne Fotografie: Kenneth Bamberg
Douglas
Tatort Hassort: Wald Nina Scholz
HATEsechs
VOR & ZURÜCK:
von Laura Ewert
Nichts los im Identitätssystem. Schon scheiße. PsychopathenCheck-Liste gecheckt. Ohne-Uns-Liste unterschrieben. Dreimal hintereinander Nullerjahre gesagt. Meridianpunkte massiert. Außerdem an der Wahl zum endgültigen Kult-Kanzler teilgenommen. Nichts passiert. Hass-Filter ausgeschaltet und Konzeptalbum eingelegt. Dann: Drogen schlecht finden ist die neue Avantgarde, möchte man dem Bofrost-Vertreter, der am Morgen an der Tür klingelt, entgegen rufen und schafft doch nur: ich habe einen begehbaren Kühlschrank aber ohne Gefrierfach. Irgendjemand sagte: in Florida ist ein Rentner mit dem Auto durch die Glasfassade eines Restaurants gefahren und hat dann ein Spiegelei bestellt. Inkompatibilitätslisten werden im Kopf durchgegangen und festgezurrt. Sicher ist sicher. Summwörter werden anstatt Fettcreme in den verfilzten Schal gefeuchtet. Würde der Wald auch Fragende verschrecken? Es war der Winter, in dem plötzlich das Breitbandloch auftauchte. Aus dem Nichts. Aufgefüllt mit Mentalitätsskrupeln, wurde das Löschen der Kontakte bei den Sozialnetzwerkpflegern zur nächsten Sucht. Powernutzer wurden gegen Strangleichen ausgespielt. Denn auch die ewige Suche nach den geeigneten Anschreibepronomen führte zu nichts. Hallo? Hey na? Da machte sich dann die Erziehungslosigkeit bemerkbar. Nicht, dass man Mails oder Einträge ähnlich beginnt wie Studentenmädchen, die ihren Rock über der Hose tragen und gerne mal zur Spätverkaufsparty gehen. Das wäre nicht mehr glatt zu pixeln. Via Zweitnetz wird inzwischen zu gesellschaftlichen Höhepunkten aufgerufen. Immer online, nie mehr allein. Eine wahre Freude, nicht nur für Männerbewegungsparanoiker, mit nachrichteninduzierter Alphameinung. Hier wird die Kopfnavigation ausgesetzt, der Fakeware gehuldigt und die Erschütterungsisolierung zielsicher mit Spritz, dem neuen Trendgetränk angetrunken. Das Resultat ist nicht weniger als die Metamorphose zum Meckerproleten. Hier wird gesoffen, bis der Abmahnungsanwalt kommt. Nichtsdestotrotz lohnt es sich, mehr Mut zum Promilleposting zu zeigen und auch einfach mal in halbabgedeckelten Arbeitsverhältnissen zu pöbeln. Denn nicht mal das Content-Service-Provider-Modell ist frei von Querinteressen. Hat der Leergeklickte etwa Schnüffelfilter für die Emopause gefordert? Blinde Schwarmkommunikation entlang von fremden Wasserwärmepumpen bringt allerdings wenig bis gar nichts. Man denke da an die Avantgarde der ewig Morgigen. Schon ist man wieder drin in der Beliebigkeitsfalle,
aus der uns auch der Autorisierungsdienst nicht befreien kann. Und wer bereits die Feinstaubpsychose fürchtet, dem sei gesagt: Das Emissionskontrollsystem ist längst Opfer seiner selbst. Die Freiraumhysterie dagegen ist es, der die Furcht gelten sollte. Die Scheindebatte müsste mal schnell durch den Terrorscanner geschoben werden, bevor lauter kleine Investorenattentäter das Weltverschwörungsbusiness ankurbeln. Negaholiker behaupten schon heute, man könne nur noch ins drogenliberale Tschechien auswandern. Chaoskokettierer zu Pflugscharen, nieder mit dem Hauptstadthype! Wer dem Ewigkeitscharme nicht widerstehen kann, wird eben zurück transportiert in die Erinnerungswerkstatt. Gehen Sie nicht über Los, ziehen Sie nicht den Verwahrlosungsbonus ein. Die Länderkonferenz macht das Unterschichtenvermehrungsprogramm zum Wahlpflichtfach. Das sind so die Kittversuche im Handlungsfenster der jungen Elite. Streut ruhig Salz, ihr Formfanatiker, wenn ihr Angst vorm Rutschen habt. Bloß nicht dem Wegschaltimpuls erliegen, sagt die Jungfrau zum Kinde. Und: Genieße deinen Appetit nach der Vergiftung. Generationenkonflikt ist, wenn man seinen Eltern erklären muss, dass Neon uncool ist. Oder wenn der Soldatenversteher zum Ordensentziehungsverfahren rät. Man sollte öfter auch mal einen Kampf aufgeben. Auch in meinem Namen. Wie kommen eigentlich die Wörter aufs Papier?
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Ronaldo
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aber das G ift & das Nichts L aura Ewert
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In Hamburg kämpfen Kreative gegen die soziale Ausgrenzung in ihren Kiezen. Wenn sie ihre Rolle als Innovationstreiber nicht reflektieren, kann das in einem hässlichen Möbelstück enden, glaubt Helge Peters.
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Ikea hatte ein Problem. Aus Protest gegen die schwedische Kolonisierung der Lebenswelt und aus Spaß an der Zweckentfremdung fanden sich Ikea-Hacker im Internet zusammen, um Bauanleitungen für Särge aus Billy-Regalen, Lautsprecher aus Plastiksalatschüsseln und Esstische aus Bilderrahmen zu tauschen. Teils waren diese Hacks einfach nur skurril, teils waren sie tatsächlich origineller und billiger als echte IkeaMöbel. Anstatt gegen die freche Aneignung seiner Marke vorzugehen, erkannte Ikea darin den breiteren Trend der Customization – und produzierte mit Bölsö einen Beistelltisch, der zur individuellen Veränderung einlädt. Die ursprünglich subversive Geste gebar einen neuen Markt. Hamburg hat derzeit ein Problem mit Ikea. Anstelle des Künstlerhauses Frappant soll mitten in Altona ein riesiges Möbelhaus entstehen. Dagegen regt sich Protest, der nach dem Erhalt des von Künstlern und Kreativen besetzten Gängeviertels und der überwältigend positiven Resonanz auf das kritische Manifest Not In Our Name, Marke Hamburg auf fruchtbaren Boden fällt. Die Szenarien ähneln sich: In Berlin gingen Tausende gegen das Bauprojekt Mediaspree und für den Erhalt von Off-Kulturprojekten auf die Strasse, ein Bürgerentscheid brachte nahezu realsozialistische Zustimmungsergebnisse für die Forderung, der subkulturellen Szene am Spreeufer eine Chance zu geben. Dabei müssen sich die originellen Hausbesetzer von heute nicht mehr als arbeitsscheue Systemfeinde titulieren lassen. Stadt und Presse lieben ihre Kreativen, haben Verständnis für deren Sorgen und vor allem ihren Richard Florida gelesen, den Vordenker einer der Wissensökonomie angepassten Stadtentwicklung. Die Kreativen
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Die Beistelltisch-Revolte Helge Peters
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reagieren prompt. Mit diesem neoliberalen Stadtmarketing wollen sie nichts zu tun haben, sie stellen die soziale Frage: durchmischte Kieze, billige Mieten, Freiräume sind ihre Forderungen. Als Standortfaktor einer Creative City der Kulturmanager und Art Directors würden sie sich nicht einspannen lassen. Dabei hatte Richard Florida nicht genau genug hingesehen, als er ein tolerantes Klima und hochwertiges Kulturangebot als Voraussetzungen für die kreative Stadt lobte. Denn als der dänische Wirtschaftswissenschaftler Adam Arvidsson das Project Fox untersuchte, eine spektakuläre Marketingaktion von Volkswagen in Kopenhagen, stellte er fest, dass der Job der professionellen Kreativen immer weniger darin besteht, selbst Dinge zu kreieren. Vielmehr übersetzen sie die authentische, weil nichtkommerzielle Arbeit urbaner Underground-Akteure in den Kontext der Wertschöpfung. Das soziale Leben in den Nischen der Metropole selbst wird zur produktiven Ressource, die sich die Kreativwirtschaft aneignet. Bei Konsumenten, die des standardisierten Massenkonsums überdrüssig werden, braucht Affektmobilisierung eindrückliche, als authentisch wahrgenommene Momente mit Unterscheidungsqualität. Deshalb wirken American Apparel, Converse und Dove zeitgemäßer als Media Markt und L’Oreal. Diese Ökonomisierung der Differenz muss ständig aus Authentizitätsreservoirs schöpfen, die noch nicht von der Warenform glattgebügelt wurden – eben auch aus den „besetzten Häusern“ und „muffigen Proberaumbunkern“, aus den „Clubs in feuchten Souterrains“ und „leerstehenden Kaufhäusern“, von denen die Verfasser des Hamburger Manifests schwärmen. Oder aus den illegalen Open-Air-Raves und Clubs ohne Schanklizenz, für die Berlin so berühmt ist. Diese urbanen Zwischenräume sind eine notwendige Voraussetzung für den kreativen Part der postindustriellen Ökonomie des Wissens. Als Netzwerk beschreibt sich diese neue Ökonomie, in der individuelle Akteure aus der Synthese differenter Interpretationen heraus profitable Innovationen schaffen. Sie entstand nicht zuletzt aus einer linken Kritik an der Entfremdung durch Fabrikkommando und Massenproduktion der 60er Jahre, die Alternativbewegungen mit ihrer Abneigung gegen Hierarchie und Konformität bereiteten ihr darauf den Boden. In einer jüngeren Dissertation mit dem denkwürdigen Titel What Strategic Management can learn from Social Movements wird der Manager dann auch als eine Art Bewegungsarbeiter entworfen, der Netzwerke gegensätzlicher Anspruchsgruppen zur kollektiven Aktion mobilisiert, gleich den sozialen Bewegungen, die im Grunde nichts anderes seien als „Issue Entrepreneurs“. Fatal für solche Netzwerke ist es, wenn wichtige Verbindungen gekappt und damit unersetzbare Cluster der Signalverarbeitung ausgegrenzt werden. Deshalb erfährt sich die Kritik der „unternehmerischen Stadt“, wie sie Eckkneipen sind verklärte Sehnsuchsorte, derzeit von den Hamburger Kulturarbeitern formuliert wird, nicht als Kritik der Ausbeutung, sondern der Ausgrenzung dewenn man sie dann betritt, schlägt die rer, die doch als Ressource für die Produktion authentischer Intensitäten gebraucht werden. Namentlich der Unterschicht, bitter-graue Realität zu: Rauchschwaden, ohne die eine Bohème nicht zu haben ist. Die Selbstmarginalisierungsstrategie der Coolness ist auch auf den türkischen aufgedunsene Gesichter, die Geschichten Spätkauf, die Hartz4-Eckkneipe und die Autonomenrandale für ihre Produktion einer rauen Echtheit des Unterschieds angevon jahrelangem Alkoholkonsum erzählen, wiesen. Authentizität entsteht nicht einfach so am Konferenztisch, sie muss sich als Opposition zum Verwertungsimperativ und die Gewissheit, dass schnapsinerfinden. Dabei ist es gerade die Opposition, die im Sinne einer „widerspruchsorientierten Innovationsstrategie“, duzierte Politikdiskussionen zumeist in wie es im BWL-Jargon heißt, den Keim des Mainstreams von morgen in sich trägt. Die Stadtaktivisten von heute sind die Inunschönen Tiraden gegen irgendeine novationstreiber einer Zukunftsökonomie, die hierzulande erst allmählich in die Gänge kommt und der mit Elbphilharmonie unterrepräsentierte Gruppe ausarten. und Bürotürmen tatsächlich wenig geholfen ist. Selbst wenn die Aktivisten nicht die unmittelbaren Nutznießer dieser Produktionsweise sind, so sind sie doch auf dem besten Weg, ihr den Boden zu bereiten. Auch die Ikea-Hacker hatten keinen Bölsö im AlbanySinn.
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8 Johannes Scharf
Janette Bielau
Jan Tewes Thede
Hanne Gempp
Georg Andreas Suhr
Elsa Pavel
DNP Music
Dennis Zorn
Cornelia B체ttner
Christian Titze
Birgit Haas
Benjamin Tischer
Bass Berlin
Bachschule Offenbach
Artur Schock
Anna Cavazzini
Alexander Seeberg-Elverfeldt
Unser herzlicher Dank gilt allen Herausgebern dieser Ausgabe. Ohne eure Unterst체tzung und euer finanzielles Engagement w채re HATE#6 nicht realisierbar gewesen.
HATEsechs
Torsun
Tobias R app
Tina Lüers
Thomas Huber
Suzan Beermann
Stefan Goldmann
Scheckkartenpunk
Samir Omar
Roy Funke
Roy Pfützenreuther
Roman Brizanik
Robert Goldbach
Pony Göttingen
Peter Armster
Ol.Schmidt
Mea Liedl
Matthias Andrasch
Martina Leisten
ll99! crew
Korbinian Frank
Klemens Wiese
Kevin Hamann
K arsten Weller
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Caligula
HATEsechs
In Zeiten von Iphone, Apps und sonstiger digitaler Omnipräsenz scheint die Kritik nur noch zwischen totalem Positivismus und der reaktionären Schacherei der Fortschrittsskeptiker zu pendeln. Nisaar Ulama gibt sich damit nicht zufrieden und versucht herauszufinden, wo ein Ort jenseits dieser technischen Totalen existieren könnte.
„Wir stehen auf dem äussersten Vorgebirge der Jahrhunderte! […] Warum sollten wir zurückblicken, wenn wir die geheimnisvollen Tore des Unmöglichen aufbrechen wollen? Zeit und R aum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Abso luten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit erschaffen.“
Man wundert sich, dass Filippo Tommaso Marinetti Zeit und R aum bereits 1909 überwunden haben will, wie er es im Futuristischen M anifest verkündet. Marinetti und seine Freunde der futuristischen Avantgarde glaubten an Fortschritt durch technische Neuerun„Wir stehen nicht mehr irgendeiner beeingen, und zwar bedingungslos. Maschinen, die alle bisher gekannten Vorstellungen von Kraft und Geschwindigkeit überdruckenden Maschine gegenüber, sondern stiegen, sollten endlich aufräumen: Mit dem Jahrhunderte alten Ballast der italienischen Kunstgeschichte, wie auch mit einer Technologie, deren Präsenz meist mit einer verkommenen Gesellschaft, die der Vergangenheit verhaftet blieb. Eine Allianz mit dem Duce del Fascismo Benito Mus„ubiquitär“ beschrieben wird: Internet ist solini schien also nur logisch. Marinettis Idee einer besseren Welt sah Technik ja auch nicht als Überwinder historischer überall, und vor allem ist von dort aus ist Unrechtmäßigkeiten vor. Im Gegenteil kam mit ihr erst der faschistische Krieg („diese einzige Hygiene der Welt“) so richtig auch irgendwie immer alles möglich“. auf Touren. Nun provozierte der Fortschritt in Wissenschaft und Technik nicht nur in Italien radikale Antworten. An verschiedensten Orten der Welt wurde der Mensch gerade neu erfunden (was in Deutschland besonders gründlich gelang), und immer spielte dabei die neu erlangte Herrschaft über die Natur, (die vor allem auch eine Herrschaft über die „Natur des Menschen“ war) die entscheidende Rolle. Der naive Optimismus, mit dem damals gewissen Neuerungen der Technik begegnet wurde, lässt sich im Nachhinein natürlich leicht belächeln. Die Aufhebung von Raum und Zeit durch die Deutsche Bahn AG steht uns jedenfalls noch nicht unmittelbar bevor. Die Frage nach dem gesellschaftlichen Umgang mit technischen Entwicklungen aber ist immer aktuell geblieben. Heute stellt sie sich nicht mehr in Anbetracht eines Dampf- und Stahlfetischismus, sondern vor dem Hintergrund des wesentlich eleganteren Internets (Version zweipunktnull) samt der Gerätschaften mit denen es benutzt wird. Wir stehen nicht mehr irgendeiner beeindruckenden Maschine gegenüber, sondern einer Technologie, deren Präsenz meist mit „ubiquitär“ beschrieben wird: Internet ist überall, und vor allem ist von dort aus ist auch irgendwie immer alles möglich. Das passt im übrigen wunderbar zum postmoder-
nen Diktum, alles sei irgendwie mit allem verbunden. Wenn man die Welt schon als Text auffassen will – dann doch bitteschön als Hypertext! Jedenfalls: Eine Zeitlang galt es als Maßstab des Fortschritts, alles schneller und größer werden zu lassen. Das spielt für das Internet und seine Anwendungen keine besonders große Rolle mehr, hier ist die Verbreitung durch Verkleinerung entscheidend. Und weil diese Verbreitung inzwischen ziemlich weit fortgeschritten ist, schwadroniert inzwischen auch der letzte Provinz-Kulturredakteur von den angeblich großen Veränderungen, die auf uns zukommen, häufig in eher hysterischem Ton. Das beherrscht übrigens am besten der Spiegel, der on- wie offline am intensivsten daran arbeitet, seinen Lesern irgendeine kritische Vernunft auszutreiben, um dann mit großem Tamtam die Beschränktheit des Internets zu beklagen. Die selbsternannte digitale Bohème der Twitter-Kiddies ist aber leider auch nicht heller. Hier wird die Hingabe an alles Neue derart geistlos zelebriert, dass man sich doch wieder enttäuscht dem feuilletonistischen Minimaldiskurs zuwendet. So bleibt auch Kathrin Passigs neuerliche Abrechnung mit dem Fortschrittsskeptizismus der Etablierten im Merkur unter dem Niveau irgendwelcher ernsthafter Kritik. Anders als die Reaktionen der Twitter-Community unken, liefert sie keinen Beitrag zu irgendeiner Technologiedebatte, sondern erschöpft sich in einer flachen Reihung von historischen Beispielen. Ihr wesentliches Argument besteht in der Identifizierung von neun Argumenten der Technologiekritik, die jede technische Neuerung begleiten. Ob es um Wegzeiger, Telefon oder Twitter geht – die Skeptiker begrüßen jede Neuheit mit demselben Schema. Es beginnt laut Passig mit Ignoranz („Wer braucht das?“), die sich irgendwann im technischen Detail verliert („Zu teuer, zu dumm, zu langsam“) um dann schließlich die Folgen der Benutzung zu geisseln („Verändert unsere Denkweise“). Die Ablehnung kann sich an gänzlich neue Phänomene richten – wie eben besagte Wegzeiger oder auch Straßenlaternen – bei denen niemand einsieht, wozu man die jetzt unbedingt brauche. Es ging ja auch immer schon ohne. Aber auch Varianten des bereits Bekannten werden häufig mit Unwillen begrüßt, weil der vermeintliche Nachteil des Älteren plötzlich als liebevolle Besonderheit, die man nicht missen möchte, angesehen wird. So legte man die Fehleranfälligkeit mechanischer Schreibmaschinen in Anbetracht der kalten Perfektion neuerer, elektrischer Modelle als Charakterstärke aus. Cockfighter
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Kritik ohne Kritik Nissar Ulama
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So weit, so richtig. Dass Technologiekritik die Hauptdisziplin des modernen Kulturpessimismus ist, stimmt sicherlich, genauso wie die Feststellung, dass diese meist als nur schlecht getarnter Elitarismus daherkommt. Überhaupt ist Passigs kleine Geschichte ja nicht falsch. Das alles ist so wohl wirklich passiert, und dass der Spiegel eigentlich nicht intelligenter ist als betrunkene Spaziergänger im 18. Jahrhunderts, die nicht einsehen, wozu man Wegzeiger braucht und sie also abreissen – sicherlich richtig! Nur: Es reicht trotzdem nicht. Die Feststellung von irgendwelchen Parallelen ist ein zu dünnes Argument gegen Kritik. Viel mehr als die offensichtliche Gemeinsamkeit, in allen Fällen werde eben etwas Neues kritisiert, ist dieser Reihung jedenfalls nicht zu entnehmen. Wenn Passigs Geschichte ein Beitrag zur Technologiedebatte sein soll: Wie bitteschön sollen wir denn ihr zufolge in Zukunft auf Neuerungen reagieren, ohne in die Falle der bekannten Argumente zu tapsen? Denn die Reaktion auf Kritik verläuft ja ihrerseits immer nach dem einzigen Prinzip: Wer an b zweifelt, hätte das auch bei a getan – und weil a uns inzwischen vollkommen selbstverständlich erscheint (Wegzeiger, Straßenbeleuchtung, Facebook) gelten die Zweifel an b als ausgeräumt. Wer beispielsweise die Konsequenzen der Digitalisierung und die damit einhergehende Flüchtigkeit kultureller Erzeugnisse als bedenkenswert empfindet, dem wird gerne die neunmalkluge Frage gestellt, ob er denn auch den Buchdruck nie hätte entstehen lassen wollen (Wären die ersten Bücher mit dem Mist gefüllt, der in manchem Blog zu lesen ist, hätte man vielleicht tatsächlich auf Gutenberg verzichten können). So wird dem Kritiker der Schwarze Peter zugespielt, der ihn als rückständigen Volltrottel abstempelt. Natürlich ist es richtig, dass die von Passig beschriebene Mäkelei häufig aus Angst vor dem Neuen und der Macht der Gewohnheit rührt. Wenn das allerdings der einzige Grund für die Skepsis an technischen Neuerungen wäre, dann kann man sich in der Tat vor allem über die Verstocktheit lustig machen, mit der sich an Altbekanntes geklammert wird. Damit ist nur leider jede Option auf Kritik der herrschenden Zustände ausgeklammert. Und so ist es dann auch. Die Adepten des Web 2.0 haben Kritik gegen eine Ideologie der Funktionsbejahung ausgetauscht. Das klingt natürlich altmodisch, denn der Begriff „Ideologie“ gehört doch irgendwie in die analoge Mottenkiste des 20. Jahrhunderts. Das macht aber nichts. Es gibt sie nämlich immer noch, auch wenn ihre Existenz nicht mehr an politische Institutionen gebunden ist. Dieser Funktionsbejahung sind wir alle mehr oder weniger verfallen, denn sie ist nun mal das Herzstück jedes kapitalisti-
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schen Systems: Erst die bunte Warenwelt macht ja alles so richtig schön reibungslos. Sie stellt deswegen auch, neben einem diffusen Begehren, das einzige Motiv der Werbung dar. Das heißt natürlich nicht, dass prinzipiell etwas dagegen einzuwenden wäre, wenn etwas funktioniert; Toiletten beispielsweise können gar nicht gut genug funktionieren, und der Bahnverkehr dürfte gelegentlich gerne Selbst am Ende des 20. Jahrhundertsnoch ein bisschen reibungsloser von statten gehen. Man konnte sich keiner so richtig vorstellen, dass man bald in der Zukunftkann sich aber besser oder schlechter in dieses Funktionsraster leben würde, die so lange in Bücherneinfügen. Nun findet sich eine augenfällige Parallele zu diesem und Filmen als das 21. Jahrhundert beschrieben worden war. WürdenRaster in den digitalisierten Umgebungen des 21. Jahrhunderts. Aliens auf der Erde landen, ein Virus die Menschheit auslöschen und wir –Denn Computer können nun mal genau das, und sie können nur nur noch von Technik kontrolliert – in das: Reibungslos Funktionieren. So gesehen dürfen sich iPhoneRaumanzügen herumlaufen? Dank Postmoderne bleibt aber erstmal allesNutzer tatsächlich als Avantgarde begreifen, denn mit ihren vielfältigen Anwendunbeim Alten, nur die Handys heißen jetzt Smartphones.gen spielen sie natürlich in der obersten Effizienzliga. Die Ideologie der Funktionstüchtigkeit (was für ein schönes Wort!) wird hier performativ verbreitet. Es wird einfach ständig irgendwas benutzt und gemacht, und zwar öffentlich. Man kennt das Phänomen: Nach kurzer Abwesenheit und ein paar konzentrierten Fingertipps purzeln neue facts in die gesellige Runde, auch wenn man die nicht unbedingt hören wollte. Für Mobiltelefone hatte sich irgendwann mal durchgesetzt, dass das Rumgespiele in Gegenwart anderer unhöflich ist; für iPhones steht dieser Schritt leider noch aus. So kommt man in den permanenten Genuss immer neuerer Antworten, auch wenn man die Frage gar nicht gestellt hatte. Jedenfalls weiß man jetzt immer alles: Was für ein Song gerade läuft, wie man zur nächsten Bar kommt und wann der nächste Bus fährt. Das alles mag ja auch sehr praktisch sein. Es ist halt auch nur sehr langweilig. Immer noch gilt die (seltsamerweise von Pablo Picasso verfasste) Feststellung, Computer können zwar Antworten geben, aber keine Fragen stellen. Da hilft es auch nichts wenn dieses Antworten permanent zelebriert und zum Selbstzweck erhoben wird. Diese Fixierung auf Lösungen und Antworten ist das eigentliche Ärgernis. Aus ihr resultiert der Positivismus, der Kathrin Passigs Abrechnung mit der Technologiekritik so flach bleiben lässt. Wenn man es bereits als Argument für eine Technik auffasst, dass sie sich irgendwie „durchgesetzt“ hat, kann man natürlich auch jede Kritik an den Folgen dieser Durchsetzung nur falsch verstehen: Nämlich so, als wolle jemand das Rad der Geschichte zurückdrehen, und alle iPhones, Computer und Fernseher verbannen. Das paart sich mit der Ansicht – und so komplettiert sich der Positivismus – alle heutigen Probleme wären gar nicht anders lösbar, als mit genau den technischen Vorraussetzungen, die wir nun mal haben. So decken sich Welt und Technik. Was so auf der Strecke bleibt, ist nicht nur die Option auf Kritik, sondern auch die Fähigkeit einen Ort jenseits der technischen Totale zu denken; einen Ort Cockfighter der von keinem App geliefert und auf keiner Map verzeichnet ist: Utopia.
Kritik organisieren. . Die linke Wochenzeitung. Am Kiosk und im Netz: jungle-world.com Kritik ohne Kritik Nissar Ulama
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Alexander Gehring
12 φωτός γράφειν Alexander Gehring
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von Jakob Schmidt
Gezeugt wurde Adrian unterm Sternenhimmel, in der Nacht vor Allerheiligen. Damals lachte Simone ein ungeahnt hellsichtiges: „Werner, so kenne ich dich gar nicht!“ Und Werner qualmte es schwefelig aus den Ohren, und am nächsten Tag konnte er sich an nichts mehr erinnern. Trotz dieser Vorzeichen verlief die Geburt planmäßig. In der Verwandtschaft munkelte man zwar, dass Werner, ergriffen von einem unerklärlichen, namenlosen Schrecken, den kleinen Adrian fallengelassen hatte; und Adrians Urgroßmutter kletterte exakt zur Stunde seiner Geburt aufs Dach ihres Hauses, brüllte mit Schaum vor dem Mund, schlug nach den Krähen über ihrem Kopf und stürzte in den Tod. Aber das munkelte man eben und schrieb es nicht in die Grußkarte, auf der verkündet wurde, dass Adrian mit seinen zweieinhalb Kilo und seinen fünfundvierzig Zentimetern klein, aber fein und jedenfalls ganz herzallerliebst sei. Getauft wurde Adrian in der reformierten Gemeinde. Als Pastor Kleyer mit dem benetzten Finger das Kind berührte, zischte es laut, und ein über Brandgeruch stieg auf. Eine böse, rote Schwellung bildete sich auf Adrians Stirn, doch anstatt zu schreien, starrte der Junge den Pastor nur aus seinen dunklen Augen an. Und weil der kleine Adrian so intelligent zu ihm aufschaute, kam Pastor Kleyer, der in seiner Freizeit Jeans trug und die Beatles hörte, sogleich zu dem Schluss, dass er es hier mit einem ganz besonderen Jungen zu tun hatte. Der schmächtige Adrian wurde schnell proper, im selben Maße, wie seine Mutter siechte. Man konnte förmlich mitansehen, wie er sich an ihrer Brust blähte, während Simone einknitterte, und nach einem Jahr war sie tot. Aus Einsamkeit schaffte Werner einen jungen Hund an. Adrian schloss die unerschöpflich langmütige Dogge sogleich ins Herz und erfand sehr einfallsreiche Spiele für sie, in denen er leere Dosen, Kupferdrähte und Haarföns verwendete. Als Adrian vier war, fing er an, dem Hund mit Fingerfarben Heptagramme und Widderhörner aufs Fell zu malen, und Pastor Kleyer bemerkte scharfsichtig, dass
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da wohl ein kleiner Künstler im Heranwachsen begriffen war. Schließlich wurde der Hund auf offener Straße von Ratten totgebissen. Einen Tag später brachte Pastor Kleyer selbstgebackene Kekse vorbei und fand den Jungen lächelnd und den Vater kreideweiß und betrunken vor. Als Adrian eingeschult wurde, sprach Pastor Kleyer ein Wort mit seiner Kunstlehrerin und hielt sie an, sein außergewöhnliches Talent gebührend zu fördern. Kinder legten ja heutzutage viel zu selten künstlerische Eigeninitiative an den Tag. Frau Weiß versprach’s und nahm sich sechs Monate später das Leben. Der kleine Adrian legte ihr ein selbstgemaltes Bild mit ins Grab, und auf seinem blonden Scheitel lag die tröstende Hand des Pastors. Mit zehn stieß Adrian zu Pastor Kleyers Kindergesangsgruppe, wo der Gottesmann ihn schon bald auf der Gitarre zu „Helter Skelter“ und „Imagine“ begleitete. Der unscheinbare Adrian hatte eine sehr volle, tiefe Gesangsstimme, in deren Gebrauch der Pastor ihn mit Hingabe schulte. Nach einer Weile erfand Adrian sogar ganz neue, fantasievolle Texte für diese Lieder. Pastor Kleyer sprach gleich mit Adrians Deutsch- und Musiklehrern darüber, wie sich seine unbändige Kreativität am besten fördern ließe. Als Adrian in die Pubertät kam, fing er natürlich an, sich für andere Dinge zu interessieren. Bald trug er eine mit Aufnähern von Metalbands versehene Nietenjacke um die schmalen Schultern und scharte ein kleines Grüppchen finster dreinschauender Freunde um sich. Derweil geschah in Pastor Kleyers Gemeinde viel Trauriges: Im Haus der Deutschlehrerin entzündete sich ein Stapel Klausuren unerklärlich, und sie und ihre ganze Familie verbrannte. Der Musiklehrer erlitt mitten im Unterricht ein Aneurysma, und Blut schoss ihm zu beiden Seiten meterweit aus den Ohren. Adrians Vater Werner trank wie ein Loch und verlor seine Arbeit, und Pastor Kleyer musste ihn zweimal die Woche zur Selbsthilfegruppe fahren. Der Kirschbaum auf dem Kirchhof verfaulte von innen, stürzte um und erschlug ein spielendes Kind, es gab sieben Fehlgeburten, und ein kopfloser Hahn rannte eines Morgens während der Predigt zwischen den Kirchenbänken hindurch und hüpfte einer alten Witwe auf den Schoß, die sogleich aufsprang und tot umfiel. Da all diese Unglücksfälle Pastor Kleyers Aufmerksamkeit verlangten, muss man ihm nachsehen, dass er die Förderung des außergewöhnlich begabten jungen Adrian ein wenig aus den Augen verlor. An einem Abend vor Allerheiligen hörte der Pastor bei einem Spaziergang am Flussufer inbrünstigen Gesang aus einem alten Bootsschup-
pen und sah glühenden Feuerschein durchs Fenster. Nanu, dachte er sich und ging hinein. Um ein mit braunroter Farbe gezeichnetes Heptagramm, in dessen Mitte eine ausgeweidete Katze lag, saßen sieben junge Leute in schwarzen und purpurnen Umhängen. An einer Seite beugte Adrian sich über ein dickes, ledergebundenes Buch mit Pergamentseiten und las daraus vor. Neben ihm wiegte sich ein rabenhaariges, barbusiges Mädchen versonnen im Singsang seiner tiefen Stimme. Es roch nach Schwefel, und eine dunkle Flüssigkeit rann an den Wänden herab. „Oh, tut mir leid“, entschuldigte sich Pastor Kleyer sogleich, „ihr wollt sicher in Ruhe feiern.“ Sieben Köpfe fuhren zu ihm herum, und ein vielstimmiges Zischen und Fauchen ertönte. In Adrians Blick entflammte ein schwarzes Feuer, und er rief mit spöttischer Stimme: „Hinfort, Narr! Ich habe keine Verwendung mehr für dich!“ Pastor Kleyer lächelte. „Ja, so habe ich mich mit vierzehn auch gefühlt. Da fängt man an, seine eigenen Wege zu gehen, das ist ganz normal.“ Er legte den Kopf schief, um in Adrians Buch zu spähen. „Immerhin lest ihr, das find ich echt gut! Nicht immer nur Fernsehen oder Pokemon. Das ist ja sogar Latein!“ „Wir lästern deines machtlosen Herrn Christi!“, kläffte einer aus dem Rund schrill. Frühzeitige Förderung Jakob Schmidt
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„Gut. Ich finde das wichtig, dass junge Leute sich heutzutage auf eine selbstbewusste Art mit dem Glauben befassen“, sagte Pastor Kleyer. „Das heißt jetzt nicht, dass ich alles, was ihr macht, automatisch gut finde, aber es ist schön, dass ihr euch auseinandersetzt.“ „Alta, ich scheiß Gott in den Mund und tacker zu!“, polterte ein dicker, schwitzender Junge, was die Übrigen zu einem anerkennenden Nicken veranlasste. Pastor Kleyer nickte. „Ich sehe Gott ja eher als eine Art Metapher, die es uns ermöglicht, über die wirklich wichtigen Fragen ins Gespräch zu kommen, und wenn du das so empfindest, hat das sicher gute Gründe.“ Einen Moment lang herrschte betretenes Schweigen. „Wir frönen unaussprechlicher wollüstiger Genüsse!“, erklärte das barbusige Mädchen dann schließlich tapfer und steckte Adrian eine gepiercte Zunge ins Ohr. Pastor Kleyer legte die Stirn in Falten. „Ihr wisst aber schön über Verhütung Bescheid, oder?“ Er schaute auf die Uhr. „Es ist ja noch nicht so spät, also wenn ihr wollt, dann kann ich euch noch ein paar Kondome holen gehen, dann bin ich auch gleich wieder weg.“ Später taten Adrian und seine Gespielin unerhört Wollüstiges mit den Kondomen, die ihnen Pastor Kleyer geholt hatte, und nachdem sie damit fertig waren, meinte die rabenhaarige Sabine: „Du, der ist ja schon ziemlich cool, dein Pastor.“ Und da erzitterte der Erdboden ein wenig, und Adrian fühlte sich einen Moment lang sehr verletzlich. Die bald darauf von Pastor Kleyer ins Leben gerufene Latein-AG war der Renner. Wenig später entstand auf Initiative der Jugendlichen auch noch eine wöchentliche Diskussionsrunde „Warum Gott scheiße ist“ und ein Redekreis „Meine Sexualität“. „Alta, ich scheiß Gott in den Mund und tacker zu!“, polterte ein dicker, schwitzender Junge, was die Übrigen zu einem anerkennenden Nicken veranlasste.
Da wurde sehr viel und produktiv diskutiert – auch kontrovers. Pastor Kleyer war erstaunt, wie klug Adrian argumentierte und wie gut er sich auskannte. Man merkte eben, dass der Junge viel las und seinen eigenen Kopf hatte. Und eine tolle Freundin hatte er da mit der rabenhaarigen Sabine, fand der Pastor, eine ganz selbstbewusste, die viele kritische Fragen stellte. Und das alles hatte der Junge mit einem Alkoholiker als Vater erreicht! In den nächsten Wochen fand Pastor Kleyer, dass es aufwärts ging mit der Gemeinde. Nur einmal wurde ein Mädchen aus dem Kirchenchor von Fledermäusen gebissen und starb an Tollwut. Doch in der Woche darauf brach ein warmer Frühling an und erfüllte Pastor Kleyers Herz mit Sonnenschein, der eigentlich nur dadurch getrübt wurde, dass Adrian immer seltener zu den AGs und Redekreisen kam. Auch mit seinen Freunden schien er nicht mehr so gut auszukommen, und selbst Sabine beklagte sich, dass er kaum noch mit ihr der Wollust frönte. Pastor Kleyer wusste, dass Jungen in Adrians Alter oft einsame Zeiten durchmachten, besonders so sensible Jungen. Und manchmal,
gestand er sich mit einem leisen Seufzer ein, konnte man nichts tun, außer ihnen den Raum zu geben, den sie brauchten. Am Vorabend des Hexensabbats kam Adrian zum Bootshaus, doch keiner seiner Jünger war da, nicht einmal die rabenhaarige Sabine, die wegen der Scheißkondome immer noch nicht mit seiner dunklen Saat schwanger ging. Das war echt doof, weil er extra ein Neugeborenes für die Opferzeremonie geraubt hatte. Er wartete über eine Stunde, bevor er das schreiende Kind schließlich frustriert in den Fluss warf und sich auf die Suche nach seinen Jüngern machte. Er würde ein Exempel statuieren, jawohl, Blut in Adern kochen lassen oder sowas in der Art. Hier wurde schon viel zu lange rumgeschlufft. Am Anfang war es ja noch lustig gewesen, in Kleyers Redekreisen Christi zu lästern, aber deshalb das ernsthafte Teufelswerk schleifen zu lassen, das ging nicht an. Seiner üblen Ahnung folgend stapfte Adrian zum Gemeindehaus, und da fand er die Fenster erleuchtet, und drinnen hockten seine Jünger in ihren schwarzen Roben auf dem Boden und malten ein großes Transparent, auf dem stand: „Großes Walpurgisnachtfest auf dem Kirchhof! Hexen und Teufelchen willkommen!“ Sabine sah Adrian und winkte ihm mit buntbeklecksten Fingern, und dann hörte er hinter sich jemanden sagen: „Hallo, da bist du ja! Willst du Früchtetee und Kekse?“ Adrian fuhr herum und sah Pastor Kleyer, der verschwörerisch zwinkerte und hinzufügte: „Du kannst auch ein Bier haben, das darfst du dann aber nicht deinem Vater sagen.“ Da floh Adrian auf den Kirchhof und reckte die Arme in die Höhe und stieß einen solch entsetzlichen Fluch aus, dass es den Himmel spaltete und mit einem Mal Blitze und Wassermassen herabschossen. Und die anderen schauten aus dem Fenster hinaus auf das Sauwetter und sahen, wie die Erde sich auftat und grüne Flammen herausleckten und sich um Adrian wanden und ihn auf Nimmerwiedersehen in die Tiefe zogen, was wirklich ein Jammer war, weil Adrian doch so ein intelligenter und begabter Junge gewesen war, der immer seinen eigenen Kopf gehabt hatte. schlotzenundkloben.blogsport.de
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The tricky part in summarising Mark Reeder’s career is to choose a wording that convinces the reader that
Hi Mark. Does it piss you off that people spell your name wrong? I wouldn’t say it actually pisses me off. It’s more a feeling of frustrated disappointment. I usually expect the interviewer to at least know a little bit who they are interviewing and to make sure that my name is written correctly. Mind you, I’ve had all kinds. Not just Mark with a C but also my surname has been written wrong too; Reader, Ryder, Raeder! When it happens, I find it incredible. After all, it only takes a click on Myspace these days to find out the correct spelling of someone’s name.
you’re not just making it all up. Born in Manchester, Mark moved to Berlin in 1978 and initially worked as the Germany rep for legendary label Factory Records, which saw him share a smoke-filled
You’ve just released your first solo album, Reordered, in collaboration with Blank & Jones. How would you describe the record? It’s not technically a remix album is it? Reordered could probably best be described as a re-works album, as I’ve taken each track and basically rewritten and reworked the music and added my own sound imprint. I decided to make it in a style reminiscent of the 80’s and I produced it in exactly the same way as I had made music back then; using very few instruments, real synths and guitars.
tour bus with Joy Division in
1980. He went on to comanage all- girl outfit M a-
,
laria! was sound engineer
for Die Toten Hosen, toured as support for New Order with his band Shark Vegas and started the first electronic dance music label in East Berlin after the fall of the Wall. He even found the time to produce the last ever pop LP recorded under the state- owned A miga system in
East Berlin ( Torture by Die Vision), show John Peel
around the capital for his Travels With My Camera documentary, turn his hand to scoring a film soundtrack and appear as the male lead in cult video nasty Nekromantik II and discover and manage superstar DJ Paul van Dyk. With such an impressive list of credentials to his name it’s no surprise that a recent Smirnoff Wall of Sound film described him as the „Godfather of the Berlin Music Scene“. Neale Lytollis talked with the musician, whose name is still on occasion spelt incorrectly despite his impressive CV.
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So how did it all come about? Had you known Blank and Jones before? I already knew Piet Blank and Jaspa Jones since the late 90s but Reordered came about at an awards ceremony in 2005 where New Order had been presented with a lifetime achievement award. Piet made an off-the-cuff remark about how much he would love to work with Bernard and jokingly said if ever he had the right track would I be willing to pass it on. A few years passed and Piet finally sent me the skeleton of a track, which I then gave to Bernard. He really liked the idea and it eventually became Miracle Cure. As a way of saying thank you, I was asked to remix it but they wanted my remix to sound more retro and 80s like my previous music productions. I must admit at first I was a bit apprehensive about that as i don’t really like to take steps back but I’m glad I did. It was a really refreshing experience. After the Miracle Cure Remix, the idea for the album was born. So, basically on the record you were stripping down what were once club tracks and turned them into songs for want of a better word? Exactly. Normally, a song will be remixed to appeal to DJs and to be played in clubs. So I reversed this idea by taking the DJ tracks and turning them into songs. I had to completely rewrite the music and to rearrange and recut the vocals. So much in fact that they now have almost no resemblance at all to the originals. I wanted Reordered to have a different sound to anything Blank & Jones had done before and to touch territory they wouldn’t normally visit. Mark Reeder – It’s Mark with a ‘k’! Neale Lytollis
Which track are you happiest with on the LP? I’m happy with the way A Forest turned out. It’s such an iconic track and I knew I would never be able to better the original. I knew it was going to be a difficult task so it was the last track I tackled. It was a fantastic feeling to be able to work with Robert Smith’s enigmatic voice. My version has roughly the same arrangement as the original but I slowed it down to half speed, added a deep buzzing synth, a chuggy bass guitar and a twangy fender and tried to retain its dark, mysterious atmosphere. I had to replay absolutely everything you hear in the track, even down to creating the sound effects at the start, using real branches and local ambience. Although Anne Clark’s Hardest Heart and Vanessa Daou’s Heart of Wax seem to be the most popular tracks with people who have bought the record.
A lot of guest artists are featured on your record: Anne Clark, Bernard Sumner and Robert Smith to name just a few. Don’t you think these celebrity appearances often come across as being more of an opportunity to show off your famous mates rather than actually adding anything to the music? Blank & Jones grew up in the 80s and are influenced by this music, so they liked the idea of recording tracks with their teenage idols and in turn introducing them to a new audience. Although there are a few really famous names on the album there are also some fairly unknown ones too. It’s quite balanced.
As someone who has been working in music longer than most why has it taken you so long to get your first LP out? I got a bit sidetracked along the way! I made a couple of singles and EPs during the 1980s with my bands Die Unbekannten and Shark Vegas and I produced an album in East Berlin just before the Wall came down. After that I started my label MFS and I put all my energy and creativity into that, launching artists such as Paul van Dyk, Cosmic Baby and Corvin Dalek. In reality this also isn’t my own album as such as it’s a collaboration with Blank & Jones, Micha Adam and myself.
What’s the response to the album been so far? The response has been very, very positive, even from people who are not your typical B&J fans. I think the majority of people who have heard it understand what I’ve tried to do. Remember, I didn’t make this album just for Blank & Jones fans, but I did hope that those who blindly condemn B&J for making commercially successful trance music, would at least give this album a listen.
So, what is Mark Reeder up to these days? I’ve just finished remixing the debut single from Bernard Sumner’s new band, Bad Lieutenant. I originally co-wrote a track with Bernard for the album but it wasn’t finished in time as Bernard wanted Brandon from The Killers to sing vocals but he was on tour and it kept getting pushed back. So I was asked if I would remix the first single, Sink or Swim, instead. I’ve made a version that sounds more like the band’s original mix but with some extra dirty bass guitar and a straight 4/4 beat. I’ve also stripped
When you first came to Germany at the end of the 70s, you were working for Factory Records. Did it make you a millionaire?! Factory made millions? You must be joking! Lost millions you mean. I started out at the very beginning when Tony and Rob had just released their first EP. I was already in Germany and so it seemed natural to help them promote Joy Division who were my mates and incidentally the best band in the world. So I was appointed their label rep in Germany. Tony Wilson later told me he thought it would look good on paper … he liked the romantic idea of having “our man in Berlin”! If anyone wanted to license a track or something they could come to me first. I would also send our records to the mags and radio stations. Unfortunately, it was a very difficult time. No one was particularly interested in a small obscure label from Manchester apart from the usual handful of devoted Brit music fans scattered throughout the country. This was all quite understandable though as Germany was being sucked into Neue Deutsche Welle mode.
On the subject of your previous bands, Die Unbekannten was very well known in Berlin in the early 80s and you even toured with New Order and Shark Vegas. No chance of you jumping on the revival bandwagon and getting back together again? Absolutely no chance! I can’t imagine it. I really don’t want to reform and neither does Alistair. As for remixing, it’s a bit difficult since we don’t have the 16-track master tapes anymore. They got recorded over decades ago. I did release the Don’t Tell Me Stories album, which was a selection of Die Unbekannten tracks on vinyl-on-demand a few years back and only recently I rediscovered the 2-track master tapes for our two singles, which I thought had been lost. So i might remaster them … one day! all the guitars for a special synthpop remix and I’ve also made a special 5.1 surround mix too, which is an area I am currently specializing in. I also did a 5.1 remix of I’m in Love with a German Film Star by Pet Shop Boys. I’m currently working on new material with Fidelity Kastrow; she’s one of Torture Garden’s international resident DJs and she’s also been playing around some of Berlin’s cooler clubs recently.
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Mark Reeder – It’s Mark with a ‘k’! Neale Lytollis
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Illustrationen: 湯本佳奈江 Yumony (Yumoto Kanae) 山口洋佑 (Yamaguchi Yosuke)
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Risikofaktoren Diane Hielscher
Hasskultur russischer und deutscher Punks und ob das Eine wirklich besser ist als das Andere.
Ruhe Bier trinken könnten. Diane Hielscher über die Ähnlichkeiten und Unterschiede in der
geräumt werden, wären die Punks in Russlands Hauptstadt schon froh, wenn sie einfach mal in
In Moskau haben Punks andere Probleme als in Berlin – während in Berlin Häuser besetzt und
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Male getextet. hat die Band
Die neue Zeit kommt gewiss,
Risikofaktor 1 : x
Hochofen Hochofen, Schweiss und Blut
Hochofen Hochofen, Hitze und Glut
Rolltreppe Rolltreppe, sinnlos brutal
Rolltreppe Rolltreppe, Eisen und Stahl
Pack 1978 in Terrorist gesungen. haben
– so he’s a terrorist,
And doesn’t need no pop star –
My neighbour – Doesn’t buy a new car
Am Hals sind Saschas Tattoos rot und schwarz, an den Armen bunt, er hat ein Piercing in der Lippe, riesige Ringe in den Ohren und ist ein sympathischer Spass-Punk. Lieber Junge. Green-DayHörer. Während ich mit ihm und seinem Band-Kollegen Kyrill spreche habe ich den Eindruck, in Russland sei Hassen weniger komplex als in Deutschland. Hier ist nicht die Rede vom System, dem Kapitalismus oder den Investoren. Sascha erzählt mir von dem Typen heute Morgen auf der Straße. Der ist mit seinem fetten schwarzen Auto einfach über die Straßenbahnschienen gefahren, direkt am Stau vorbei. Aber wer soll ihn denn aufhalten? Höchstens ein korrupter Polizist. „Leute, die Geld haben, können sich hier eben alles erlauben.“ Sascha ist Frontmann der russischen Punk-Band Plush Fish. Er und Kyrill gehören offenbar zu einer Art Wellness-Punk-Bewegung. Sie wollen nicht protestieren oder provozieren. Sie wollen eigentlich nur in Ruhe gelassen werden. „Es stimmt nicht, dass Punk eine Form von Protest ist.“ sagt Kyrill. „Du kannst von dir behaupten, Punk zu sein, wenn du völlig unabhängig bist. Je weniger man von irgendwas abhängig ist, desto freier ist man natürlich. Das ist für mich Punk. Diese Freiheit! Es kommt nicht drauf an, sich mit der Staatsmacht zu schlagen oder sonst irgendwas.“ Wenn die Sonne scheint und die beiden sich darüber freuen, dann schreiben sie das in ihre Texte und singen drüber, erzählen sie mir. Sonne, aha. Die Reichen werden also nicht von der Miliz angemacht, Menschen mit Tattoos und Piercings schon. Wer in Russland mit Punk-Codes versehen vor einem Club steht und ein Bier trinkt, kann schnell
und ohne Grund auf die Wache mitgenommen werden. Einfach so. Kreuzverhör. Sascha versucht dann den Gesetzeshütern zu erklären, dass er ja eigentlich nichts gemacht hat. Ja, manchmal schreiben sie auch was darüber in ihre Texten, sagt Sascha. „Sie tun zu hundert Prozent das Gegenteil von dem, was ihre eigentliche Aufgabe ist.“ Kyrill redet sich zumindest in eine kleine Rage. „Die Rechtsschutzorgane (er sagt tatsächlich Rechtsschutzorgane!) machen alles Mögliche, nur nicht ihre Arbeit. Wir können nicht verstehen, wozu sie dann überhaupt da sind. Sie verfolgen keine Verbrecher oder Drogenabhängigen, sondern knöpfen normalen Menschen Geld ab, die, wenn überhaupt, nur minimal dass Gesetz übertreten. Aber richtig große Sachen, die rühren sie nicht an, da machen sie die Augen zu. Das ist doch absurd. Ich kann auf dieser Welt nichts verändern. Geld regiert die Welt, und noch mehr unser Land. Es hat keinen Sinn, sich dagegen aufzulehnen. Man schafft sich nur Probleme.“ Selbst Stagediving ist in Russland verboten. Wenn sich ein Bandmitglied von der Bühne in die Menge wirft, wird das Spektakel sofort unterbunden, erzählen mir die Jungs. „Die kennen Stagediving hier nicht, die wissen nicht, was das soll, deswegen ist es verboten.“ Sascha lebt mittlerweile vom Punk-Sein, er organisiert Konzerte, holt Punkbands Keine Stadt der Welt ist mythenbehafteter aus aller Welt nach Moskau. Reich wird er davon nicht, aber es reicht. Punk-Sein war im England der ausgehenden als die russische Hauptstadt Moskau. 70er Jahre ein gesellschaftlicher Gegenentwurf und ist es noch immer – auch oder gerade in Russland. Dafür reicht Nirgends liegen Märchen, Vergangenheit und es, Green-Day-Hörer zu sein. Man muss ja nicht den ganzen Tag gegen den Kapitalismus ansingen, um sich hier von Hochglanzberichterstattung näher beisammen. der Masse abzusetzen. Auf die Idee Häuser zu besetzen kommt hier auch niemand. Danach gefragt sagen die beiden, Zarenstadt, Nekropole des Realsozialismus, dass sie zwar wissen, dass es so was gibt, aber hier in Moskau hätten sie davon noch nie gehört. Mit Politik allgemein Oligarchenglanz und Wodkaarmut - die assoziwollen die beiden auch nichts zu tun haben, schon gar nicht in ihren Song-Texten. Wie so viele junge Menschen, mit deierten Bilder sind zahlreich, Wirklichkeit und nen ich hier in Russland schon gesprochen habe. Ganz nach Rousseau: „In einem gut geleiteten Staat eilt jeder zu Fiktion oft miteinander verschlungen. den Versammlungen, unter einer schlechten Regierung tut niemand gern einen Schritt, weil man schon vorher weiß, dass der Gemeinwille dort nicht herrschen wird.“
Grenzen übertreten ist in Russland leichter, mit den Konsequenzen leben schwerer. Der Autor des Punk-Buches Verschwende Deine Jugend, Jürgen Teipel, beschreibt das Phänomen des Punk-Seins im Deutschland der 80er so: „Es war ja geradezu ein Sport seinerzeit, das Gegenteil von dem zu sagen, was man eigentlich meinte. Zu provozieren um zu provozieren. Einfach so.“ Dafür konnte man zum Beispiel mit dem Hitlergruß in einen linken Buchladen eintreten. Die Provokation der Provokation wegen ist in Russland nicht nötig. Ein Punk kann die Aufmerksamkeit, die Empörung und den Ärger wesentlich billiger haben. Am Tag, als der Schriftsteller Alexander Solschenizyn starb, habe ich eine Umfrage in der Moskauer Fußgängerzone gemacht. Über Gulags. Solschenizyn hat das Leben dort geschildert wie kein anderer vor ihm. Kaum jemand wollte mit einer Ausländerin über Stalins Vernichtungslager in Sibirien sprechen, in denen Millionen von Menschen ums Leben gekommen sind. Ja, sie hätten etwas darüber in der Schule gelernt, aber nein, sie wüssten
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Risikofaktoren Diane Hielscher
nichts mehr darüber. Die einzigen, die mit mir gesprochen haben, waren zwei schon am Vormittag betrunkene Punks. Damit haben sie ein Tabu der russischen Beschönigungs- und Leugnungskultur um sie herum gebrochen und es dabei ganz leicht gehabt. Jetzt, über ein Jahr später, treffe ich einen anonymen Punk aus Omsk in der gleichen Fußgängerzone in Moskau. Immer wieder spielt er auf seiner Gitarre den berühmtesten Hit der Rockgruppe Kino, die zu Perestroika-Zeiten auf dem Höhepunkt ihres Erfolges war. Er sei nur ein paar Wochen hier in Moskau, rückt der junge Mann schüchtern raus, er hat rot gefärbtes Haar und einen Ring in der Augenbraue. In Omsk gibt es auch einen Platz, an dem sich Punks treffen, sagt er. „Aber hier in Moskau ist es irgendwie entspannter und leichter anders auszusehen, hier wird man nicht so oft angemacht von der Miliz, wie in Sibirien.“ Ach. Aber so fern von Berlin sind die Geschichten auch wieder nicht, die ich hier höre, zumindest ein paar müssten sich noch gut an die Zeiten erinnern, in denen es hier ähnlich war. „Ick bin damals manchmal nur übern Alex jeloofen, da saß ick schon im Knast“, hat mir mal ein Ostberliner Punk erzählt.
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Repressionen machen, wenn nicht Angst, dann doch immerhin vorsichtig und misstrauisch.
Das Misstrauen der Punks aus der ehemaligen Sowjetunion ist so gross, dass es bis nach Berlin, in die Brunnenstrasse 183 reicht. Die Bild-zeitung nennt das Haus in Berlin Mitte ein „linkes Terror-Nest“, tatsächlich ist es Treffpunkt, Umsonstladen und Wohnhaus für Punks und Sympathisanten aus aller Welt. Ein paar Bewohner des „politischen Wohnprojekts“, wie sie sich selbst nennen, haben ganz normale Mietverträge und zahlen dementsprechend auch jeden Monat Geld. Auf dem Tisch steht ja!-Ketchup, an der Wand hängt ein Flyer, „Ballast der Republik“ steht drauf, im Hintergrund läuft klassische Musik. Überall stehen 70er-Jahre Bücher. Esoterik und Ratgeberliteratur. Die Bücher kann man haben, wenn man was zum Tauschen dabei hat. Ilja heißt ganz sicher nicht Ilja, er denkt sich den Namen aus, während er sich zögerlich vorstellt. Er kommt aus Estland, seine Freunde essen Reispfanne und winken ab, nein, sie wollen nichts sagen. Der Mann, der nicht Ilja heißt, ist weniger adrett als seine Kollegen in Moskau. Die Klamotten sind standesgemäß abgerockt und werden stilecht mit Sicherheitsnadeln zusammen gehalten. Er ist auf Reisen und im Moment hier untergekommen, erzählt er unwillig, aber höflich. Er hasst Konsum, sagt er, er hasst es, wenn alle um ihn herum immer noch mehr und noch mehr kaufen. Er hasst Rassismus, er hasst Nacktbadeverbote, Patriotismus, die Anti-Schwulen-Bewegungen überall auf der Welt, er hasst Grenzen, die Länder voneinander abtrennen. Der Mann, der nicht Ilja heißt, hasst viel und offenbar oft. Aber eigentlich will er ja gar nicht mit Fremden sprechen. Außerdem hat er nie gesagt, dass er ein Punk ist, das würden immer nur die anderen sagen. Er beendet das Gespräch. Wer weiß, vielleicht bin ich ja Zivilbulle, und man muss ja auch nicht mit jedem reden. Ein paar Wochen später sehe ich den Mann, der nicht Ilja heißt, auf der Straße wieder. Das Haus, in dem er auf seiner Reise Unterschlupf gefunden hatte, hat mittlerweile keine Fenster mehr, die Türen und das Tor sind vernagelt. Am 24. November 2009 hat die Polizei mit einem Großaufgebot von 600 Beamten das Haus geräumt und 21 Personen des Hauses verwiesen. Hassen ist in Deutschland tatsächlich komplexer als in Russland. Wer nicht ständig beim Biertrinken gestört wird, hat eben genug Zeit und Muße ein Haus zu besetzen, daraus wieder vertrieben zu werden und sich Gedanken über das System zu machen. Aber sonst ist eigentlich alles genau gleich. „Dass diese Räumung illegal war, zeigt nur allzu deutlich die Scheinheiligkeit dieser so genannten ,Demokratie‘ auf. Ein ,Rechtsstaat‘, der nur den Reichen, Mächtigen und Angepassten dient, ist für uns nix wert!“ Schreiben die ehemaligen Bewohner der Brunnenstraße 183 in ihrem Internet-Blog.
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Revaler Str. 99 · 10245 Berlin
13.02.
VOPLI VIDOPLIASSOVA + DJ O’SKRYPKA
19.02.
VAMPIRE WEEKEND
20.02.
KARRERA KLUB PARTY
26.02.
05.03.
FLORENCE & THE MACHINE Support: SIAN ALICE GROUP A+ PARTY LARS WINKLER (MOTOR FM) EINSZWODREIVIER (ACTIONHÜGEL BOUNCEVEREIN) 2RAUMWOHNUNG Support: MALAKOFF KOWALSKI LA ROUX
05.03.
TIED TO THE 90TIES PARTY
06.03.
THE BASEBALLS
12.03.
HOT CHIP Ausverkauft Support: KINKY JUSTICE ELSTERGLANZ
26.02.
04.03.
13.03.
18.03.
CHAMPIONS LEAGUE PARTY SENTINEL EAST WEST ROCKERS LA BRASS BANDA
25.03.
SHOUT OUT LOUDS
26.03.
02.04.
A+ PARTY MAARTEN CLARK EINSZWODREIVIER (ACTIONHÜGEL BOUNCEVEREIN) TIED TO THE 90TIES PARTY
05.04.
DANIEL JOHNSTON & BEAM ORCHESTER
18.04.
28.04.
TOCOTRONIC Ausverkauft Support: DILLON TOCOTRONIC Support: DILLON A+ PARTY MAARTEN CLARK EINSZWODREIVIER (ACTIONHÜGEL BOUNCEVEREIN) ELÄKELÄISET
09.05.
THE NATIONAL
14.05.
KOOL SAVAS
19.05.
PAVEMENT
20.05.
SIA
25.05.
MOTORPSYCHO + ROTOR
28.05.
A+ PARTY MAARTEN CLARK EINSZWODREIVIER (ACTIONHÜGEL BOUNCEVEREIN)
13.03.
18.04. 23.04.
yegor letov * 10 September 1964 † 19 February 2008
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Die Zukunft wird Gaga Björn Lüdtke
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Lady Gaga war in den letzten Momenten scheinbar überall. Statt sich als Popeintagsfliege bald wieder zu verziehen, hat sie mit ihrer medialen Omnipräsenz und dem hinter ihr herziehenden Hitgewitter überrascht. Viele haben versucht ihr Geheimnis zu ergründen, Björn Lüdtke vermutet hingegen, dass sie keines hat. Und das ist quasi ihre Erfolgsstrategie.
Neulich trat Julian Plenti in Kreuzberg auf. Das ist der Sänger von Interpol, der jetzt alleine Musik macht ist. Interpol mag ich gerne, aber leider ist das Solo-Konzert nicht halb so spannungsvoll wie die trainierten Oberarme von Mr. Plenti. Gähn. Nur einmal, gegen Ende des Konzerts, flippt das Publikum kurz aus. Und zwar in dem Moment, in dem Julian seine orangefabene Hipstermütze vom Kopf nimmt. Der Mob tobt. Ich bin überrascht. Das kennt man sonst nur von Madonna- oder Kylie-Konzerten. Da führt ein aus- oder umgezogenes Kleidungsstück auch zu solchen Ausrastern – im Gegensatz zum Publikum bei Julian Plenti ist dort eine derartige Reaktion auf eine solche vermeintliche Oberflächlichkeit jedoch zu erwarten. Aber bei einem Indie-Konzert? Der Look spielt im Pop eine wesentliche Rolle. Man denke nur an eingangs schon bemühte Größen wie Madonna. Von der heißt es gerne: Sie erfindet sich permanent neu. Das geht natürlich am besten über die Outfits. Wem verdankt Kylie ihr Comeback in die erste Liga der Superstars? Richtig: ihren Hotpants im Video zu „Spinning Around“. Übrigens behauptet sie heute noch steif und fest, sie hätte keine Ahnung gehabt, dass man ihren nackten Hintern so nah im Close-up sehen würde. Klar. Lady Gaga kennt jeder. Frag’ mal deine Mutter, ob sie weiß, wer Lady Gaga ist. Und dann frag’ sie mal, ob sie weiß, Für Bürgerkinder und Gymnasiasten ist RTL 2 wer – zum Beispiel – Rihanna ist … Allein den Namen der Gaga kann man sich schon leichter merken. Sie gerne das Sinnbild für „Unterschichten-TV“ hat natürlich die Zeichen der Zeit erkannt: Internet, Print, Clips, Fernsehen, Werbung, sogar Programm-Trailer auf und beliebtes Helferlein, um mal so richtig RTL 2 … alle Knöpfe werden gleichzeitig gedrückt. Nur, wer heute omnipräsent ist, hat die kleinste Chance, bekannt zu schön seinen Sozialchauvinismus ausleben werden. Lady Gaga ist Pop. Wie gut oder wie schlecht man den findet, den sie macht, sei hier mal dahin gestellt. zu können, denn RTL 2 ist eben der Sender, Die Boulevardpresse liebt Lady Gaga, genauso wie das Feuilleton. Denn immerhin hat sie sich mit vier Jahren schon selbst der Aufstiegssehnsüchten in Kombination mit das Klavierspielen beigebracht und bereits im Teenageralter schreibt sie eigene Songs; sehr bald auch für Showgrößen wie unbewussten Selbstinfantilisierungsneigungen die Pussycat Dolls oder Britney Spears. Die Gaga ist sozusagen ein Wunderkind. Als Referenzen nennt sie Andy Warhol die perfekte Bühne bietet. und lässt sich von David Bowie inspirieren. Alles Stichwörter, die die Verteidiger von Hochkultur und Künstlerauthentizität gerne hören. Vielleicht wollen die Feuilletonisten auch nicht den gleichen Fehler machen wie damals bei Madonna. Die wurde fertig gemacht, als sie sich am Anfang ihrer Karriere im Video zu „Like A Virgin“ auf einer Gondel in Venedig räkelte. Ihr
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Die Zukunft wird Gaga Björn Lüdtke
hatte keiner den Erfolg zugetraut, den sie bis heute hat. TwoHit-Wonder – maximal. Auch, wenn man sie langsam nicht mehr hören und sehen kann – sie hat geschafft, was wenige schaffen und wird auch von intellektuellen Größen wie der Kulturkritikerin Camille Paglia verehrt. Sogar Uni-Seminare über Madonna gab es schon an ein paar amerikanischen Universitäten. Obwohl beziehungsweise gerade weil das Feuilleton sie mag – nervt die Gaga nicht irgendwie? Warum wirkt sie so provozierend? Die nackte Haut, die sie zeigt, kann es nicht sein. Da waren selbst Britney und Christina zeigefreudiger. Das ist heute Standard und lockt keinen Sittenwächter mehr hinter dem Ofen hervor. Und ja, die Klamotten sind extremer als das, was man bisher so gesehen hat. Vor allem die Accessoires – wer steigt schon mit einer Teetasse samt Untertasse in der Hand aus einer Limousine aus … Wenn man Lady Gaga reden hört, kann man fast nicht glauben, dass sie erst 23 Jahre alt ist – so perfekt beherrscht sie die Regeln der Unterhaltungsindustrie. Ist der Interviewer schlecht vorbereitet oder stellt eine Frage nach dem Penis, den sie angeblich hat, wird sie schon mal ungemütlich. Aber ansonsten antwortet sie sogar auf die langweiligsten Fragen geduldig. Was sie ausdrücken will, kann sie präzise formulieren. Sie hockt da, in den abgefahrensten Kostümen (was durch die vergleichsweise biederen Interviewer oft extrem surreal wirkt) und ist – Überraschung – sympathisch. Wo man sie doch so gerne hassen würde … Lady Gaga wird uns in der medialen Zukunft noch eine ganze Weile begleiten. Ob uns das gefällt oder nicht. Sie wird mindestens genauso präsent sein wie Madonna über die letzten Jahrzehnte. Außerdem ist sie auf allen möglichen und unmöglichen Kanälen bereits so präsent, wie selten jemand vor ihr – hier setzt sie wahrhaft neue Maßstäbe. Man denke nur an die Kooperationen, die sie eingeht. Gerade hat Polaroid sie als Creative Director und Markenbotschafterin engagiert. Lady Gaga wird zu dem, was sie sein will: „My life is my work and my art.“ Teil ihrer Inszenierung ist es auch, klarzustellen, dass sie keine Marionette der Musikindustrie ist. Selbstbestimmung wird hier zum Teil der Performance. Wenn Beyoncé über Liebeskummer singt, dann fragt man sich: Woher kommt das? Die Alte ist doch seit Jahren glücklich mit Jay-Z liiert. Beyoncé, Britney & Co. trällern nur das nach, was man ihnen vorsetzt. In den Videos wird getanzt, was Choreograph und Regisseur diktieren. Lady Gaga macht viel selbst: Komponieren, Kostüm und vieles mehr. Was sie nicht selbst kann, delegiert sie an ihr Kreativ-Team „Haus of Gaga“. Vogue, Backstage, Frontrow, Kate Moss, Aber immer ist sie es, die die Fäden zieht. Karl Lagerfeld, den sie verehrt, sagte einmal: „Ich bin das Ergebnis dessen, was Versace - das sind die Stichwörter, die ich beschließe zu sein.“ Sie ist ihr eigenes, selbstbestimmtes Produkt. Lady Gaga wird groß sein. Und gut. Sie wird einem ganz spontan zum Modefotografen in der ersten Liga mitspielen. Schritte in die richtige Richtung hat sie schon gemacht – sie arbeitet mit renommierten Mario Testino durch den Kopf schießen. Künstlern wie Nick Knight oder Mario Testino zusammen. Den Provo-Pop, den sie uns gerade um die verwunderte Visage Und genau so verhält es sich mit ihm haut, benutzt sie nur als Türöffner in unser Gedächtnis. Bei wem sich einmal die sich penetrant wiederholenden Silben von auch: genau wie Labels, Magazine und „Pokerface“ oder „Paparazzi“ ins Gehirn geschraubt haben, der vergisst die Gaga so schnell nicht wieder. Erst MasModels der 90er Jahre ist er nicht mehr se, dann Klasse. Lady Gaga wird erst dann ihr ganzes künstlerisches Können auffahren, wenn sie jeder Mensch dieser Welt, ganz taufrisch, aber trotzdem immer noch der Zugriff auf irgendeinen Bildschirm hat, kennt. Vorher wird sie keine Ruhe geben. Bis es soweit ist, werden wir uns außer Konkurrenz. ihr Euro-Trash-Trance-Gestampfe anhören müssen. Auf allen Kanälen. Und jetzt lasst uns hoffen, dass sich meine Prophezeiung bezüglich der Qualität ihrer Musik bewahrheitet – dass die über die Jahre besser wird. Sonst wird die Zukunft eine Qual.
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Die Zukunft wird Gaga Björn Lüdtke
hat wieder
banale Grund: langweilige Hegemonie-Ent-
wöhnungspolitik, inklusive EU-Mitgliedschaftst-
rostpflaster. Muss ja jeder selber wissen.
er bereits als türkischer Gastarbeiter, als Bild-Redakteur, und als Call-Center-Mitarbeiter undercover unterwegs war, hat seine Rolle als Kwami Ogonno, in der er 14 Monate durch Deutschland gereist ist, in den letzten Monaten für große Diskussionen in den Medien gesorgt. Wallraff hat sich wie immer viel Arbeit gemacht, um sein Mediengesicht einmal mehr hinter einer Maske zu verstecken: Mit Sprühtechnik aufgetragene braune Schminke, dunkle Kontaktlinsen und ein falscher Afro sollten es ihm ermöglichen, am eigenen Leibe den Alltagserfahrungen der afrodeutschen Bevölkerung nachzufühlen. Im Gegensatz zu seinen bisherigen Rollen, und daraus rührt ein Gutteil des medialen Gegenwindes, der Wallraff derzeit ins Gesicht bläst, reiht er sich mit dieser Verkleidung jedoch in eine seit Jahrhunderten praktizierte Darstellungstradition ein: das sogenannte „Blackface“, eine Theater- und Unterhaltungsmaskerade, in der ein weißer Darsteller in die Rolle eines Schwarzen schlüpft. Karikierende oder stereotypisierende Darstellungen von Afrikanern kennt man in Europa schon aus der frühneuzeitlichen Karnevalstradition. Der niederländische „Zwarte Piet“ (schwarzer Peter) war ursprünglich eine schwarzgesichtige Teufelsgestalt (angeblich aus der Niederländischen Antillen stammend), mit der man unartigen Kindern Angst machte. Auch Shakespeares Othello wurde bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ausschließlich von dunkel geschminkten europäischen Schauspielern gegeben. Während das Stück selbst keinerlei rassistische Vorstellungen transportiert (der Mohr von Venedig war von Shakespeare als Maure angelegt, zur abwertenden Bezeichnung für einen Afrikaner entwickelte der Begriff sich erst später), ist dies einer Theaterkonvention zuzuschreiben, die für schwarze Darsteller lange Zeit keine Auftrittsmöglichkeiten vorsah. Zu einer dauerhaften Bühnenerscheinung wurden schwarz geschminkte Weiße erst in den heiter-rassistischen Minstrel-Shows, die ab den 1830er Jahren vom Süden der USA ausgehend ihr weißes Publikum mit Parodien afroameri-
einmal zugeschlagen. Nach dem
Günter Wallraff
kanischer Lieder und Tänze unterhielten. Kurze sketchartige Szenen karikierten das Leben auf den Plantagen des Südens sowie das Verhältnis der schwarzen Sklaven zu ihren weißen Herren. Diese immens populären Shows müssen als erste genuin amerikanische Theaterform gesehen werden. Ihre Darstellung der schwarzen Amerikaner als faul und abergläubisch, aber auch als musikalisch und mit einer „natürlichen“ Athletik gesegnet, gebaren Vorurteile und Klischees, die bis heute im Umlauf sind, auch weil für viele Nordamerikaner die Minstrels den ersten Kontakt mit Aspekten afroamerikanischer Kultur darstellten. Zur konventionalisierten Maskerade dieser Shows gehörten neben der Schminke aus Ruß oder Schuhcreme auch aufgemalte dicke rote Lippen und eine Wollperücke. Eben diese Assoziationen erweckt auch Wallraffs Verkleidung: Das schrillbunte Hemd im Ethno-Look, die unselige Afro-Perücke und der 70er-JahreSchnäuzer zeigen, welche Vorstellungen Wallraff von afrodeutscher Lebenswirklichkeit hat. Die von ihm verkörperte Figur ist eine aus der Zeit gefallene Vogelscheuche, der zu begegnen man sich allerhöchstens in den Niedriglohnsektoren von Gastronomie oder Tourismusgewerbe vorstellen könnte. In den einzelnen Szenen der Nummernrevue bringt Wallraff seine Negerpuppe auch stets zielsicher an jene Orte, an denen sich die höchste Fremdenhass-Trefferquote erwarten lässt. Der schwarze Wallraff taucht im Fanbus Cottbusser Fußballhooligans auf, will in Schrebergärten und Hundevereinen Mitglied werden, sich auf dem Ordnungsamt in Rosenheim der Jägerprüfung unterziehen und in Gummersbach mit der Senioren-Wandergruppe Brombeeren pflücken. Stets bewegt er sich aufdringlich in jene Bereiche
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Für seinen Film Schwarz auf Weiss hat sich Enthüllungsjournalist
Günter Wallraff als Afrikaner verkleidet. Steffen Köhn nimmt dies zum Anlass für eine kleine Kulturgeschichte des Blackface.
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Die Niederländischen Antillen werden sich
2010 auflösen. Aber nichts mit Klimawandel,
steigendem Meeresspiegel, Vulkanausbruch
oder Erdbeben. Der beinahe schon peinlich
Black like him Steffen Köhn
Die texanische Metropole und ehemalige Öl-Stadt Dallas ist nicht nur Heimat der Mavericks und Cowboys, sondern auch Namensgeber einer der erfolgreichsten Fernsehserien aller Zeiten. Die 70er/80er US-Seifenoper kann noch immer zurecht behaupten, a) einen der besten und größten Cliffhanger der Fernsehgeschichte kreiert (Who shot J.R. Ewing?), und b), die weirdeste Wiederauferstehungserklärung (Bobby unter der Dusche) neben Jesus Christus geliefert zu haben.
Der Bruderkampf der beiden Hauptfiguren J.R. und Bobby um das Familienunternehmen Ewing Oil war Kulisse für unzählige Intrigen, Sex, Korruption, Machtkämpfe und immer wieder auch moralischen Fragestellungen. Die Autoren machte vor für damalige Fernsehverhältnisse skandalösen Themen wie Inzest, Vergewaltigung und Selbstmord kein Halt. Übrigens: Die ARD enthielt seinen Zuschauern sieben Folgen der Serie mit der Begründung vor, diese seien zu langweilig. Der tatsächliche Grund war jedoch die zu explizite Darstellung von Gewalt und Sex.
zur Kleinbürger-Horrorshow gemacht, die sich mit demselben arrogant-ironischen Gestus rezipieren lässt wie Borat oder die Filme von Michael Moore. Dass die Ideologie des Rassismus heute von offener politischer Diskriminierung in unterschwelligere, aber immer noch systemimmanente Formen gewandert ist, die auch in Ämtern, an Universitäten und im Bildungsbürgertum anzutreffen sind, dafür ist seine „Enthüllungsstudie“ blind. Diese Formen subtilerer rassistischer Diskriminierung lassen sich mit einem Blick auf die Fortentwicklung des Minstrel-Genres nachvollziehen: Denn schon kurz nach dessen erster Erfolgswelle waren es oft afroamerikanische Entertainer, die in die Maskerade des Blackface schlüpften. Da die MinstrelShows ihre einzige Auftrittsmöglichkeit darstellten, wurden sie selbst zu Miterzeugern und Vermittlern eines Systems aus rassistischen Klischees und Stereotypisierungen. Für den Kulturwissenschaftler John Strausbaugh ist dieses auch in der heutigen Pop-Kultur noch immer am Werk, auch dann, wenn die Vorurteile zum Teil eine positive Form angenommen haben: Wann immer weiße Künstler sexy (wie Mick Jagger oder Elvis), authentisch (wie Eminem) oder an eine deepe Musikkultur angeschlossen (wie das Frankfurter House-Projekt Arto Mwambe) wirken wollen, bedienen sie sich afroamerikanischer Performance-Stile, Tanzbewegungen oder Identitäten. Damit verfestigen sie die Idee von der inhärenten Qualität afroamerikanischer Kultur als musikalisch, spirituell, intuitiv und unintellektuell, die einem weißen Publikum vielleicht begehrenswert und faszinierend, auf jeden Fall aber immer fremd erscheint. Unter diesen kulturellen Voraussetzungen, unter denen dann beispielsweise auch das Wort „Nigger“ für weiße Hip-Hop-Hörer wieder zum benutzbaren Begriff geworden ist, bedarf es einer komplexeren Analyse, die rassistisch geprägte Vorurteile nicht nur in der ostdeutschen Provinz und beim Kölner Edeljuwelier auffinden will, sondern auch in den Medien und den Spielarten der Hoch- wie der Popkultur.
Die Intuition hatte in den letzten Jahren ein ordentliches Comeback. Ob als emotionale Intelligenz, als Bauchentscheidungen erfolgstrainierter Manager oder volkstümliche Beschreibung kreativer Begabung - wer sich intuitiv verhält, scheint auf der Gewinnerseite zu stehen. Intellekt und Vernunft sind in vulgären Wellnesstheorien allgemein als zu einseitig verschrieen. Verkopft sein wird da mittlerweile als Schimpfwort gebraucht. Wenn es ganz schlimm kommt, beneiden auch mal Männer die Frauen um ihre „weibliche Intuition“, die sie sich als besonders ausgeprägte emotionale Gehirnhälfte imaginieren. Da hört der Spaß aber endgültig auf.
deutschen Lebens hinein, in die sich viele Einheimische nie freiwillig wagen würden. Die existentiellen Dimensionen seines großen Vorgängers John Howard Griffin erreicht Wallraffs Mummenschanz dabei nie. Griffin, ein weißer Journalist aus Dallas, bereist im Herbst des Jahres 1959, also zu Zeiten von Segregation und offener Diskriminierung in der Rolle eines Afroamerikaners den Süden der USA. Für seine Verwandlung entscheidet er sich gegen jede Theaterstaffage und lässt sich auf ein riskantes Experiment ein: Er rasiert sich die Haare und begibt sich in die Hände eines Dermatologen, der mit Hilfe von Medikamenten und intensiver UV-Bestrahlung seine Hautfarbe verändert. Seine Reiseerlebnisse sind traumatisch: er wird angestarrt, beschimpft und attackiert, würdelos behandelt, oft gelingt es ihm nicht einmal eine öffentliche Toilette zu finden, die er benutzen darf. Nach einigen Wochen ist Griffin so frustriert, dass er seine Medikamente für einige Tage absetzt. Seine Haut wird heller, er beginnt daraufhin wie ein Chamäleon die Hautfarbe zu wechseln, besucht Orte erst als Schwarzer, dann als Weißer. Als nach seiner Reise sein Buch Black like me veröffentlicht wird, ist der Aufruhr groß. Er erhält Morddrohungen, in Mansfield wird eine ihm nachgeformte Puppe verbrannt.Integraler Teil von Griffins Reportage ist jedoch auch eine lange Serie von Interviews mit den politischen Köpfen des afroamerikanischen Widerstandes. Bei Günter Wallraff fehlt diese Perspektive völlig. Afrodeutsche scheint er sich nur als Opfer von Rassismus vorstellen zu können, obwohl es hierzulande doch zahlreiche schwarze Künstler, Intellektuelle und Politiker gibt, die durchaus das Wort in eigener Sache ergreifen. Wallraffs Projekt wirkt damit nicht nur paternalistisch und unzeitgemäß, es geht an den existentiellen Problemen schwarzer Deutscher, von denen auch prominente Afrodeutsche immer wieder berichten, völlig vorbei. Wallraffs Gier nach bizarren Szenen und Personal hat seinen Film unfreiwillig
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Black like him Steffen Köhn
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Juan aber das Nichts und das G ift L aura Ewert
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Das Feuilleton braucht ein haderndes und hassendes Ich, findet Laura Ewert. Und fordert mehr Rotzen und Autoren, mit weniger Ekel vor sich selbst.
Letztens rief mich ein älterer Kollege an. Er war ganz aufgebracht am Telefon und redete schnell und viel. Er warf mir vor, einem Interview, das ich geführt hatte, habe eine entscheidende Grundlage gefehlt: meine Interpretation des Werks, mit der ich dem Künstler hätte entgegnen müssen. Er behauptete, ich hätte meinen Job, die Recherche, nicht gemacht und das Interview nur effekthascherisch inszeniert. Ich glaube, das Wort Schauspiel fiel auch. Möglicherweise hielt er mich sogar insgeheim für blöde. Erklärungsversuche ließ er jedenfalls nicht zu. Falsch sei das. Punkt. Vielleicht hatte er sogar ein wenig recht, ich hatte die Texte der kompletten Discographie nicht auswendig gelernt, ich hatte nicht angefangen irgendetwas ins Verhältnis zu setzen und dabei dem Interviewten schlaue Sätze zu entlocken. Ich hab mich einfach unterhalten und ich hatte mir auch nicht die Mühe gemacht, eine Interpretation zu konstruieren. Man konnte das auch heraus lesen, ich gebe das zu. In seinen Interviews kommt der Fragesteller am besten selbst nicht vor. Tut er es doch, zeigt er Emotionen oder lässt gar sein Scheitern sichtbar werden, wird das Gespräch vom unsicheren Schlussredakteur schon mal im Vorspann als „skurril“ angekündigt. Es herrscht also Uneinigkeit in den deutschen Kulturteilen, darüber, wie viel Pop man verträgt. Herr Feuilleton mag es gar nicht, wenn er sich nicht als allwissende Instanz behaupten kann. Dabei verringern Texte, in denen der Autor eine Rolle spielt und nicht den Gelehrten gibt, dessen Persönlichkeit mit all dem nichts zu tun hat, die Distanz zwischen Autor und Leser. Etwas, das Interesse wecken könnte, das ist den Print-Produkten mehr und mehr abhanden gekommen. „Wir schreiben immer mehr für Eliten. Also müssen wir in gute Redakteure investieren, die gute Geschichten schreiben können“, sagte Sergej Lochthofen, ehemaliger Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen letztens und löste in mir damit ein unwohliges Schütteln aus. Ja, gute Redakteure, klar, die wären schon nicht schlecht. Aber wer kann sich schon leisten, Zeitungen nur für die „Elite“ zu machen? Und wer will den „Rest“ denn einfach so zurück lassen? Erkenntnis kann doch manchmal auch so schön einfach sein. Man muss aufhören, Unterhaltung ständig mit Anspruchslosigkeit zu verwechseln. „Was Popzeitschriften brauchen, sind Leidenschaft, hitzigen Streit, kühne Behauptungen, Oberhoheit der Autoren, individueller Stil, eigene Thesen“, behauptete Sebastian Zabel im Oktober 2009 in einem leidenschaftlichen Text in der Welt am Sonntag. Und man will hinzufügen: nicht nur die Popzeitschriften, das würde jedem Kulturteil ab und zu ganz gut stehen. Aber wenn Autoren Angst davor haben müssen, als Autoren sichtbar zu werden, dürfte es schwer werden mit den kühnen Behauptungen und dem individuellen Stil. Man könnte glatt denken, der Journalist ekele sich vor sich selbst. Das unschöne „man“ wird in den meisten Texten dem „Ich“ vorgezogen und ist in vielen Redaktion grundsätzlich verboten. Mehr als ein
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„der Autor dieser Zeilen“ ist nicht drin und angestrengt muss dieser Autor dann so tun, als ob er entweder nicht selbst bei der zu beschreibenden Veranstaltung dabei war, oder als ob er Musik- oder Theaterinszenierungen nicht stets auch mit persönlichen Erfahrungen betrachtet und bewertet. Niemand schreibt: „Das ist ein super Album, um Analsex mit der Nachbarin zu haben, nachdem man zwei Tage wach war“, obwohl es dem Leser dieser Rezension mehr über die Musik sagen könnte als das unaufhörliche Nerd-Gewichse männlicher Musikjournalisten Ende 30, die an ihren freien Wochenenden allen Ernstes unter ihrem Autorennamen auflegen. Wie viele Nebenprojekte ein Sänger hat, sagt vielleicht etwas über seinen Arbeitsdrang aus, aber leider nichts über seine Musik und die mit ihr verbundenen möglichen Empfindungen. Ich wünsche mir überraschende Gedanken, keine Ergebnisse einer zu Ende geführten Debatte, die im Wettlauf mit der Sperrfrist zusammen gekloppt werden muss. Da machen sich Chefredakteure Gedanken, wie sie ihre Titel wenigstens noch ein paar Jahre am Leben erhalten, adaptieren Strukturen, wie sie aus dem Netz bekannt sind, verbieten ihren Autoren jedoch Flapsigkeit und Texte aus der Ich-Perspektive. Aber ist genau das nicht auch Teil des Netzes? Die Über-Subjektivität seiner Nutzer und der „Und Autoren fürchten die Verletzlichkeit, dadurch entstehende Diskurs? Die Unabhängigkeit von Zeit? Welcher Text kann mehr Feuer und mehr Dichte haben in die sie sich bewegen, wenn sie sich als der, in dem der Autor sich auch auf das bezieht, was er am besten kennt – sich selbst. Ist es nicht gerade in der nicht hinter fremd belegter Theorie verKulturbetrachtung, in der es keine Allgemeingültigkeit geben kann, nützlich, eine zusätzliche individuelle Ebene aufzustecken können. Dabei ist das Subjektive machen? Welch Freude ist es, einen Autor zu lesen, der sein Gesicht zeigt, dabei muss es ja nicht mal sein echtes sein. doch längst Theorie. Zwar kann man mit Wie gerne würde ich von jemandem lesen, warum er Peter Fox so richtig scheiße findet, anstatt eine genaue Beschreiseiner Meinung auch alleine da stehen, bung seiner Affenmaske. Ein Autor, der hadert, der hasst, der liebt. Redaktionen betrachten solche Texte meist mit aber wenigstens hat man eine.“ fasziniertem Unverständnis, da sie eben nötige Diskussionen eröffnen, ohne bewusst einen Anspruch auf die Wahrheit durchzusetzen. Und Autoren fürchten die Verletzlichkeit, in die sie sich bewegen, wenn sie sich nicht hinter fremd belegter Theorie verstecken können. Dabei ist das Subjektive doch längst Theorie. Zwar kann man mit seiner Meinung auch alleine da stehen, aber wenigstens hat man eine. Etwas, mit dem wenige Lifestyle- und Kulturberichterstatter locken. Es hat sich ein gähnend langweiliger bis erschreckender Geschmackskonsens eingeschlichen. Nirgends – außer im Netz – wird man etwa lesen, dass der Sänger von Hot Chip eine wahnsinnig nervende Stimme hat. Die Autoren deutscher Tageszeitungen, denen man eine unterhaltende Spleenigkeit und ein beachtliches Fachwissen entliest, lassen sich an einer Hand abzählen. Von den Autorinnen ganz zu schweigen. „In seinen besten Momenten funktioniert Popjournalismus wie ein Popsong“, sagt Sebastian Zabel in seinem flehenden Artikel. „Dann erklärt er die Welt in ein paar Zeilen, einem prägnanten Riff, in drei unvergesslichen Minuten, die nachhallen ein Leben lang.“ Lasst uns halt einfach ein wenig mehr N G L E rotzen. aber das ichts und das
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Die einen wollen nicht erwachsen werden, die anderen nicht mehr jung sein. Und alle schauen im Fernsehen Serien mit Jugendlichen, die aussehen wie Erwachsene, die angezogen sind wie Teenager, die Probleme haben wie Erwachsene. Nina Scholz ist eingetaucht in diese verdrehte Welt, aus der es anscheinend kein Entkommen gibt.
Televising my Generation Nina Scholz
Es ist schon etwas länger her, da passierte etwas Ungeheuerliches. Ich machte zwei prägende Erfahrungen: Ich war um die 19 Jahre alt, hatte gerade mein Abitur hinter mich gebracht und zog zum Studieren in eine große Stadt. Die erste Erfahrung machte ich gleich zu Beginn meines Studiums. Nach meinen ersten Politikseminaren hab ich mich gleich an Tobias rangehangen; ich sah uns als Verbündete in einem Institut voller Streber, denn Tobias hatte Dreadlocks, wohnte wie ich in einer WG, legte Drum ’n’ Bass auf und ravte gerne. Es gab nur ein Problem: Tobias war konservativ. Nicht wertkonservativ und religiös wie die Christen-Spinner in meiner alten Schule. Religion interessiert ihn nur als, Zitatanfang: wertmoralische Stütze der Gesellschaft, Zitatende. Viel wichtiger war es ihm, in unserer sich so schnell verändernden Welt die Werte herauszubekommen, die sie stabilisierten. Von meinen frisch aufgesaugten Begriffen wie Dekonstruktion, Fortschritt, Umwälzung wollte er nichts wissen. Mein Kopf schwirrte: Wir konnten also jeden Abend ausgehen, kulturell alles miteinander teilen und trotzdem nicht einmal einer Meinung sein? Die andere Erfahrung war etwas langwieriger, und es hat mich mehr Zeit gekostet zu verstehen was los ist: Ich hatte meine Abizeit in der fälschlichen Annahme verbracht, dass es nun bald losgehen würde mit diesem richtigen Leben, ein bisschen wild, ein bisschen verantwortungsbewusst und dabei stetig erwachsener werdend. Doch lange Zeit passierte erstmal: Nichts. Kombiniert man beide Erfahrungen, kann man sich ausrechnen, dass ich meine Zwanziger mit ganz schön vielen Fragezeichen und sehr wenig Ahnung verbracht. Beides ist richtig. Beides war
schön. Beides ist nicht unbedingt vorbei. Die Einsicht, HATE dass Werte ins Strudeln gekommen, Links und Rechts, Oben und Unten als Koordinaten in Auflösung begriffen sind, ist ziemlich allgemeingültig für diese sogenannten Nuller-Jahre, die weder gesprochen noch geschrieben schön sind. Die Zwanziger, oder sogar die Dreißiger läuten für viele nicht mehr die Phase in dieses sogenannte Erwachsensein ein. Selbst ehemals bedeutende Meilensteine wie abgeschlossenes Studium, Arbeitsverträge, Versicherungen, Steuererklärungen oder auf die Welt gebrachte Kinder bilden keine verlässlichen Initiations-Grenzen mehr. Dabei hätte ich das alles schon ahnen können, denn eine Generation kann man doch immer noch am besten an ihren Vorbildern erkennen. Und die Vorbilder meiner Bezugsgruppen sind allesamt nicht erwachsen. Ständig höre ich Freaks and Geeks, Angela Chase und Jordan Catalano, Buffy, Rory Gilmore, Eric Cartman. Einzige Gemeinsamkeit dieser Helden meiner Freunde: Sie gehen alle noch zur Highschool. Ist das nicht ein bisschen merkwürdig? Wohl nicht, bei Serien, in denen Waffen, Sex und Vampire zum Leben gehören und in einer Welt, in der keiner mehr erwachsen werden möchte. Sehen diese vermeintlichen Jugendlichen im Fernsehen nicht auch oft wie 30jährige aus? Schon bei Dawson’s Creek schien es sich eher um eine Mimesis zu handeln, bei der Erwachsene Schüler spielen, die Probleme von Erwachsenen haben. Die wichtigste Information ist viel- zung und seine Erniedrigung, dass niemand neben ihm sitzen leicht, dass die Autoren, die diese Figuren entwerfen, ja selbst möchte, seine Schmetterlinge im Bauch, wenn er die Cheerleadeein Zerrbild ihrer eigenen Jugend mitschleppen. Eine Jugend, rin sieht, mit dem Leben so genannter Postadoleszenten in westdie lange zurück liegt und trotzdem nicht beendet scheint. Kann europäischen Metropolen gemeinsam? Wie im sogenannten wirklich nichts mehr kommen nach dieser Postmoderne? Jeden- richtigen Leben geht es den Figuren wie uns darum, die großen falls lagen die Begriffe Generation und Geburtskohorte noch nie sozialen Probleme in einem individuellen Nahkampf mit uns soweit auseinander. Aber nicht nur jung und alt verhalten sich selbst zu bewältigen. Paradoxerweise sind sowohl Teenager als auffällig deckungsgleich, auch links und rechts sehen sich in- auch TV-Show erst langsam auf dem Weg ernst genommen zu werzwischen zum Verwechseln ähnlich. Punk sind außerdem den. Auch die unfertigen Erwachsenen haben Rechtfertigungsproauch noch alle. Sogar Oliver Kahn. In dem neuen Magazin Busi- bleme. Seit die Drehbuchautoren also über sich selbst schreiben ness Punk , das die Welt auf den Kopf stellt – aber nicht in dem und keine Jugendlichen mehr erfinden müssen, die sie aus PädaSinn, in dem es intendiert war – gibt er Auskunft über die gogenbüchern, empirischen Studien und Vorurteilen zusammenkrasse Wildheit in seinem Leben: „Wenn morgens auf dem Fir- schreiben, sind ihre Serien auf allgemeinem Erfolgskurs. Die menparkplatz alle längs in die Parklücke fahren, fährst du eben Sender haben jetzt auch die Zuschauer bis 45 im Visier. Und was ist mit denen, die wirklich jung sind? Die fühlen einfach mal quer rein. Schon hat sich etwas bewegt, schon entsteht Energie“, erzählt der Ex-Torwart einem Interviewer. Ausse- sich verstanden. Vielleicht doch nicht alles falsch in Absurdistan. “One thing doesn’t change: Teenagers suck.” Nicht nur das Erwachsensein ist jetzt ein fantastischer Primat, Frankie Heck hen wie der Verteidigungsminister Guttenberg ist Rock ’n’ Roll, das ist das traurige Lehrstück dieser Jugend, von der die ersten auch die Kategorie Teen funktioniert nur im Hybridstadium, schon in den Vierzigern sind. Die Jugendlichen von heute! Sie muss immer auch Comedy, Soap, Melodram oder Vampirserie bauen sich selber aus den schon so oft zusammengesetzten Vor- sein. Aber es sind ja nicht nur die Serien, sondern auch die Filme. lagen zusammen. Gemeinsam alleine zu sein, das ist ihre einzige Spätestens seit Wes Cravens Scream hat sich das Slasher-Genre Schnittmenge. Jeder ist immer schon der andere. Das ist die vom Erwachsenengrusel, der mit Jugendlichen besetzt wird, tatneue Isolation. Eine Babuschka-Puppe, als deren kleinster Be- sächlich zum Teeniehumbug entwickelt – und wird nicht zuletzt standteil immer nur das Murmeltier grüßt. Sie sind alle sophis- von Enddreißigern geschaut. Die erzeugte Furcht ist im Übrigen ticated, geistreich, brutal, wissend, naiv, strampelnd, rührselig, nicht deckungsgleich mit teenage angst. Die Rechnung zynisch, ausgebildete Hochstapler, hedonistisch, idealistisch, hat die Filmindustrie schon in den 50er Jahren gemacht. Das pflichtverdrossen. Sie führen sich auf und erwarten Autonomie „Peter Pan-Prinzip“ geht so: Da ein junger Mensch alles schaut, und Individualität, von sich, von anderen. Beides wird ihnen was ein älterer auch schaut, aber ein älterer nicht, was ein junger verwehrt. Sie haben Angst vor dem Alleinsein, vor dem Zusam- schaut, und da ein Mädchen auch alles schauen möchte, was der mensein, vor dem Anderssein, vor dem Gleichsein. Ab- Junge sieht, der Junge aber bei weitem nicht das, was das Mädgleichen, anpassen, anordnen. Das sind die Zauberwörter, die chen mag, muss man soviel Serien und Filme wie möglich drehen, den Generationenbegriff aufgelöst haben. Ihren Serien die 19-jährigen Typen gefallen würden. Nun gut. Realität geht es nicht anders. Die Neuauflage des noch verhältnismäßig und Fiktion waren jedenfalls nie mehr verschlungen als in den unschuldigen Beverly Hills 90120, kurz nur noch 90210, wurde aktuellen Teen-Serien. Nicht weil ihre Darstellungen von Draerst erfolgreicher, als die Dramen der Protagonisten nicht mehr men, Problemen und Figuren so ungeheuer realistisch sind, sondenen von Teenagern entsprachen, als Tod, Mord, Sex, Betrug in dern weil die Realität der Drehbuchautoren denen der Schüler den berühmtesten Zipcode der Welt einzogen. Melrose Place entspricht. Sie hören vielleicht nicht die gleiche Musik, sie verstewurde daraufhin auch wiederbelebt. Funktionierte die Serie in hen sich aber dennoch. Schön für die Schüler, vielleicht sollte sie den frühen 90ern noch als Generation-X-Soap, kann man beide aber schon mal jemand vorwarnen, dass sie keine neuen ErfahSerien nun nicht mehr unterscheiden. Letztere wird wohl in Er- rungen mehr machen werden im Hamsterrad der Postmoderne. mangelung von Zuschauern nach der aktuell laufenden, ersten Aber auch die Älteren fühlen sich aufgehoben: Das Überzeichnete Staffel eingestellt werden. Der Fernseher spielt im Teen- der Teenfiguren einerseits, aber die Reduzierung ihrer Probleme agerdasein eine wichtige Rolle. Mit der viel beschworenen Isola- auf „one case, one week“ scheint die Hysterien ihrer Identitäten tion irgendwelcher Pädagogenspinner, die bloß Angst angesichts mit einer gewollten Einfachheit zu kreuzen, die es in diesem richirgendwelcher von der Steckdose betriebenen Innovationen ha- tigen Leben lange nicht mehr gibt. Die meisten Highschoolserien ben, hat das allerdings nichts zu tun. Ein paar Geisteswissen- scheitern am eigenen Plot, wenn die ProtagonistInnen dann zur schaftler ahnen das: Fernsehschauen sei soziales Verhalten, be- Uni entlassen werden. Den Bruch verkraften weder der Schauspiehaupten sie. Es liefert gemeinsame Erfahrung, Referenzrahmen ler noch die Autoren, denen dann die guten Geschichten ausgeund erleichtert die Wachstumsschmerzen des Erwachsenwer- hen. Die Graduation-Folge beendet die Erfolgswelle der Highdens, weil zumindest dort sie jemand versteht. Aber was schoolserie. Aber wie heißt es so schön: You never graduate hat der isolierte, einsame Gang eines amerikanischen Jugendli- life. T G N S chen durch einen Highschool-Speisesaal, was haben seine Verletsechs
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elevising my
eneration ina cholz
Wolfgang Frömberg hat einen Roman geschrieben. Er heisst Spucke und erzählt die Geschichte des Popjournalisten Walter Förster. Dieser häuft soziales K apital an, lebt aber prekär. Das Buch handelt vom Alltag und der Kunst, aber auch von
Glück und Erfolg beziehungsweise wie sich beide überhaupt messen lassen.
Richard hatte letztens behauptet, er sei auf Acid David Bowie begegnet. Bowie sei mit Richard in einen Plattenladen gegangen und habe sich zehn Pfund von ihm geliehen, um eine Platte des Mahavishnu Orchestra zu kaufen. Danach war er spurlos verschwunden. Richard diente die Story als Grund, immer weiter mit Halluzinogenen zu experimentieren. Eines Tages würde er Bowie wieder treffen und seine Knete zurückverlangen. Förster rätselte, ob die Jesus-Erscheinung seiner Unterstützung von Richards Selbstversuchen geschuldet sein könnte. Kaum wahrscheinlich, denn es war zwei Wochen her, dass die beiden das letzte Mal einen Trip geschmissen hatten. Vielleicht gab es in jeder Stadt der Welt einen Jesus und einen Lüftungsschacht, vor dem er im Winter sein Nachtlager aufschlagen konnte. Ein Zuhause. Förster dachte an sein neues Zuhause. An die Kammer, in der er schrieb, während Richards und Isobels Streitigkeiten tobten. Manchmal herrschte beklemmende Ruhe, weil Richard Instrumente
stimmte oder die Bude verdunkelt wurde, da Isobel ihre Fotografien – allesamt mit mystischen Motiven – entwickelte. Er bewunderte ihre Kunstfertigkeit und blieb ein Fremder. Neben seinem Bett lag das Buch, das Bobby ihm per Post geschickt hatte. Das Bildnis des Dorian Gray von Oscar Wilde. Die Geschichte des ewig jugendlichen Bohemiens. Diese Frage nach seinem Alter, die Houdini Zwo ihm gestellt hatte, war ihm in London wieder öfter zu Ohren gekommen. Etwa wenn er in den Speed-Club im Mars ging, wo jene Drum’n’Bass-Musik lief, die er von den Kölner Cosmic Orgasm-Partys kannte, wurde er regelmäßig nach seinem Ausweis gefragt. Er schien nicht zu altern. Eine ideale Romanfigur. Förster schnippte die aus trockenen Tabakresten gezwirbelte Kippe weg. So weit, dass er fast den im Abgang von der Bühne seines Blickfelds befindlichen Jesus von Chinatown getroffen hätte, dem das schlabberige Butterbrot aus dem Müll beim Reinbeißen in tausend kleine Teile zerfiel. Lass dich nicht verarschen!, schallte Richards Warnung durch sein Hirn. Houdini Zwo war jetzt schon eine kleine Weile zu lange weg für Försters Geschmack. Hatte er denn auch wirklich damit rechnen können, dass er wiederkam? Das Geld steckte bereits in seiner Tasche, und er könnte einfach einen Ausgang auf der anderen Seite des Gebäudes nehmen. Vermutlich wäre es schlauer, wenn ich mich dort postieren würde, dachte Förster. Jesus bückte sich derweil nach einer Gurkenscheibe auf dem Asphalt. Förster mochte es nicht mit ansehen. Die Realität war eine Provokation. Er drückte gegen die Tür im hellblauen Rahmen, die eine andere Wirklichkeit versprach. Zu seiner eigenen Überraschung ließ sie sich öffnen. „Miggedi – mind! Mind the Gap!“ Dimitri Houdini war morgens der Erste bei der Bahnstation. Das Gepäck an seiner Seite,das Asthmaspray zur Hand. Während er Passagen aus Songs von Kurtis Blow und Eric B. & Rakim zitierte, wonach er vor allem Wortspielereien von Das EFX in den Mund nahm, sprühte er sich eine Ladung zwischen die lahmen Lungenflügel. Aber das Fliegen würde ihm ja heute von der Lufthansa abgenommen werden. Ach, du Scheiße! Beim Griff in die Jackentasche fiel ihm auf, dass er sein Werkzeug dabeihatte. Das konnte er unmöglich mit ins Flugzeug nehmen. Sie würden am Ende noch denken, er wolle die Maschine kapern. Da von Bobby und Förster noch nichts zu sehen war, schaute Dimitri sich auf die ihm eigene Weise um. Wie eine Elster, der etwas Glitzerndes ins Auge gesprungen war, zog es ihn ein paar Meter weiter zum Häuschen für wartende Bahnpassagiere. Unter einer Scheibe prangte das Werbeplakat für Lucky Strike-Zigaretten. Ein Blick nach links. Einer nach rechts. Einer auf den Inbusschlüssel in der Hand. Ein Blick auf den Verschluss der Klappe, unter die das Werbeplakat geschoben werden musste, damit es hinter dem Glas hell erleuchtet Reklame machte. Immer noch kein Bobby. Immer noch kein Förster. Immer noch keine Bahn. Und in dieser Herrgottsfrühe auch sonst niemand in der Nähe. Dimitri Houdini steckte aus reiner Neugier den Schlüssel ins Schloss. Passte! Er versuchte, die Klappe mit der Scheibe aus ihrer Verankerung zu lösen. Funktionierte nicht. Auf der anderen Seite gab es noch ein Schloss. Wenn das jetzt ein anderes war … Nein, Houdinis Werkzeug ließ sich problemlos anwenden. Die Klappe war offen und – Blick nach links, Blick nach rechts – der Langfinger konnte das Plakat herausziehen und es in Windeseile aufrollen. Vor lauter Aufregung holte er noch schnell einen fetten Edding aus der Tasche und malte sein Tag auf die Scheibe. Die Signatur von einem, der sich (fast) nie erwischen ließ. Kaum hatte er sich ein paar Meter weit weggestohlen, tauchte Bobby Belmondo an der Haltestelle auf. „Was ist das denn, Dimitri?“ „Begrüßungsgeschenk für Isobel und Richard. Und vielleicht eine neue Geschäftsidee. Ein paar Mark könnte man für so ein Plakat doch sicher verlangen, was meinst du?“ Bobby lachte leise in sich hinein wie jemand, den überhaupt nichts mehr überraschen kann. Er formte mit der Hand einen Windschutz, um seine Zigarette anzünden zu können. „Ich
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habe gerade etwas über Moral gelesen, Dimitri …“ „Mensch!“, rief Houdini. „Sag mir lieber, wo Förster steckt. Wenn meine Uhr richtig geht, dann bleiben ihm zwei Minuten …“ „Scheiße, ehrlich? Und wenn der Penner nicht kommt? Wir wissen ja nicht mal die Adresse.“ Bobby wurde blass um die Nase. „Er kommt schon!“, versuchte Dimitri ihn zu beruhigen. Bobby nickte: „Okay, wenn du es sagst!“ Als der Zug anhielt, hatten sie nur wenige Sekunden, um zu entscheiden, ob sie ohne ihren Freund einsteigen sollten. Die beiden schauten sich ratlos an und taten es immer noch, als die Bahn wieder losrollte. Okay, Moment … ! Sie waren vom Fahrplan abgekommen, aber noch war es nicht zu spät, auch wenn sie nun unter Zugzwang standen. Die Freunde beschlossen, dass sich ihre Wege an dieser Stelle zunächst trennen sollten. Bobby würde sich auf kurzer Route zu Försters Wohnung begeben. Dimitri kümmerte sich um das Gepäck und schleppte es bis zur wesentlich näher gelegenen Telefonzelle, um weitere Hebel in Bewegung zu setzen. Er rief seine Mutter an, die wiederum Förster aus dem Bett klingeln sollte. Aber dessen Telefon funktionierte ja gar nicht. Auch Bobby hatte kein Glück. Er läutete – total aus der Puste vom Rennen – fünf Minuten an Försters Tür. Keine Reaktion. Dimitris Mutter war derweil aufgelöst vor Sorge, Förster könne etwas Schlimmes zugestoßen sein. Sie alarmierte ihre Tochter Monika. Und Dimitris Schwester sammelte nacheinander sowohl den fassungslosen Bruder als auch einen ebenso konsternierten Bobby Belmondo ein, um sie im Auto zum Flughafen zu chauffieren. „Total verrückt!“, meinte Monika beim Fahren. „Der kann doch nicht schlafen. Hätte er doch hören müssen, die Klingel …“ „Achtung, Monika, der hat Vorfahrt …!“ Houdini schwitzte und fluchte innerlich auf Förster. Wenigstens konnte er jetzt das Werkzeug bei seiner Schwester im Auto lassen. Abgesehen davon teilte er komplett Bobbys Auffassung: „Förster ist eine Pfeife!“ „Monika … schau, der will einfädeln. Uhhh … !“ Auf dem Parkplatz vor dem Eingang zu ihrem Terminal verabschiedeten sie sich eilig von der Hilfsbereiten, um zum Check-in zu spurten. Noch auf der Schwelle des Gebäudes hörten sie im Rücken einen lauten Knall, drehten die Köpfe und sahen Dimitris Schwester aus dem Auto steigen, dessen Stoßstange das Heck eines anderen Wagens küsste. Als sie innehielten, scheuchte Monika die beiden mit einer verzweifelten Geste von sich weg. „Los! Sonst verpasst ihr euren Flug! Haut ab!“ Schweißgebadet hockten sie schließlich im Flieger. Nach etwa einer halben Stunde kam über Bordlautsprecher die Ansage: Mr. Valentino and Mr. Brando! Mr. Förster missed the flight and will follow at 1.30 p.m. Please contact stewardess! Dimitri Houdini nahm einen tiefen Zug aus dem Inhalator. Förster schloss die Tür behutsam von innen. Eine hölzerne Treppe führte im engen Gang nach oben. Jemand hatte einen schmalen Teppich über die Stufen gelegt, sodass schmutzige Schuhe ihren Dreck an diesem Stoff loswerden konnten. Außerdem knirschten die alten und teils losen Bohlen nicht so unter den Schritten. Dieser Umstand kam Förster gerade recht, schließlich wollte er keine Aufmerksamkeit erregen. Die Treppe wand sich um eine Kurve, dahinter war es dunkel. Für einen kurzen Moment machte Förster halt. Dann dachte er an seine Kohle und Richards Leitfaden: Lass dich nicht verarschen! Nach der Biegung war die erste Etage erreicht. Hier gab es eine Tür. Förster nahm all seinen Mumm zusammen und drehte am Knauf. Verschlossen. Das Rappeln könnte allerdings jemanden auf der anderen Seite aufgeschreckt haben. Also setzte er schnell seine Erkundung fort, tapste durch das Dunkel bis ins zweite
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Stockwerk. Noch eine Tür, dahinter Stimmen, nicht zuletzt Musik. Während er sich fragte, was dies zu bedeuten haben HATE könnte, vernahm er die fatale Folge zweier Geräusche, die in kurzem, spannungsgeladenem Abstand – wie Blitz und Donner – zu ihm drangen. Erst leise Schritte auf der Treppe von oben. Dann das laute Klappen einer der Türen unter ihm. Er war zwischen den Etagen gefangen! Auch wenn es keine optimale Lösung zu sein schien, versuchte er im Reflex, die Tür vor seiner Nase aufzustoßen, hinter der die Stimmen und die dumpf klingende Musik zu hören waren. Die Tür ließ sich problemlos öffnen. Zu seiner Verblüffung befand er sich in einem Kinosaal. Auf der Leinwand tanzte ein Typ mit einer Rasierklinge in der Hand um einen anderen herum, der gefesselt auf einem Stuhl saß. Förster blinzelte in die Dunkelheit, konnte aber zunächst nicht erkennen, ob viel Publikum im Raum war. Wie ein Panther glitt er in die nächstgelegene Reihe, wo er sich klein machte und die Luft anhielt. Dieser Saal musste zum One Dollar House gehören! Diesen Film hatte er doch schon gesehen! Offenbar wurde Quentin Tarantinos Reservoir Dogs gezeigt! Hatte Houdini Zwo nicht von schlafenden Hunden gesprochen, die er hier drin wecken würde? Gerade lief die Szene, in der Mr. Blonde dem Polizisten das Ohr zu Stuck in the Middle with You abschnitt. Als er Reservoir Dogs zum ersten Mal gesehen hatte, war Förster nicht nur fasziniert von dieser Szene, sondern begeistert von der Form des Films gewesen. Die Zeit verging – und lief im Kreis. Tarantinos neues Werk, Pulp Fiction, wurde geradezu als Sensation gefeiert. Nachdem Mr. Blonde fertig war, schlich Förster zum Ausgang. Er horchte. Draußen schien nichts los zu sein. Also öffnete er die Tür einen Spaltbreit und schlüpfte hinaus. So schnell er konnte, trippelte er auf Zehenspitzen ein Geschoss tiefer. Die andere Tür stand offen. Förster spinxte ins Zimmer. Keine Menschenseele zu entdecken und nichts zu hören außer dem Geräusch einer dicken Brummfliege. In der Ecke stand ein Bett, ein paar Schritte davon entfernt lag eine Tasche auf dem Boden. Förster scannte den Ort wie in einem Thriller. Mit dem Mute der Verzweiflung huschte er hinein, angelte die Tasche vom Boden und durchwühlte sie. Ein Kulturbeutel. Förster öffnete den Reißverschluss und traute seinen Augen nicht. Lauter Pfundnoten! Er griff zum Portemonnaie in der hinteren Hosentasche, entschied aber, die Scheine im Tetrapocket zu verstauen, das sich in seiner Jacke befand. Sein Puls war so hoch und hektisch wie züngelnde Buschfeuerflammen. Dieser Mistkerl hatte sich aus dem Staub gemacht. Wem auch immer die Kohle gehörte, er musste dafür geradestehen. Kein Sterbenslaut zu hören. Die plötzliche Stille kam ihm spanisch vor und ließ ihn nach allen Seiten gucken wie ein Vogel. Da erst fiel ihm auf, dass jemand auf dem Bett lag. Im Zeitlupentempo erhob sich Förster. Er fand einen Weißen in einem Black Panther-Shirt auf der Matratze ausgestreckt. Ein Revolver lag auf dessen Brust, die sich sanft hob und senkte. Er schläft, dachte Förster. Es ist Bobby. Und er schläft tief und fest. Kein Grund zur Panik. Es ist Bobby Belmondo. Wie zum Teufel kommt Bobby Belmondo hierher? Mit einem Mal wurde ihm klar, warum es so still geworden war. Die dicke Brummfliege hatte sich auf dem Gesicht von Belmondo Zwo niedergelassen und schien fest entschlossen, in seinem Nasenloch zu O M R J C. B sechs
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verschwinden, passte aber nicht durch. Mach ruhig so weiter, dachte Förster. Dann wacht er gleich auf. Und ich möchte nicht wissen, wozu er die Knarre braucht. Manchmal hatte er sich Bobby als Revolvermann vorgestellt … Förster versuchte, keinen Mucks von sich zu geben. Eine Sekunde schien im Tempo eines vom Baumwipfel zu Boden taumelnden Herbstblattes zu vergehen 10, 9, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1 … Dann explodierte sein Herz mit einem Knall. Er rannte um sein Leben, ohne nachzudenken, die Stufen hinunter mit der Gewandtheit eines Tausendfüßers. Atemlos. Wenn jetzt die Tür mit dem hellblauen Rahmen verschlossen war! Hektisch riss Förster an der Klinke – er wunderte sich noch, dass niemand von hinten auf ihn schoss – und trat hinaus ins Tageslicht. Zwei asiatische Jugendliche. Jesus von Holweide. „Mind the Gap!“ Förster blieb das Herz für eine Sekunde stehen. Der andere starrte ihn an. Förster stammelte: „Oh, da … das sagtest du schon!“ „Ja,deutscher Bruder. Aber dich kann man scheinbar nicht oft genug warnen. Wo hast du denn bloß gesteckt? Habe ich dich nicht gebeten, genau hier auf mich zu warten?“ Er klang gereizt. Förster wurde übel: „Ja, aber ich musste … dringend … dringend … scheißen. Bin auf die Toilette vom Kino und habe dann den falschen Ausgang genommen, so bin ich irgendwie wieder hier gelandet. Tut mir echt leid. „Houdini Zwo zwinkerte ihm zu: „Zeit ist Geld. Für mich sowieso. Wenn du noch mal wiederkommst – und das wirst du, falls du kein Kostverächter bist – , weißt du Bescheid. Warten heißt Warten – das ist genau wie bei den Kindern und der Ampel!“ „Wie bei den Kindern und der Ampel“, wiederholte Förster, wobei er ein unauffällig zugeschobenes Plastiktütchen entgegennahm. „Danke und – ja – bis zum nächsten Mal!“ Förster war gerade zwei Meter vom Tatort entfernt, da hörte er Houdini Zwos Stimme: „Hey, warte mal!“ Zur Salzsäule erstarrt, wartete Förster, bis der Hustler seelenruhig ein paar Millimeter vor seine Nasenspitze geschlendert war und dort zum Halten kam. „Dein Freund, dem ich so ähnlich bin. Der weiße Nigger. Ist er ein guter Basketballspie-
ler?“ Förster blieb die Spucke weg. „Was ist denn? Weißt du nicht mehr …?“ „Doch, doch! Aber, äh, nein! Er ist ein ganz miserabler Basketballspieler. Dafür ist er ein sehr einfallsreicher Erfinder …“ „Ach ja?“ Houdini Zwo stemmte die Arme in die Seiten. „Was erfindet dein Freund denn so? Wertvolle Sachen?“ „Er hat … die Tetrapockets erfunden.“ „Oh. Tetrapockets! Was das wohl sein mag …“ Förster fummelte an seiner Jackentasche herum und zog das mit den Pfundnoten gefüllte Tetrapocket heraus. „So was hier erfindet er. Nimm es als Geschenk! Ich habe noch ein paar davon.“ Kein Hupen, keine Sirenen, keine Big IssueRöhre … Für den Bruchteil eines Augenaufschlags herrschte absolute Stille. Ob der Typ von dem gestohlenen Geld wusste? Das ist unmöglich, dachte Förster. Er kann es nicht mitbekommen haben. „Schieb es verdeckt in meine Tasche, wenn du an mir vorbeigehst“, flüsterte der andere. „Sonst kriegen wir noch Ärger mit den Bullen. Die haben ab und zu ein Auge auf mich …“ Förster tat wie ihm geheißen und verschwand – die Lippen vor Ärger und Anspannung aufeinander gepresst – im Strom der Menschen, der an der Big Issue-Verkäuferin vorbei hinunter in die Tube Station am Leicester Square schwappte, Richtung Clapham. Exklusiv-Interview mit den Stones Roses. Nur in der Big Issue … ! Das schöne Geld. Wie gewonnen, so zerronnen … Auf der Clapham High Street legte Förster einen Zwischenstopp beim Inder ein, der ihm wie gewöhnlich die Tür offen hielt. In dieser Gegend gab es viele Pakistaner und Inder, die Geschäfte betrieben. Entweder Imbisse oder Cornershops. Beim Take Away bestellte Förster meist eine Portion Tandoori Chicken. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, während er das dampfende Päckchen nach Hause trug. Links und rechts der High Street erstreckten sich endlos lange Straßen. For Sale-Schilder an den Hauseingängen säumten die Bürgersteige. Förster bog in die Caldervale Road. Richard lag noch immer mit seinem verstauchten Fuß auf dem Sofa und schaute Fernsehen. Er war am Tag zuvor im benachbarten Stadtteil Brixton gewesen, um Dope zu kaufen. Einige Typen wollten Schwierigkeiten machen, da hatte Richard seine Beine in die Hand genommen. Und war wie im Film auf einer Bananenschale ausgerutscht. Zu blöd, um wahr zu sein. „Wir können uns das Essen teilen“, meinte Förster. „Hast du Kiffen und Paranoia sind eng miteinander verGras bekommen?“ „Klar. War überhaupt kein Problem.“ Förster warf das Tütchen auf den Tisch. Richard quälte bunden. Bestes Beispiel hierfür ist der Journalist sich aus der bequemen Position, um es in Augenschein zu nehmen. Hinter dem Sofa, auf dem er lag, hing ein großes Lucky Mathias Bröckers, dessen Lieblingsthemen Strike-Plakat an der Wand. „Hey, das ist richtig viel. Und echtes Gras. Kein Bohnenkraut oder so eine Scheiße. Bist Hanf in all seinen Facetten und irrsinnige wohl an einen korrekten Typen geraten. Ich hatte bisher noch nie so viel Glück …“ „Ist es denn nicht immer derselVerschwörungstherorien sind. Der Mann ist das be?“, fragte Förster. „Nee, ist nie derselbe. Ich schätze, die Typen werden öfter hochgenommen. Und wechseln dann beste Beispiel, dass es vom beherzten Zug an lieber den Ort. Wenn du einen Stammdealer willst, musst du vermutlich echt flexibel sein.“ „Hattest du schon mal der Bong zum Glauben, dass das verjudete mit einem zu tun, der aussah wie ein schwarzer Zwillingsbruder von Dimitri Houdini?“ Richard lachte: „Nee. Wie Ostküstenkapital die Fäden in der Hand hält und kommst du denn darauf?“ „Weiß nicht“, antwortete Förster. „Nur so ein Gedanke.“ Die nächsten Stunden 911 ein Inside Job war, nicht allzu weit ist. verbrachten die beiden damit, Joint um Joint zu rauchen. Das Vierspur-Gerät, mit dem sie eigentlich einen neuen Song hatten aufnehmen wollen, stand – unbenutzt wie Försters Textblätter – auf dem Tisch. Als Richard eingeschlafen war, schlich Förster in sein Zimmer und versuchte die Eindrücke des Tages handschriftlich niederzulegen. Doch die Worte, die er schrieb, verhielten sich zur Wirklichkeit wie die weiße Maus zum Elefanten, der wusste, dass er mal eine Mücke gewesen war. Kiffer-Paranoia! Förster horchte auf sein Herzklopfen. Wenn ich nur ei-
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„Total pleite stand Förster nach der Landung auf dem Boden der Heimat, die er verlassen hatte, um unter Menschen zu gehen. Weder Dimitri noch Bobby kamen, um ihn dort abzuholen. Ein besseres Leben? Der Zug schien endgültig abgefahren. Stattdessen fiel er in ein bodenloses Loch.“
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nen Krimi schreiben könnte! Wie Chester Himes, den sie in der Spucke empfehlen. Eine Erinnerung überfiel ihn als kalter Schauer: Dich interessiert doch nicht was du erlebst/Nur das was du davon erzählen kannst . Oder hieß es: Wie du davon erzählen kannst ? Plötzlich wurde die Tür seines Zimmers geöffnet. Isobel stand auf der Schwelle, ihre großen märchenwalddunklen Augen leuchtend, als würden inmitten einer Lichtung Flammen lodern. Sie hatte einen Finger a priori zur Beruhigung auf die Lippen gelegt. In einer Art Gebärdensprache bat sie Förster, das Licht in seiner Kammer zu löschen und ihr ins Wohnzimmer zu folgen. Dort bedeutete sie ihm, sich mit Richard und ihr leise hinter das Sofa zu kauern. Als die Türklingel in die Stille hinein schellte, klang das Geräusch in Försters Kopf wie eine Kirchenglocke. „Sagt mal, was ist hier eigentlich los?“ Richard wirkte fremd in dieser Welt, wie aus einem Gemälde von Hieronymus Bosch. Ein gefallener Engel, der sich als Antwort nur die langen Haare aus dem Gesicht strich und mit der linken Hand fahrig über den nackten Oberkörper kratzte. „Nix!“ Isobel lachte fast stumm – aber so glücklich wie ein Mädchen, dem die Welt eines ihrer Wunder offenbart hatte, während sie alle Geheimnisse für sich behalten durfte. „Das ist der Typ, der uns das Gas abstellen will …“ „… aber wenn er keinen antrifft, haut er wieder ab“, fügte Richard hinzu und ließ gut hörbar Luft ab, die die Käseglocke, unter der sie hockten, mit nach toten Mäusen riechenden Verheißungen füllte. Eine Stunde harrten sie aus, dann war das Gas verflogen und der Gasmann verschwunden. Abends im Bett beschloss Förster seinen Abschied aus London. Er war fremd, auch in der eigenen Haut. Blieb die Frage, wann er zu sich selbst fand. Im Körper eines anderen würde er niemals die richtigen Worte wählen, sein Leben zu beschreiben. Und was für ein Leben überhaupt? Kurz nach Mitternacht schreckte ihn das Geräusch einer brummenden Fliege aus wilden Träumen auf. Dann ging es wieder los. Bis zum Morgengrauen war die Wohnung von Geschrei erfüllt. Richard hatte sich im Bad verbarrikadiert, Isobel bearbeitete die Tür mit ihren Fäusten und kreischte katzenhaft. Förster zog das Kissen über den Kopf, um Ruhe zu finden. Wie ein Kind, dessen Eltern sich streiten. Als er Richard am nächsten Morgen seine Entscheidung mitteilte, zog der sich tief ins Schneckenhaus zurück. Förster zählte sein Geld ab. Ein paar Kröten hatte er noch fürs Ticket. Er würde drei Koffer tragen müssen, die so schwer waren, als hätte er die Ruinen von Knossos eingepackt – und keine Kohle mehr übrig fürs Taxi zum Flughafen. Am Tag der Abreise wuchtete er das Gepäck nach draußen und arbeitete sich vor wie Jesus mit dem Kreuz auf dem Buckel. Eine Stunde brauchte er, um bis zur Tube Station zu gelangen. „Mind the Gap!“ Am Flughafen verirrte Förster sich auf dem Pfad zum Gate. Der fatale Morgen fiel ihm wieder ein,
45 als er zwei Stunden zu spät aufgewacht war und nur dank eines Sondertarifs gratis seinen Flug umbuchen durfte. Dimitris Schwester hatte damals wegen ihm einen Unfall gebaut. Zum Glück war sie gut versichert. Diesmal kam er gerade noch rechtzeitig zum Abflug. Er durfte trotz Übergepäck ohne Nachzahlung einsteigen. Mit dem traurigen Blick eines kleinen Jungen flutschte er durch die Schleuse. Er spürte noch mal die eiskalte Luft, die ihm ins Gesicht geweht war, als er bei seiner zweiten Reise nach London am Bug der Fähre in die Zukunft geblickt hatte. Er dachte an die Tüten mit Kleingeld, die Richard und er vor Jahren gemeinsam in verschiedenen Läden in Scheine umgetauscht hatten, damit Richard seine erste England-Fahrkarte finanzieren konnte. „Wo hast du die ganze Kohle her?“ „Das ist das Münzgeldreservoir meiner Mutter. Geb’ ich ihr zurück, wenn wir mit der Band was verdienen. Wann kommst du nach? Etwas Besseres als den Tod finden wir überall.“ Wie er die Faust in die Luft reckte, erinnerte er Förster an Errol Flynn. „Die Band hat nicht mal einen Namen“, sagte Förster. „Wir denken uns einen aus!“, rief Richard, der den Kopf aus dem Fenster des Waggons steckte. „Wenn du in London bist!“ Total pleite stand Förster nach der Landung auf dem Boden der Heimat, die er verlassen hatte, um unter Menschen zu gehen. Weder Dimitri noch Bobby kamen, um ihn dort abzuholen. Ein besseres Leben? Der Zug schien endgültig abgefahren. Stattdessen fiel er in ein bodenloses Loch.
Abdruck aus dem Roman mit freundlicher Genehmigung des Hablizel Verlags (www.hablizel.de) HATE vs. SPUCKE Wolfgang Frömberg liest aus seinem Roman „Spucke“ 23. März 2010 ab 21 Uhr Monarch Skalitzer Str. 134 Berlin-Kreuzberg
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In diesem Text wird die Rede sein von zwei Typen, denen man oft im Berliner Stadtleben begegnet. Diese beiden Typen sind sich nicht besonders ähnlich, umso merkwürdiger ist es, dass sie sich auf das gleiche Feinbild eingeschossen haben; sie hassen den Schwaben. Der eine sieht in dieser Spezie den Spekulanten und Yuppie, der andere versucht durch seinen Hass die eigene kleinbürgerliche Herkunft zu bekämpfen. In ihrer Raserei gegen den „die zugezogenen“ Schwaben offenbaren beide Typen bloß ihre eigenen Abgründe. Aber wer sind diese beiden Typen? Zum einen sind da die Autonomen. Die denken in ihrer nassforschen Infantilität, sie müssten ihr Reservat nicht nur vor dem US-Imperialismus in Form von McDonald’s schützen, sondern glauben im Schwaben denjenigen zu erkennen, der mittels Wohnraumkauf, Zentralheizung und Mittelklassewagen ihre Freiräume vernichtet. Diese Freiräume bringt der urbane Aktivist als Vokü getarnte Pampa unters Volk, oder führt in ebendiesen den Hedonismus ad absurdum, indem verbissen gegen Gabbabeats abgestampft wird. Am anderen Ende der Einkommensskala (nicht wirklich, aber zumindest dem äusseren Anschein nach) findet sich im Berliner Szenebiotop der Kreative, der Macher, der aufstrebende Optimist, der seine prekäre Beschäftigungssituation forsch zur Seite schiebt und gekonnt sein Netz aus Kontakten und Beziehungen knüpft, um zügig an diesen Platz an der Sonne zu kommen, den es kapitalismusbedingt leider überhaupt nicht geben kann. Aber sei’s drum. So wenig diese beiden, zugegeben etwas drastisch beschriebenen, Protagonisten des Berliner Partylebens auf den ersten Blick miteinander zu tun haben, so erstaunlich ist es, dass im Bermudadreieck des Ausgehexzesses, bestehend aus den so genannten Berliner Szenebezirken „X-Berg, F’hain, Prenzlberg“ offensichtlich ein Konsens existiert, der solch gegensätzliche Typen gegen ein Feindbild, den Schwaben, eint. Man kennt diese Ausgehszenarien, bei denen sich das junge, urbane Humankapital vernetzungs-und vergnügungswillig auf der Suche nach neuen sozialen
geschaut habe. Aber mit dem Alter und zunehmender Gelassenheit ist mir bewusst geworden, dass Berlin im Prinzip eine Anhäufung brandenburgischer Käffer ist, die mehr oder weniger zusammengewachsen sind und heutzutage so etwas Ähnliches wie eine Metropole darstellen, die aber so viel mit Paris oder New York zu tun hat wie Kornwestheim mit St. Tropez. Kristallklar lässt sich dieses verdruckste Großstadtgetue auf dem Eingeborenensender RBBbeobachten. Da ist Berlin noch Berlin und nicht weit weg vom Sumpf und Morast vergangener Jahrhunderte. Berlin hatte das Glück, durch die Teilung und den Sonderstatus der Besatzungszeit, sowie die dadurch resultierenden glücklichen Zufälle – wie fehlender Militärdienst und Sperrstundenlosigkeit – zur undeutschesten deutschen Stadt heranzuwachsen. Dazu wurde sie, weil sie Freigeister und Freaks aus den schwäbischen Käffern der ganzen Welt anzog. Durch diese konnte sie zu einem kleinen Refugium des Anderen und manchmal auch des Besseren heranwachsen. Mit den aktuellen Hasskampagnen der linken Blockwarte und ihrer intellektuellen Vorhut im kreativen Überbau ist der deutsche Kleingeist auch in Berlin wieder eingekehrt. Er bricht sich Bahn in Demonstrationen gegen die südwestdeutsche Überfremdung und auch im Zentralorgan für den Ausgehprofi,
der Zitty, muss der von den Lesern demokratisch gewählte, unbeliebteste Berliner natürlich ein „Porno-Hippie-Schwabe“ sein. Ich für meinen Teil habe dagegen das Glück, wiederentdeckt zu haben, welch großen Vorteil es hat, einmal im Jahr in eine landschaftlich reizvolle Kulturgegend zurückkehren zu können, in der man die Nähe zu Frankreich schmecken kann; wo der Rotwein gedeiht und getrunken wird, statt Plörre namens „Schultheiß Bier“, in der man vom Busfahrer nicht überfahren wird und wo man beim Betreten eines Geschäfts nicht vom Verkaufsterrier angebellt wird. Allerdings muss ich auch zugeben, dass eine Woche Hochglanzgrinsen und „Grüß Gott“ dann auch wieder autonome Hassbrenner und Kreuzberger Befreiungskrieger in einem milderen Licht erscheinen lassen. Abschließend noch ein Tipp an die Herkunftsfanatiker und Reservatverteidiger: Ein Blick zu Wikipedia hätte genügt, um festzustellen, dass die Vorfahren der Schwaben, die Sueben, aus dem Brandenburger Raum zu Zeiten der Völkerwanderung gen Südwesten zogen. So bleibt der Zuzug heutzutage quasi in der Familie, kommen doch eigentlich nur die Verwandten ein paar hundert Jahre später zurück. Aber solche Denkmuster überlassen wir dann doch lieber den Kameraden vonrechts unten, oder etwa
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Die Berliner, die lange dafür bekannt waren, dass selbst Einheiten sie nicht einen können, haben scheinbar einen gemeinsamen Feind: Den Schwaben.
Matthias Appenzeller findet das befremdlich und schaut genauer hin.
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Kontakten ins Hauptstadtnachtleben stürzt. Wo einen die immer gleichen Abtast- und Kategorisierungsrituale erwarten, die mit zunehmendem Alter nicht mehr nur langweilen, sondern die zum Ärgernis heranreifen. Das immer gleiche „Was machst du so beruflich?“, kann man in Berlin mit „Hartz 4 und du?“ noch relativ schnell abtun. Ist das ständische Ranking abgeschlossen, geht es plötzlich um die Herkunft des Gegenübers. Wohnhaft in Berlin? Wenn ja, in welchem Kiez, Altbau? Ach wie schön! Um dann zur wichtigsten Frage zu kommen: Ob man denn gebürtiger Berliner sei? Diese gebürtigen Berliner scheinen ja eine seltene Spezies zu sein. Nicht zuletzt berichtet das auch das wunderbare Wesen, welches sein Leben mit mir teilt und eben jener angehört: Bewunderung, Anerkennung bis hin zu ungläubigen Rufen des Erstaunens sind die Reaktionen, wenn sie zugibt, in Berlin geboren zu sein. Eine Aura des Besonderen, Wahrhaftigen und Ehrlichen scheinen die Fragenden zu sehen, sobald sie Antwort bekommen haben, ja, hier haben sie einen dieser indigenen Berliner vor sich. Wenn ich die Frage nach meiner Herkunft beantworte, bekomme ich eine komplett andere Anwort. Ich bin nämlich Schwabe. Zumindest sehen mich die anderen so, denn ich wurde in diesem Schwabenland geboren. Und so reichen die Reaktionen von Enttäuschung über siegesgewisses Lächeln (weil der Gegenüber aus Oldenburg kommt, was ja bekanntlich weit weg von Schwaben ist) bis hin zu aufmunternden Kommentaren („Man hört ja überhaupt nicht, dass du von da unten kommst!“). Und ich versteh sie ja. Auf eine Art. In frühen Jahren meines Exilantenlebens in Berlin ist es mir durchaus unangenehm gewesen mit laut auf schwäbisch daherpolternden Freunden den mitleidigen Blicken der anderen Kneipenbesuchern ausgesetzt zu sein. Und es mag auch richtig sein, dass ich durchaus ehrfürchtig auf eine Kindheit im Berliner Kiez
nicht?
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Schon in der letzten Ausgabe wurde prophezeit: Bald wird Facebook das neue Myspace sein. Ausgestellte Selbstportraits mit Kulleraugen, Kussmündern und anderen infantilen Posen treiben das Socialnetwork eher schneller als langsamer in die nervtötende Ecke, die bald zur Irrelevanz führen wird. Dora Mentzel ist jedenfalls schon sehr genervt.
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Steffi ist eine meiner Facebook-Busenfreundinnen, eine Anfang 20-jährige, die ich vor zwei Jahren bei einer Zugfahrt nach Cornwall kennengelernt habe. Damals lauschte sie mir aufmerksam, während ich ein sehr privates Telefonat auf Deutsch mit einer Freundin führte. Sie setzte sich unaufgefordert neben mich. Ertappt. Ich war also nicht die einzige Deutsche hier. Munter erzählte sie mir ausgeschmückte Anekdoten aus ihrem Leben und quetschte mich eifrig über meines aus. Auf Smalltalk hatte ich keine Lust, wusste aber auch nicht so recht, wie ich diese Schmeißfliege höflich loswerden sollte. Abgesehen davon, war ich damit beschäftigt, mein vergangenes Telefonat zu rekonstruieren. Was man so alles redet, wenn man denkt, niemand höre zu. Naja, dachte ich mir, die sehe ich ja nie wieder. Denkste! Bevor sie ausstieg, fragte sie noch, ob sie mich auf Facebook hinzufügen könne. „Von mir aus“, hörte ich mich sagen, denn meinen Namen könne sie sich doch ohnehin nicht merken. Leider hat Steffi ein ausgezeichnetes Namensgedächtnis und machte mich bereits einen Tag später ausfindig. Ich hatte nicht den Mut sie zu ignorieren und ärgerte mich sofort über diese blöden Portale. Dass ich da überhaupt mitmache! Irgendwie bedeuten sie das Aus meiner schönen Anonymität, in der noch kein Mensch wusste, wo ich mich gerade aufhalte, auf welchen Partys ich tanze und wohin ich in den Urlaub fahre. Ein toller Verein, in dem ich flüchtigen Bekanntschaften aus meiner Vergangenheit freiwillig Einblick in mein Leben gewähre. Und mittendrin Steffi, die ich gerade mal 45 Minuten meines Lebens erlebte und die sich jetzt täglich auf meiner Facebook-Startseite breit macht. Nein, es interessiert mich nicht, wie es ihr gerade geht, ob es bei ihr schneit oder in welchen Flieger sie steigt! Gereizt stöbere ich in ihren Bildern. Steffi, wie sie mit Freundinnen im Arm auf einer Party mit Kussmund in die Kamera schaut, Steffi allein mit reizend unschuldigem Blick nach oben – ihr Arm, der Dem Hochkultur-Intelleli ist das Neudeutschedie Kamera hält, ist noch zu sehen. Steffi in Pose im modischen ein rechter Dorn im Auge. Stellt es doch mit seinen Modewörtern, Anglizismen undOutfit, auf dem sie ganz niedlich die Füße nach innen stellt. Das dem ganzen Kruppzeug, die Reinheit dersoll wohl süß aussehen, denk ich mir und ertappe mich dabei, deutschen Sprache in Frage und verwässert sie bis zur hässlichen Identitätslosigkeit.wie sich mein Gesicht peinlich berührt verzieht. Neudeutsch So sah das auch der Pazifist, Antimilitarist, Demokrat und Sozialist Kurt Tucholsky undheißt das wohl ,fremdschämen‘ (allein das Wort lässt mich erbegab sich damit leider ebenfalls in den schauern). Überhaupt, auf zig Bildern sind lediglich ihre Füße langweiligen und dummen Kreislauf des deutschsprachlichen Reaktionismus. Sameabgebildet, mal allein, mal mit denen ihrer Freunde, inklusive ol’, same ol’, möchte man da gelangweilt den hysterischen Sprach-Ariern zutwitternVerlinkungen. Was als eine kreative Idee anfing, wurde schnell und melancholisch mitfühlend „history re Hinzu kompeating“ pfeifen. Mode von gestern ist in derzur Pest in diversen digitalen Netzwerken. Tat langweilig, aber auch erst heute. LOL!men abertausende Shots auf Blogs von jungen Frauen (deren Kleidungsstil ich teilweise sogar bewundere), die ihre Beine nach innen stellen. Was bitte ist an X-Beinen sexy? Diese Pose schreit doch danach, dass da jemand nicht erwachsen sein will. Da verbringt man seine ganze Pubertät damit, irgendwie älter rüber zu kommen, um in seinen 20ern und 30ern diesen Alterungsprozess wieder rückgängig zu machen und die begehrte Lolita zu mimen. So eine Art Vor-Midlife-Crisis. Über die politischen Begleiterscheinungen solcher Posen wage ich hier gar nicht weiter nachzudenken. Es gilt, schön lange Kind zu bleiben, um sich somit jeglicher gesellschaftlicher Verantwortung zu entziehen. Da lösch ich doch mal eben Steffi aus meiner Freundesliste. Und schon habe ich das Gefühl wieder ein kleines bisschen Eigenverantwortung zurück erobert zu haben.
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Digitale Kulleraugenhölle Dora Mentzel
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Nicky Dress: Dacopia Necklace: Bareth Bijoux Jacket: Raki Bcn Leggings/shoes: Stylists own
Nicky Jumper: Rubbish Fairy Trousers: Rat Dextrino Maria Top: Dacopia Dungarees: Kill de Princes Adri Jacket: Raquel Hladky Top: Kill de Princes Trousers: Kill de Princes
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* Adri Elastic dress: Raki Bcn Hat/leggings/wellington boots: Stylists own Jenny Cardigan: Kill de Princes Dress: Kill de Princes Leggings: Raki Bcn Shoes: Stylists own Maria Waistcoat: Dacopia Dress: Clara Fall Shawl: Kill de Princes Hat/leggings
Sameheads Fotograf: Phillip Kaminiak, Production: Steffen Köhn
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Nicky Top: Kill de Princes Waistcoat: Dacopia Leggings: R aki Bcn
Jenny T-Shirt: Sameheads Towel swimsuit: Dacopia Leggings: R aki Bcn
R aki Silver Dress: Frank & Loe Mini cape: Kil de Princes
Maria Top Hat: Stylists own Patchwork Shawl: Rubbish Fairy Skirt: Dacopia
Adri Beret: Stylists own Dress: Dacopia Necklace: Rubbish Fairy
Adri Elastic dress: R aki Bcn Hat/leggings/wellington boots: Stylists own
Jenny Cardigan: Kill de Princes Dress: Kill de Princes Leggings: R aki Bcn Shoes: Stylists own
Maria Waistcoat: Dacopia Dress: Clara Fall Shawl: Kill de Princes Hat/leggings/shoes: Stilists own
Nicky Dress: Dacopia Leggings/shoes: Stylists own
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Nicky Top: Kill de Princes Waistcoat: Dacopia Mask: Stylists own
Maria Patchwork Shawl: Rubbish Fairy Skirt: Dacopia Leggings: Stylists own
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Jenny Jumper: Rubbish Fairy Skirt: Kill de Princes Leggings: Raki Bcn Maria Top: Dacopia Dungarees: Kill de Princes Adri Jacket: Raquel Hladky Top: Kill de Princes Trousers: Kill de Princes Nicky Jumper: Rubbish Fairy Trousers: Rat Dextrino
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Nicky Jumper: Rubbish Fairy Trousers: Rat Dextrino Jenny Jumper: Rubbish Fairy Skirt: Kill de Princes Leggings: Raki Bcn Maria Top: Dacopia Dungarees: Kill de Princes
The Sameheads wish to thank Carola for letting them invade her space.
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Briefwechsel
Hallo Moritz, Erkundungstour und sende Grüsse aus einer bizarren Ruinenwelt namens „Second Life“. Ich weiß gar nicht, ob du dich an diesen verfallenen Ort überhaupt noch erinnerst? Man konnte sich dort einen Avatar basteln, der viel besser als das reale Ebenbild daherkam und dann durch holperig animierte Landschaften taumeln. Endlich erschloss sich auch der Ü50-Generation was es mit dem Interwebs auf sich hat: Man kopiert einfach das „echte“ Leben und konvertiert das dann in so „virtuell-interaktiv“! Kein größeres Unternehmen entblödete sich hier eine Filiale einzurichten und täglich überschlugen sich die beiden deutschen Leitmedien Bild und Spiegel mit neuen Schoten aus diesem äh Universum. Den Nutzen und was man dort nach dem ers-
Hallo Jonas, Grüsse aus der King of Prussia Mall. King of Prussia ist
ich bin gerade auf archäologischer
viele
dir nur die allerbesten
– anders als es der Name vermuten lässt – kein Schlacht-
sind längst geschlossen, dafür ist die Zahl der heiser-erregt röchelnden Quickie-Sucher konstant geblieben; nur geben die, jetzt wo sich die Diddl-Menschen darauf konzentrieren bei knuddels.de Einhörner in Airbrush-Ästhetik zu verschicken, inzwischen den Ton an. Beste Grüsse Jonas
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Briefwechsel Moritz Jasper Kuhn & Jonas Gempp
Parkplatz vor der Mall, die Autos auf dem Parkplatz, die Geschäfte in der Mall, die Menschen und die Schuhe die sie tragen. Ich habe Amerikaner gesehen, so breit wie Kleinwagen. An den Füßen trugen sie Basketball-Schuhe groß wie Baby-Särge, während ihre Körper umhüllt waren von tarnfarbenen Restbeständen vergangener Golf-Kriege. Zu tausenden bevölkerten sie die unzähligen Taco Bells, Burger Kings, McDonald’s und Wendy’s der King of Prussia und luden sich Unmengen von Burgern und Shakes zwischen ihre tastaturgroßen Kaureihen. Ich wollte Zahnpasta kaufen und habe ausschließlich Tuben so groß wie Ketchup-Flaschen gefunden. Nach einer neuen Zahnbürste habe ich nicht gefragt, aus Angst mir die Zähne in Zukunft zweihändig bürsten zu müssen. Der Gigantismus der King of Prussia kommt nicht von ungefähr, sondern geht namentlich auf keinen geringeren als Friedrich den Großen zurück. Der als Feingeist bekannte preußische König würde mit der Mall vermutlich verfahren, wie mit dem ebenfalls nach ihm benannten Schlachtschiff: Die SMS Friedrich II. wurde 1919 von der eigenen Besatzung gesprengt. Viele Grüsse Moritz
Illustration Lorenz Klingebiel
ten Umschauen mit seiner Zeit anfangen sollte, konnte zwar keiner so recht erklären, dennoch war Second Life die perfekte Ergänzung zum Robbie-Williams-Poster (Was für ein Mann!), der Diddl-Maus im Opel-Astra-Fenster und Greys Anatomy. Endlich mussten übergewichtige Bürokauffrauen und -männer nicht mehr auf Datingseiten nach ihren Traumpartnern suchen, sondern konnten sich qua Mimesis anbalzen und echtes Leben im virtuellen spielen. Heute ist dieser Ort tot. Die Filialen
schiff aus der Kaiserzeit, sondern ein gemeindefreies Gebiet 30 Km nördlich von Philadelphia. Hier befindet sich die größte Shopping Mall der Ostküste der USA und ich kann dir sagen: It’s fucking big. Überhaupt ist hier alles oversized: Der
www.myspace.com/thecheapers www.uponyou-records.com
herr von eden.com 覺 PhoTo: dan覺el josefsohn.com