HATE #1

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Das Magazin fuer Relevanz und Stil. Issue 01.2008

„Was ein Künstler ohne Revolution macht? Na Kunst.“: Schriftsteller und Kommunist Ronald M. Schernikau Die meisten scheinen das Blog aber zu ignorieren, ob aus Angst oder aus Ekel: Interview mit einem pädophilen Blogger

Fußballterror und Randale: Gedanken zum Hooliganismus


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05.04.2008

19:34 Uhr

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Horror. Suspense. Myster y. Action. Sci-Fi. Anime. Fantastisches. Surreales.

Deadline. Das Filmmagazin. Alles außer Fußball. -------------------------------------------------------------------------------

Alle zwei Monate am Kiosk.

Abo und Infos unter: www.deadline-magazin.de

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Neu!


Titel: Johannes Büttner

HATE Magazin für Relevanz und Stil Alte Schönhauser Straße 44 10119 Berlin www.hate-mag.com www.myspace.com/hatemag Herausgeber: R+S Media GbR Gempp, Scholz Alte Schönhauser Straße 44 10119 Berlin Registernummer: 34/518/53630 Redaktion: Timon Engelhardt timon@hate-mag.com Jonas Gempp jonas@hate-mag.com Nina Scholz nina.scholz@hate-mag.com (V.i.S.d.P) Autoren: Matthias Appenzeller, Timon Engelhardt, Anja Henebury, Jonas Gempp, Moritz Jasper, LesK, Sonja Müller, Jochen Overbeck, Nina Scholz Fotografen: Johannes Büttner, Matthias Kandel, Martin Trojanowski, Johannes Paul Raether

HATE dankt: Yazid Benfeghoul, Carlos de Brito, Christian Demmler, Matthias Frings, Tobias Hagelstein, Robert Härtel, Finn Johannsen, Thomas Keck, Philipp von Kessel, Christiane Ketteler, Michael Jean Kummermehr, Anne Lüth, Dorian Mazurek & Klangsucht, Nadine Müller, Conny Opper, Clemens Pavel, Ramin Raissi ,

Jake The Rapper, Andreas Sachwitz, Marc Schaller, Klaus Dieter Scholz, Christian Simon, Kerstin Stakemeier, Fraenzen Texas, Christian Titze, Remo Westermann, Daniel Wetzel und den Models: Friedel, Gusti, Hakon, Samir, Jonas, Julian, Matze, Sarah und Sophia aka Häst Duo, Sandra, Thomas, Thomas, Johannes 1997, Top Berlin, DRU*FFA-LO, Festsaal Kreuzberg, Sonny, Ultras Frankfurt

HATE erscheint erstmalig am 09. Mai 2008. HATE erscheint dreimonatlich.

HATE bestellen: info@hate-mag.com (Schutzgebühr und Porto: 3€) Druckerei: SAXOPRINT GmbH Digital& Offsetdruckerei Enderstraße 94 01277 Dresden Sitz der Gesellschaft: Dresden Amtsgericht Dresden HRB 18253 Geschäftsführer: Thomas Bohn

„Paul hatte den Schlüssel: „Du darfst nicht vergessen“, hat er einmal gesagt, als es darum ging, dass alle Erwachsenen tot sind und es nicht wissen, „dass das, was du nicht sagen darfst, aber denkst, mehr mit dir zu tun hat als das, was andere von dir hören wollen, mehr als das, was andere für dich und deine Besonderheiten halten. Irgendwann wirst du einen Job haben, und dann sitzt du in einer Konferenz, und dein Chef hält einen hirnlosen Monolog, der einfach nicht aufhören will, und du hasst ihn dafür, dass er nicht genug Format hat, das bleiben zu lassen, diesen Missbrauch der Angestellten als Taschentücher, Spucknäpfe und zur Selbstbespiegelung, aber du denkst, dass dich dieser Hass stört beim Erfolg, beim Weiterkommen. Dabei bist du das selber, dieser Hass, und es lohnt sich nicht weiterzukommen, wenn man sich selber dabei nicht mitnehmen darf. Hass, zielloser Tatendrang, Zerstörungslust, Geilheit, alles, wovon die Platten und die Filme handeln, die uns gefallen: das ist wirklich wichtig. Man vergisst es später nur, weil man vor lauter Angst verblödet.““

Dietmar Dath,

aus: Die Salzweißen Augen.

Vierzehn Briefe über Drastik und Deutlichkeit

Auflage: 2.000 Das nächste HATE erscheint am 08. August 2008.

Und jetzt: Lesen, Schauen und Hassen.


Foto: Johannes Paul Raether

Weiß und ohne Zucker, bit e

Die Kufiya Feigale kann bestellt werden unter www.antipali.com

Must have to hate

Was haben ein Hizbollah-Funktionär, Zwillen-Swantje aus dem Schanzenviertel, Maik von den Autonomen Nationalisten Mecklenburg-Dorfpommern und die kleinen dicken Mädchen aus dem h&m gemeinsam? Richtig: Sie tragen ein so genanntes Palituch, jene ideologiegetränkte Windel, die sich von der sonnenschützenden Kopfbedeckung zum Halstuch gewordenen Bekenntnis gewandelt hat. Wem all das nicht so richtig zusagt, Bekenntnisse aber nicht per se schlimm findet, dem ist mit der Kufiya Feigale geholfen, dem von einem Berliner Künstler entworfenen Antipali oder Gegenschal. Angelehnt an das traditionelle Design treffen sich hier Butt-Plugs mit Viagra-Pillen, Ecstasy-Tabletten mit Hammer&Sichellogo mit Kondomen. Ein paar Davidsterne hängen auch in der Ecke rum. Nicht zu offensichtlich. Man will ja niemanden provozieren.

LIEBE, FREUNDSCHAFT, ACHTUNG KÖNNEN NICHT SO VERBINDEN WIE DER GEMEINSAME HASS AUF ETWAS. Anton Tschechow

Kaputte Zähne, kaputte Gedanken, kaputte Knochen. Schlaflosigkeit, Gewichtsverlust, Augenringe. Hitler, die Beatles und Frankfurter Schranzidioten. Dieses Speed scheint schon eine verdammt tolle Sache zu sein. Dachte sich vermutlich auch Tita von Hardenberg, als sie vor einiger Zeit ihre Reputation als Journalistin auf Spiel setzte und einen gefakten Beitrag über übergewichtige Amphetaminuser in ihr grenz-debiles „Zeitgeist“-Format hievte. Anlass für diese sauber recherchierte Geschichte war ein Büchlein mit dem alles und nichts erklärenden Namen Speed – Eine Gesellschaft auf Droge, in dem Autor Hans-Christian Dany sich an einigen steilen Thesen versucht und im Stil einer Anekdotensammlung den großen Bogen vom 1. Weltkrieg zu Detroit Techno und von Sartre zu adhs schlägt. Es ist ein durch und durch unnützes Buch, dass durch die ebenfalls enthaltenen „guten Gründe, nüchtern zu bleiben“, noch mehr verliert. Aber wer mal wieder nicht schlafen kann und keine Lust hat, ein Blech zu rauchen, dem sei es ans hektisch pochende Herz gelegt. Kostet auch nur anderthalb Gramm.

Speed – Eine Gesellschaft auf Droge von Hans-Christian Dany ist erschienen in der Edition Nautilus.


Foto: Rockstar Games

Tatort Hassort Man betritt Chanel läden auf flauschigem weißen Teppich. Die meisten Kleidungsstücke und Accessoires sind schwarz, weiß und gesteppt. Alle anderen sind auch wunderwunderschön. Chanel läden sind ein Versprechen an Menschen mit ausgezeichnetem Geschmack: Hier wird jeder gleich behandelt, der etwas kauft; egal ob es bloß eine günstige Brosche oder gleich ein ganzer Sack Kleider ist. Wer hier sein Geld oder seine Kreditkarte über den Tisch reicht, weiß es besser, kann es besser. Und wird mit ausgesprochener Höflichkeit, der angemessenen Distanz und einem Glas Champagner beim Warten auf das Verpacken belohnt. Denn wer würde solch schöne Dinge einfach in eine Tüte stopfen, nein, hier wird das gekaufte Objekt in eine Schachtel verpackt, die Schachtel wiederum als ein Geschenk verschnürt und als allerletztes die Tüte mit einer Schleife versehen. Auch in einstöckigen Läden vermutet man, dass Coco gleich mit ihrer Zigarettenspitze die Treppe herunterspaziert oder Karl dort oben sein Mittagessen (vermutlich eine Diet Coke) zu sich nimmt. Das ist in fast allen Chanel läden der Welt der Fall, nur in einem ganz und gar nicht: Im

Chanel, Kurfürstendamm 188, Berlin

Chanelladen auf dem Kurfürstendamm in Berlin verliert man seinen Glauben an das Schöne und Wahre schon vor dem Betreten. Die Schaufenster sind voll gestopft mit plüschigen, bunten Versionen des berühmtesten Kostüms der Welt. Das müssen Fälschungen sein! Und auch drinnen: Kein sakraler Empfang im Herzen des guten Geschmacks, bloß lieblose Auslegware für russische Mütterchen. Gut, es mag sein, dass sie die einzigen in der Hauptstadt des gruseligen Geschmacks sind, die sich die modernste und zugleich klassischste Modemarke der Welt leisten können, aber diesen Albtraum aus Wolle und Stahl hat noch nicht mal Deutschland verdient. Karl Lagerfeld weiß wahrscheinlich nichts von der Existenz des Geschäfts, denn der hat schon vor ein paar Jahren angenehm großspurig und vielleicht zu recht Berlin und das Potential der Stadt aufgegeben und jettet lieber zwischen Biarritz, Paris, New York und Tokyo hin und her. Kaum vorstellbar wie der Designer, der gerade noch im Interview unser Herz erwärmt hat mit Aussagen wie: „Ich hasse den Geruch von Kochen, (...) ich hasse alle Kinder, ich möchte kein Sozialleben (...), manchmal ist es besser sich einen Ort bloß vorzustellen statt ihn wirklich zu betreten und (...) ich hasse es von Menschen angefasst zu werden“, einen Ort betritt an dem ein Chanelkostüm schlechter aussieht als das mieseste Pimkiefake.


Kit kritik (hrsg.) Deutschlandwunder— Wunsch und Wahn in der postnazistischen Kultur (Ventil Verlag) Das Wörtchen Kittkritik kommt auf den ersten Blick wie etwas sehr künstliches daher: nie gehört, nie gelesen. Beim genaueren Betrachten allerdings wird sofort klar, was es mit der Autoren- und Veranstaltergruppe auf sich hat — und dass der Name insofern gut gewählt es, weil er ziemlich genau sagt, worum es ihm geht.

Deutschlandwunder — Wunsch und Wahn in der postnazistischen Kultur nennen Kittkritik ihren Sammelband, und genau das tun sie auch: Kritik an Erinnerungskultur und Kulturindustrie als gesellschaftlichem Kitt, Kritik an der Berliner Republik als Erzählgemeinschaft, in der jeder ein Opfer ist und historische Abläufe nur noch als Folie für die Darstellung von Befindlichkeiten taugen. Ob der Untergang der Gustloff, die schwieligen Hände der Trümmerfrau oder die Knoppsche Hitlerisierung des öffentlich-rechtlichen Fernsehprogramms — das neue, unbefangene Nationalgefühl der Deutschen speist sich vor allem aus der Banalisierung der eigenen Geschichte. Dieses Buch sammelt Worte dagegen.

Deutschlandwunder ist bereits erschienen. Weitere Informationen auf www.kittkritik.net

Brenda, Brandon und Kelly 3.0 Mit Kevin, Winnie und Paul sind wir in die Grundschule gegangen, aber Brenda, Kelly und Brandon waren unsere ersten Freunde auf dem Gymnasiun. Später in der Oberstufe haben wir das geleugnet und lieber mit den coolen Leuten aus Neptune, Sunnydale und Capeside abgehangen. Die meisten davon sind auch heute noch unsere allerbesten Freunde. Trotzdem war es geradezu befreiend als wir vor wenigen Jahren Marissa und Summer aus Newport Beach, o.c. kennen gelernt haben und kurz drauf deren realen Kopien aus Laguna Beach. Seitdem ist Lauren Conrad, lc wie wir sie nennen, unsere Sommerfreundin. Einmal die Woche verbringen wir eine halbe Stunde mit ihr am Strand oder in der Mall. Vor drei Jahren ist sie nach Hollywood, in The Hills gezogen und erlebt dort: Nichts. Die Teenagerdramen sind zu den Dramen junger Erwachsener geworden und an dem Punkt an dem die meisten

Teenieserien scheitern oder zumindest ordentlich straucheln, wurde es in den Hills erst richtig interessant. Das Nichts ist erst richtig gut, wenn es nicht durch beigefügte Tiefe aufgebläht wird. So wie ein Tag im Freibad mit der neuen Intouch besser ist als mit einem recherchierten Bericht aus dem Stern oder der Bunten. Ansonsten lesen wir doch sowieso lieber ein Buch- oder rufen Buffy an.


Foto: Matthew Donaldson

Das Menschliche Kettensägenmassaker

John Niven Kill Your

Friends. So wahr mir Mord helfe. Aus dem Englischen von Stephan

Filmisches Vermächtnis

Glietsch. Heyne Verlag. 379 Seiten, 12€.

Der Roman Kill Your Friends ist ein Albtraum für all die Menschen da draußen, die hoffen, dass in den großen Plattenfirmen die Entscheidungen vielleicht auf schlechtem Geschmack beruhen, nicht aber aus vollem Desinteresse an der Musik geschehen. John Niven, früher selbst a&r, schildert die Welt von Steven, der Karriere, Koks und sich selbst super findet, dem alles andere aber weitesgehend egal ist. Für den Musik eine Ware ist wie alles andere: Essen, Pornos, Wohnungen. Und weil John Niven heute ein besserer Autor ist als Steve je eine a&r war, schildert er überaus fesselnd Steves Zeit in den 90ern in London; wahrscheinlich die beste Zeit, die die Musikindustrie je irgendwo erlebt hat. Die Geschichte ist blutrünstig, spannend und man kann Steve keine einzige Sekunde ausstehen. Ex-Spex-Redakteur Stephan Glietsch hat es zu dem auch noch geschafft, das Ganze so unpeinlich und angenehm zu übersetzen, das man die schnelle, saloppe und brutale Sprache von Kill Your Friends im Deutschen gut ertragen kann.

Am 02. November 2004 wurde der Regisseur Theo van Gogh brutal von einem Islamisten ermordet. Sein Traum ist es immer gewesen, nach Amerika zu kommen und Filme in New York zu drehen. Diesen Traum erfüllt ihm jetzt posthum der Produzent Gijs van de Westelaken. Der verwirklichte das Remake eines Films von van Gogh aus dem Jahre 2003: Interview wurde komplett mit amerikanischem Team nachgedreht und ist der erste Teil einer Trilogie, die auf den Arbeiten des niederländischen Regisseurs beruht. Geschildert wird die Begegnung des Journalisten Pierre Peders mit dem jungen Starlet Katya, gespielt von Sienna Miller, während eines Interviewtermins, bei dem sich Frager und Befragte intensiver kennen lernen, als dies von beiden beabsichtigt war. Pierre hat sich einen Namen als engagierter Kriegsreporter gemacht. Kein Wunder also, dass er nicht die geringste Lust hat, die durch belanglose Soap Operas zu Weltruhm gelangte Blondine zu befragen. Zwei einander fremde Welten stoßen hier aufeinander. So weit so gut, bis das Ganze eine komplett andere Wendung nimmt. Den Job von van Gogh hinter der Kamera hat dabei Steve Buscemi übernommen, der ja in jeder Hinsicht ein Qualitätsgarant ist und das Konzept des Films, der auf der letzten Berlinale gezeigt wurde, abrundet. „Interview“ startet in Deutschland am 29. Mai.

The Hills läuft im deutschen Fernsehen überraschend zeitgleich wie das Original in den USA. Dort wird auf MTV gerade der zweite Teil der dritten Staffel ausgestrahlt, hier startet er Ende Juni. Wer das Ganze nicht synchronisiert ertragen kann, schaut sich die Folgen auf www.mtv.com an.


Frischfleisch für’s Feuilleton B ruce L a B ruce ist Pop. Ob in

Universitätsdiskursen, auf den Kulturseiten oder Filmfestivals – die queeren Revolutionsfantasien des kanadischen Filmemachers sind in den Köpfen aufgeklärter Kulturkonsumenten zu einer festen Größe im Sinne eines Hirnschwamms geronnen. A nja H enebury erklärt, warum.

Einst geschasstes, wenn auch ökonomisch überaus erfolgreiches Schmuddelkind der Unterhaltungsindustrie, hat sich der Porno in den letzten Jahren zum Lieblingskind des liberalen Universitätsund Kunstbetriebs gemausert und gilt als legitimes Betätigungsfeld radikaler, feministisch inspirierter Aktivistinnen. Deren Mütter hatten in den Achtziger Jahren zum Sturm auf die Pornoindustrie als Bastion des Patriarchats geblasen und bis in die Neunziger Jahre hinein galt es als feministisches Allgemeingut, dass Frauen, die in Pornos mitspielten oder zugaben, diese gerne anzuschauen, bemitleidenswerte Opfer seien, die an einer Art patriarchalem Stockholm-Syndrom litten. Mit dem Aufkommen des third wave feminism in den Neunziger Jahren, der essentialisierende Zuschreibungen über “die Frau an sich” weiter Teile der zweiten Frauen-

bewegung einer Kritik unterzog, hat sich die diskursive Landschaft grundlegend gewandelt. Gestützt auf poststrukturalistische queer theory, werden kulturelle Repräsentationen von Geschlechtlichkeit analysiert und der Porno zum Material für Uniseminare nobilitiert. Inzwischen finden regelmäßig Kongresse, Ausstellungen und Filmfestivals statt, bei denen Akademiker, Queer-Aktivisten und Künstler die subversiven Potentiale des Pornos ausloten und die diversen Gazetten der Poplinken mit Schwerpunktausgaben zum Thema Porno aufwarten. Bruce LaBruce ist einer der Stars der Szene. Der kanadische Regisseur, Schauspieler und Drehbuchautor ist mit seinen Filmen mittlerweile auf unzähligen Independent-, Gay- und Arthouse-Filmfestivals vertreten. Seine Filme beschäftigen sich mit verschie-

densten Facetten der schwulen Subkultur, zitieren sich fröhlich durch die Filmgeschichte von Altmann bis Godard, zeigen schwulen, lesbischen und Heterosex und werden durch Filme im Film im Film oder die Einführung einer soziologisierenden Beobachterfigur gebrochen. Offenkundig fühlt sich Bruce LaBruce seit jeher am wohlsten, wenn er zwischen den Stühlen sitzt. Enttäuscht von der affirmativen schwulen Discokultur wandte er sich in den frühen Achtzigern der Punkszene zu, nur um festzustellen, dass der dort grassierende Machismo das Versprechen von Dissidenz, Subversion und sexueller Ambivalenz Lügen strafte. So startete er, ganz im Geiste des


In seinem neuem Film Otto (Bild auf der nächste Seite) lässt B ruce L a B ruce (außen links) Zombies durch eine Kulisse aus Glibber und Blut ziehen. Früher waren die Darsteller eher

diy -Sensiblchen

(links)

Fotos: Bruce LaBruce, Maria Fonfara

oder Gaypunks.

mit einer Reihe von Freundinnen ein schwules Fanzine, für das sie sich gleichermaßen bei Punk und schwuler Pornoästhetik bedienten. Als Kunstfigur Bruce LaBruce, ein promisker, schwuler Punk, der im Rahmen seiner Exzesse straights und straight edge boys vom rechten Pfad abbringt, tauchte er in unterschiedlichen Fanzines und diy

selbstinszenierten 8mm-Filmen auf und erarbeitete sich einen soliden Ruf als schwules enfant terrible. In seinen mittlerweile fünf Spielfilmen beschäftigt er sich mit der Pornoindustrie, der Stricherszene in la, der Ambivalenz des schwulen Fetischs Skinboy, entwirft eine an Wilhelm Reich orientierte antiheterosexistische sechste Generation der raf (“Join the homosexual intifada!”), lässt den schwulen Zombie Otto durch Berlin taumeln und zum Star eines schwulen Zombiefilms im Film werden. Das liberale Bildungsbürgertum ist begeistert, LaBruce selbst allerdings begreift seine Filme als politische Interventionen. Doch was ist daran eigentlich politisch? Im Anschluss an Judith Butler geht queer theory davon aus, dass das vergeschlechtlichte Subjekt keine Naturkategorie ist, sondern performativ, durch ständiges zitatförmiges Wiederholungshandeln hergestellt wird. Dieser Anschein kann, und das ist die Pointe ihrer Theorie, nur durch Zufall durchbrochen werden, wenn ein Zitat


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fehlgeht und der beständige Resignifikationsprozess ins Stolpern gerät, ein Effekt, den Butler mit Rekurs auf Filme und literarische Texte analysiert. Doch wenn das voluntaristische Subjekt nur Effekt einer naturalisierenden Bezeichungspraxis ist, so ist damit auch einer Politik der ersten Person, die eben jenes Subjekt voraussetzt, der Boden entzogen, weshalb man sich auf den Bereich der ästhetischen Repräsentation, auf Formen des camp, der Performance oder eben des diy-Porn verlegte, in denen man die Brüchigkeit und Konstruiertheit der vermeintlichen Natur von Geschlecht und heterosexuellem Begehren zum Ausdruck bringen wollte. Doch abgesehen davon, dass auch die bewusst subversive Reinszenierung heterosexistischer Stereotypen das voluntaristische Subjekt, das man abgeschafft zu haben glaubte, genauso voraussetzt wie andere Formen politischer Artikulation, geht diese Strategie insbesondere auf der Ebene der Rezeption

fehl: Der mit allen Wassern der queer theory gewaschene Rezipient kann sich an der gelungenen antiidentitären Parodie erfreuen, wo Otto und Lieschen Müller nur Mummenschanz sehen, ohne dass dabei ihre Vorstellung von Geschlecht ins Wanken geriete — man erinnere sich nur an die unzähligen quietschigen Tunten, die die Nachmittags-Talkshows der späten Neunziger bevölkerten. Liberale Kritikerinnen und Kritiker der heterosexuellen Normativität versprechen sich dagegen von einer zunehmenden Repräsentation nicht normgerechter Körper und Sexualpraktiken einen Toleranzeffekt und machen sich damit die behavioristische Argumentation der Pornogegnerinnen der Achtziger Jahre, die den Mainstream-Porno für die misogyne Verrohung seiner Konsumenten verantwortlicht machten (“Pornography is the theory — rape is the practice”), unter ungekehrtem Vorzeichen zu eigen. Dass diese alternative Sexualästhetik auch beträchtliches ökonomisches Potential hat, zeigt die Tatsache, dass Bruce LaBruce mittlerweile auf der Berlinale angekommen ist, ebenso wie der Erfolg von Alternativ-Pornoplattformen wie www.nofauxxx.com, auf der eines der Models formuliert: “To me, Sex, like Life, is all about Politics. So, to make it short, I’m showing my dick and ass to change the world”. So wird, man kennt es zur Genüge aus der Musikindustrie, die radikale Geste zur Verjüngungskur für den Mainstream. Und ein paar universitäre Karrieren fallen auch noch dabei ab.


„DIE MACHEN HIER DEN GANZEN TAG SAUBER. DIE MACHEN DEN GANZEN VERFLUCHTEN ORT SAUBER. DABEI IST ER SO HÄSSLICH, SIE SOLLTEN IHN NIEDERBRENNEN.“ Jamie Lidell SCHIMPFT. UND ER LIEBT RADIKALE MEINUNGEN. Jochen Overbeck HAT EINIGE DAVON ZU HÖREN BEKOMMEN.

Gegen den jungen Mann, der herrlich ziellos und im Zeitlupentempo den Eingangsbereich eines Kölner Mittelklassehotels feucht durchwischt, hat er vermutlich herzlich wenig. Die Stadt Köln, die meint er ebenso wenig. Aber M oby? Den mag er nicht. „Er ist so herrlich einfach zu hassen.“ Stimmt schon, und L idell kann da ruhig steil gehen. Denn während der kleine Mann mit Brille soeben die wohl anachronistischste Platte des Jahrzehnts veröffentlicht hat und seinen neu entdeckten Hedonismus arg penetrant zu Markte trägt, macht

RADIO

BRENNT

L idell alles richtig. Der Typ haut Jim raus, ein ziemlich unfassbares Soul-Album, an dem nichts nervt. Gute Songs, zehn an der Zahl. Wie damals Multiply, nur mit viel mehr Kohle und einer gesunden Portion Los Angeles. P eaches singt, und zwar ohne, dass man sie erkennt. M ocky produziert, G onzales haut in die Tasten. Und L idell ? Sitzt da und erzählt. Gerne auch von denen, die ihn nach dem Aufschlag mit Multiply gerne gehabt hätten. R ick R ubin zum Beispiel. Der Columbia-Chef lud ihn eben mal in sein Anwesen nach Malibu ein, um die vertraglichen Details

zu klären. Auch U niversal stand vor der Tür: Der Typ, der A my W inehouse und J ack J ohnson zu Superstars machte, hätte gleiches gerne mit L idell getan. Ging nicht, wie L idell erklärt: „Ich bin 34 Jahre alt. Ich lasse mich nur schwer in ein Korsett stecken. Ich unterschreibe überhaupt nichts gerne.“ Vermutlich ist es ohnehin klüger, dass L idell bei W arp geblieben ist. Denn wenn er über die Krise der Plattenindustrie spricht, dann wird klar: Mitleid hat er nicht. „Die Labels sind verzweifelt. Die sitzen da und stellen plötzlich fest: Hey, unsere Supermacht ist ja weg. Ich finde es ganz lustig, zu sehen, wie sie ihren Arsch zu retten versuchen. Wie dieser Typ, der neulich eine Download-Flatrate vorgeschlagen hat. Was für ein Unsinn. Ein musikalisches All-You-Can-Eat-Buffet.“ Dann zitiert er irgendeine Untersuchung, die er am Abend vorher bei Google gelesen hat. „47 Prozent aller amerikanischen Teenager haben im letzten Jahr keine cd gekauft. Keine einzige. Verrückt! In fünf Jahren wird einfach niemand mehr cds kaufen, außer ein paar 35- bis 50Jährigen. Das ist dann wohl meine Zielgruppe!“ Lösungsansätze? Lidell erzählt das Übliche, mahnt freundlich an, bitteschön die cds der Künstler zu kaufen, die man mag. Er schafft es nicht, den Satz zu vollenden. Er gähnt. Und sagt, dass ihm die Leute, die früher ein paar Millionen Alben absetzten und sich jetzt mit 100.000 verkauften Exemplaren zufrieden geben müssten, schon leid tun würden. Und verweist auf die Gegenbeispiele Aphex Twin und Justice. Der eine hat seine Musik für Werbeclips verkauft und sein Geld so klug angelegt und vermehrt, dass er mittlerweile im schicken House in Cornwall lebt. Und die Franzosen? „Mann, die sind Millionäre. Die verdienen doch locker 100.000 Euro pro Gig!“ 45 Minuten später. Jamie Lidell muss noch einmal ran. Nächste Frage, bitte. Der Typ mit dem Wischmob steht vorm Eingang und raucht eine Zigarette. Ob von ihm die Brandlöcher auf dem Spülkasten in der Erdgeschoss-Toilette sind? Und Köln sieht so trostlos aus, dass man sich kurz überlegt die Sache mit dem Niederbrennen einfach selbst zu übernehmen und auf die ganze Stadt auszuweiten. Weg hier. Nichts wie weg hier.

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PALI NATION

Berlin, Hamburg, Frankfurt, Dortmund und Leipzig waren die Stationen des Berliner Künstlers Johannes Paul Raether während seiner Arbeit an „Pali Nation“. Drei Stunden fragte er in einer großen Fussgängerzone Passanten mit Palituch nach der Erlaubnis sie fotografieren zu dürfen.

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Die vollst채ndige Serie ist zu sehen auf www.jppr.tk

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LOS CAMPESINOS:

TRIANGELN IN DER DISCO Text: T imon E ngelhardt , N ina S cholz Um die Jahrtausendwende ist in deutschen Indiediscos etwas Merkwürdiges passiert: nach jahrelangem Herumstehen — die Hände in den Hosentaschen oder die Arme vor den Trainingsjackenuniformen verschränkt — kehrte in die Schuppen der bierseeligen Trostlosigkeit das Tanzen zurück. Electroclash und fünf Jungs in engen Hosen machten den Anfang, und plötzlich war mit marketingtechnisch geschickt androgynisierten Rockverschnitten auch das Angebot an den letzten Ingolstädter Nietengürtel-Mosher gemacht. Was schon damals an Eingängigkeit und Langeweile kaum zu überbieten schien, wird heute locker getoppt: Mehrköpfige, geschlechtergemischte Kombos kreischen und schreien sich so sehr die nicht vorhandene Seele aus dem Leib, dass man sich ganz kulturkonservativ die Eintönigkeit der verschiedenen Retrosounds von Herzen zurückwünscht – und sich dafür auch noch vor sich selber schämt. Gitarrenriffs, die schon unsere Väter auf der Luftgitarre spielten und bratzenden 80er Jahre-Beats waren zwar nicht besonders originell, aber auch nicht völlig charmefrei. Doch nun reizen einige Bands all das aus, was die heimische wg , der Kirchenkeller oder verschiedene Flohmärkte so hergeben: Mundharmonikas, Triangeln, ja sogar die verdrängte Sitar und der geschmacklose Tamborin tauchten wieder auf. Dass in dieser Hinsicht kein Ende absehbar ist, beweist das kürzlich erschienene Album der L os C ampesinos. Auf ihrem Album Hold on now, youngster... klingelt das Glockenspiel so entzückend wie möglich, die Songtexte sind spritzig, der Gesang und das Gekreische unbeschwert und chaotisch. Hier geht es vor allem um eins: der ganzen grauen Problemwelt zu zeigen, wie ach so toll das Leben in den selbst gestrickten DIY-Stulpen, den Polkadot-Röckchen und den quietschebunten A merican A pparel -T-Shirts doch ist. Was dem RabimmelRabammelRabumm-Idioten aktuell die hunderste Neuauflage untoter Spielarten elektronischer Entgrenzungsmusik ist, ist dem Indie in Europa und Nordamerika der Powerpop. Wo es in den basslastigen Discos im Moment vor allem darum geht, durch möglichst bunte Kleidung, unsubtile Musik und Drei-Tage-WachDebilität dem Minimal den Marsch zu blasen, stürmen die mehrköpfigen Kombos aus Australien, Brooklyn und diesem Fall dem deprimierenden Cardiff eine ganz andere Bastille: Dem in sich gekehrten Emostimmchen der Folk- und Antifolkbewegung soll sein Widerpart zugefügt werden. Spaß haben, ausgelassen sein, ja vielleicht sogar ein bisschen exzessiv, scheint für die Indies ein schwer zu lösende Aufgabe, die nur mit

verkrampft ausgearbeiteten Trick funktionieren kann. Also plündern auch L os C ampesinos die Palette, die schon bei A rchitecture I n H elsinki so gut funktionierte: Beständig rasantes Tempo, Lofi-Getöse, Enthusiasmus bis zum Überschnappen und eine Menge tanzender Bandmitglieder. Die Lieder sind kurz, banal und klingen alle gleich: Stellen sich so Indies eine gute Party vor? Spaß wird hier gleichgesetzt mit absoluter Infantilität, mit Gleichförmigkeit und absoluter Überraschungslosigkeit. Imaginiert wird der reine, unschuldige Spaß. Flummies, Blumen, Potpourri: alles was zu einem Kindergeburtstag gehört, findet die siebenköpfige Kombo lustig und zitatwürdig. Allerdings: Tanzen ist keine Gymnastikübung und Freude kein Hippiechor. Die Schönheit der Disco ist nicht einfach das Gegenteil der Traurigkeit, sondern dadurch bedingt, dass die Euphorie und Erwartungen gemischt werden mit Angst und Erschöpfung. Aber auch innerhalb ihres eigenen Kosmos hätten Indies das Ganze schon vor Jahren begreifen können: Vielleicht hätten sie sich wirklich mal ein Bild von W olfgang T illmans anschauen und ein Interview mit J arvis C ocker lesen sollen. Oder einfach R oxy M usic hören: „Loneliness is a crowded room, Full of open hearts turned to stone, All together all alone, All at once my whole world had changed, Now i´m in the dark, off the wall, Let the strobe light up them all, I close my eyes and dance till dawn.“ L os C ampesinos Hold on now, youngster..., V2 Records (Universal)

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A RT SHIT —

ALLES FÜR ALLE UND ZWAR UMSONST

WAS HAT ES EIGENTLICH MIT DEM KUNSTBETRIEB AUF SICH? BIETET ER AUSWEGE AUS GESELLSCHAFTLICHEN MISEREN? IST ER LEDIGLICH EIN SYNONYM FÜR EINE ANSAMMLUNG VON WELTFREMDEN KUNSTPRODUKTMANAGERN UND AKADEMISIERTEN REZIPIENTEN, DIE SICH IN MAFIÖSEN STRUKTUREN IHRE BELANGLOSIGKEITEN ZUSCHIEBEN UND DURCH IRRELEVANZ GLÄNZEN? Lesk KLÄREN AUF.

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Sich auf die Kunst zuzubewegen, Kunst zu machen oder zumindest seine Lohnarbeit auf ihren Verkauf oder ihr appetitliches Arrangieren in Räumen zu verschieben, hat einige Vorteile: man lernt innerhalb kürzester Zeit Menschen sozial völlig grundlos an sich zu binden, entdeckt kritische Potentiale überall, wo... — nein, wirklich überall. Ein Hauch der Bohème umweht die Artisten, ihr Leben ist irregulär, unberechenbar, exzessiv — bestimmt von unregelmäßigen Arbeitszeiten, schlechter oder keiner Bezahlung und flexibel angebotener körperlicher Verausgabung. Bevor der Hauch wieder verzieht, hält ihn jemand schnell im Namen fest: Digitale Bohème zum Beispiel oder die Tatsache, dass inzwischen wirklich Alle irgendwie ‚kulturelle ProduzentInnen’ sind. Diese treibt sich im Spätkapitalismus nicht in Salons und Spelunken rum, sondern schießt als Dauerwerbesendung für die Einmannshow durch Netzwerke und Milchcafès.


Living on the edge — on the edge of Belanglosigkeit. Das zumindest ist die gesellschaftliche Rolle der Kunst in der Gegenwart, klassenspezifisch aufgeteilt nach musealer Konservierung fĂźrs alternde BĂźrgertum oder nachgeborene Verspannte; galeristischer Kulinarität fĂźr ästhetizistische Airheads und unbezahlte Starfucker; institutionenkritische Unterkomplexität fĂźr aspirierende kulturelle ProduzentInnen auf der Suche nach einem Alleinstellungsmerkmal oder neuerdings und nachgefragt: naivitätsbeschmierte Street Art fĂźr die Boyz und Girlz, die mit gutem Willen und Ehrlichkeit das Alternativprogramm von Unser-Kiezsoll-schĂśner-werden bestreiten — alle zusammen und ganz umsonst versteht sich. Ob die Belanglosigkeit der Kunst in der notorischen Harmlosigkeit ihrer Betreiber liegt oder diese aus ihr folgt, ist schwer zu sagen. Einzige negative Ausnahme der passiv-aggressiven VerblĂśdung scheinen psychoterroristische KĂźnstler und kokscholerische Galeristen zu sein. Zwei Gruppen also mit der Potenz zur Selbstherrschaft innerhalb des kapitalistischen Marktes. Hier, im progressiven Zentrum neoliberaler Selbstherrschaft und Fremdwahrnehmung, schlägt Naivität in blinde Grausamkeit um: Da fragt ein Galerist erstaunt die eigens eingestellten Aushilfen und Angestellten: „Ach, ihr lebt allein von dem Geld, was ich euch zahle? Wow!“ Der KĂźnstler weiĂ&#x; derweil zu dirigieren, dass „Du die Materialien alle noch viel sorgfältiger verarbeiten musst, weil meine Arbeit, die zeichnet sich durch ihre makellosen Oberflächen aus“. In content_ad-220408.pdf 22.04.2008 20:14:15 Uhr

der Gegenwartskunst ist die Arbeitsteilung inzwischen fast ausgeprägter als in der Massenproduktion, mit Ausnahme potenzgebieterischer MalerfĂźrsten. Heerscharen von Assistenten recherchieren, bauen, produzieren und organisieren, während der Ichrest von Herr und Frau KĂźnstler sich in wieder erkennbaren und stilsicheren Oberflächenstruktur spiegeln. Selbstproduzieren trägt in modernen Zeiten das anrĂźchige Flair des Kunsthandwerks und auch die Verarbeitung ist meistens schlechter. In besonderen Fällen kann es aber als Alleinstellungsmerkmal subjektivistischer SelbstĂźberhĂśhung wertsteigernd fungieren (bei Frauen gerne mit KĂśrperbezug, bei Männern gern mit FrauenkĂśrperbezug). Ist man kĂźnstlerisch jedoch fit fĂźr die Arbeitsteilung zwischen Kopf und Hand, nennt man das ‚konzeptuell arbeiten’. Seit der Conceptual Art der 1960er Jahre, die angetreten war den Warenstatus der Kunst aufzulĂśsen, indem sie statt Objekte, Sprachfetzen, TĂśne, Performances und ähnlich Ephemeres in die Welt blies, ist zwar das Objekt nicht vom Warencharakter, aber der Warencharakter nun endlich vom Objektstatus befreit. Der Hang zum KĂśrper und seine hochkulturelle Etablierung boomte in den späten 60er-Jahren: mit ScheiĂ&#x;e; vaginal (Carol Schneeman), anal (Wiener Aktionismus) oder in Dosen (Piero manzoni), ScheiĂ&#x;e war der Befreiungsschlag der 68er in der Kunst. So schĂśn kann Natur sein und immer gleich. Aktuelle Begleitmusik spielen KĂźnstlerinnen wie Jutta Koether, die in eines ihrer Lack-Glitter-Nullphilosophiebildern so dement

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einritzte: „subject = void“. Mit beeindruckender Konsistenz wird dieses Motto im Produktionsfeld Kunst verfolgt – Jutta Koether, die unfreiwillige Patin eines neuen Abbildrealismus. Gleichzeitig hat die Kunst entdeckt, dass politischer Anspruch sich extrem gut als Fleischvermittlung der Belanglosigkeitswiederholungen ihrer Objektwelt macht. ‚Was Politisches machen’, Arschlöcher wie Artur Zmiejewski überreden ehemalige KZ Insassen vor laufender Kamera, sich ihre damals aufgenötigte Nummer neu tätowieren zu lassen. Oliver Ressler stilisiert einen Demobesuch zum schlecht dokumentierten Subjektivismusspektakel mit moralischem Gehalt. Wir waren dabei — und was machen Wir jetzt? Eigentlich ist ja ohnehin alles politisch heutzutage. Diese Dichotomien zwischen links und rechts, Privatem und Politischem, Reflexion und Affirmation, das ist doch echt voll daneben, überholt und ideologisch. Statt das System anzugreifen, es also zuallererst beim Namen zu nennen, sucht man lieber poststrukturalistische kleine Nebenwege, kontrasexuelle zum Beispiel oder karnevaleske. Beim Namen nennen ist den Diskurscliffhangern gleichbedeutend mit ‚aus der Taufe heben’. So blöd ist man aber nicht, dass man per Sprache das System verdoppelt, man will weg, woanders hin und sein. Am besten wünschelt man Schleichwege aus, damit das System gar nicht merkt, dass man es kritisiert. Die Kunst sendet die Bildchen zur klammheimlichen Befreiung: da Hirn gerade aus ist, ist mal wieder der Körper dran. Revolution allein durch Ficken und Ficken als grenzenlose Repeatschleife. We are all

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Duracellhäschen. Selbst die Farben stimmen, wirken irgendwie so ’verboten’. Daneben stehen auf Vernissage, Midissage und Finissage, leicht errötet und im besten fall koksgepanzert-körperlos Männer und manchmal Frauen fortgeschrittenen Alters, umringt von ihren jüngeren Ausgaben, die in unablässigen Accessoiredetails ihren Hang zur ‚Street’, ‚Sexiness’ oder irrgeleiteter Exzentrik ausagieren. Vor ihnen die Kunst: Kunst als Training für die Zumutungen und Zurichtungen konkurrenzgepeitschter, repetitiver Lebenswelt. Die ‚Generation’, die 1968 zu spät kam, um den Nazi aus Papi rauszukuscheln und den Kapitalismus wegzulieben, verschlug es in einigen Fällen sogar in den 1980ern und 1990ern noch in Richtung Steinhagel. Heute fehlt die Aggression. Valium umsonst, egal ob in konzeptuellen oder malerischen Großformaten. Daniel Richter malt den Barmbecker (Arbeiter-)Aufstand von 1924 in Öl, Pastell und besserwisserischer Distanz. ‚In den 90ern, da war man noch politisch aktiv, ganz vorne mit dabei, ja, ja, aber heute — gibt es da überhaupt noch Nazis? Ist das nicht die ­ alte Links-Rechts-Ideologie, ist die Antifa nicht einfach ein Testosteronverein?’ Wenn das so wäre, dann wäre der pragmatische Vorschlag, einfach mal das Antifaaktionsfeld um die Kulturlinke zu erweitern, die seit den Wohlfahrtsausschüssen der 1990er mit teils grenzenlosem Karrierewillen und andernorts ungesehenem Alltagsstalinismus den Weg an die Spitze der exzellierten Deutschen Hochkultur gebracht hat. Zitrusfrüchte ausgenommen, sind’s, ob harmlos flatternd in den Kunsthochschulen Frankfurts und Wiens oder weniger harmlos in der Presselandschaft nur nominell linker Tageszeitungen untergekommen, Mafiastrukturen die den Mob zusammenhalten. Dass man einmal ‚links’ war (wo immer das auch gewesen sein mag) ist heute feststehender Freifahrtschein dafür, sich noch mehr Sauereien als der Ottonormalbürger leisten zu dürfen — man ist ja immerhin und zum Beispiel die kritische Speerspitze mit id-en. Alles geht — von Diffamierungskampagnen über handfeste Gewalt gegen Frauen — und zwar ganz umsonst. Aber final zurück zur Speerspitze der Belanglosigkeit, zu denen, die Sex immerhin nicht mit Gewalt nehmen, sondern ihn einfach nur nicht haben. Unter denen, die ihre anämische Existenz im Kunstmark durch die Körper anderer Leute begehrenswerter zu machen versuchen, hat derzeit Martin Creed die größtformatige Kontemplationsvorlage am Start. Am 3.Mai 2007 bestaunte ein konzentriert, Schrägstrich, fasziniertes Publikum einen Videoloop, auf dem ein Arschfick in hochaufgelöster Nahaufnahme in circa 8 x 8 m Format zu sehen war. Davor spielte ein Klassikorchester auf. Subjekte, runtergebrochen auf Körperfunktionen – warum nicht? Wenn in derselben Szene aufs Hirn reduziert würde, bliebe entschieden weniger übrig. Aber das die Kontemplation, die im Gros der Kunst auch schlicht in Langeweile umbenannt werden könnte, nun auch noch Wichsvorlagen so weit aufbläst, dass aller mögliche Dreck abfällt, lässt nurmehr eine spontane Reaktion als Wunschbild aufflackern: ein Überraschungs-Facial für alle Beteiligten. Frisch. When Porn turns into Art, fucking turns into Labour. Kunst ist eben nicht kostenlos – aber umsonst.


„Was ein Künstler ohne Revolution macht? Na Kunst.“ Text: N ina S cholz

„schritte in berlin, nach vorn“, so heißt es am Ende von kleinstadtnovelle. Der schwule junge Mann verlässt seine Kleinstadt gen Berlin, nachdem er sich von einer homophoben, kleingeistigen Hexenjagd nicht hat unterkriegen lassen. Ein anderer schwuler junger Mann verlässt, fast zeitgleich zum Erscheinen der kleinstadtnovelle im Rotbuchverlag, Niedersachsen und kommt auch in Berlin an. Dieser junge Mann heißt R onald M. S chernikau und er hat das bemerkenswerte Buch während seiner Abiturphase geschrieben. Bemerkenswert, weil er keinen der Fehler gemacht hat, die er hätte machen können: Er hat keine Pubertäts-, keine Coming Out- und schon gar keine Betroffenheitsliteratur verfasst. Er hat über sich und die Welt, die er zu diesem Zeitpunkt kannte, so wahr und so offen geschrieben, dass er über die ganze Welt geschrieben hat. Dann ging er nach Berlin und hat genau damit weitergemacht. Über S chernikau schreiben heißt über sein Schwulsein schreiben, denn das war er: Ein schwuler Künstler. Er hat selbst gesagt: „Überhaupt leuchtet uns allen ja sofort ein, dass die Homosexualität es ist, die den Fortbestand der Kunst garantiert“. Aber nur darüber zu schrei-

ben, wäre viel zu wenig, erzählt M atthias F rings, Autor, Ex-Fernsehmoderator und S chernikau s Freund. „ Wir haben uns kurz nach seiner Ankunft in Berlin kennen gelernt. Ich hatte sein Debüt kleinstadtnovelle gelesen und war schwer beeindruckt – klug, originell, talentiert. Ein gemeinsamer Freund hat uns bekannt gemacht. Seitdem waren wir befreundet bis zu seinem Tod. Da er nach der kleinstadtnovelle jahrelang nichts Wesentliches veröffentlicht hat, galt er vielen schlicht als „schwuler Autor.“ Vieles, was Zeitgenossen und Freunde von damals erzählen, würde auf eine typische Biographie im Berlin-Schöneberg der 80er Jahre schließen lassen. S chernikau trat mit der Tuntengruppe Ladies Neid auf, wohnt in der Großgörschenstraße — im Szenedreieck zwischen Yorckstraße, Nollendorfplatz und Kleistpark — in einem Hinterhofparterreloch, schrieb unter anderem Liedtexte für M arianne R osenberg . Aber das reichte S chernikau nicht, das war er nicht nur. „Ich liebe die Schwulen, aber ihre Probleme öden mich an.“ M atthias F rings erzählt, dass ihm irgendwann alles auf die Nerven fiel: „Zunehmend ging ihm der hektisch flackernde Westen auf die Nerven. Der Zynismus seiner

Bewohner war der seine nicht; er sehnte sich nach Ernsthaftigkeit, nicht nach Ironie und „Fun“. Die ddr war ihm der bessere Ort.“ R onald S chernikau war in erster Linie Kommunist. Zwar liebte er grelle Auftritte, aber alleine war eher ruhig und kleidete sich fast immer nur schwarz. Seine jahrelange, äußere Erfolglosigkeit entmutigte ihn nicht, er hatte ein Projekt. Alle, die ihn gekannt haben, erzählen von seinem Sammeldrang; er sammelte Bücher, Broschüren, Zeitschriften und las sie in rasender Geschwindigkeit: „R onald war ein Apostel der Heiterkeit. Er hasste Verbissenheit, Negation, Defätismus. Er würde kaum wollen, dass Leser etwas von ihm „lernen“, aber er ist ein seltenes Beispiel dafür, dass ein Autor, der die Engführung von Politik und Sexualität betreibt, dies nicht mit ideologischer Verbissenheit tut, sondern auch Formen wie Witz, Paradox, Provokation und Parodie einsetzt. Lachen war ihm immer wichtiger als recht zu behalten.“ Mitte der 80er Jahre fasste er dann den Entschluss, in der ddr zu studieren. Aus purem Egoismus, wie er sagte: „Ich glaube, ohne so eine gesunde Portion Was-wird-aus-mir kann man keine Kunst machen. Das heißt in meinem Fall: Wie krie-

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ge ich aus meinem Leben den besten Text raus.“ Das war natürlich nicht der einzige Beweggrund. „Der Sozialismus lag für ihn vollkommen auf der Hand. Zu ihm gab es keine Alternative – noch nicht einmal als Gedankenspiel. Wenn S chernikau eine Überzeugung hatte, dann die, dass der Sozialismus siegen werde.“ Sie haben es ihm nicht leicht gemacht: Die Sozialistische Einheitspartei Westberlins wollte ihn nicht ans J ohannes R. B echer -Institut in Leipzig delegieren, denn die Aufbauarbeit des Kommunismus hatte im Westen und nicht im Osten zu passieren. Der Osten war ja schließlich schon voll mit Kommunisten. Als er dann doch endlich dort studieren durfte, fasste er während seines Studiums in Leipzig den Entschluss, die Staatsbürgerschaft der ddr anzunehmen. „Er war ganz ruhig, sehr zufrieden. Ihn hat seine Entscheidung ganz und gar nicht überrascht.“, erzählt M atthias F rings . S chernikau hatte der brd öfter konstatiert, dass sie „verrückter, unterhaltsamer und ungewöhnlicher“ als der Osten sei. Trotzdem war es nicht seine Sorte Spaß: „In die ddr zu gehen“, sagte er in einem Interview, „das ist der Versuch sich die Welt auszusuchen. Ich hatte zum Westen keine Lust. Weil im Westen, da lebt man trotzdem mit dem Gefühl: Der Endzustand ist erreicht. Und wenn sich was bewegt, dann doch zum Schlechten“. Er war fest entschlossen, dass die ddr der bessere Platz zum Leben ist. Darüber schrieb er auch seine Abschlussarbeit am Institut, die

ironischerweise dann nicht in der ddr veröffentlicht werden durfte, sondern im Westen im Konkret-Verlag erschien. Die Montage Die Tage in L. Darüber, dass sich die ddr und die brd nicht verständigen können, geschweige denn mittels ihrer Literatur entpuppt sich als durch und durch freundliche Liebeserklärung, ohne dabei in Beliebigkeitsfallen zu tappen. Geschrieben ist sie, wie alle Texte S chernikau s, in strikter Kleinschreibung. „Er malt, was er sieht“, wusste er über A ndy W arhols Campell-Suppendosen zu sagen. Die DDR, das waren S chernikau s Suppendosen. Und noch eine andere Technik hatte er sich bei W arhol abgeschaut: „W arhol hatte die Fähigkeit, Leute Sachen zu fragen.“ S chernikau fragte und redete mit vielen in der ddr , die ihm seine Freundlichkeit und Liebe gegenüber dem selbst so ungeliebten Lande meistens nicht abnehmen wollten. Wenn er über die ddr schrieb und sprach, dann nennt er deren Schauspieler und Schriftsteller, das war seine „Ästhetik des Namedropping“. Einen verehrte er dabei besonders: P eter H acks . Mit ihm verband ihn eine Brieffreundschaft. Dieser hatte ihm geraten, dass er in die ddr kommen müsse, wenn er ein großer Dichter werden wolle, aber auch eine gewisse Schlampigkeit über die Tage in L. moniert. Beide verband sie die Hoffnung an den Kommunismus, der Glaube an die Utopie. Auf dem Kongress der Schriftsteller der ddr Anfang März 1990 rechnet S chernikau dann enttäuscht mit Schriftstellern im jetzt eigenen Land ab. „Am 9.

November 1989 hat in Deutschland die Konterrevolution gesiegt. Ich glaube nicht, dass man ohne diese Erkenntnis in der Zukunft wird Bücher schreiben können.“ Leider schrieb auch S chernikau nicht mehr lange nach dieser Rede. Er war an A ids erkrankt. Am 20. Oktober 1991 starb er, im selben Jahr hatte er sein Mammutprojekt legende beendet. Die Blaupause für diesen Wälzer war die Bibel — und die hatte er geschrieben. Nur das die Kernlosung nicht „Gott lebt“ ist, sondern „Der Kommunismus wird siegen. Schon seit Anfang der Achtziger war klar, dass er einen „großen Ideologieroman“ schreiben würde“, erzählt Matthias Frings, „über viele Jahre hinweg hat er dazu Themen gesammelt, sich Notizen gemacht, Szenen geschrieben. Er wusste, dass die legende sein Vermächtnis war. Von daher ist ihr Gewicht kaum zu unterschätzen. Die legende ist Schernikau und Schernikau ist die legende“. Und sie ist nicht nur ein Roman, sie ist ein Montage, einige Gedichte, Theaterstücke, Lieder, Aphorismen, Romane im Roman — eben eine Bibel. Gleich zu Beginn warnt S chernikau : „Sie müssen bedenken, dass ich gezwungen war, mein Spätwerk schon in den Dreißigern zu liefern.“ Im Wälzer selbst betreten die vier Götter fifi, kafau, stino und tete die Insel. Die Insel ist Westberlin und die Götter waren zu ihren Lebzeiten auf Erden U lrike M einhof, die Schauspielerin T herese G iese, der kpd-Vorsitzende M ax R ei mann und der schwule Dichter K laus

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M ann. Diesen wollen auf der Erde nach dem Rechten sehen, denn ihnen bleiben die Nachfolger aus. Das Westberlin in dem sie landen ist bunt, trubelig, tragisch — und auch ärgerlich. Was in der kleinstadtnovelle noch eine Metafiktion des eigenen Gymnasiastendaseins ist, wird in der legende zur Metafiktion von überhaupt allem; lesbar und unlesbar zur gleichen Zeit. Das hatten auch andere erkannt, denn nachdem alle bekannten Verlage das Manuskript abgelehnt hatten, entschied sich der ddp Goldenbogenverlag, das Buch durch eine Vorfinanzierungsaktion, unterstützt unter anderem von E lfriede J elinek , S ahra W agenknecht, W ieland S peck und H ermann L. G remliza, zu verlegen. Ein Vermächtnis, das nicht zuletzt in einer Zeit, in der sich selbst Kommunisten nur noch zaghaft zu irgendeinem Communism bekennen, nicht zu unterschätzen ist. „Die Welt ist

falsch eingerichtet, also trägt jede Abbildung auch die Information darüber in sich, dass sie falsch eingerichtet ist.“, hatte S cherni kau in einem Interview gesagt. Dieses Buch trägt die Tragik der Welt, die ja der Kapitalismus ist, in sich: Ein schwuler, kommunistischer Künstler namens Ronald M. Schernikau hat in mitten der widrigen Verhältnissen ein Kulturprodukt hervorgebracht, das schöner, wahrer und klüger kaum sein könnte. Und ist dann gestorben.

Vorabdruck aus dem Manuskript

mit dem

Arbeitstitel „Der letzte Kommunist“ von Matthias Frings. Das Copyright liegt beim Aufbau-Verlag in Berlin. Dort wird aktuell auch an der Veröffentlichung gearbeitet, die für den Frühjahr 2009 vorgesehen ist.

"Och nee, nun fang du nicht auch noch mit diesen blöden DDR-Kellnergeschichten an!" Ronald verdrehte die Augen. "Tut mir leid, aber genau so war es. Mit wem kommst du in fremden Städten sonst in Berührung als mit Kellnern und Verkäuferinnen?" "Aber eine Gesellschaftsform, nach einem Kellner oder einer schlechtgelaunten Wurstverkäuferin beurteilen zu wollen ist, pardon, unter Niveau!" "Ich würde nicht davon absehen, dass besagter Kellner auch ein Teil des besagten Systems ist." Ohne Absicht war ich ein wenig spitz geworden. Dabei war mir bewusst, wie häufig Ronald solche Diskussionen schon geführt hatte, wie lästig er sie fand. Doch gelegentlich reizte mich seine Weige-

rung, über diese alltäglichen Abgründe der DDR zu sprechen. Schwer zu entscheiden manchmal, ob er die Schwächen des ganz realen Sozialismus wirklich verteidigte, sich einen Spaß durch Provokation machte, oder einfach nur seine Ruhe haben wollte. Wir stiegen die steil abfallende Liegewiese am Halensee hinunter, um ein einigermaßen freies Plätzchen zum Sonnenbaden zu finden. Gar nicht so einfach. Dieser Spätsommer war wie Mandarinenlikör, von allem viel zu viel. Es war ungebührlich warm für Ende September, sechsundzwanzig Grad, und halb Berlin wollte sich noch einmal in der Sonne räkeln bevor die Stadt in ihr halbjährliches Grau verfiel. Wir fanden einen akzeptablen Flecken Grün und breiteten unsere Badetücher aus.

"Wollte Michael nicht mitkommen?", fragte Ronald. "Der kommt später. Irgendwas mit der Tochter, Kinderladen oder so." "Na, dann müssen wir noch Platz für seinen Luxuskörper lassen." Ronald sabberte theatralisch wie ein schmutziger alter Mann. "Damit sich alle wieder an ihm aufgeilen können!" Es sollte nicht so frustriert klingen, aber manchmal gingen mir die zahllosen feuchten Blicke, die ihm hier zugeworfen wurden, auf die Nerven. Die Wiese am Halensee lag gleich an der Stadtautobahn. Nicht gerade idyllisch aber leicht zu erreichen. Die Berliner hatten sie seit Jahren als FFK-Gebiet okkupiert. Stets standen am oberen Ende ein, zwei ältere Herren mit Fernglas vor den erigierten Augen und glotzten. Sporadisch gingen Frauen mit hennagefärbten Haaren oder einer Streitaxt um den Hals zu ihnen und vertrieben sie, aber spätestens nach einer Viertelstunde waren sie wieder auf Posten. Auch sonst wurde viel gespäht. Der Halensee war Schwimmen, Sonnenbaden und Kontaktanbahnung in einem. Als wir nackt waren, cremten wir uns sorgfältig ein. "Machst du mir den Rücken?" Ronald, schmiss die Tube rüber und legte sich auf den Bauch. "Es ist schon ärgerlich, wie wenig die BRD sich für die DDR interessiert", nahm er das Gespräch wieder auf. „Der durchschnittliche DDR-Bürger weiß sehr viel mehr über den Westen als umgekehrt. Dabei sind es die Westler, die sich durch Reisen jederzeit ein Bild machen könnten, aber sie sehen nur das was sie sehen wollen." "Ist schon klar, dass ich mit Westblick eingereist bin, das geht ja gar nicht anders. Aber ich versuche offen zu sein" Ich drückte ihm die Sonnencreme in die Hand damit er jetzt meinen Rücken einschmieren konnte. "Wenn ich aber sehe wie eine Riesenschlange mit schwer bepackten Menschen am Bahnhof steht und weit und breit kein Taxi – dann muss ich das wahrnehmen." "Aha, jetzt kommt als Nächstes die Versorgungsfrage, das Wohnungsproblem, die 97,7-prozentigen Wahlergebnisse. Stalin nicht zu vergessen! Ich bin an allem schuld. Und wenn in Polen das Fleisch knapp wird, dann war ich das auch!" Ronald hatte sich in Rage gere-

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Fotos: Mit freundlicher Genehmigung von www.schernikau.net

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det und klopfte mich durch wie ein Wiener Schnitzel. "Aua", rief ich und drehte mich um. "Nein Roni, du bist nicht schuld. Wir reden von einem Gesellschaftssystem — wie es funktioniert, ob es funktioniert und ob es gut funktioniert." "Wenn es nur ums funktionieren ginge, könnte man sagen: Im Kapitalismus setzt sich die Ökonomie reibungsloser

durch als die Administration und erscheint — das ist das geniale — als Natur. Aber die Tatsache, dass alle sich freuen wenn der Kaffee immer billiger wird statt teurer, ist Politik. Man nennt es Imperialismus." Ronald hatte sich auf den Rücken gelegt und hielt die Augen geschlossen. Ich kramte nach meinen Zigaretten und ließ mir Zeit mit der Antwort.

"über den unfairen Handel mit der dritten Welt müssen wir nicht reden, da sind wir uns sofort einig", nuschelte ich während ich mir eine Zigarette anzündete. "Aber warum sollte der Kapitalismus nicht reformfähig sein und einen fairen Handel entwickeln von dem beide Seiten profitieren? Es wäre sogar kapitalistische Klugheit, die lateinamerikanischen Länder wohlha-


bender zu machen, weil man dann besser mit ihnen Handel treiben könnte." "Aber das Gegenteil ist der Fall! Hier geht es um Ausbeutung in reinster Form. Jeder einzelne von uns kann die grotesk ungleiche Verteilung des Reichtums sehen! Wenige haben vieles und viele nichts. Das ist absurd. Wie konnte man da widersprechen? Natürlich war die ungleiche Verteilung gesellschaftlichen Vermögens ein Skandal. Und die Achtziger schickten sich an, die Reichen noch reicher zu machen, während die Löhne stagnierten, die Mieten stiegen, Sozialleistungen sanken und Arbeitsplätze im großen Stil vernichtet wurden. Das böse Wort von der Zweidrittelgesellschaft machte selbst bei Konservativen die Runde. "Also die Alte Lenin-Frage: Was tun?", sagte ich. "Eine einfache Umverteilung der Produktionsmittel", tönte es zurück. "Warum wundert mich das jetzt nicht?" Ich musste lachen weil es wie aus der Pistole geschossen kam. "Aber leider überzeugt es mich auch nicht. Ich habe Schwierigkeiten mit dem Einparteiensystem, mit Zentralismus und Planwirtschaft, überhaupt mit dieser vernunftgläubigen Vorstellung, dass kollektives Wirtschaften die Lösung sei. Gute Theorie, aber wenn ich mir die Produktivität der Ostblockstaaten anschaue..." "Womit sich die Katze in den Schwanz beißt und wir wieder beim Anfang wären." Ronald setzte sich auf und band seine Haare zu einem Pferdeschwanz. "Genau so wie du funktioniert der Westen: Ich sehe alles und tue nichts." "Jetzt bin ich also schuld am Kapitalismus, vielen Dank!" Wir mussten lachen. Zwei harmlose, nackte Jungs, jeweils verantwortlich für ein ganzes Gesellschaftssystem. "Ich bin doch kein Staatsphilosoph, Roni. Wie soll ich kleines Licht mal eben eine gerechtere Gesellschaft aus der Hüfte schießen?" "Neenee", sagte Ronald. "Komm mir bloß nicht mit der Mitleidstour. Entweder man handelt oder man steht im Weg. Politik ist etwas, das man machen muss." "Willst du was zu trinken?" Ich holte ein Flasche Apfelsaft aus meinem Beutel und hielt sie Ronald hin.

"Keine Ablenkungsmanöver!" "Manchmal beneide ich dich", sagte ich versöhnlich. "Du hast deine Theorie und deine Utopie. Als ich Klein war, haben sie in der Kirche immer vom ewigen Leben erzählt. Das hat mich wahnsinnig erschreckt. Ich habe immerzu versucht, mir die Unendlichkeit vorzustellen, und diese ewige Glückseligkeit hat mir richtig Angst eingejagt. Ein bisschen so geht es mir auch mit einer Gesellschaft, die ausnahmslos vernünftig und gerecht und gut sein soll. Ich will nicht zynisch klingen, aber diese Vorstellung finde ich fast beängstigend." Ronald runzelte die Stirn, und ich hatte Angst, es endgültig mit ihm verdorben zu haben. "Es ist zynisch", sagte er. Dann hellte sein Gesicht sich auf. "Guck mal, da kommt Michael!" Genau im richtigen Moment. Michael trug nur ein Unterhemd und man konnte die Sommersprossen auf seinen Schultern sehen. Sie waren zahlreich in diesem Sommer. Ronald betrachtete ihn mit Wohlgefallen. Ich war immer noch in Gedanken, kam mir dumm vor mit meiner politischen Unentschlossenheit, meinen fehlenden Rezepten. "Ihr habt es gut", sagte Michael und gab jedem von uns einen Kuss. Dann setzte er sich mit einem wohligen Seufzer zwischen uns und strahlte. Wer mehr über R onald M. S chernikau erfahren möchte, sollte die Webseite www.schernikau.net besuchen. Dort gibt es Interviews mit ihm, Texte von und über ihn und außerdem eine ausführliche Bibliographie.

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Keta Minelli Koksen.Kotzen.Kommunismus – Meine wilde Jugend

Text: K eta M inelli (Der Name des Autors ist der Redaktion bekannt)

Der Berliner Hausprojektebezirk Friedrichshain war noch ein Dorf, und wie das bei Dörfern nun mal so ist, wird das Fremde und Neue erst einmal als störend wahrgenommen. So erging es irgendwann in den 90er Jahren auch einer belesenen und schon allein daher der Konterrevolution verdächtigen Gruppe engagierter Infoladenbetreiber in einer momentan wohl akut von der Räumung durch das Schweinesystem bedrohten Infoumschlagstelle. Ketzerisch setzten sich die schnell als intellektuell Verschrieenen mit althergebrachten Traditionen und Gewissheiten der mal wütenden, mal traurigen, immer widerständigen autonomen Glaubensgemeinschaft auseinander, kritisierte die Unantastbarkeit zu Dogmen geronnener sexualmoralischer Irrwege und nahm dafür Ärger, Zensur, Missachtung, aber auch akademische Weihen entgegen. Es kam wie es kommen musste – das Ladenkollektiv stritt, man warf sich verbal allerhand an den Kopf und ging schließlich getrennter Wege.

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Die aus dem Mief von nicht einmal 10 Jahren heraus Katapultierten allerdings schnappten sich kurzerhand einen Großteil der vorrätigen Bücher, ließen die archivierten Infoheftchen zurück und starteten jenseits der den Kiez teilenden Hauptverkehrsstraße ein neues Projekt. Hübsch gestrichen und mit einem unerhörterweise an professionelles Layout erinnernden Ladenschild wurde hier auf die Postautonomen gehofft, die es nur leider nicht so recht gab. Wen es gab, das waren Leute, die früher mal bei den Autonomen rumsprangen, sich dann aber statt für eine kritisch-solidarische Reflektion der eigenen Irrwege in Ecstasy und Rumgeficke ergingen, was in der Nachbetrachtung vermutlich auch nicht die allerschlechteste Idee gewesen sein mag.

Zu Eröffnung dieses neuen Ladens jedenfalls wurde die damalige Creme de la creme der linksradikalen Partyszene geladen, der Tabubruch einer Cocktailbar und das stilistische Wagnis einer aus Schwulenpornos bestehenden Partydekoration begangen und den umliegenden besetzten Häusern die roten Scheinwerfer abgeschwatzt, mit dem aus heutiger Sicht ästhetisch unnachvollziehbaren Ziel, eine gemütliche Atmosphäre schaffen zu wollen. Dass das nicht so richtig funktionierte, sah man schnell am ausufernden Drogenkonsum der Anwesenden. Soff man sich in früheren, weniger oberflächlichen Zeiten die anvisierten Sexualpartner schön, wurde es in den 90ern en vogue, jegliche kopulationstechnischen Vorbehalte durch den Konsum kleiner bunter Tabletten auszuschalten. Die Eröffnung des neuen Infoladens war diesbezüglich ein Meilenstein. Etwa 150 Menschen feierten fröhlich, beglückwünschten höflich und erkundigten sich beiläufig beieinander, wann wer wo welche Drogen einzunehmen gedenke. Dieses kollektive Rauschbedürfnis führte recht schnell zu Engpässen auf der Toilette – denn das Geschlechtergrenzen quasi beim Kacken sprengende Konzept der Unisex-Klos hatte mensch sich damals im Friedrichshainer Infoladen schon allein aus Gründen des Platzmangels zu eigen gemacht. Dieser Situation geschuldet, entschieden sich mehr und mehr Menschen, ihren Harndrang an den Bäumen und Büschen eines benachbarten Parks zu stillen, jenem Park, der heute einem Castingzoo für zugezogenes Hipsterpack gleicht. Auf der Pisse von damals sonnen sich heute Mandy von mtv und Niklas aus der Werbebranche.


Auch der Autor dieser Zeilen schlug den Weg in die Bßsche ein, freudig beseelt von der gelungenen ErÜffnung des postautonomen Politikcafes. Er hatte sich mental und im Schritt gerade soweit geÜffnet, dass es hätte losgehen kÜnnen, als sich neben ihm ein flßchtig Bekannter einfand, ein ebenfalls bereits etwas angeschlagener Gast der Feierlichkeit. Dieser junge Mann war anscheinend ebenfalls schon ordentlich berauscht und hatte schon eine ganze Reihe Zurichtung und Beschädigung bezeugender Hemmungen ßber Bord geworfen, sodass es ihm nicht schwer fiel, mit einem locker-flockigen Griff ins bereits bereithängende Gemächt dem eigentlichen Vorhaben eine leicht skurrile Wendung zu geben. Die Reaktionszeit hatte sich aufgrund der diversen im Blutkreislauf rumpurzelnden Rauschmittel auf gefßhlte 5 Minuten erhÜht, und so blieb fßrs Erste nichts weiter ßbrig, als mit offenem Mund der Dinge zu harren, die kommen mÜgen. Auf den wenig später schßchtern vorgetragenen Einwand, man kÜnne nicht, wenn jemand neben einem stehen wßrde, verschwanden die Hand und die dazugehÜrige Person, um sich Sekunden später einen Weg durch Bßsche und Beine zu bannen und nunmehr in SchritthÜhe wieder aufzutauchen. Fasziniert von der ungewohnten Situation und kurz davor, sich einfach in die Hose zu machen, wurde die Entscheidung getroffen, jetzt einfach mal Fßnfe gerade sein und den Dingen ihren Lauf zu lassen. So plätscherte es frÜhlich drauf los, Augen wurden geschlossen, das leise Gurgeln verlieh dem Park eine idyllische Stimmung und der Moment stand kurz vor dem Umkippen ins Romantische.

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Ein jähes Ende fand die spontane Intimität mit einem Rascheln. Zwei nicht gerade fßr ihre Lockerheit bekannte Antifas waren ebenfalls ihrem natßrlichem Bedßrfnis gefolgt und fanden sich plÜtzlich in einer Szene wieder, die den bis dato auf Wut, Trauer und Widerstand reduzierten Horizont der beiden mßhelos sprengte und sich vermutlich auf ewig in die Netzhaut brannte. Weiter unten wurde sich verschluckt, es folgte ein peinlicher und von Husten und Wßrgen untermalter Moment kollektiver Scham, man drehte sich weg und ging seiner Wege. Die Grenze jedenfalls verläuft nicht zwischen den VÜlkern, sondern zwischen oben und unten.

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Fotos: Johannes B端ttner, Martin Trojanowski / Post-Production: Matthias Friederich Jogging-Anz端ge: Johannes B端ttner /Kleid: Sandra Moln叩r Models: Julian, Friedel, Matze, Thomas, Thomas, Samir, Jonas, Johannes, Sandra

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Fußballter or und Randale Text: J onas G empp

„DIE AUSNAHME IST INTERESSANTER ALS DER NORMALFALL. DAS NORMALE BEWEIST NICHTS, DIE AUSNAHME BEWEIST ALLES; SIE BESTÄTIGT NICHT NUR DIE REGEL, DIE REGEL LEBT ÜBERHAUPT NUR VON DER AUSNAHME.“ CARL SCHMITT

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Profi-Fußball und das Spektakel, das rund um ein Sportereignis wie dieses inszeniert wird, ist, wenig überraschend, im 21. Jahrhundert ein vollendet durchkapitalisiertes Vergnügen geworden. Fußball-Vereine agieren wie Konzerne, sind längst schon die professionellen Verwerter des Kulturproduktes Fußball. Der sportliche Aspekt ist das übrig gebliebene Anfangsmoment dieses Industriezweiges, ein scheinbar archaischer Ritus bei dem elf hoch bezahlte junge Männer gegen elf ähnlich gut bezahlte junge Männer antreten. Längst schon bestimmt das konsumistische Drumherum den Stadionbesuch. Diese Entwicklung ist logisch und notwendig, allerdings geht sie nicht mit einer Veränderung der Zuschauerstruktur einher. Zumindest nicht in dem Maße, wie das die Manager der Clubs gerne hätten. Zwar hat sich durchaus auch ein Wandel des Publikums vollzogen, das hauptsächlich und am Liebsten als Kunde gesehen und dementsprechend behandelt wird, doch gibt

es in den Fankurven des Landes eine nicht geringe Zahl an Menschen, die in der Fußballanhängerschaft mehr sehen als den bloßen Konsum gepaart mit ein wenig Lokalpatriotismus. Wochenende für Wochenende kommt es in und um Stadien zu Momenten, in denen die Normalität außer Kraft gesetzt ist und sich Hass und Gewalt entladen. Das kann zwar bei einem gewissen Alkoholpegel überall passieren, aber beim Fußball kommt ein Aspekt hinzu, der nicht zu unterschätzen ist und auch den Zusammenhang und die Verbindung der damals üblichen Straßenbanden (meist setzten diese sich aus pubertierenden Jungen zusammen) und dem aufkommenden Hooliganismus in westdeutschen Städten in den 80er Jahren erklärt, nämlich die Notwendigkeit, die anderen Gruppen, die Nicht-Identischen, zu bekämpfen. Es gab im Laufe der Jahre und gibt immer wieder die Versuche zu beschreiben und vor allem zu erklären, was genau um ein Fußballspiel herum passiert. Geprägt sind diese Versuche


durch die Moral des Bildungsbürgertums, welches Gewalt in ihrer Rohheit und direkten Art höchstens institutionalisiert und reglementiert beim Boxsport gut heißen mag. Sie verteufeln die Fußball-Randale und das Mob-Verhalten als etwas asoziales und von der Norm Abweichendes. Die Normierung und Legitimierung von Subkulturen hängt direkt mit der Gesellschaft zusammen, in der sich eine Gruppe bewegt. Da muss also auch nicht genau betrachtet oder gar differenziert werden, denn wer Gewalt als Mittel affirmiert, ist Teil eines Problems, aber daraus speist sich eben auch die Faszination. Der Ausbruch aus dem Normalen negiert die Regel. Die Ausnahme krönt einen jeden Stadionbesuch. Die härteste Kritik an solchem Denken kommt meist von der konservativen und der linken Seite. Die einen sehen ein deviantes, asoziales Verhalten; das Gewaltmonopol des Staates wird an einem Samstag in deutschen Stadien versucht außer Kraft zu setzen. Daher bedarf es eines rigorosen Vorgehens des Staates

und der Polizei gegen Randalierer, Hooligans und überhaupt all jene, die das Stadion nicht in ihrer Funktion als Konsument eines sportkulturellen Produktes nutzen. Die Linke wiederum sieht einen faschistoiden Mob, in welchem sich der Einzelne auflöst; das überwiegend männliche (ein nicht zu unterschätzender Argumentationspunkt für kulturlinke Wissenschaftsimitatoren) Kollektiv und seine Interessen treten in den Vordergrund. Dazwischen gibt es noch eine ganze Menge unterschiedlicher Positionen. Das Studentenfußballblättchen 11Freunde ergötzt sich gerne an den Aktionen der deutschen Ultragruppierungen, wenn diese „bunt“ und „kreativ“ sind oder erzählt Schoten aus der Jugend: wie man die alten Hooliganhauer beim ersten Stadionbesuch wahrgenommen hat oder wo die harten Knochen in der Kurve standen. Gewalt jedoch ist in und ums Stadion, so wie sich das für den gebildeten Humanisten gehört, verpönt. Den „modernen Fußball“ findet man nicht in Ordnung, dass Vereine Unternehmen sind, die sich nach jahrzehntelanger Feudal-Herrschaft von Kreissparkassendirektoren oder ExFußballern, deren Hauptfähigkeit „Stallgeruch“ war, zu ganz banalen Unternehmungen entwickeln mussten, um überhaupt weiter existieren zu können, will keinem so wirklich in den Kopf. Aber auch, wenn dieser Konsens zwischen „Chaoten“ und ihren Bildungsbürgertumsfreunden kein sonderlich kluges Zeugnis über das Unverständnis gegenüber der Realität und der Verhältnisse abliefert, ist dieses letztendlich dann doch verbindendes Merkmal. Wie in einem oder besser jedem Lied der Prollrocker Böhse Onkelz ist man auf sich alleine gestellt, gegen die da oben. Denn die machen sowieso was sie wollen und so gibt sich ein regressives Rebellentum einen revolutionären Anstrich, bis zu einem gewissen Punkt sogar in Zusammenarbeit mit den an sich verhassten Studenten von 11Freunde und Co. Doch es geht noch viel schlimmer: Die konventionelle Sportpresse schimpft, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf die Chaoten und Krawallmacher, paraphrasiert die Polizeimeldungen, die Spieltag für Spieltag die obligatorischen Tränengas- und Knüppelorgien gegenüber den jeweiligen Gästefans nachträglich rechtfertigen und hat kein wirkliches Interesse an einer

subkulturellen Kontextualisierung. Warum auch? Alle, die sich irgendwie anders verhalten, sind Fans in Anführungsstrichen, die Fußball nicht interessiert, so die einhellige Meinung nach jedem nicht konformen Fanverhalten. Lediglich alle paar Monate darf ein junger bis mitteljunger Nachwuchssportjournalist einen „differenzierten“ Artikel schreiben und zeigen, was er im Soziologie-Seminar gelernt hat; meistens zitiert er dann einen der größten Knallchargen im wissenschaftlichen Betrieb, nämlich P rof . D r . P ilz , ein Sportsoziologe und Gewaltforscher aus Hannover, der zwar etwas mehr Durchblick als der hysterische Randale-Laie hat, aber dessen Kategorisierungen und Einschätzungen letztendlich doch nur der universitäre Arm der exekutiven Interessen darstellen und an der Realität oftmals vorbeigehen. Aber glücklicherweise gibt es auch die uneingeschränkte und subjektive Affirmation des Erlebnisses Fußball. Diese Berichte findet man in Fanzines sowie im Internet. Die Qualität dieser Berichte ist meistens nicht sonderlich hoch, aber dennoch sind sie durchaus amüsant zu lesen: Neben wüsten Gegnerbeschimpfungen und Erlebnisberichten kann man dort nämlich herauslesen, welche Leidenschaft und Liebe der Kern der Gewalt sind. Die tiefe Zuneigung drückt sich in Hass und Gewalt gegen die Anderen aus, die diese Zuneigung und Liebe lächerlich machen und ihrerseits einem anderen Verein diese Zuneigung entgegenbringen. Fußball als proto-nationalistische Zusammenkunft ist die samstägliche Suche nach dem Ausnahmezustand. Das gerne gesungene „Fußball interessiert uns nicht“ ist Wahrheit und Lüge zugleich. Jeder, der am Wochenende in voll gestopften Zügen oder unbequemen Bussen durch Deutschland gurkt, hat zweifelsfrei ein Interesse an seinem Verein und am Sport, doch darüber hinausgehend kann und soll dieses Basisinteresse Grundlage für samstägliche Revierstreitigkeiten sein. Der Krieg im Kleinen ist notwendige Fortführung gesellschaftlicher Kämpfe, mit dem Unterschied, dass die Gewalt roh, direkt und plakativ ist, kombiniert mit purem Vergnügen am Spektakel. Davon zehrt die Faszination und macht es den Kritikern in ihrem Kraftfeld aus Regelkunde und moralischem Bessermenschentum sehr einfach. Und auch, wenn die Verheißung selten erfüllt wird, so ist doch schon alleine die Möglichkeit der Erfüllung Antrieb genug seinem Club hinterher zu reisen und Freud und Leid mit anderen Verrückten zu teilen. Weiter auf der nächsten Seite.

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"So be true to your school now Just like you would to your girl or guy Be true to your school now And let your colors fly Be true to your school "

The Beach Boys

Hertha BSC Berlin - SG Eintracht Frankfurt Berlin ist für die meisten deutschen Fussballclubs bzw. deren Anhänger eines der unattraktivsten Auswärtsspiele einer jeden Saison. Die Fahrt ist lang, das Stadion hat eine blaue Laufbahn und die Hertha-Fans sind im Allgemeinen so schäbig, dass man sie nicht mal inbrünstig hassen kann. Es dominieren Ostberliner-Wendeverlierer, die gedachten, etwas vom bundesrepublikanischen Glanz mitzunehmen, wenn sie sich dem aufstrebenden Hauptstadtclub anschlössen und rechtsoffene Westberliner Prolls. Als wir mit 30 Mann aus Mitte kommend den Bahnhof Zoo betreten, um die Zugfahrer in Empfang zu nehmen, kommen uns sogleich fünf besoffene Bollos entgegen und singen voller Inbrunst: „Ob Ost, ob West, nieder mit der roten Pest.“ Als sie uns erblickten verstummte der Gesang schnell. Eine Gruppe sportlich gekleideter, sportlich auftretender Menschen mit einem antifaschistisch geschärften Amphetaminverstand ist für die besoffenen Poser zuviel, aber auch die prompt einschreitende Polizei machte der kurzen Verheißung sofort ein Ende. Am Stadion angekommen beginnt das immer gleiche Spiel: die Polizei geleitet uns zum Block. Natürlich gibt Ärger mit den Ordnern; Kretins, die ihren autoritären Charakter in den neongelben Westen auszuleben versuche. Ein Hertha-Fan versuchte eine im Oberrang angebrachte Zaun-Fahne zu klauen. Es bleibt beim jämmerlichen Versuch. Nach dem Spiel die Rückfahrt. Herthaner lassen sich nicht blicken, wir essen was und besuchen am Abend ein Konzert.

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Hansa Rostock - SG Eintracht Frankfurt Zwei Wochen nach dem Spiel in Berlin steht die nächste Auswärtsfahrt an. Rostock ist noch weiter von Frankfurt entfernt als Berlin. Niemand erwartet mehr als 1500 Frankfurter in der Hansestadt. Doch ist Rostock mit seiner zentralen und verwinkelten Innenstadt definitiv eine spannendere Spielwiese als das große und dezentrale Berlin. Bereits um 10 Uhr treffen wir zu zehnt in Rostock ein und machen uns auf die Suche nach der Besatzung der sechs Busse, die sich von Frankfurt aus auf den Weg gemacht haben. Wir brauchen nur dem Polizeihubschrauber folgen und plötzlich sehen wir am Hafen den Mob, der sich gerade Richtung Innenstadt bewegt. Uns wird berichtet, dass Rostock sich noch nicht hat Blicken lassen, lediglich eine Leuchtkugel sei von der anderen Seite des Hafens abgefeuert worden. An der Nicht-Anwesenheit der Rostocker soll sich auch bis zum Spiel nichts ändern. Es muss ein Stich ins Fan-Herz sein, wenn 300 motivierte Frankfurter durch die eigene Stadt laufen, sich zwei Stunden auf dem zentralen Marktplatz niederlassen und man sich nicht einmal blicken lässt. Auch wenn wir jede Minute einen Angriff erwarteten, kommt es erst vor dem Stadion zur versuchten Konfrontation, doch Böller über den Zaun blieben das „Highlight“, zumindest aus erlebnisorientierter Sicht.

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An einem Nachmittag in einem der sogenannten Berliner Trendbezirke: Pubertierende Mädchen penetrieren arglose Spaziergänger mit ihren speckigen Jacken voll unmissverständlicher Aufforderungen, wie man sein Leben zu führen habe: „Fleisch ist Mord“ sowie „Fuck Bush“ kann man da lesen. Kunde einer großen Fleischbraterei darf man auch nicht sein, weil „mc “ ja doof ist. Der Lebensmitteldealer um die Ecke ist scheinbar korrekter, denn in der Schlange kann man hören, wie ausgesprochen lecker Tofu mit Sprossen, Wurzeln und anderen übel klingenden Zutaten doch schmecken würde. Der keimig wirkende junge Mann vor mir denkt laut über einen Umzug nach, weil „die Aasbraterei unten im Haus so ekelig stinkt“. Ich überlege kurz, mich beim Marktleiter über das unverschämt große Angebot der Bioprodukte im Supermarkt zu beschweren, tröste mich dann aber lieber mit der Aussicht, das frisch erworbene Bier in den ersten wärmenden Sonnenstrahlen die Kehle herunterrinnen zulassen. In Friedrichshain, Kreuzberg und Prenzlauer Berg sind die Gepflogenheit nicht anders als in jedem anderen Dorf: Zum Sehen und Gesehenwerden sowie eben auch zum Trinken begibt man sich auf den Dorfplatz. Die Einwohner Friedrichhains haben dazu den Boxhagener Platz, ihren Boxi, auserkoren. Kann man die oben beschriebenen Ärgernisse des Alltags noch als Unzulänglichkeiten des Lebens abtun, sei von Dorfplätzen in Berlin mit

Fotos: Matthias Kandel

GLITZER IM HAAR UND GRÜTZE IM HIRN

LANG VERDRÄNGTE GERÜCHE VON PATCHOULIE, RÄUCHERWERK UND UNGEWASCHENEN WURSTHAAREN SENKEN SICH ÜBER DIE STRASSEN EINIGER BEZIRKE BERLINS.

Matthias Appenzeller EKELT SICH VOR DER POLITISCH KORREKTEN SCHWEMME UND IHREN MODISCHEN AUSWÜCHSEN AUF DEN RAVES DER HAUPTSTADT.

allergrößtem Nachdruck gewarnt: Ob sie „Boxi“, Görlitzer- oder Mauerpark heißen; sobald die Temperatur über fünf Grad Celsius steigt und es gerade mal nicht regnet, gibt es hier kein Entrinnen mehr. Gesammelte Geschmacklosigkeiten wohin man blickt: Hippies, Rastafaris und Punker. Triumphierend dreinschauend stillen dicke Mütter ihre Kinder, während langhaarige, mit Holzperlen behängte Typen debil glotzend auf ihre Bongos einprügeln. All dies ist zwar ärgerlich, aber ich konnte bisher immer okay damit leben und habe um diese Örtlichkeiten einfach einen gigantischen Bogen macht. In letzter Zeit gibt es aber auch für mich kein Entkommen mehr. Als Freund elektronischer Tanzmusik begegnete man zwar auch in den 90er Jahren skurrilen Gestalten, die bewaffnet mit Bauarbeiterweste, Trillerpfeife und Schlaghosen die Nerven und Augen ihrer Mitmenschen beanspruchten. Diese tummelten sich aber eher auf der

Loveparade, in obskuren Großhallen und anderen fiesen Beschallungsörtlichkeiten, die der geschmackssichere Großstadtraver von jeher gemieden hat. Seit dem neuesten Berlinhype, dem New Rave und dank 99 Pillen 3 Tage wach, kann sich kein Fan der repetitiven Tanzmusik mehr entziehen: Infantil aufgetakelte Feierhanseln mit Glitzer im Haar und Grütze im Hirn. „Gudde Laune, Alter“, strahl um die Wette, schwenk deinen Zauberstab und verkleide dich ruhig mal als Piratenbraut. Alles so schön Neon hier. Der modische Hirnfick aus den 80ern ergießt sich aus der Bar25 über sämtliche Wiesenparties der Stadt im Rekordtempo in die h & m -Filialen. Mal sehen, wann es dort den ersten Zauberstab als Accessoire gibt. Nicht, dass Techno in Berlin — entgegen seines Rufes in manchen Diskursblättchen — jemals besonders klug war, aber einen mit Bass und Pillen unterlegten Absturz zur 80er Jahre-Karikatur haben weder er noch ich verdient.


Fotos: Johannes Büttner, Martin Trojanowski, Sara Mathiasson, Sofia Restorp (Häst Duo)

Ich liebe das Ritual: Teilen mit Freunden von gemeinschaftlichen Platten. Die traditionell gerollten Nigiris und Makis sind einfach schön anzusehen.

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Die meisten scheinen das Blog aber zu ignorieren, ob aus Angst oder aus Ekel

Ein Gespräch mit einem pädophilen Blogger

Interview: T imon E ngelhardt

Sonny (Name geändert), du bist Betreiber eines Weblogs, auf dem du dich sehr subjektiv und als direkt Betroffener mit Pädophilie/Päderastie auseinander-setzt. Kannst du uns etwas zu deiner Person und deinem Blog erzählen?

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Ich wuchs relativ unproblematisch in einem linksliberalen, gutbürgerlichen Elternhaus auf. Konfrontiert mit meiner Liebe zu Jungen wurde ich schon in der Grundschule und war während der Pubertät ständig in irgendwelche Jungen aus meinem Umfeld verliebt, ohne dass es allerdings zu einer Liebesbeziehung gekommen wäre. Ich begriff mich – nach den üblichen inneren und äußeren Kämpfen, denen ein schwuler Junge nun einmal ausgesetzt ist — mal als schwul, mal als bisexuell, weil ich auch Mädchen attraktiv fand, mich allerdings nicht in sie verliebte. Mit dem Ende der Pubertät wurden die Schwärmereien für Gleichaltrige (und gelegentlich auch für Männer) immer weniger, bis ich dann schließlich dachte, ich sei heterosexuell und hätte „die Richtige“ nur noch nicht gefunden. Dass ich während dieser suchenden Jahre immer wieder für Jungen schwärmte, verdrängte ich bzw. sagte mir immer, dass diese hübschen Jungen sicher auch als Männer noch anzie-

hend sein würden, denn das Thema „Pädophilie“ existierte für mich als Person nicht — das waren die anderen, die Bösen, die Kinderschänder. Auch dachte ich mir nichts dabei, dass ich eine immer größer werdende Faszination für Kindlichkeit in Kunst und Literatur entwickelte, bis hin zur (sicherlich diskussionswürdigen) Idealisierung der sogenannten „Kindheit“. Erst als ich mich vor etwa einem Jahr binnen kürzester Zeit sehr heftig in zwei 13-jährige Jungen verliebte, wurde mir langsam klar, wo der Hase läuft. Ich informierte mich im Internet über Pädophilie, stieß auf Foren für sogenannte „Boylover“ und las dort mit großem Interesse von Menschen, die ähnliches empfanden wie ich. Dieses Gefühlschaos aus „innerem ComingOut“ als Päderast und verzweifelter Liebe zu zwei Jungen führte dazu, dass ich als Ventil mein Blog startete; ich brauchte einen Raum, in dem ich meine Verwirrung, meine Gefühle, meine ganze Auseinandersetzung mit der Thematik kanalisieren konnte. Mit der Zeit wurde ich selbstbewusster, und nun nutze ich das Blog auch häufiger als politisches Sprachrohr für die gesellschaftliche Akzeptanz pädophiler Neigungen und die theoretische Auseinandersetzung damit – wobei ich mich

allerdings beinahe ausschließlich auf die Knabenliebe beziehe. „Girllove“ besitzt allein schon aufgrund sexistischer Gesellschaftsstrukturen eine spezielle Problematik.

Der Fotograf Will McBride hat einmal gesagt: „Ich liebe Jungs. Ich liebe ihre Frische, das Unberührte. Aber ich habe keinen Sex mit ihnen." Was ist für dich der Kern deines Begehrens? Wie schwierig ist es, sich und seine Lust zu reflektieren, wenn die an die gesellschaftliche Norm gekoppelte Sexualmoral schon alleine den Gedanken an einen auch körperlichen Umgang mit Kindern und Jugendlichen ächtet und aus der öffentlichen Sphäre verbannt? Wie lebst du deine Sexualität aus? Wie wichtig ist dir Sexualität überhaupt? Der Kern meines Begehrens ist sehr schwer darzustellen (ich habe das auf meinem Blog in einem längeren Text mal versucht, und es gibt verschiedene sexualwissenschaftliche Studien dazu, z.B. Rüdiger Lautmanns, Die Lust am Kind), und immer wieder höre ich von anderen Pädophilen, dass sie, wenn sie sich outen, in ihrem Umfeld auf Unverständnis stoßen, weil dort häufig einfach nicht nachvollzogen werden kann, was es ist, dass ein Pädo in der Beziehung zu einem Kind eigentlich sucht.


Kurz und knapp formuliert ist es bei mir so, dass ich eine Sehnsucht danach habe, mit einem Jungen intim zu werden, und zwar nicht nur im Sinne von Körperkontakt (explizit sexueller sowieso erst ab einem Alter von 11/12 Jahren), sondern vor allem im Sinne einer tiefergehenden emotionalen Beziehung. Meine Anziehung zu Frauen ist dementgegen beinahe komplett körperlich, das heisst, ich habe zur Zeit kein Interesse, eine Beziehung mit einer Frau zu führen. Wenn ich mich in einen Jungen verliebe, will ich häufig bei ihm sein, ich will mit ihm kuscheln, seiner Stimme lauschen, ihm in allen Lebenslagen beistehen, ihn riechen, ihn küssen usw. Dabei ist mir sehr wichtig, dass er das auch möchte, denn was nützt mir ein erzwungener Kuss, eine gewalttätige Umarmung, stalkingmäßige Belästigung? Nichts, denn damit schade ich dem Menschen, den ich liebe, und die ganze emotionale Komponente einer intimen Beziehung fällt weg. Vielen Pädophilen ist dieser emotionale Bezug zum Kind wichtiger als die genitale Sexualität – die meisten beschränken sich dabei, wenn vom Kind gewollt, sowieso auf Masturbation oder Oralverkehr; Geschlechtsverkehr wünschen sich nur die wenigsten Pädophilen. Wie ich gerade mal wieder merke, ist es wirklich sehr schwierig, dieses pädophile Begehren zu reflektieren. Lautmann nennt es „eine spielerische Zärtlichkeitsbefriedigung, die genitale Erregung nicht ausschließt“. Aber wird das verstanden? Wird es falsch verstanden, wenn ich schreibe, dass mir Sexualität sehr wichtig ist? Was ist überhaupt mit „Sexualität“ gemeint, was verstehen andere darunter? Jedes Wort ist da eigentlich schon zuviel, und ich bin mir sicher, dass dieser Text hier wieder sehr viele Menschen empören wird, nur weil ich davon schreibe, dass ich mir Körperkontakt als Ausdruck einer liebevollen Beziehung wünsche.

Vielleicht noch ein konkretes Beispiel: Ich hatte bisher eine kurze freundschaftliche Beziehung zu einem Jungen und war in dieser Zeit vollkommen damit zufrieden, dass er mich (von sich aus) umarmt und mit mir kuschelt. Ihn sagen zu hören, dass er mich lieb hat, das war wunderbar für mich. Leider wollte dann

Ein Gespräch mit einem pädophilen Blogger die Mutter, dass er nur noch mit Gleichaltrigen spielt; sie hatte wohl Angst, ich könnte ihm etwas antun. Dabei hätte ich jeden weitergehenden Körperkontakt nur dann zugelassen, wenn er von ihm ausgegangen wäre – wie das Kuscheln. Noch einmal zur Klarstellung: ich bin mir — und da bin ich nicht mit alleine – durchaus der Tatsache bewusst, dass zwischen den Wünschen und Bedürfnissen eines Kindes in Bezug zu meiner Person eine Disparität, ein Ungleichgewicht bestehen kann zu den Wünschen, die ich an das Kind habe. Wenn ein Kind sexuelle Handlungen mit einen Erwachsenen zusammen vollzieht, kann es dafür sehr viele Gründe geben, die meisten davon unterschiedlich zu den Gründen, die der Erwachsene hat: Freundschaftsbeweis, Neugier, Verlustängste, Experimentieren, sich selbst Mut beweisen etc. Das Schöne ist: wenn beide offen zueinander sind und ihre Beziehung tatsächlich über das rein Körperliche hinausgeht (was in nahezu allen „PädoFällen“ der Fall ist), dann kommen diese Wünsche auf den Tisch, sie werden akzeptiert, und sie führen u.a. deshalb nicht zu einem Schaden. Weshalb Beziehungen, in denen eine Disparität von Machtverteilung, Interessen und Wünschen besteht, automatisch zu einem Schaden führen sollen, kann ohnehin niemand schlüssig darlegen: schließlich ist das in Beziehungen unter Erwachsenen auch der Fall – Sprichwörter wie „Gegensätze ziehen sich an“ sprechen da Bände.

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Dein Blog ist bei einem linken Anbieter gehostet. Gerade in der Linken jedoch werden sexualmoralische Vorstellungen sehr rigide umgesetzt. Als du dein Blog gestartet hast, warst du massiven Anfeindungen ausgesetzt, die von relativ „normalen“ Pathologisierungen bis zu Vernichtungswünschen reichten. Wie war dein Umgang damit, haben sich die Reaktionen im Laufe der Zeit verändert?

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Ich vermutete, dass mir bei Blogsport keine Steine in den Weg gelegt würden, da, wie vielleicht bekannt ist, Stefan Striggler, der Gründer von Blogsport, weiland die sexualemanzipatorische Zeitschrift Gigi mit gegründet hat. Und ich hatte Recht damit. Das Blog stieß auch bei einigen anderen Genossen auf Akzeptanz, so dass ich mich immer mehr outen konnte, und ich bin dafür sehr dankbar. Heftige negative Reaktionen gab es auch, aber mehr aus der „antideutsch-liberalen“ Ecke, wie ich sie mal nennen möchte, also jenen Linken, die sich mit großem Eifer mittels islamophobem Rassismus und der Verteidigung der „westlichen Zivilisation“ nach ganz weit rechts bewegen. Auf einem solchen Blog fand im letzten Sommer eine heftige Debatte um mein Blog statt. Manchmal erreichen mich auch anonyme Morddrohungen, aber das hält sich in Grenzen; ich weiß auch nicht, aus welcher Ecke die kommen, vermute da aber eher einen genuin rechten Hintergrund. Alles in allem hätte ich aber mit heftigeren Reaktionen gerechnet. Die meisten scheinen das Blog einfach zu ignorieren, vielleicht aus Angst oder aus Ekel, keine Ahnung. Oder es wird doch mehr toleriert als man annehmen würde. Sexualität von bzw. mit Kindern wird in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem als Missbrauch durch Pädophile oder Päderasten wahrgenommen. Tatsächlich jedoch findet die deutliche Mehrzahl sexueller Übergriffe gegen Kinder und Jugendliche durch heterosexuelle Männer und vor allem durch Familienmitglieder statt. Wie erklärst du dir die Diskrepanz zwischen Empirie und Empfinden und wie nimmst du den Umgang mit diesem Thema innerhalb der Linken wahr? Diese Diskrepanz lässt sich m. E. vor allem damit erklären, dass wir in einer heteronormativen Gesellschaft leben, einer Gesell-

schaft also, die Heterosexualität als Norm setzt und Abweichungen davon entweder nur zähneknirschend (z.B. Homosexualität, Transgender) oder so gut wie gar nicht (z.B. Pädophilie) akzeptiert. Gleichzeitig werden Ehe und Familie als „Keimzellen der Gesellschaft“ idealisiert, obwohl sie häufig nichts anderes sind als Keimzellen von Vergewaltigung und Kindesmissbrauch. Das können die heteronormativistischen Familien-Ideologen nicht akzeptieren, und so finden sie Sündenböcke: Pädophilie, Werteverfall, die Medien usw. Dass die meisten (einvernehmlichen, außerfamiliären) sexuellen Kontakte zwischen Männern und Jungen keine Primärschäden verursachen, deshalb häufig unbemerkt und damit unange-

Ein Gespräch mit einem pädophilen Blogger zeigt bleiben, obwohl die Hemmschwelle einer Strafanzeige bei Fremden in der Regel niedriger ist als bei Familienmitgliedern, wird dabei nicht wahrgenommen. In der Linken wird die Problematik der Heteronormativität zwar diskutiert, aber meistens ohne den Bezug zur Pädophilie, entweder weil das noch ein zu heißes Pflaster ist oder weil auch die Linken tatsächlich annehmen, dass von Pädophilen die größte Gefahr für Kinder ausgeht.

Du hast in einem Beitrag auf deinem Blog Bezug nehmend auf Äußerungen in einem Interview, dass der Vorsitzende der niederländischen Partei für Nächstenliebe, Freiheit und Vielfalt, N orbert de J onge , mit ei-

nem österreichischen Magazin geführt und in dem er behauptet hatte "Pädophilie sind die neuen Juden, und im Moment findet ein Holocaust statt", sehr kritische und deutlich Worte gefunden. Ich zitiere: „Du wärst längst ein Lampenschirm oder auf dem besten Wege dorthin." Wie reagiert die nach außen sehr geschlossen auftretende Szene auf solche Auseinandersetzungen in den „eigenen Reihen"? Kaum. Die Gruppe K13, die diesen Judenvergleich auch macht, wird aus anderen Gründen von vielen Menschen, die sich in der pädophilen Online-Szene, also in Foren, Chats usw., bewegen, nicht akzeptiert, die diesbezüglichen Äuße-


rungen von de J onge interessieren auch nur wenige, weshalb ich auch die Notwendigkeit sah, diese deutlichen Worte zu wählen; wer ernsthaft von einem „Holocaust an Pädophilen“ spricht, der hat entweder nicht die geringste Ahnung von den Vernichtungspraktiken im Dritten Reich oder ist einfach ein populistischer Spinner, der mit der Instrumentalisierung des Holocausts etwas für die Belange der Pädos erreichen möchte, dabei aber dummerweise exakt das Gegenteil erreicht. Ich würde übrigens gar nicht von einer „nach außen sehr geschlossen auftretenden Szene“ sprechen; eher das Gegenteil ist der Fall, die meisten Pädophilen treten nach außen hin gar nicht auf, zudem ist die „Szene“ untereinander teilweise sehr zerstritten, wie man z.B. auf dem öffentlich zugänglichen jungsforum.net nachlesen kann. Ein Blog wie das meine ist leider ein Einzelfall, viele Foren sind nur für Mitglieder lesbar, grundsätzlich wird Privatsphäre – aus nachvollziehbaren Gründen – sehr groß geschrieben, der Communitygedanke ist sehr wichtig, Politik wird da als störend empfunden. Wenn es doch mal zu politischen Auseinandersetzungen in Foren kommt, laufen die genauso ab wie überall woanders auch: rechts gegen links, liberal gegen repressiv etc. Sowieso wären, glaube ich, viele Leute überrascht, wie „normal“ Pädos eigentlich sind.

Wie geht man als Betroffener mit Forderungen wie der der npd nach einer „Todesstrafe für Kinderschänder" um, zumal sich die Rechtsextremen mit dieser Zuspitzung einmal mehr auf Zustimmung in weiten Bevölkerungsteilen stützen können? Bekommt man es da nicht manchmal mit der Angst zu tun und ist die anonyme Form eines Weblogs ein Weg, sich trotzdem, aber eben verhältnismäßig sicher mit seinem Begehren auseinandersetzen zu können? Vor dem Lynchmob habe ich persönlich nicht soviel Angst. Wohl aber vor gesellschaftlicher Stigmatisierung oder einem übereifrigen Polizeieinsatz wegen irgendeiner Mitgliedschaft in einem legalen Forum (kommt leider vor) oder auch wegen des Blogs (Anfangsverdacht, wer weiß?). Damit bin ich nicht allein, und diese Dauerangst kann

sehr schnell unterschwellig zu einer Angsterkrankung oder einer Depression führen – nicht wenige Pädophile leiden darunter, ich zum Glück zur Zeit nicht. Mein Weblog macht mein Leben bestimmt nicht sicherer, aber es ist wohl der sicherste Weg der Öffentlichkeitsarbeit. Und die halte ich für sehr wichtig – vielleicht bewegt sich die Gesellschaft ja doch noch irgendwann einmal in vernünftigere Bahnen, und dazu will ich etwas beitragen.

Das Internet ist neben der KeinTäter-Werden-Einrichtung an der Berliner Charite der vermutliche einzige Ort, an dem sich Pädophile miteinander austauschen können. Immer wieder wird allerdings auch von massiver Repression gegen sogenannte Kinderschänderringe berichtet. Die Pädoforen bleiben aber außerhalb des öffentlichen Blickfeldes. Wie kommt es dazu und wie stehst du zur Initiative an der Charite? Es gibt neben dem Internet noch Selbsthilfegruppen und Arbeitskreise, aber das Internet ist sicherlich der wichtigste Ort für die Kommunikation unter pädophilen Menschen. Repression aufgrund der Sammlung verdächtiger ip -Adressen findet statt, ja, meist in Form von Hausdurchsuchungen und Verhören, bei denen aber in den allermeisten Fällen nichts strafrechtlich Verwertbares herauskommt (die Staatsanwaltschaft Köln musste z.B. gerade die Ermittlungen gegen alle 500 Kölner Verdächtige im Rahmen der sog. Operation Himmel einstellen). Auch gab es neulich in der Schweiz, Österreich und in Liechtenstein Verhöre und Hausdurchsuchungen bei Mitgliedern des mittlerweile nicht mehr existenten Girlloverforums allein aufgrund der Mitgliedschaft dort. Für Deutschland und für Boyloverforen ist mir so etwas noch nicht bekannt, aber es ist natürlich trotzdem zu empfehlen, seine IP-Adresse zu verschleiern, wenn man in solchen Foren schreibt. Dass die Foren noch nicht so stark im Visier der Öffentlichkeit sind, liegt vielleicht auch daran, dass da einfach nichts Illegales passiert. Überwacht werden sie sicherlich, zumindest die großen. Zur Charité: Das Projekt pathologisiert Pädophilie als „sexuelle Präferenzstörung“, verbreitet aber

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immerhin die richtige Auffassung, dass Pädophile nicht automatisch zu Missbrauchern werden. Problematisch an dem Projekt ist, dass es als einzig mögliche Form des pädophilen Lebens die Enthaltsamkeit predigt (und dafür auch sehr zweifelhafte Medikamente einsetzt). Es reproduziert damit die bestehende Sexualmoral und das Strafrecht und wird dafür von mir kritisiert, denn wie Studien von S andfort , B ernard, L autmann u.a. zeigen, kann es durchaus positive sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern geben, ja, mehr noch: sie sind die Regel. Schäden entstehen erst durch gesellschaftliche Einflüsse, also z.B. dadurch, dass ein Junge, der mit 12 gerne mit seinem großen Freund zusammen onaniert hat, sein Verhalten später als „schwul“ empfindet und darunter dann leidet. Die Charité macht diesen Fehler auch in bezug auf den Pädophilen als Person: sie behauptet, er leide grundsätzlich an seiner „sexuellen Präferenzstörung“ und nicht etwa – wie es tatsächlich ist – unter der gesellschaftlichen Stigmatisierung als „Kinderschänder“ und der staatlichen Repression, die knallhart zuschlägt, wenn z.B. eine bis dahin völlig schadlose pädophile Liebesbeziehung auffliegt und beide Partner plötzlich entwürdigenden Verhören und dem Spießrutenlaufen ihrer Mitmenschen ausgesetzt sind. Das ist der eigentliche Skandal, das eigentliche Leid, das Pädophile und ihre jungen Freundinnen und Freunde ertragen müssen. Nicht wenige Pädos verzichten deshalb ganz auf Freundschaften zu Kindern und leiden dann natürlich auch wieder darunter. Das Leiden kommt aber eben nicht aus der Person heraus, sondern aus den Umständen, in denen sie lebt.

Die Rechtssprechung bezüglich des „Missbrauchs von Kindern" ist von Land zu Land sehr unterschiedlich. Während der Vatikan „sexuellen Missbrauch von Kindern" als Sex mit unter 12-Jährigen definiert, gilt in der brd die Schutzgrenze von 14, in den usa von 18 Jahren. Die Unesoco hat nun vorgeschlagen, sexuellen Missbrauch als Sex mit unter 21-Jährigen zu fassen. Wie erklärst du dir die unterschiedliche Herangehensweise und welche Entwicklungen erwartest du?

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Wie die unterschiedlichen Schutz-

altergrenzen zustande gekommen sind, weiß ich nicht, da habe ich mich noch nicht mit beschäftigt; das ist vermutlich eine Frage für Soziologinnen und Soziologen. Die Entwicklung geht ganz klar in Richtung höheres Schutzalter, was ich mit dem generellen Trend zu mehr staatlicher Repression, Überwachung und Gängelung in Verbindung bringe. Demnächst berät der Bundestag wieder über das von der eu vorgegebene neue Sexualstrafrecht, das Sex unter Jugendlichen schwieriger machen und nahezu alle einigermaßen erotischen Aufnahmen von unter-18-Jährigen als „Kinderpornographie“ (beziehungsweise dann: „Jugendpornographie“) unter Strafe stellen wird. Grundsätzlich ist es ja so, dass ein wie auch immer gestaltetes Schutzalter auf der Vorstellung basiert, „das Kind“ an sich habe „unschuldig“ zu sein, Sexualität schade ihm bzw. „schände“ es gar – im Bereich der Kindheit ist Sex also immer noch etwas Schändliches. Dabei gibt es „das Kind“ an sich überhaupt nicht, und „Kindheit“ ist doch auch bloß eine ideologische Konstruktion zur Gängelung von Menschen unter 14 Jahren, denen damit eigene Bedürfnisse, ein eigener Willen etc. nur unter dem Vorbehalt, dass diese „kindgerecht“ sein müssen, zugestanden werden. Nicht falsch verstehen: Kinder sind keine „kleinen Erwachsenen“; es gibt viele unter ihnen, die besondere Schutzbedürfnisse haben, die sehr verletzlich sind usw. Aber alle Menschen müssen individuell behandelt bzw. bewertet werden, auch solche, die noch nicht das 14. Lebensjahr vollendet haben. Man könnte in diesem Zusammenhang allerdings auch diskutieren, inwiefern eine Vorstellung von Kindheit überhaupt erst zur Ausbildung spezifisch pädophiler Sexualitätsformen geführt hat. Von diesem Unesco-Wahnsinn habe ich noch nichts gehört, das wäre aber auch wirklich aberwitzig.

In den 70er und 80er Jahren kämpften Schwule und Lesben noch gegen den Normierungsdruck der bürgerlichen Gesellschaft an. Heute sind sie heiß umworbene Zielgruppe für Werbemaßnahmen jeglicher Couleur und kritisieren nicht mehr die eigene Zurichtung, sondern fordern, repressive Institutionen wie


die Ehe auch für sie zu öffnen. Du behauptest, dass der Päderast „nichts für das Fortbestehen der gesellschaftlichen Ordnung" tun würde, und ihm dadurch ein sexualemanzipatorisches Moment innewohnen würde. Ist es aber nicht viel eher so, dass die auf Warenproduktion beruhende kapitalistische Wirtschaftsweise keine Moral kennt und sie problemlos sexuelle Minderheiten integriert? Wie in welchem Verhältnis stehen Kapitalismus und Pädophilie?

Ein Gespräch mit einem pädophilen Blogger Zu dieser Frage habe ich keine eindeutige Meinung mehr. Es zeigt sich in der Tat, dass der Kapitalismus ein im wahrsten Sinne des Wortes unmoralisches System ist. Zwei Argumente würde ich aber dennoch dafür anführen, dass Päderastie und Kapitalismus unverträglich zueinander stehen könnten: 1. Das Staatsvolk muss sich reproduzieren, das heisst, es muss sich sowohl vermehren als auch im Sinne der individuellen Reproduktion des einzelnen Staatsbürgers einen Ausgleich bekommen für die Schäden, die ihm durch kapitalistische Zwänge angetan werden (Stichwort: Lohnarbeit). Das geht nach wie vor am besten in der bürgerlichen Kleinfamilie mit Mutti, Vati und ein-zwei Kindern: während Vati die Kohlen heranschafft, hütet Mutti die Kinder und den Haushalt, die alle zusammen Vati zur Erholung dienen. Und es können sich immer weniger Menschen leisten, ihre Kinder für Geld außer Haus betreuen zu lassen, so dass die Familie wieder wichtiger wird für die Reproduktion des Staatsvolks. Deshalb wird auch vermehrt Werbung gemacht für Familie und Kinder kriegen, z.B. im Rahmen des neuen „Du bist Deutschland“-Spots. Das bedeutet für Päderasten und Pädophile konkret: ihre Form von Liebe ist gesellschaftlich nicht erwünscht bzw. wertlos; sie müssen sich einen Ersatz dafür schaffen, und das schädigt sie. Ich kann mir allerdings mittlerweile auch vorstellen, dass dieser Zustand sich irgendwann dahingehend ändert, dass die besondere Zuneigung Pädophiler zu Kindern im Rahmen z.B. von Kinderbetreuung gezielt genutzt wird; insofern

hättest du Recht damit, dass der Kapitalismus an sich unabhängig von gesellschaftlicher Moral funktioniert bzw. dass diese auf eine bestimmte Art und Weise zusammenwirken. 2. Kinder erfüllen nur dann einen reproduktiven Zweck, wenn sie ihre Eigenschaft als Kinder erfüllen. Sexualität stört da, damit würden Kinder auf dem Feld der Erwachsenen wildern und könnten nicht mehr glasklar als Kinder identifiziert werden. Die Erfüllung der Rolle „Kind“ ist nämlich die Voraussetzung dafür, dass diesem „Kind“ in Schule und außerschulischer Pädagogik der Staatszweck eingetrichtert werden kann bzw. der Sinn des ganzen nachfolgenden Lebens als „mündiger Staatsbürger“ – ohne unmündige Bürger (Kinder) gibt es später auch keine mündigen! Päderasten stören also sowohl die Reproduktion der Staatsbürger als auch die des ganzen Volkes, indem sie das Konzept der unschuldigen Kindheit angreifen, des formbaren Nachwuchsmaterials für den Staat. Sie machen damit keine Revolution, aber dadurch werden ihre Kriminalisierung und Pathologisierung vielleicht etwas begreifbarer.

Vielen Dank. http://ganymed.blogsport.de

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BRIEFFREUNDE Lieber Moritz,

viele Grüße aus Herne-Wanne. "Herne-Wanne" ist, wie du vielleicht schon gehört hast, das, was früher die eine Hälfte von Wanne-Eickel war, verhält sich also zum Rest von Herne wie die DDR zu Gesamtdeutschland. Dieser Vergleich erscheint mir umso passender, seit ich in der Nachbarschaft meiner Mutter schon 3 Hakenkreuzschmierereien sowie 4 Paar weiße Schnürsenkel in Verbindung mit hochgerollten Stonewashed-Jeans und Glatzen erblickt habe. Herne-Eickel, gleich nebenan, ist angeblich der Ort mit dem höchsten Neonaziaufkommen im ganzen Ruhrgebiet. Aber auch die unpolitischen Zeitgenossen und der Rest der Stadt sind mir mehr als suspekt. Die Frauen tragen komplizierte Marmorkuchen-Frisuren, die Innenstadt stinkt nach dem Urin muskelbepackter Kampfhunde, und über allem weht der Wind des tatsächlichen und sozialen Verfalls. Übermorgen ist meine Besuchspflicht abgegolten, bis dahin verschanze ich mich in der Wohnung mit den niedrigsten Decken, die du dir vorstellen kannst. Der Ort ist gefährlich und muss abgeriegelt werden.

Herne

Schick Zement,

Sonja

Liebe Sonja,

Ich fordere Luftunterstützung!

Moritz.

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Berlin Foto: Britta Tewes, Pixelio

Grüße aus Berlin, der nach dem slawischen Wort für „Sumpf“ benannten Hauptstadt in der Nähe von Polen. Gerade senkt ein böiger Wind die Temperatur gen Gefrierpunkt, begünstigt durch stalinistischen Baustil und die Ausläufer eines Hochs über Westsibirien. Auf der Warschauerbrücke bewegt sich eine Menschenkolonne im eisigen Ostwind, Erinnerungen an Stalingrad werden wach. Dieser Marsch wird durch ein festgefrorenes Glasscherben-Hundekot-Gemisch und die zunehmende bauliche Verwüstung westlich der Brücke, zur Beleidigung für die Sinne. Wenn die BVG gerade nicht streikt, fährt von hier die M10 nach Prenzlauerberg, dem Eldorado für Provinzidioten. Doch muss zunächst Friedrichshain überwunden werden, ein an Grosny nach dem zweiten Tschetschenienkrieg erinnernder Teilbezirk, über dem der Geruch von Gammelfleisch und Haschisch liegt. Während die mehrheitlich aus Punks und Studenten zusammengesetzte Bevölkerung die Balkanisierung vorantreibt, hat Charlie die Kontrolle über den Einzelhandel übernommen.


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