MAGAZIN FÜR RELEVANZ UND STIL
HATE. #2 2008
THE RAG HUNTER LECK MICH HERRENMAGAZIN SONNTAGS GIBT ES DRAUSSEN NUR KÄNNCHEN
HATE. #2 2008
»ICH MACHE ALLES AUS LIEBE. MANCHMAL VERZWEIFELE ICH, WENN ICH MIR DIE WELT ANSCHAUE. ICH HABE DEN EINDRUCK, DARAUF NUR MIT ZYNISMUS UND SARKASMUS REAGIEREN ZU KÖNNEN. ABER EIGENTLICH HASSE ICH, WEIL ICH SO VIEL LIEBE IM HERZEN TRAGE.« MARCUS STAIGER
WHAT WE
THIS ISSUE:
what we hate/ love
4–9
Leck mich Herrenmagazin
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LI NU S VOLKM ANN
Bring The Pain
12
FRANK P. ECKERT Interview mit Klimmek.
Wasteland HATE Magazin für Relevanz und Stil Alte Schönhauser Straße 44 10119 Berlin hate-mag.com HERAUSGEBER R+S Media Gbr Gempp, Scholz Alte Schönhauser Straße 44 10119 Berlin Registernummer: 34/518/53630 REDAKTION Jonas Gempp jonas@hate-mag.com Nina Scholz nina.scholz@hate-mag.com ART DIRECTION/ GESTALTUNG Johannes Büttner (AD) johannes@hate-mag.com Ronald Weller ronald@hate-mag.com Helge Peters (Web) ANZEIGEN Robert Härtel robert@hate-mag.com AUTOREN Antonia Baum, Frank P. Eckert, Georgi Gavazov, Jonas Gempp, Sebastian Ingenhoff, Moritz Jasper Kuhn, Björn Lüdtke, Felix Nicklas, Jochen Overbeck, Nina Scholz, Linus Volkmann, Jochen Werner FOTOGRAFEN Ralf Amos, Johannes Büttner, Ute Langkafel (maifoto.de), Marc Schuhmann, Martin Trojanowski FOTOASSISTENZ Mario, Michael Nadjé, Luzia Schmincke, Philipp Zitzlaff DRUCKEREI unitedprint GmbH, Hohenzollernring 84, 50672 Köln AUFLAGE 2.500 HATE DANKT Bender, Carlos de Brito, Brian Cares, Christian Demmler, Peter K. Gempp, Tobias Hagelstein, Roland Wilhelm Kaiser, Katja Krug, Dorian Mazurek, Sandra Molnar, Gareth Owen, Clemens Pavel, Helge Peters, Benjamin Pohl, Ramin Raissi (†), Rejne Rittel, Andreas Sachwitz, Klaus Scholz, Christian Simon, Christian Titze, Remo Westermann, Daniel Wetzel Wer HATE für 3 EUR bestellt, erhält ein auf 250 Stück limitiertes HATE-Poster dazu. HATE erscheint viermonatlich. Die nächste Ausgabe erscheint am 12. Januar 2008
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FELIX NICKLAS Der Spreepark in Berlin.
Off to Never Neverland
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NINA S CHOLZ über Jack Ketchum
The Rag hunter
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BJÖRN LÜDTKE/ MAR C S CHUHMANN Wer reinkommt, ist drin.
Der Hungerkünstler
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SEBASTIAN INGENHOFF Schreibt kurz über das Verhungern.
Das Ende der Geschichte?
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JONAS GEMPP Interview mit Franziska Drohsel, Julia Seeliger und Sami Khatib
Neue Erzähler und Pointenmörder
46
J OCHEN WER NER
Cum From Space
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JOHANNES BÜTTNER/ MARTIN TR OJANOWSKI
Sonntags gibt es drauSSen nur Kännchen
58
JOCHEN OVERBECK Die Deutschen und Starbucks
Nest
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ANT ONI A B AU M
brieffreunde
62
M OR I TZ JASPER KU HN/ G EOR G I G AVAZOV
3
TATORT HASSORT ROM Text von NI N A S CHO L Z
HERBSTSCHULE: KARL MARX
PIXELPUNK Dennis Busch war es, der Anfang des Jahrtausends als James Din A4 mit seinem Label Esel Bremen auf die Tech-
»Ach, wie toll, dann hast du diesen Sommer ja die tollsten
modisch, so geschmackvoll!«, schreit es in meinem Kopf. Ge-
nolandkarte zurückholte. Musik macht
Kleider an.«, sagt meine Freundin Christine ein bisschen nei-
schmackvoll stimmt sogar teilweise, wenn man die schlicht
er immer noch, aber das alleine reicht
disch, als ich ihr erzähle, dass ich einen Kurzurlaub in Rom ge-
gekleideten ältern Leute auf der Straße beobachtet. Aber mo-
ihm nicht: Inzwischen ist es ihm wich-
plant habe. Mit ähnlichen Erwartungen und einer imaginären
disch? Das muss schon sehr lange her sein. Und dann fällt
tiger sich alles umfassendes Mutter-
Shoppingliste im Kopf steige ich aus dem Flugzeug und mache
es mir auch wieder ein: Wenn wir früher nach Italien gefahren
schiff Madewithhate zu artikulieren und
mich – nach der ersten Pizza, dem ersten Espresso und einem
sind, haben wir unseren Shoppingstopp in Mailand gemacht,
seine zahlreichen Alter Egos darunter
Museumbesuch – auf zur Via dei Condotti, seit Jahrzehnten In-
dort fotografiert auch der unvermeidliche Sartorialist für sei-
zusammenzufassen. Als Madewithha-
begriff von Designerläden und Shoppingexzessen. Ich nehme
nen Blog und ebenda findet auch die Fashionweek statt. Die
te produziert er seit 2006 Mode und
den Weg durch die Via del Corso, hatte ich doch vorher noch
meisten Labels, die Italien so berühmt gemacht haben, liegen
in einem eigentlichen gut informierten Magazin gelesen, dass
in der Nähe Mailands oder im Dunstkreis der Toskana – nicht
an dieser Straße kein Weg vorbei führt, will man sich mit ge-
in der Hauptstadt Italiens. Wenn die Leute in Rom überhaupt
schmackvollen und neuen Trends eindecken. Dass am Anfang
ein Modevorbild haben, scheint das die übersexualisierte, in
der Straße die üblichen Ketten warten, kann ich gut verkraften,
zu kleine Kleider gepresste, zu gebräunte Haut eines Rober-
ist das doch in jeder Stadt ähnlich. Als die italienischen Bou-
to Cavallis und einer Donatella Versace zu sein. Deren Kopi-
tiquen immer zahlreicher werden, steigt auch meine Hoffnung,
en sieht man häufig herumstolzieren, aber Modelle dieser Sti-
hier schon mal einen Teil meiner Urlaubskasse loszuwerden.
le brauche ich mir nicht mit nach Hause zu nehmen.
24.–26. Oktober, Herbst-Schule in den Räu-
Kritische Wissenschaft existiert an
men der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Franz-
deutschen Universitäten nahezu gar
Doch leider kann ich auch nach dem Betreten der Läden und
Mehring-Platz 1, umsganze.blogsport.de,
nicht mehr. Marx, Adorno und Konsor-
Durchforsten von Drehständern (!) mit Gold- und Türkismode-
marxforschung.de, top-berlin.net,
ten werden höchstens noch der Voll-
schmuck, Basttaschen und Tanktops in grellen Lachsfarben,
marx-gesellschaft.de
ständigkeit wegen auf die Schnelle
nichts entdecken was mich auch nur im Geringsten an Mode
und oberflächlich an einem Seminar-
erinnert. Als mich bei einem weiteren Espresso an einer ner-
tag abgehandelt, die wenigen Ausnah-
venberuhigenden Ecke zwischen einer Kirche und dem Fendi-
men lassen sich an einer Hand abzäh-
Laden umschaue, fällt noch etwas ganz anderes auf: Die Mäd-
len. Umso erfreulicher ist es, dass vom
chen und Frauen tragen keine Gladiatorsandalen, viele nicht
24. bis zum 26. Oktober zum ersten
mal Ballerinas, auch Leggings und Röhre – ein Stil, der in den
Mal in Berlin die Herbst-Schule stattfin-
meisten anderen europäischen Städten schon fast nervt –
det, die sich an drei Tagen dem wohl
sind im Stadtbild komplett abwesend. Völlig erschreckt sprin-
wichtigsten und richtigsten Theoreti-
ge ich in die Via die Condotti und werde wieder enttäuscht.
Kunst. Er selber sagt über seine Projek-
ker widmet, nämlich Karl Marx. An die-
Ich wusste, dass Burberry viel geschmacklose Massenware
te: »Alles hängt zusammen, alles irritiert
sem Wochenende dreht sich alles um
für Opis, Omis und andere Golfspieler herstellt, aber warum
sich.« Wer noch keines seiner Shirts im
das so genannte »6. Kapitel des Kapi-
sollte irgendjemand diesen Albtraum aus hellblauen Karos
Schrank hängen hat, sollte sich zumin-
tals«; zwischen Anfängern, Interessier-
und Schleifchen in ein Schaufenster hängen wollen. Max Mara
dest seine Bilder anschauen: Im Novem-
ten und Marx-Experten soll in Panels
sieht in der Auslage noch mehr wie eine schreckliche Espritko-
ber stellt er im Hamburger Hinterconti
und Arbeitsgruppen ein Erkenntnisge-
pie aus, als das sowieso schon der Fall ist und im Schaufens-
als Madewithhate seine Collagen, Sieb-
winn bringender Austausch stattfinden,
ter des Yves Saint Laurent-Ladens, direkt gegenüber der Spa-
drucke und Zeichnungen aus, in denen
denn die Kritik der politischen Ökono-
nischen Treppe, stehen die wunderbaren Sandalen mit den
er Comicstil mit der Realität vermischt,
mie ist aktueller denn je und das Ende
Sternen, die ich mir vorgenommen hatte zu probieren, einfach
die in Filmen und Zeitungen so wider-
der Geschichte keinesfalls absehbar.
in der Auslage rum: Ohne Deko, lieblos, einfach so, als ob sie
sprüchlich vermittelt wird.
Nach dem Eröffnungs-Podium am Freitag findet im Festsaal Kreuzberg eine
vergessen worden wären, so dass ich diesen Gedanken gleich wieder verdränge. An junge Labels oder Läden in den Schnit-
MADEWITHHATE: 28.–30. November 2008 im
Party statt bei der u. a. Knarf Rellöm
te präsentiert werden, die auf eine fortschrittliche Art unge-
HINTERKONTI, Hamburg. hinterkonti.de,
und die Small-Town-Girls auftreten.
wohnt sind, ist erst gar nicht zu denken »Aber Rom ist doch so
madewithhate.de
4
5
SERIENHERBST
schichte mit Christian Slater in der Hauptrolle verspricht. Gro-
ES IST NUR IN DEINEM KOPF
ße Aufregung hatte HBO mit seiner Ankündigung ausgelöst, eine Vampirserie, die in der Jetztzeit in den Südstaaten spielt
Die gute Nachricht zu erst: Trotz des Autorenstreiks Anfang
und von Six feet Under-Schöpfer Alan Ball nach den Romanen
des Jahres, starten diesen Herbst einige neue Serien in Ame-
von Charlaine Harris gedreht wird, zu produzieren. Der Pilot von
rika und viele großartige Formate aus den Vorjahren wurden
True Blood konnte aber leider nicht halten was der Hype ver-
von den Sendern erneut übernommen. Die schlechte Nach-
spricht: Zu viele Geschichten und Ebenen wurden in die erste
richt: Die meisten Formate, die neu starten, können die ge-
Folge geschrieben und auch der romantische Aspekt bedient
wohnte Qualität bei weitem nicht halten. Auf den ersten Blick
nicht unabdingbaren Kitsch, sondern wirkt schlicht bemüht.
Es ist Herbst, das heißt nicht nur,
wurden viele sichere Entscheidungen getroffen und wenig Ri-
Trotzdem haben die Geschichten durchaus Entwicklungspoten-
dass der Sommer bald vorbei ist, son-
siko eingegangen. CW startet nach dem Gossip Girl-Hype mit
tial. Eine faszinierende eigene Welt entwirft die FX-Serie Sons
dern auch, dass der gemütliche Teil des
einem Beverly Hills 90210-Nachfolger und schickt zudem ein
of Anarchy in der Ron Perlman, Charmie Hunnam und Katey
Jahres wieder beginnt. Vorbei sind die
ähnliches Format, das eher komödienlastig ist, aber auch an
Sagal die Hauptrollen spielen: Das Drama um eine waffen-
Wochenenden, die montags auf Ope-
der Westküste spielt, ins Rennen: Leider wurde die Serie im
handelnde Motorradgang entwickelt sich zwar langsam, kann
nair-Raves enden und die Sonntage,
letzten Moment noch von Surving the Filthy Rich schlicht in Pri-
aber trotzdem durch faszinierende Auftritte der Schauspieler
die im Park vertrödelt werden. Die Mu-
viliged umbenannt. Auf der sicheren Seite befindet sich der
begeistern. Einzig und alleine Fringe schafft es von Anfang
seen machen wieder auf, Theater- und
Sender, der unter anderem Buffy und Veronica Mars sendete,
die Begeisterung auszulösen, in die Serien wie Reaper, Sa-
Clubpausen sind vorbei, Bands touren
sicherlich auch mit seinem Realityformat Stylista, das konzep-
rah Connor – The Terminator Chronicles oder Dexter in den
wieder vermehrt durch die Konzerthal-
tionell irgendwo zwischen Project Runway und Der Teufel trägt
letzten beiden Herbstsaison viele Zuschauer versetzt hatten.
len der Städte, und: Es ist die beste
Prada liegt und einer weiteren romantischen Komödie: Valen-
Fringe bringt nicht nur endlich Joshua Jackson zurück auf den
Zeit für Schocker auf dem Sofa. Jedes
tine. Von konservativen Einschätzungen haben sich wohl auch
kleinen Bildschirm, sondern verbindet auf spannende Art die
Jahr wird im Spätsommer auf dem Fan-
die Sender ABC, CBS und NBC leiten lassen und die austra-
Hyperrealität von Thrillerserien à la 24 mit dem Charme von
tasy Filmfest, das mittlerweile in sieben
lische Serie Kath & Kim, sowie die britischen Serien Life on
Naturwissenschaftssplatter, wie das zum Beispiel in der Re-
deutschen Städten stattfindet, gezeigt,
Mars und Eleventh Hour mit eigenen Produktionen ins Ameri-
Animator-Reihe der Fall ist. Insgesamt wird wohl niemand zu
wie weit die Genreformeln Fantasy, Hor-
kanische kopiert. Setbilder und Piloten sehen allerdings viel-
kurz kommen, weil alleine schon der Fernsehstundenplan,
ror und Thriller gedehnt werden können.
sprechend aus. Noch ein Remake hat NBC eingekauft, nämlich
den man sich anhand der wieder neu erscheinenden Serien
Dieses Jahr war das Programm nicht
das von Knight Rider; der trashige Charme der Originalserie
machen kann, für mangelndes Sozialleben sorgen kann und
nur noch abwechslungsreicher und es
wird beibehalten, David Hasselhoff ist leider nicht an Bord.
HBO zum Beispiel noch Serien wie The Last of the Ninth im
waren wieder mehr Filme im Programm
Ansonsten wurde natürlich auch wieder der übliche Mist ge-
Repertoire hat, über deren Starttermin diesen Herbst noch
als noch im letzten Jahr, sondern man
dreht: günstige Realityformate, Einraum-Sitcoms und Ermitt-
nichts genaues bekannt ist. Die Tatsache, dass die Geschich-
kann auf jeden Fall konstatieren, dass
ler, die entweder eine übersinnliche Fähigkeit besitzen oder
te um eine korrupte NYPD-Gruppe in den 70ern von Deadwood
die Zeit der schwarzen Perücken im asi-
eine komplizierte Vergangenheit oder gleich beides. Dass das
und John from Cincinnati-Schöpfer David Milch entwickelt wur-
atischen Horrorfilm oder der moralinver-
die wieder einmal mit einer Genrerolle
und Emily Mortimer zum besten Thriller
Thema Gestrandet auf einsamen Inseln auch noch nicht kom-
de sowie der Ausblick auf die Starts in der Midseason, die im
seuchten Gewaltstumpfheiten im Main-
Vergnügen hat, machen das schnörke-
auf diesem Festival machen. Ebenfalls
plett abgegrast ist, will NBC mit seinem Historyformat Crusoe
Januar beginnt, machen noch mehr Hoffung. Anfang nächsten
streamsplatter erstmal vorbei ist.
lige Gothmusical tatsächlich unterhalt-
ein komplexer Thriller sollte The Oxford
beweisen. Vielversprechend sieht das Ergebnis bis jetzt nicht
Jahres starten dann wegen der Verschiebungen durch den Au-
In The Substitute (Ole Bornedal, Dä-
sam. Der Spaß am Schlachten steht
Murders (Álex de la Iglesia, Spanien/
aus. Und auch My Own Worst Enemy könnte nicht der Hit wer-
torenstreik mehr Serien als sonst und man kann sich unter
nemark 2007) landet eine fremde Le-
auch in Midnight Meat Train (Ryuhei Ki-
Frankreich 2008) werden, der tatsäch-
den, den sich der Sender von der Dr. Jekyll und Mr. Hyde-Ge-
anderem auf Joss Whedons Dollhouse freuen.
bensform auf der Erde, neidisch auf die
tamura, USA 2008) im Vordergrund,
lich durch universitäre Agatha Christie-
Menschen, weil die trotz ihrer Dumm-
in dem neben dem fantastischen Vin-
Atmosphäre
heit, aber dank Empathie jeder ande-
nie Jones samt seinem einzigen Ge-
rungstheorien bestechen kann. Leider
ren Spezies im Weltall überlegen sind.
sichtsausdruck, ein düsterer Teil New
verliert er einiges an Qualität durch
Auf der Suche nach Liebe wird der Alien
Yorks die Hauptrolle spielt. Der kom-
seine erzwungene Abgeschlossenheit
zur Ersatzlehrerin und setzt in der Klas-
plexe Schocker ist in seiner Auslotung
und den vermeidbaren Kitsch in Elijah
se, die sie unterrichtet, eine ganz neue
verschiedener Geschichten ein würdi-
Woods Liebesbeziehungen. Der beste
Erich Kästner-Dynamik in Gang. Lachen
ger Nachfolger von Candyman (Bernard
Film des Festivals war ohne Zweifel L
und Spaß waren wohl auch die Motiva-
Rose, USA 1992) und basiert auch auf
Change the World (Hideo Nakata, Japan
tion Repo The Genetic Opera (Darren
einer Kurzgeschichte Clive Barkers.
2008), der ein feines Gespür für jede
Lynn Bousman, USA 2008) zu drehen,
Ebenfalls in einem Zug spielt Transsi-
noch so kleine Rolle und Szene beweist
denn Bousman bedient nach den mo-
berian (Brad Anderson, Großbritannien/
und der sich mit Humor, Zartheit und
ralingetränkten SAW-filmen nicht mehr
Deutschland/Spanien 2008), der über
Gewalt über alle Genregrenzen erhebt
des erhobenen Zeigefinger, sondern lie-
zwei Stunden lang eine angsteinflößen-
und damit am Ende die Welt rettet.
ber den Spaß an den Gedärmen. Antho-
de und trotzdem subtile Spannung hält
ny Stewart Head und auch Paris Hilton,
und den Woody Harrelson, Ben Kingsley
6
und
Elfenbeinverschwö-
Alle Filme unter: fantasyfilmfest.com
7
verstörende melancholie
der alte mann und das mädchen Es ist 2008 und damit
Am Ende kehrt der alte Mann
Vor drei Jahren zeigte die
wischen viele konkrete Orte
nicht nur 70 Jahre nach 1938
zu seiner Frau und dem siche-
Ausstellung Wunschwelten in
zu fantastischen Szenerien,
sondern auch 40 Jahre nach
ren Job zurück und die junge
der Frankfurter Schirn, dass
denen eine halluzinogene Un-
1968. Dass Jahr der Studen-
Frau muss sich fragen ob sie
man der Romantik nicht nur
heimlichkeit immanent ist.
tenrevolte wird in den deut-
für Zukunft nicht doch einen
Unbekanntes, sondern teil-
In keinem dieser Bilder kann
schen Fernsehsendern, Aus-
ganz anderen Weg einschla-
weise auch noch Fortschritt-
der Betrachter Ruhe finden,
stellungsräumen kommunaler
gen möchte.
liches abgewinnen kann, ver-
geschweige
sucht man den Begriff, der
nie mit der Natur. Trotzdem
Gebäude und hiesigen Feuilletons dabei weitaus lieber und
PIERRE GRIMBLAT:
ausführlicher
Slogan (Al!ve/ Pierrotlefou,
behandelt
als
das Jahr in dem die Pogrome stattfanden. Dabei überschlagen sich die einen bei der Verklärung der so genannten Zeit des Aufbruchs, wieder andere kreiden den Achtundsechzigern alles Schlimme
1969/ 2008)
»harter rock kommt nicht aus deutschland, er kommt aus den hüften«
zum
Schimpfwort
denn
Harmo-
wurde,
noch einmal auszuloten und neu zu sortieren. Im Oktober bekommt nun der Künstler, durch dessen Werk man diesen Weg damals am deut-
dieser Welt an. Einzig und alleine der Historiker Götz Aly hat beides gerade gerückt. Einmal gegen die Argumente von Kai Diekmann und Co: »Die Bundesrepublik hatte
Jacques Palmingers Stimme hat sich einen Platz in vie-
lichsten zeigen konnte, am
damals 60 Millionen Einwohner. Die 68er – das waren vielleicht 200 000 Leute. Soll-
le Herzen ersungen und ersprochen: Als Hörspiel-, Thea-
selben Ort seine längt über-
ten die wenigen es geschafft haben, eine ganze Bevölkerung in ihren Wertvorstel-
ter und auch Filmschauspieler, als Studio Braun-Mitglied so-
fällige Einzelaustellung: Peter
lungen zu zerrütten, dann kann es mit diesen Werten nicht weit her gewesen sein.«,
wie als Sänger von Hits wie »Ich mag Chopin«; seit Jahren
Doig. Der fast 60 jährige wird
aber glücklicherweise auch gegen die, die in Berlin eine Straße nach Rudi Dutsch-
immer wieder gewünschter Klassiker bei vielen seiner Auf-
auf dem Kunstmarkt zu den
macht Doig, der in Eding-
ke benennen wollen: »Mir fiel früh auf, dass dieses antibürgerliche, ja antiautoritäre
tritte und »Deutsche Frau« – wahnwitzige Angstpoesie, die
YBA’s (Young British Artists)
burgh, Trinidad, Kanada, Lon-
Verhalten, das Legère, auch Diskursive innerhalb der nationalsozialistischen jungen
wahrer nicht sein könnte. Auf seinem ersten Album, einge-
gezählt, nicht zuletzt, weil er
don lebte und lebt, niemals
Elite etwas mit uns 68ern zu tun haben könnte. Insofern hat mir meine Beteiligung
spielt mit Ric (Rica Blunck) und Vik (Victor Marek), rettet er
von Charles Saatchi schon
halt vor Humor und Absurditä-
an der Studentenbewegung auch geholfen, den Nationalsozialismus zu verstehen:
den Dub vor den Hippies, presst den Ekel vor der Welt in bit-
früh für viel Geld gekauft und
ten. Kuratiert wurde die Aus-
Sie bildete für mich eine totalitäre Selbsterfahrung, die mir zum methodischen Hilfs-
tersüße Absurditäten, die hier, wie so oft bei Palminger, in
dann ausgestellt wurde. Tat-
stellung von Judith Nesbitt,
mittel geworden ist.« Man kann aber auch einfach in die Videothek gehen und aus
absolutem Sinn aufgehen. Es werden Gebote in die Fresse
sächlich hatte er aber, soll-
die maßgeblich am Konzept
Filmen wieder einmal mehr lernen als aus sozialwissenschaftlichen Büchern und Ar-
massiert und der Chanson in überraschend geschmackvol-
te man die unterschiedlichen
der Young Tate in London be-
tikeln: In »Slogan« spielt Jane Birkin ein junges, naives Mädchen, das sich in den
le Richtungen gedehnt. Palminger, der in jeder noch so klei-
Künstler in dieser beliebigen
teiligt ist und dort schon so
alten, hässlichen Serge Gainsbourg verliebt, der seine Frau nicht verlassen möch-
nen Theaternebenrolle zwischen Showtreppe und aggressi-
Kategorie wirklich zusammen-
manche
te. Er sieht sich als kreativen Kopf, der sein Geld aber mit Werbefilmen verdient,
ven Depressionen agiert, sowie drastische Sprachformen
fassen können, schon immer
und Rezeption in neue Rich-
die sich durch Sloganhaftigkeit und entblößte Brüste auszeichnen. Birkin und Gains-
und seinen angenehm störrischen Charakter präsentiert,
eine ganz andere Bildsprache
tungen gelenkt hat.
bourg sehen dabei chic aus und auch die Wohnungen sind formidabel eingerichtet.
kann jetzt endlich zu Hause in jeder Situation genossen
und Bedeutung als Tracey
werden. Noch nie hat jemand schöner mit der Wut und Ver-
Emin und Co. In seinen Wer-
PETER DOIG. Vom 09. Oktober
zweiflung in unserem Herzen kommuniziert.
ken, die Abwandlungen klas-
2008 – 04. Januar 2009 in
sischer
der Frankfurter SCHIRN,
JACQUES PALMINGER & THE KINGS OF DUB ROCK:
Landschaftsmalerei
sind, verschwinden und ver-
Künstlerbedeutung
schirn.de
Mondo Cherry (PIAS/ Rough Trade)
8
9
leck mich, herrenmagazin! Ein Frontbericht von L INUS VO L K M ANN.
M ATA D O R F Ü R L I N K E OFT FRAGEN WIR VON DER BETRUNKENEN KULTURLINKEN JA DRITTE, WIE ES GERADE SO UM DEUTS C HL AND S HE R R E NMAG AZ I NE BESTELLT IST. LOGISCH. DENN MAN MÖCHTE DEM FEIND JA NICHT DURCH KONTROLLKÄUFE GELD IN DIE KRIEGSKASSE SPÜLEN. DAVON KAUFT SICH DAS PACK DOCH BLOSS WIEDER TEURE UHREN (»CHRIST PROMASTER FUNK-PILOTEN-CHRONOGRAPH – GRENZENLOS PRÄZISE« – GQ JULI 08) ODER JIGGY SHIRTS MIT DEM PLAYBOYHASEN – DIESEM SCHEISS UNGLÜCKSBOTEN AUS DER HUGH HEFNER GROTTE.
sich in besagtem Magazin auch engagierteste Apologeten-
Und damit sind natürlich nicht Schabracken wie Court-
Lyrik zu Penisgilden wie K.I.Z. (»ist doch alles nicht so ge-
ney Love, Yoko Ono, die »pummelige Renee Zellwegger«
meint«, #35/2007) oder auch ihrem lutsch-mein-schwanz-
(#22/2008), Tita von Hadenberg etc. gemeint. Die tauchen
igen Hometurf Royal Bunker (»Sprache schafft doch keine
im Berliner Herrenmagazin zwar auf, werden aber stets ange-
Realität, bildet sie bloß ab! Und Judith Butler kann man mir
strengt gedisst. Was wollen die Alten auch? Die haben uns
eh nackend vorbinden – da tut sich nix bei mir«, #7/2005).
Männern doch noch nie was Gutes getan. Sogar unsere wert-
Tja, auf soviel Rohheit stößt man – und ist ja auch kein
vollen Beatles und Nirvanas mit ihrer Niedrigkeit in den Tod
Wunder, schließlich liest man in den Löcher, in denen solche
getrieben. Und – noch schlimmer – wagen sich mitunter pum-
Zeilen ausgewichst werden einfach nichts Erbauliches. Zum
melig aufs Parkett.
Beispiel Diedrich Diederichsen:
Als gute Frau gilt im Heftchen zum Beispiel Scarlett Johansson. Etwas eigensinnig wird ihr zugute gehalten »sie kön-
»Dem Titanic-Zeichner Bernd Pfarr wird in seinem Zweitausend-
ne sich nur in Gegenwart von Männern über 30 wohlfühlen«
eins-Buch präventiv vom einem Interviewer dieser Ball zugespielt:
(Chance!) und »sie betont ihren Sex-Appeal und spielt ihn zu-
›Was ganz allein auf deine Kappe geht, ist deine rasende politi-
gleich hierunter, denn sie schwärmt für Bier und Pizza und är-
sche Unkorrektheit, so nennt man das heute wohl. Hemmungs-
gert sich über verhungerte Models.« (#23/2008) Was der
los lässt du Neger auftreten und nennst sie auch noch so …‹ […]
Autor nicht weiß: Frauen müssen im Rampenlicht nicht nur
Hier also mal ein ungeschönter Einblick darin, was sich die
In dem Mehrseiter-Text zu der wahnsinnig wellenschlagenden
Darauf Pfarr ›Politische Korrektheit finde ich vollkommen ver-
schlank und sexy sein, sondern stets noch glaubhaft verge-
Typen auf der anderen Seite so alles aktuell zusammenhecheln
(mittlerweile längst wieder abgesetzten) Niels-Ruf-Show auf
logen. Wer glaubt, er handele politisch korrekt, verleugnet sei-
wissern, dass all dies total anstrengungslos zu haben ist und
– nur weil man mal wieder bei drei nicht auf dem Baum war.
SAT1 findet sich also bereits das Herren-Idealbild: Der wahre
ne eigenen Abgründe.‹
man dabei essen könne, was man wolle. Die Perfidie dahinter
Mann, ach, Rebell zeichnet sich aus in der politischen Unkor-
Tja, das wäre unverzeihlich, vor allem wenn in diesen Abgründen
kann man im Herrenmagazin natürlich nicht diggen. Wie auch,
rektheit und bricht dort u. a. die langweilige (wenn auch kom-
so wertvolle Gemmen wie die korrekte Bezeichnung dunkelhäuti-
hey, immerhin steht die Alte auf ältere Typen – und schöner als
plett imaginierte) Hegemonie des Radikalfeminismus.
ger Menschen schlummern. Diese Naturalisierung von Rassismus
Woody Allen ist man doch allemal? Na, also!
Als Beispiel soll stellvertretend ein sehr bekanntes Herrenmagazin betrachtet werden. Aus Berlin. Ein großes Thema ist dort – auch lange nach den Neunziger noch –, wie übel all den benachteiligten Herren die Ge-
Denn das Herrenmagazin weiß eben, was wirklich Spaß
als das, was von Innen aus den Abgründen kommt und daher rich-
Aber – das sollte man nicht außer Acht lassen – auch
dankenpolizei Political Correctness immer mitspielt. Nur weni-
macht. Und findet es sogleich in dem sexistischen Trash-Ro-
tig sei, stellt dann die endgültige Versöhnung zwischen linksstäm-
Frauen besetzen Positionen im Herrenmagazin. Tauchen zwar
ge Mutige (in dem Sinne von: der Status Quo bis hin zu allen)
man »Kill your Friends« (Heyne) von John Niven.
migen Männerauthentizität – Primat der Selbstverwirklichung, die
textmäßig seltener auf, aber wenn dann können sie endlich
trauen sich, gegen diese unsichtbare Diktat aufzubegehren:
Sau rauslassen, auch wenn dies so eine öde Nummer wie Joe Co-
mal von ihrer Seite der Medaille künden. Und zwar in dem sie
»Das Buch ist von vorne bis hinten ein einziges Dauergedröhne,
cker oder Opis Rassismen meint – und der rechtsstämmigen Agi-
zum Beispiel mitfiebern, welchen Mann sich Carrie Bradshaw
»Kritisierte man [Niels] Ruf, wurde man von seinen Fans auch
völlig überzogen, komplett irre und ziemlich spaßig. Frauen sind
tation gegen die linke Gehirnpolizei, die uns unser Bestes verbie-
aus »Sex And The City« denn im Film wohl schnappt und wel-
schnell als Langweiler, als dogmatischer Verfechter einer öden
für Stelfox [Hauptfigur des Buchs] konsequent Votzen, Schlampen
ten will (im Zweifelsfall eben unseren Rassismus und Sexismus).«
cher ihrer Serien-Liebschaften doch der Bessere gewesen sei
Political Correctness in die Reihe der Radikalfeministinnen
oder beides.«
Diedrich Diederichsen »Politische Korrekturen«
(#20/2008)
(KIWI)
Noch mehr Beispiele? Ach, mehr Beispiele am Arsch. Und
und moralischen Spießer gestellt. Und wer möchte schon so ein
10
(#22/2008).
Spielverderber sein? Das Attribut der politischen Unkorrektheit
Votzen, Schlampen, Schwule, Spastis – Ach, so spaßig kann
Und wenn man sich im aktuellen Herrenmagazin nicht gerade da-
das klassische Herrenmagazin, aus dem alle Zitate stam-
wurde hingegen zu einer Auszeichnung künstlerischer Größe, zu
die Welt sein – das wird man doch wohl mal sagen dür-
mit beschäftigt findet, »herrlich politisch unkorrekt« zu handeln, gibt
men, ist eigentlich auch eher ein verkapptes: Das Feuilleton
etwas Neuem und Rebellischem.«
fen! Kann man sich nicht nehmen lassen! Und so findet
es natürlich noch ein anderes großes Terrain. Genau: Geile Weiber.
der Jungle World.
(#18/2008)
11
»Ich habe das total gehasst«, so der Diskussionsbeitrag ei-
Mille Plateaux 2002) bis in die Wohnzimmer und Studios der
ner Zuhörerin bei einer der ersten Ghetto Ambient Performan-
lokalen Musiker und Künstler (Bizz Circuits play Initifada Off-
ces von Sebastian Meissner. Dass diese Aufführung, die im
spring Volume 1: Nishbar Li Ha’Zayin«, Mille Plateaux 2004,
Januar 2006 als diskursiver Teil der Ausstellung »Projekt Mig-
eine DVD und Mix-CD, die die ganze Bandbreite aktueller, nicht
ration« im Kölnischen Kunstverein stattfand, eine derart dra-
nur elektronischer Musik und Video/ Filmkunst in Israel dar-
matische Reaktion hervorrufen konnte mag überraschen, an-
stellt und von der gleichnamigen Internetseite als Kommuni-
gesichts der zurückhaltend fließenden, Ambient nahen Klänge
kationsplattform und Austauschmedium begleitet wird). Die
aus fernen Pop-Echos und konkretem Geräusch, die an dem
auch biografisch motivierte Beschäftigung mit der jüdischen
Abend zu hören waren, begleitet und kontrastiert durch urbane
Kultur in Westeuropa und Israel, fand ihren Vorläufigen Kulmi-
Szenarien von Einschluss und Ausschluss, Konstruktion und
nationspunkt auf »Into The Void« (Sub Rosa 2006), einer Ko-
Verfall, Sozialität und Einsamkeit, die es dazu zu sehen gab.
operation mit den israelischen Videokünstlern und Musikern
Der harsche Kommentar kam Meissner allerdings gar nicht
Ran Slavin und Eran Sachs, Erinnerungsfragment und Spu-
ungelegen, ist doch eines seiner zentralen Anliegen sich als
rensuche jüdischen Lebens im heutigen Polen. Daneben gab
Künstler und Musiker dem allgegenwärtigen Wegsehen, dem
und gibt es das nach dem Familiennamen seiner Großmut-
Ausblenden von Inhalten entgegenzustellen, zur Diskussion
ter Zofia benannte Musikprojekt Klimek, das die in den ande-
und zum selber denken anzuregen – auch um den Preis sich
ren Projekten expliziter behandelten Themen wie durch einen
unbeliebt zu machen und zu polarisieren. Die Denkanstöße
feinporigen Filter aufnimmt und in einer von Ruhe und unter-
und Diskussionsvorschläge, die Meissner dabei unterbreitet,
schwelliger Spannung geprägten, von Stille und Fluß getrage-
funktionieren allerdings gerade nicht über Provokation und ver-
nen Musik umprägt, Musik die erst einmal einfach nur schön
Bring THE PAIN Ein Interview von FRANK p. E C KE RT
Melancholie ist Subversion Sebastian Meissner/ Klimek/ Random Inc./ Ghetto Ambient
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bale oder visuelle Radikalisierung. Das Krasse ist nicht sein
ist. Schönheit allerdings immer in einen Kontext eingebunden
Geschäft. Im Gegenteil, das was zur Disposition steht, sind
ist, der ihre Bedeutung bereichert und verschiebt, den Samen
politische und künstlerisch-emanzipative Positionen, in denen
ihrer Negation in sich trägt. All dies geschieht in einem subti-
Meissner sich eher als Diskussionsknotenpunkt denn als so-
len Netz aus Verweisen und bisher möglicherweise unerkann-
litäre Künstlerpersönlichkeit setzt. Zu finden in den, in karger
ten Bezügen aus Liebe und Hass, Verzweiflung und Hoffnung
Schönheit wie erstarrten Fotografien desolater urbaner Situa-
und ihre Umsetzung in Kunstwerke, wie sie auf der bislang
tionen, die Meissner als Autokontrast macht, in den abstrak-
letzten CD (Klimek »Dedications«, Anticipate 2007) aus der
ten Videoanimationen von Tiny Little Elements wie auch in der
Zusammenführung ganz unterschiedlicher Menschen und Wel-
instrumentalen, samplebasierten elektronischen Musik, die er
ten in den Tracktiteln entstehen – und damit so etwas wie
seit zehn Jahren unter diversen Pseudonymen veröffentlicht.
eine »organische« Dialektik entfalten. Meissners Pseudonyme
Angefangen mit dem Projekt Autopoiesis mit Ekkehard Ehlers,
und Projekte eint eine Bedachtheit und Tiefe, die Komplexi-
in dem er seine musikalische Sozialisation von Chain Gang
täten ertragen kann. Eine Langsamkeit, die nicht selbstbezo-
Blues bis zur Neuen Musik sampledelisch aufarbeitete, zur
genen Rückzug oder raunende Erhabenheit anstrebt sondern
Beschäftigung mit Israel und Palästina, einem Thema dem er
Kommunikation, eine Stille die versucht den Hörer zu aktivie-
sich in einer Art »Close-Up« Perspektive annäherte: beginnend
ren. Missverständnisse oder Ignoranz auf Seiten der Rezepti-
mit dem Blick aus dem Flugzeug (Random Inc. »Jerusalem:
on sind dabei nicht ausgeschlossen, was besonders bei der
Tales Outside the Framework of Orthodoxicity”, Ritornell 2001)
Veröffentlichung von Klimeks »Milk & Honey« auf dem Tech-
in die Straßen der Stadt (Random Inc. “Walking in Jerusalem«,
no-Label Kompakt offenbar wurde: Kaum ein (oder besser ge-
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sagt: gar kein) Rezensent hat sich auf von den in den Trackti-
vermarktet wird. Das sind diese Branding-Geschichten, die
umkämpft sind und weil ich mich in dem was ich auflege, doch
teln, im Cover (die Trennmauer zwischen Israel und Palästina)
scheinbar noch immer erschreckend effektvoll wirken bei der
immer zu gerne zwischen die Stühle setze, kein kohärentes Mi-
und im Booklet mehr als angedeuteten Inhalten, weit genug ir-
Vermarktung von Musik. Dann natürlich die Geto Boys »The
nimal-Set runterreiße, was nicht immer so gut ankommt.
ritieren lassen, um die offenbare Schönheit der Musik mit der
world is a ghetto«. Mike Davis klar. »City of Quartz« war wich-
eigentlich nicht weniger offenbaren Gewalt und Schmerzlich-
tig und sehr prägend. Also mir ging es primär darum sich zu
keit der verhandelten Inhalte kurzzuschließen. Dennoch ist es
fragen: Wo ist denn heute das Ghetto? Was bedeutet es ei-
letztlich genau diese Offenheit, dieses Zaudern und die Weige-
gentlich? Hat nicht Kinski gesagt: wenn man den Kopf über
rung sich auf einfache Positionen zurückzuziehen, die Meiss-
die Mauer eines Ghettos steckt landet man schon im nächs-
ners Arbeiten so selten und wertvoll macht. Geboren in Bytom,
ten? Ich denke, dass das Wort Ghetto heute keine einsei-
Oberschlesien und aufgewachsen im Frankfurt am Main, lebt
tig vorgefärbte Definition hat oder haben muss. Der Ursprung
Kinosaal. Da kann ich das Maximum an Aufmerksamkeit mei-
Meissner seit zwei Jahren in Berlin. Ein Gespräch zum Stand
im Venezianischen Ghetto sollte klar sein, auch 1933-45 ha-
nen Arbeiten gegenüber erwarten. Die Leute wissen wie es
der Dinge:
ben den Begriff stark geprägt. Nur denke ich nicht, dass das
im Kino abläuft: rein, hinsetzen, Futter & Drinks auspacken,
Das »Ghetto Ambient« Projekt scheint der neue Attraktor zu sein,
Phänomen Ghetto und was man eben auch darunter verste-
Klappe halten, und wenn es einem nicht passt, still rausge-
um den sich deine Arbeit herum entwickelt. Was war deine Motivati-
hen könnte, ausschließlich mit der Kasernierung der europäi-
hen. Diese Situation »Galerie mit Barbetrieb« ist sehr undank-
on zu dieser Art der Präsentation der Musik mit Bilder überzugehen?
schen Juden in Nazi-Deutschland in Verbindung stehen muss.
bar. Wenn man mit kontemplativer Musik, die mit leisen Pas-
Das wollte ich immer schon so machen. Fotografiert habe ich
Ich suche nach diesen Orten. Wenn ich als Tourist durch Rand-
sagen arbeitet, gegen gesprächshungrige Besucher anspielen
schon bevor ich Musik gemacht habe. Für mich ist es ein me-
bezirke Algiers mit einer deutsch-französischen Austausch-
muss. Und da wir schon bei den Orten sind und wie sie die
gruppe fahre und mich im Bus so sehr wohl und sicher füh-
Wahrnehmung mitprägen: man muss sich bewusst machen
le und gar nicht weiß wie das Leben da draußen ist. Ghetto
was bestimmte Räume an Ehrfurcht im Kulturkonsumenten
kann für mich die virtuelle Welt sein, Gesinnungsghettos wie
auslösen. Sorry für meinen Snobismus, aber in einem Orches-
Squats oder Nazienklaven, die »Festung Europa« die Konsum-
tersaal mit angesagtem Namedropping auf der Eintrittskarte
ghettos der Shopping Malls und natürlich auch das »Ghet-
erzittern die Zuschauer schon fast automatisch vor Ehrfurcht
to Israel«, einer der Leitthemen der israelischen Band-Anar-
vor der Kultur – da kann das musikalisch-visuell Dargebotene
Sind Stadtsoziologie und Urbanismus eine Klammer die Bilder und Mu-
chos Yisrael. Von welcher Seite aus ist Israel das Ghetto?
noch so unrelevant sein.
sik zusammenhalten? Oh, ja. Ganz und gar. Psychogeographie.
Worum es mir geht, ist die klassische, reine Schönheit zu brechen. Mit Wehmut, mit Melancholie, nicht mit Krach oder Hässlichkeit, sondern was schon Dürer in seiner Allegorie der »Melencolia« versucht hat: das Düstere und nachdenklich Selbstbezogene der Melancholie in etwas Positives und Produktives umzudeuten.
Allerdings in Form einer unakademischen, intuitiven Herange-
Weil es ausschließt oder weil es ausgeschlossen wird? Ich
Ist das Kino der Rückzugsort für instrumentale Musik? Der Ort,
denke schon, dass der Begriff sich diskursiv gut dazu eignet,
an dem es noch möglich ist, anspruchsvolle Zuhörmusik zu Gehör zu
um auch einige Phänomene unserer Gesellschaft aufzugrei-
bringen? Auf jeden Fall ist es für mich sehr interessant und
Verstehst du den Begriff Psychogeographie in Bezug auf Musik,
fen, zu beobachten und darüber nachzudenken. Mich nervt
wichtig. Ich will ja Geschichten erzählen mit der Musik. Auch
ähnlich wie Christian von Borries, als spezifische Aufführungspraxis
das statische und unemanzipierte Tabuisieren von Schlagwor-
das ist ein starker Link zum Kino. Das ist mir auch wichtiger
und Ortsbezogenheit, rauszugehen aus den einschüchternden Orten
ten, damit man sich dann gar nicht mehr inhaltlich auseinan-
als die ganzen musikpsychologischen Aspekte, die bei klas-
der klassischen Musikaufführung, aus Konzerthalle und Oper in offene
der zu setzen braucht.
sisch geschulten Filmscorekomponisten mitspielen. Für eine
Räume und Situationen, wie er es z. B. mit Wagner im entkernten Pa-
hensweise an das Thema.
Rückt mit so dominanten Kontexten die Musik nicht tendenziell
bestimmte Situation eine bestimmte »geeignete« Moll-Tonart
last der Republik praktiziert hat? Ja, aber nicht nur. Das ist völ-
ditatives abstraktes Kino das ich mache. Das ist auch aus
in den Hintergrund? Aus meiner Sicht nicht. Die bewegten Bil-
zu nehmen, liegt mir doch fern. Wenn dann ergibt sich das
lig legitim und gut für das was er als klassischer Musiker da
all der »Laptop-Performance« Kritik entstanden: Laptopmusik
der, die ich produziert habe, drücken der Musik natürlich einen
bei mir intuitiv.
macht. Für mich ist diese Art der Psychogeographie als Auf-
hat für mich nach dem ursprünglichen Novelty Aspekt und ih-
starken visuellen Stempel auf, legen eine Interpretation nahe.
Hast du schon mal überlegt, statt in die Galerien, in die funktiona-
rer Eroberung von Galerien und Kunsthallen als Performance
Aber so wollte ich es ja auch. Nachdem ich bei meinen Klimek-
le Club/Techno Richtung zu gehen? Sicherlich. In den Club würde
ausgedient und als Konzert im klassischen Sinne kann ich es
Alben gesehen habe, wie resistent der durchschnittliche elek-
ich gerne, habe ich auch schon ein bisschen angefangen – als
auch nicht sehen. Es gibt einfach nur diesen über sein Lap-
tronische Musikhörer Inhalte ausblendet, wollte ich den Inhalt
Ambient Pimp mit DJ-Sets und als Harz mit FFM-Oldschool-In-
terial, mit den lokalen Gegebenheiten zu arbeiten? Die Orte zu se-
top gebeugten Typen zu sehen und man kann nicht nachvoll-
gleichberechtigt neben die reinen abstrakten Ästhetik rücken
dustrial-Techno – aber das hat sich als schwierig herausge-
hen und zu fühlen und mit den Menschen vor Ort zu reden
ziehen kann was der da macht. Eigentlich ist es auch gar nicht
– mit eigenen Visuals. Es ist interessant zu beobachten wie
stellt, weil die DJ-Mischpulte, besonders hier in Berlin, heiß
bedeutet mir sehr viel für meine Arbeit. Ich suche die direk-
interessant was er macht. Also hätte ich mir überlegen kön-
sehr diese Vorgehensweise meine Zuschauer und Zuhörer po-
te Auseinandersetzung mit den Men-
nen zum Entertainer zu werden (wie Lawrence von Felt gesun-
larisiert. Resümierend würde ich aber sagen, dass es bisher
schen und Orten. Die Möglichkeiten,
gen hat: »Maybe I should entertain, the very fact that I’m insa-
ein fast nur bei in Deutschland stattfindenden Konzerten auf-
die man als klassischer Audiokünst-
ne«) oder einen anderen Kontext kreieren – und der war ja mit
tretendes Phänomen war. Das »irgendwie linke« Publikum re-
ler im Rahmen einer CD-Veröffentli-
der Fotografie schon da. Die Visuals probieren auf abstrakte
agiert dann auf solche, besonders hierzulande überbelegten
chung hat sind einfach sehr begrenzt.
Weise Geschichten zu erzählen, Stellungen zu beziehen, Fra-
und tabuisierten und auch unaufgeklärten Symbole, beson-
Ich habe das ja bei den Random Inc.
gen aufzuwerfen.
ders sensibel. Danach habe ich angefangen die Schrifttafeln
CDs über Booklet und Artwork ver-
auszubauen und Erläuterungen zu den Orten zu machen.
sucht, aber es wird einfach nicht ge-
»Ghetto Ambient« ist ein starker Begriff. Ghetto als Szenario des
führungspraxis der Musik sozusagen eine natürliche Beigabe, die immer da ist. Auch »Site Specific« vor Ort zu sein, mit dem vorhandenen Ma-
Einschlusses mit der Assoziation der jüdischen Ghettos, oder als Sze-
Gibt es überhaupt noch andere Möglichkeiten heute Ambient oder
lesen, nicht gesehen. Wie gesagt; es
nario des Ausschlusses, wie von Mike Davis für LA/South Central be-
(in ihrer Langsamkeit und Stille) fordernde und zum genaueren Zu-
ist schon erstaunlich und eigentlich
schrieben. Was sind deine Assoziationen dazu? Also zuerst war
hören auffordernde Musik irgendwo anders aufzuführen oder aufzu-
unglaublich wie sehr man als Musik-
es eine Trotzreaktion auf Pop Ambient wie es von Kompakt
legen als in einem Kunstkontext? Für mich ist der ideale Ort der
konsument Inhalte ausblendet.
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Du hast dich immer ausdrücklich davon distanziert jegliche Art von Wellness-Musik zu machen. Passt dazu die erweiterte Kontextualisierung über die Bilder, Videos und Installationen? Ja. Schönheit, die dir im Halse stecken bleibt. Vielleicht liegt in ihrer Schönheit der wahrlich subversive Charakter meiner Tracks. Worum es mir geht, ist die klassische, reine Schönheit zu brechen. Mit Wehmut, mit Melancholie, nicht mit Krach oder Hässlichkeit, sondern was schon Dürer in seiner Allegorie der »Melencolia« versucht hat: das
und hörte diese Melodie und nahm das mit, dass er sich da-
Düstere und nachdenklich Selbstbezogene der Melancholie in
von erinnern konnte und fiddelte seine Version auf seinem
etwas Positives und Produktives umzudeuten. So sehe ich das
Zuhausehügel weiter. Ich sample aus tiefstem Respekt, aber
Leise und Schöne als Subversion, eben nicht »In Your Face«,
nicht aus Nostalgie. Es muss nicht Vergangenheit sein, aber
aber dennoch klar und unmissverständlich.
etwas was das elektronische Musikghetto erweitert. Auf »Dedi-
Siehst du deine Arbeiten als politisch im Sinne von kritisch auf et-
cations« verspüre ich nicht zu jedem der genannten Menschen
was hinweisen oder emanzipativ etwas zur Verfügung stellen oder ist
uneingeschränkte Sympathien. Musik und Klang sind frei. Nie-
das eher eine Art von Künstlerkritik, die erst mal für sich stehen soll,
mand kann sie besitzen. Ein Künstler/Musiker kann nur versu-
als Werk, und weitere Funktionen (z. B. zum Diskutieren anregen) ha-
chen sie ständig aufs Neue zu interpretieren.
ben kann, aber nicht muss? Kritisch möchte ich natürlich schon
In den jüngeren Projekten scheint sich dieser Netzwerk-Aspekt ein
sein, auch gerne mir selbst gegenüber. Ich denke Kunst sollte
wenig verschoben zu haben. Der Austausch scheint eher mit anderer
emanzipieren – ein Vorbild ist in der Hinsicht der Warschauer
Kunst oder Musik stattzufinden, als mit anderen Personen? Fakt ist,
Künstler Artur Zmijewski, ein negatives Beispiel Santiago Sier-
dass gerade der mittelständische Künstler eine starke Nei-
ra – und ich möchte, dass sie mich immer wieder fordert und
gung hat sich zu isolieren. Kollaborationen mit anderen gehen
beim Denken unterstützt. In erster Linie will ich diskutieren,
gar nicht so einfach wie ich es mir manchmal gerne wünschen
aber das wollen nur so wenige Leute. Es will so selten jemand
würde. Es liegt vielleicht an meiner überspontanen Natur. Die
was Passendes und Mutiges sagen. Auch in Kunstzusammen-
bedachte Künstlerperson wird da skeptisch und nimmt erst
hängen spüre ich eine Tendenz zur Ästhetisierung. Obwohl so
mal eine abwartende Haltung ein. Kommunikation ist das an-
viele Kunst »kritisch« und »diskursiv« daher kommt: über In-
dere Problem und all die unterschiedlichen Wahrnehmungen
halte will keiner mehr sprechen. Wenn etwas offen stehen ge-
die man von einander haben kann.
lassen wird, wird es einfach ignoriert. Ich habe den Eindruck,
Hat dein Fokus auf Israel/Palästina und die jüdische Kultur mit
dass vermehrt nur noch das ankommt was sich besonders
»Into the Void« ein vorläufiges Ende gefunden? Ein Ende gibt es für
dunkel und unverständlich gibt, was man also praktisch belie-
mich nie. Erst nach dem Tod. Israel und Palästina spielen für
big und vor allem privat für sich interpretieren kann.
mich immer noch eine Rolle, eben dann wenn ich etwas Neues
Du hast dich immer wieder als Kontextkünstler und Netzwerk-
dazu sagen kann. So ist auch das Projekt für den Steirischen
künstler bezeichnet, der vor allem von der Interaktion und den Wech-
Herbst entstanden (Lost Spaces, im Rahmen des Steirischen
selwirkungen mit anderer Kunst/Musik und mit anderen Künstlern/
Herbstes, 2.-26. Oktober 2008 in Graz). Ich wollte nicht wie-
Musikern lebt. Ist das so etwas wie die »Appropriation Art« ein eman-
der mit ein paar israelischen Musikerfreunden für ein Festival
zipatives Projekt des Zueigenmachens fremder Kunst oder eher Hom-
die Laptops aufklappen dürfen um den Kultureuropäern wie-
mage, das Aufzeigen und Wiederhervorholen geliebter Vergangenheit
der mal ein besseres Gewissen verschaffen zu können, sich
oder Gegenwart in einem persönlichen Kontext? Darauf wäre ich
mal mit »dem Konflikt« auseinandergesetzt zu haben. Ich woll-
jetzt nicht gekommen, weiß aber was du meinst. Es ist aber
te auch mal den Blick umdrehen.
nicht ganz so; Sampling ist moderne Folklore für mich. Ein be-
Was kommt als nächstes? Soundobjekte als Releaseform, mit
stimmtes klangliches Element in der Musikgeschichte weiter-
Jan Rohlf, der schon das »Dedications«-Cover gemacht hat und
zutragen. Früher hat einer auf seinem Hügel mit der Fiddel
ein neues Album auf Anticpate.
herumgefiddelt und dann zog einer auf der Durchreise vorbei
random-industries.com
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Ma r c o l o
MS aS13 or lvad
Email: bbv@gmx.ch
Bezug unter: www.hood.de GSSgangstreetstyle
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Wasteland Auf dessen Spuren hat sich Felix Nicklas begeben.
Vergnügungsparks und Jahrmärkte ziehen vornehmlich die Bizarren und Grotesken in ihren Bann. Freaks, übergewichtige Touristen, Michael Jackson und vor allem Kinder. Doch ein Mann, der wie niemand sonst mit den Wirren um Berlins einzigen Vergnügungspark, dem Spreepark, verbunden ist, hebt sich aus dieser illustren Runde als eine Art Lichtgestalt hervor: Norbert Witte.
Die Schaustellerei liegt Norbert Witte im Familienblut. Be-
nach dem Unfall in Hamburg, per Gerichtsbeschluss für ge-
reits sein Großvater Otto Witte brachte es schon zu zweifel-
schäftsunfähig erklärt worden war. Doch hinter den glitzern-
haften Ruhm und sogar zu einem Königstitel. Bereits mit 8
den Kulissen des Vergnügungsparks war er es, der die Fäden
Jahren vom Fake-Glanz des Jahrmarktsbetriebs betört, folg-
in der Hand hielt. Und so nimmt eine außerordentlich gestör-
te ein turbulenter Lebenswandel. Jahrmärkte, eine Entfüh-
te Geschichte ihren Lauf. In blinder Aufbruchsstimmung flos-
rung, Kerker, Fremdenlegion und türkische Spionageabwehr
sen Abermillionen D-Mark an Bankkrediten in den Park. Neue
waren nur einige Stationen auf seinem Lebensweg. Witte be-
Attraktionen wurden erworben, das Gelände kostspielig umge-
hauptete sogar 1913 mit seinem Freund, dem Schwertschlu-
staltet. Doch trotz all der baulichen und strukturellen Verän-
cker Max Schlepsig, am Ende des ersten Balkankriegs nach
derungen blieben die Besucherzahlen über Jahre hinweg rück-
Albanien gereist zu sein, um sich dort als Thronfolger, Prinz
gängig. Die Summe der Bankkredite belief sich damals schon
Halim ed-Din auszugeben. Am 15. Februar 1913 sei er auf-
auf über 50 Millionen DM.
grund dessen schließlich zum König ausgerufen worden. Sei-
1997 schloss Witte deswegen mit der Stadt Berlin einen
ne Regentschaft dauerte jedoch nur fünf Tage, bis der wah-
Erbbaurechtsvertrag ab, der ihm die Bankkredite sicherte und
re Thronfolger eintraf. Doch bis zu seinem Lebensende 1958
die Stadt Berlin dazu verpflichtete, für Witte mit einer Grund-
bestand er darauf ausschließlich mit: »ehemaliger König von
schuld von weiteren 20 Millionen DM zu haften. Zeitgleich mit
Albanien« angesprochen zu werden. Die Berliner Polizei ge-
der sich bereits am Horizont abzeichnenden CDU-Parteispen-
stand ihm dies sogar in seinem Pass, im Sinne eines Künst-
den Affäre, begann nun auch Norbert Wittes Engagement in
lernamens, zu. Eine Tatsache, die ihm in seinem Stadtteil
der Politik. Angestellte des Spreeparks wurden für den CDU
Berlin Pankow Berühmtheit verschaffte.
Wahlkampf abkommandiert, klebten Plakate oder verteilten
Das Leben seines Enkels Norbert sollte ebenfalls dem ei-
Broschüren. Witte, beflügelt von einem plötzlich erwachten po-
ner Achterbahnfahrt gleichen. Bereits im Alter von 26 Jahren
litischen Bewusstsein, wurde auch selber aktiv und warb kräf-
hatte er das verheerendste Jahrmarktunglück der deutschen
tig Mitglieder für die Partei. Die meisten davon sollten sich
Geschichte zu verantworten. Bei dem Versuch ein defektes
jedoch doch später als Karteileichen entpuppen. Das gesam-
Getriebe seiner Loopingbahn auf dem Hamburger Dom im
te Programm politischer Degeneration wurde durchexerziert.
August 1981 mit einem nicht versicherten, nicht zugelasse-
Doch meistens beruht so eine Partnerschaft auf Wechselwir-
nen Kran auszuwechseln, schwenkte er in die Flugbahn des
kung und so schien es niemanden aufzufallen, dass Witte seit
Nachbarfahrgeschäfts und zerfetzte dessen Gondeln. Sieben
eineinhalb Jahren mit den Pachtraten für das 29,5 Hektar gro-
Menschen starben, Fünfzehn wurden verletzt. Witte wurde für
ße Grundstück in Verzug geraten war. Am Ende kostete diese
dieses Kirmesunglück wegen fahrlässiger Tötung und Körper-
unseelige Episode die Stadt Berlin weitere 30 Millionen DM.
verletzung zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt. Kurz da-
Als sich 2001 die Spreepark GmbH auch noch Insolvenz an-
rauf verschwand er jedoch ins damalige Jugoslawien und
melden musste, haftete die Stadt Berlin, durch den Erbbau-
ward bis zur Wende nicht mehr gesehen.
rechtvertrag verpflichtet, mit den veranschlagten 20 Millionen
Mit dem Mauerfall gingen dann auch die Eigentumsrech-
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DM plus der entstandenen Zinsen.
te des Spreeparks, vormals VEB Kulturpark in Treptow an den
Dies war auch der Moment indem schierer Wahnwitz und Irr-
Berliner Senat über. Die Marktwirtschaft hielt Einzug, der Park
sinn den Spreepark vollends ruinierten. In einer Nacht und Ne-
wurde abgewickelt und ein neuer Betreiber wurde gesucht.
bel Aktion wurden 20 Container angeliefert, zusammen mit dut-
Den Zuschlag erhielt die westdeutsche Witte GmbH. Inha-
zenden Schwarzarbeitern aus Polen, die dann auch sofort damit
berin war Pia Witte, Norbert Wittes Ehefrau, da Witte selbst,
begannen sechs der Spreeparkattraktionen, unter anderem die
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Achterbahn »Fliegender Teppich«, auseinander zunehmen und
Die Zeit hat ihre Spuren im Park hinterlassen. Vergleiche
zu verladen. Über Nacht verschwand Witte mitsamt seiner Fami-
mit Chernobyl drängen sich auf, wenn man durch den Plän-
lie, acht Millionen Euro und den Fahrgeschäften. Erneut.
terwald spaziert, das Heizkraftwerk auf der gegenüberliegen-
Die Geschichte setzt sich nun in Südamerika bzw. Peru
den Spreeseite betrachtet, um von dort den Blick nach links,
fort. Unter dem Namen »Lunar Park« begann er auch hier, in
durch den Maschendrahtzaun hindurch auf das ausgestorbe-
einem Land, das keinen Auslieferungsvertrag mit Deutsch-
ne Gelände wandern lässt. Der Anblick ist wohl derselbe wie
land unterhält, einen Park zu errichten. Doch andere Länder,
der, der ukrainischen Stadt P rypjat . Ironischerweise sollte
andere Sitten. Bald nach der Ankunft wurde Witte sehr deut-
fünf Tage nach dem Unglück in Chernobyl am 1. Mai 1986 der
lich gemacht, dass er ohne entsprechende Schutzgelder kein
neuen Vergnügungspark eröffnen. Doch soweit kam es nie.
Vergnügen im Lunar Park haben würde. Acht Millionen Euro
Kein Mensch hat den Park jemals betreten. Die Natur vernich-
schmolzen schnell dahin. Der S preepark mit den verblie-
tet seitdem ungestört den Ort und den Park.
benen Attraktionen fiel unterdessen in einen Schneewittchen-
Eine seltsame Paranoia ergreift von einem Besitz, wenn man
schlaf, der in ein tiefes Koma überging und irgendwann konn-
um das Geländer streift. Der Blick wird unstet und versucht
te nur noch der Tod festgestellt werden.
Schwachstellen im Zaun auszukundschaften, von denen das
In Peru hingegen fand Norbert Witte, gerade als das Ver-
Auge jede Menge entdecken kann. Manche wirken wie Einladun-
mögen beinahe aufgebraucht war, neue Mäzene – erneut wur-
gen. Ein Vergnügungspark liegt dort im hohen Gras, der für Men-
de Geld vorgestreckt. Als Gegenleistung erwarteten diese neu-
schen, die es in ihrer Kindheit liebten auf Baustellen zu spielen,
en Kontakte nur einen kleinen Freundschaftsdienst von ihm.
gemacht zu sein scheint. Der Verfall, der ehemals schönen Din-
Dafür wurde Witte dann aber auch eine Rückkehr ohne lästige
ge, hat Anziehungskraft und eine nicht zu unterschätzende Äs-
Geldsorgen garantiert.
thetik. Die Natur erobert sich inmitten der Stadt ihren Platz zu-
Der Deal war folgender: 181 Kilogramm Kokain. Markt-
rück. Verstörend in dieser apokalyptischen Unwirklichkeit wirkt
wert etwa 15 Millionen Euro. Peru-Deutschland. One-Way. Ein-
nur ein Stillleben aus akkurat ausgerichteten, weißen Plastik-
geschweißt in das Stahlgerüst des »Fliegenden Teppichs« soll-
gartenmöbel mit einer sorgsam arrangierten Schnittblumen ne-
ten die Drogen problemlos in den Hamburger Hafen einlaufen
ben dem obligatorischen Marlboro Porzellanaschenbecher, das
und mit den anderen, zurückkehrenden Fahrgeschäften entla-
sich die Angestellte der Security Firma inmitten des Rosts und
den werden. Doch der Deal geriet zu einem Fiasko. Noch im
Der S preepark Berlin war ein Vergnügungspark im Berliner
P rypjat ist eine Stadt in der Ukraine, die 1970 im Zusammen-
des bröckelnden Betons hergerichtet haben. Denn wie in Pryp-
Hafen von Lima wurde das Kokain von der Peruanischen Poli-
Bezirk Treptow-Köpenick. Er ist auch unter seinem früheren Namen
hang mit dem Bau des Kernkraftwerks Chernobyl gegründet wurde
jat wird die »kontaminierte« Zone bis heute bewacht. Und so ist
zei konfisziert. Ein verdeckter Ermittler hatte den entscheiden-
Kulturpark Plänterwald bekannt. Auf dem 21 Hektar großen Are-
und ist die nächstgelegene Siedlung zum Reaktor. Hier wohnten zum
der Park nicht so verlassen wie er erscheint. Das herunterge-
den Tipp gegeben.
al gab es verschiedene Fahrgeschäfte und Attraktionen, wie zum
Zeitpunkt der Katastrophe von Chernobyl etwa 48.000 Menschen, die
kommene Gelände mit seinem kaputten Flair hat einen derma-
Marcel Witte, der 23 jährige Sohn, der vom Vater einge-
Beispiel Achterbahnen (davon eine mit Looping), zwei Wildwasser-
meisten von ihnen Arbeiter im Kernkraftwerk und ihre Familien. Prypjat
ßen anziehenden Charme, dass sich eine Art Untergrund Touris-
weiht und damit beauftragt worden war den Coup in Lima zu
bahnen, eine Bühne für Shows, ein Westerndorf und ein englisches
liegt mitten in der unbewohnbaren 30-Kilometer-Zone rund um das am
mus entwickelt hat. In Internetforen werden die Schichtzeiten,
überwachen, wurde noch vor Ort festgenommen. Sein Vater
Dorf. Die alte Webseite ist immer noch online: spreepark.de.
26. April 1986 havarierte Kraftwerk und ist heute eine Geisterstadt.
der auf dem Gelände kontrollierenden Security Streifen, dezi-
war in diesem Moment auf Stippvisite in Deutschland und wur-
diert protokolliert und Stalker Sightseeing Empfehlungen ausge-
de einen Tag später am 6. November 2003 auf dem Berliner
sprochen. Weder die Warnschilder, die patrouillierenden SUVs
Ku’Damm aufgegriffen.
oder die eingesetzten Hunde scheinen zu schrecken. Wird man
Beide erhielten mehrjährige Haftstrafen. Norbert Witte, der in Moabit vor Gericht stand wurde aufgrund seines damals
auf dem Gelände gestellt, bleibt es auch meist bei einer Verwarnung, theoretisch steht auf den Einbruch Hausfriedensbruch.
kritischen Gesundheitszustandes zu 7 Jahren Haft verurteilt,
Einen legalen Weg in den Park gibt es nur für Fachbesu-
sein Sohn in Lima zu 20 Jahren in einem Peruanischen Ge-
cher, die Norbert Witte höchstpersönlich ihr professionelles
fängnis. Es erübrigt sich zu erörtern, was dies bedeutet. Die
Interesse an dem Park vortragen. Danach darf man in Beglei-
fehlenden Auslieferungsverträge sind eben auch bilateral.
tung eines sog. Objektschützers für eine Stunde über das Ge-
Heute ist Norbert Witte wieder frei, nach viereinhalb Jahren
lände wandern, fotografieren, fragen, schauen, staunen und
Haft wurde er im Mai dieses Jahres vorzeitig aus der JVA Düp-
unter Umständen unerlaubte Besucher hetzen. Das ganze Pa-
pel entlassen. Kurz darauf begann Witte ein kurzes Jobinter-
ket gibt es für fünfzehn Euro, die damit nur knapp über den da-
mezzo als Hausmeister in einer Charlottenburger Table-Dance
maligen Eintrittspreisen liegen. Eine Quittung gibt es aber na-
Bar und ein paar Wochen später wurde das Insolvenzverfahren
türlich nicht. Doch im Rahmen geführter Touren kann heute ja
gegen die Spreepark GmbH wegen fehlender materieller und
auch Prypjat besichtigt werden, da die Hauptstraßen dekonta-
finanzieller Masse eingestellt.
miniert wurden. Die übrigen Gebiete der Stadt, wie der Vergnü-
Somit ist Norbert Witte, stellvertretend für seine nunmehr Ex-
gungspark, sollten jedoch nicht betreten werden.
Frau, skuriller Weise schon wieder Manager des Spreeparks. Oder zumindest der Überreste davon. Pläne, den Park zu restaurieren,
Alle Fotografien mit freundlicher Genehmigung von Ute Langkafel aus ihrer Serie
gibt es jedoch keine. Die Zukunft scheint noch unbeschrieben.
MAIFOTOSUPERMARKT/ SPREEPARK/ maifoto.de.
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Off to Never Neverland N ina S cholz hat sich in die gruselige, brutale und einzigartige Welt des Schriftstellers Jack Ketchum begeben.
mand diese Nische, also was in Low-Budget-Filmen erlaubt ist, auch in Romanen ausgefüllt hatte. Ich wollte das einfach verbinden und hatte das Gefühl, dass ich auch derjenige sein könnte, der diese Lücke füllt. Ich hätte nie gedacht, dass es einzige sein würde, was ich als Schriftsteller je machen würde. Aber es ist so.“ Mittlerweile hat Jack Ketchum fast 20 Romane geschrieben und unzählige Kurzgeschichten veröffentlicht. Interessanterweise hat er für The Box, die einzige seiner Geschichten, die von Gespenstern handelt, den im Genre be-
Writing is high-level play. You get to live in a world entirely of your own imagining for a while just like when you were a little kid. Who, except schizophrenics maybe, wouldn’t enjoy that? Jack K etchum
deutenden Bram Stoker-Award verliehen bekommen. Ansonsten sind die Menschen sein Thema. Drei seiner Bücher – Red, The Lost und The Girl Next Door – wurden in den letzten Jahren verfilmt. Bemerkenswert an den Filmen ist, dass sie fast eins
Kleine Kinder können fies sein. Selbst die netten haben
kanischer Verlag auf jedem Paperbackdeckel damit hausieren
zu eins Umsetzungen der Bücher sind. Zu dem Film im Kopf
eine dunkle Seite, da braucht man nur Peter Pan lesen. Dal-
geht, erklärt sich von selbst. Ketchum beschreibt seine ers-
beim Lesen gibt es kaum Abweichungen. Es scheint fast so,
las Mayr sagt über sich, dass ein großer Teil von ihm nie wirk-
te Begegnung mit Stephen King mit größtem Understatement:
als ob der Fantasie nur der Platz zum Atmen gegeben wird, den
lich erwachsen werden wollte. Dieser große Teil heißt Jack
„Ich habe Steve das erste mal getroffen als ich nach Bangor
Ketchum dem Leser lässt. Selbst die ekel- und angstgewohn-
Ketchum, denn unter diesem Pseudonym schreibt Mayr sei-
geflogen bin. Wir waren ziemlich schnell auf einer Wellenlän-
testen Leser werden bei Ketchum an ihre Grenzen geführt.
ne Kurzgeschichten und Romane, die sich oft um das Le-
ge. Altersmäßig sind wir nur einen oder zwei Monate auseinan-
Der schweißerprobteste Leser ertappt sich wie er das Buch
ben von Kindern und Jugendlichen drehen. In Ketchums be-
der und wir beziehen uns auf die gleichen Dinge, haben beide
weglegen muss - aber nicht kann. Draußen in der Literaturwelt
kanntestem Roman The Girl Next Door, der im Deutschen
den gleichen schwarzen Humor und ähnliche Interessen.“ Hier
wird er entweder nicht wahrgenommen oder als Gewaltporno-
schlicht Evil heißt, erzählt er die Geschichte zweier Schwes-
hören die Parallelen der beiden nicht auf. Ketchum, der Jahr-
graph beschimpft. Der Vorwurf des Stumpfsinns geht aber weit
tern, die nach dem Tod der Eltern im Haus ihrer Tante und
gang 1946 ist, datiert seine prägendste Zeit zurück auf das
an Ketchums Kunst vorbei: In seinen zahlreichen Geschichten
deren Söhne aufwachsen. Detailreich und schmerzhaft für
College. Die 60er Jahre an der nördlichen Ostküste Amerikas,
zeigt er, dass die Menschen neben arbeiten, lieben, trinken
den Leser beschreibt er aus der Perspektive des Nachbars-
Elvis, Kiffen und zu viel Speed, aber auch spannende Literatur-
und schlafen einander schlimme Dinge antun. Jede Geschich-
jungen David, wie eine der Schwestern von ihrer Ersatzfa-
kurse werden im Rückblick zu Initiationsmomenten. Kurz dar-
te von Ketchum behandelt ein anderes Thema, öffnet eine an-
milie und den Nachbarskindern zu Tode gequält wird. Man
auf sieht er im Kino jene Filme, die bis heute den Kamerawin-
dere Welt, allerdings kehren bestimmte Charaktere bei ihm
erlebt die amerikanische Welt des 50er-Jahre-Suburbia, er-
kel seiner Geschichten prägen: Texas Chainsaw Massacre und
immer wieder: der einsame ältere Mann, dessen Frau gestor-
innert sich wie viel verstörender man die Welt der Erwach-
Shivers. Sein erster Roman Off Season ist wahrscheinlich das
ben ist und der sich höchstens mal mit seinem besten Freund
senen noch als Kind erlebt hat, aber auch, dass man mit
brutalste Buch, das jemals geschrieben wurde, gerade weil es
auf einen Drink trifft; die junge, oft erfolgreiche Frau, sowie der
Kindern, die man 10 Jahre später nicht mal mehr gegrüßt,
von so großartiger Bildhaftigkeit und Detailreichtum bestimmt
brutale, skrupellose junge Mann begegnen sich immer wieder.
geschweige denn verstanden hätte, eine Welt geteilt hat.
wird. Der Roman wurde 1981 das erste Mal veröffentlicht und
Darüber hinaus gibt es detailverliebte Studien; beispielsweise
Auch in The Lost erschafft Ketchum eine verwirrende und
seine Dynamik und Atemlosigkeit ist deutlich geprägt von den
über die Brutalität der quälenden Mutter in The Girl Next Door.
brutale Welt der Teenager. Brutal, weil die Welt in der sie
Bildern und der Erzählweise der amerikanischen Horrorfilme
Glücklicherweise geschieht das ohne nähere Erklärungen. Und
aufwachsen gemein und es schwierig ist, sich darin zu
der 1970er wie The Hills Have Eyes. Was Ketchum da sieht,
selbst in den kürzesten Geschichten schafft es Ketchum Be-
recht finden. Brutal auch, weil sie selber nicht mehr un-
verwendet er für sein Schreiben: Keine langen Einführungen
weggründe, Abgründe und Geschichten mehrerer Figuren zu
schuldig sind. Ketchum erweckt diese Welt mit Musik, die
der Charaktere, es gibt viele Figuren, statt eines Protagonis-
beschreiben und den Leser zu fesseln. Genau hier ist der ent-
in den Autoradios und Bars spielt, den Comics, die gele-
ten, der Leser wird nach wenigen Sekunden selbst zum Be-
scheidende Unterschied zum Gewaltporno. Gewaltszenen im
sen werden und mit der Sprache, die gesprochen wird,
wohner dieser Welt. Die Dialoge sind knapp und wenn sie län-
Film sind, ähnlich wie Sexdarstellungen, erst mal sinnentleer-
zum Leben. „Romane, Comics, Filme, Fernsehen, Wäl-
ger sind, ist es für die Geschichte unbedingt nötig. Dafür sind
te Drastik und im besten Falle Stimulation, wenn sie nicht,
der – eigentlich jede Aktivität, die nicht zuviel Sozialle-
die Handlungen, besonders die drastischen, detailreich. Mo-
wie das bei Ketchum durchgängig der Fall ist, schlüssig mit
ben bedeutet, interessiert mich und hat mich damals in-
nologe gibt höchstens um Nachdruck zu erzeugen. Offseason
einer Geschichte, einem Sinn verwoben werden. Die Vorwür-
teressiert.“ Wie bei seinem Lieblingsautor Stephen King,
spielt im Bundesstaat Maine: Eine Gruppe Dreißigjähriger mie-
fe lassen Ketchum, der seine Homepage und Myspaceseite
dessen Bücher Ketchum als eine seiner Hauptinspira-
tet ein Hütte an der Küste und wird dort von Kannibalen über-
gerne nutzt, um seine Fans über Termine und Neuerscheinun-
tionsquellen bezeichnet, sind die Geschichten über die
fallen. Genau wie die wenigen Überlebenden, lernt der Leser
gen auf dem Laufenden zu halten, aber sowieso kalt. Der fühlt
Welt kleiner Jungs, wenn auch oft die brutalsten, gleich-
schnell, was er bereit ist, auszuhalten. Ketchum hatte, bevor
sich sehr wohl in dem ihm zugewiesenen Genre, ist ein fleißi-
zeitig aber auch die schönsten; eine Mischung aus Alb-
er Horrorautor geworden ist, geschauspielert, als Lehrer, Lite-
ger Conventionbesucher und lernt mir großem Vergnügen sei-
träumen, Träumen, verklärten Erinnerungen und der ver-
raturagent und Holzvertreter gearbeitet. „Ich habe keine Karri-
ne Leser kennen. Das unsoziale und fiese Kind in ihm gelangt
wirrenden Welt da draußen. King sagt über Ketchum,
ere geplant, sondern mich eher umgeschaut. Allerdings habe
nur noch zwischen die Buchdeckel.
dass dieser der angsteinflößendste Schriftsteller Ame-
ich immer viel Spaß mit der sogenannten „Neuen Welle“ des
rikas sei, kein Autor oder Leser könne eine Geschichte
Horrors gehabt, die zu dieser Zeit [den 70ern] in den Roma-
Weitere Informationen unter:
Ketchums jemals wieder vergessen. Dass sein ameri-
nen und Filmen immer größer wurde und ich fand, dass nie-
jackketchum.net und myspace.com/jackketchum
22
23
WER REINKOMMT, Text von B jörn Lüdtke
IST DRIN
Unser moderner Alltag ist durch und durch ästhetisiert.
gendwie will ja jeder irgendwo dazu gehören. Und wenn man
mehr Freiheiten, und die Mode ist durch ihre Vielfalt span-
Das ist nichts Neues, wir sind schliesslich in und mit der
einer ist, der nirgendwo dazu gehören will, dann gehört man
nender als je zuvor. Also: warum senkt sich mein Magen,
Postmoderne aufgewachsen. Handtuchabteilungen, sogar
automatisch zu denen, die nirgendwo dazu gehören wollen.
wenn ich mir Bilder von gut gekleideten Menschen im In-
die im Kaufhof, sind inzwischen so ordentlich nach Farben
Dann darf man sich auch nicht beschweren. Autsch! Bin ich
ternet anschaue?
sortiert wie ein Pantone-Fächer. Beim Knipsen im Urlaub ei-
vielleicht so einer? Oder noch schlimmer: Bin ich einer der
fern wir Mario Testino nach, und selbst in Studentenküchen
rein will, aber nicht rein darf?
Vielleicht bin ich ja nur sauer, weil der FAC E HUNTER 2 jedes Mal zur Berliner Fashion Week nur an mir hoch und
wird Obst heutzutage arrangiert, nicht mehr einfach nur in
runter schaut und dann nicht mal im Traum daran denkt,
eine Flohmarktschale gelegt. Die beste Freundin meiner Mut-
ein Bild von mir zu machen. Vielleicht bin ich für den Face
ter stimmt sogar die Früchte farblich zur Tapete ab! Und dann gibt es da noch die Fashion Blogs, die uns davon überzeugen, dass in allen Winkeln dieser Welt alle Menschen immer ge-
»DIE BESTE FREUNDIN MEINER MUTTER STIMMT SOGAR DIE FRÜCHTE FARBLICH ZUR TAPETE AB!«
Hunter einfach schon zu alt. Na, dann warte ich eben, bis der Sartorialist mal wieder in der Stadt ist und in Mitte vorbei kommt – der fotografiert ab und zu mal vor meinem Haus. Wo war ich da wohl das letzte Mal? Wahrscheinlich
nau das Richtige zur richtigen Zeit tragen.
in Charlottenburg …
Welchen Stellenwert unsere Kleidung hat, wird spätestens dann deutlich, wenn auf T H E S A RT O R IA LIS T mit 245
Das kleinste Detail kann heute darüber entscheiden, ob man
Beim Betrachten der Blogs fällt mir irgendwann auf,
Kommentaren deren Aufbewahrung diskutiert wird: »Do You
mitmischt oder nicht. Vor allem weil der gekonnte Fashion-
dass jeder – ob Nase gerade oder krumm, Beine spindel-
Use Your Shoeboxes?« Hier erfahren wir, dass manche ihren
Faux-pas inzwischen ein Muss ist. Das macht die Mode zwar
dürr oder wohlgeformt – mit Styling gut aussehen kann.
Schuhkarton gar nicht aus dem Laden mitnehmen. Es wird an-
interessanter aber auch anstrengender als je zuvor. Als ich
Durch die Blogs lösen sich Schönheitsideale auf. Vor 20
genommen, dass vor allem Frauen die Kartons gerne mitneh-
meinem besten Freund zu einer kurzen Bundfaltenhose in rosa
Jahren, als es wirklich noch ein Modediktat gab, da wurde
men, um ihre vielen Schuhe besser lagern zu können. Manche
rate kommt der Bumerang eine Woche später: »Und wozu zie-
auch diktiert, wie Gesicht und Körper auszusehen haben.
bevorzugen gekaufte, durchsichtige Boxen, um Wanzen fern-
he ich die jetzt an, ohne dass ich wie ein Schuljunge ausse-
Das löst sich meinem Empfinden nach nicht nur auf, son-
zuhalten aber gleichzeitig sehen zu können, um welche Schu-
he?« Gott sei Dank weiß ich von Men.style.com (zufällig zwei
dern verkehrt sich sogar ins Gegenteil. Was früher oft als
he es sich handelt. Langweilig? Über Sinn und Unsinn solcher
Tage vorher gelesen), dass der gekonnte Bruch mit der kurzen
Makel empfunden wurde, wird heute meist erst recht be-
Blogs wird an anderer Stelle schon genug diskutiert. Ich un-
Hose darin liegt, sie so zu kombinieren, als handle es sich um
tont und so zum neuen Ideal erhoben. Weiße Haut? Kurzer
terhalte mich mit meinen Freunden auch über solche Themen,
ein ganz normales Business Outfit mit gestärktem Hemd und
Rock! Krumme Nase? Grosse Brille! Kleine Locken? Gro-
warum also nicht darüber bloggen. Mir geht es darum heraus-
Lederschuhen. Nur eben, dass die Hose etwas aus der Reihe
ßer Afro! Die Blogs beweisen uns, dass wir unser Schön-
zufinden, warum mir das Ganze so auf den Senkel geht.
tanzt. Unbemerkt – diese Konversation findet am Telefon statt
heitsideal selbst schmieden. Man kann sich nicht mehr
– kicke ich meine Birkenstock-Sandalen von den Füssen. Ich
nur auf Zeitschriften verlassen und wenn’s schief geht, de-
trage auch kurze Bundfaltenhosen.
nen die Schuld in die Schuhe schieben. Nur sich selbst.
1
Eigentlich wünsche ich mir seit meiner Jugend in den Achtzigern, dass sich mehr Menschen gut anziehen. Ich bin auf einem kleinen Dorf aufgewachsen. Zeitschriften waren für mich
Bildüberschriften wie »This Man Knows The Power Of The
fast die einzige Informationsquelle über das, was in den Metro-
Well Chosen (colorful) Accessory« setzen mich unter Druck. Im
Gerade überlege ich, ob ich diesen Artikel an dieser Stel-
polen dieser Welt so vor sich geht. Dank Sex and the City weiß
Fall der kurzen rosa Hose hatte ich noch Mal Glück, dass ich
le beenden kann. Denn an sich macht mir Mode Spaß. Da
heute jeder, wer Manolo Blahnik ist und das Internet tut sein Üb-
den Blog kurz zuvor gelesen hatte und meinem Freund mit Rat
stolpere ich über diesen Satz von MISTER MIC K EY 3 :
riges. Früher war es einfacher, sich durch Wissen modisch ab-
zur Seite stehen konnte. Aber beim Betrachten von Bildern
»There’s fabulousness everywhere you go and you can eit-
zugrenzen, weil nur wenige Zugang zu den relevanten Informati-
auf The Sartorialist bekomme ich sofort ein schlechtes Ge-
her focus on that or be an asshole and look for negativi-
onen hatten. Allein der Besitz einer Männer Vogue (heute GQ)
wissen. Vorausgesetzt ich trage überhaupt ein Einstecktuch
ty!«. Man muss nur ehrlich zu sich selbst sein und sich
hat ausgereicht, um seine Informiertheit und Coolness unter
in der Brusttasche meines Sakkos: ist es auch originell genug
ein wenig Mühe geben, dann klappt’s auch mit dem Out-
Beweis zu stellen. Heute haben alle zur gleichen Zeit die glei-
drapiert? Oder habe ich es mal wieder einfach nur so reinge-
fit. Jetzt muss ich nur noch wie zufällig zum richtigen Zeit-
chen Informationen. Deshalb muss man mehr denn je wissen,
steckt … Und die Blume habe ich auch vergessen!
punkt vor meinem Haus entlang spazieren.
was man tut.
Anna and her Baby, Ku’damm
Und deswegen hasse ich Fashion Blogs. Eigentlich.
Früher konnte man beim Ankleiden ganz einfach das Mode-
In der Postmoderne haben wir gelernt, dass alles erlaubt ist:
diktat heranziehen. In den Achtzigern trug man Ray Ban, krem-
anything goes. Stimmt das noch? Ich bezweifle, dass das
pelte seine Hosen hoch und mindestens ein Kleidungsstück
überhaupt jemals gestimmt hat, denn in der Mode geht es
musste die Farbe Mint haben (Huch, ich stecke in einer Zeit-
um Gruppenzugehörigkeit. Wer reinkommt ist drin. Und ir-
schleife, aber das ist ein anderes Thema). Heute hat man viel
24
THE RAG HUNTER
1 2 3
thesartorialist.blogspot.com facehunter.blogspot.com Mister Mickey schreibt für das New Yorker Paper Magazine. Er ist für Mode dort, was Dr. Sommer in der Bravo für Sex ist. papermag.com
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Pretty in Pink, Lovely in Contrast Daß Ursulas Lippenstift heute zum Hemd ihres Freundes passt ist reiner Zufall, beteuert sie. Alles andere ist Absicht.
Blumenmädchen Schwarze Margerite Frau Arnulf trägt nur Maßgeschneidertes (»Das ist doch hier jetzt nur ein einfacher Baumwollanzug …«). Sie kommt eher selten nach Mitte oder Prenzlauer Berg, sie freut sich aber, daß wir mal was über den Westteil der Stadt machen: »Das finde ich sehr freundlich!« Als Expertin für Herrenausstattung fragen wir sie nach dem absoluten Don’t für Männer: kurze Hosen und Sandalen. Nur bei gut aussehenden jungen Männern würde sie da ein Auge zudrücken …
26
… Be sure to wear some flowers in your hair! Isabel hat keine Stilvorbilder, will aber auf keinen Fall aussehen, wie alle anderen. Sie hat immer Blumen im Haar und bastelt sich ihre Spangen selbst. Diese gelbe auf ihrem roten Haar gefällt uns besonders gut.
Viele Grüsse, Frau Prada Frau Willmore ist viel unterwegs und holt sich ihre Inspiration überall, kauft aber überwiegend in ihrer Bleibtreustrasse ein. Looks global, shops local.
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Zweireiher und Zigarette am Olivaer Platz
Frühstück im Freien, Savignyplatz Daß Mutter und Tochter beide in Schwarz und Weiss gekleidet sind, sei reiner Zufall …
Die Grande Dame der Bleibtreustrasse Hosta Müller trägt ausschliesslich japanische Designer aus ihrem Laden: »Was ich hier trage ist handbemalt!« Ihr Hund heisst Leo. Sein Frauchen erzählt uns: »Seit wir auch einen Laden in Mitte haben, weiss er ganz genau, wie er sich vor der Kamera in Szene setzt.« Tolle Frisur!
Kühne Farben in Schöneberg Grün/gelb und gold/lila sind Antheas Lieblingsfarbkombos, schon seit ihrer Kindheit. Man beachte diese Kombination aus Short, Tasche und Strümpfen!
Mittagspause in Wilmersdorf Frank und Stefan: »Aber nicht, daß ihr drunter schreibt: Die sind doof.«
In den Tiefen Schönebergs Jeanette Moch freut sich, daß wir sie fotografieren wollen: »Ich hab’ gewusst, daß ich irgendwann nochmal entdeckt werde!« Ihr Mann möchte aber lieber in ihrem Opel Senator (Baujahr 1981) sitzen bleiben. Uns gefällt besonders gut, wie Bluse, Tasche und Schuhe aufeinander abgestimmt sind.
Krawall aufm Ku’damm Frau Schünemenn denkt zuerst, wir wollen sie verkackeiern, als wir sie fragen, ob wir sie fotografieren dürfen. Nachdem wir ihr erklären, um was es bei HATE geht, antwortet sie: »Finde ich gut, ich bin gerade auf Krawall aus …« Besonders beeindruckt hat uns allerdings ihr Glitzer-Lipgloss!
Idee, Direction und Text: B JÖRN LÜDTKE Photographie: M ARC SCHUHMANN Photoassistenz: LUZIA SCHMINCKE,
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PHILIPP ZITZLAFF
Der Hunger künstler von Sebastian Ingenhoff
Bruce war mir das erste Mal in der Tram aufgefallen. Da-
bursche, dessen Gaul einen Haufen Äpfel auf den englischen
mals trug er nadelgestreifte Anzughosen, hochhackige Stie-
Garten der Kaiserin verschissen hatte, und der nun vor den
feletten, ein schwarzes Muskelshirt und schien Mitte Dreißig
Augen des versammelten Schlosses den Unrat wegschaufeln
zu sein. Die umbrafarbenen Locken hielt er noch unter einem
musste und obendrein zwanzig Peitschenhiebe auf die nackten
Haarnetz versteckt, ein hauchdünner Bart über der schmalen
Fußsohlen erhielt. Ich rannte zurück ins Gebäude, sah seine ge-
Oberlippe sorgte für den angemessenen Grad an Exzentrik,
waltige Silhouette noch in einem der engen Gänge verschwin-
desinteressiert blätterte er in einer dieser Umsonstzeitungen,
den. Kurz vor dem großen Hörsaal stellte ich ihn atemlos.
welche an den Bahnstationen jetzt immer auslagen. Als wir
»Hallo, ich wollte mich noch mal entschuldigen. Nicht dass
mit Tempo die scharfe Kurve auf den Ring nahmen, knarzte
du was falsch verstanden hast. Ich bin natürlich auch auf der
es mit einmal laut. Der Kerl sprang epileptisch zuckend auf
Seite der Ausgebeuteten, nicht auf der der Arschlöcher«, stam-
und schrie »Anhalten«, während das Geräusch berstenden Me-
melte ich und erntete nur einen spöttischen Blick.
talls die Luft erfüllte. Neugierig hob ich den Blick und sah das
»Klar, ihr Latte Macchiato-Trinker seid immer auf der Sei-
ganze Ausmaß der Katastrophe. Bruce hatte sein Treckingbike
te der Ausgebeuteten. Sitzt tagsüber in den Cafes und redet
genau zwischen die Gelenkverbindung der beiden Waggontei-
über Foucault und subversive Post-Gender-Identitäten. Aber
le platziert, in der Kurve wurde es zusammengequetscht wie
beschäftigt eine polnische Putzfrau, die das Parkett eures
eine Bierbüchse beim Dosenstechen. Die beiden Räder waren
Bohème-Palastes im Belgischen Viertel schrubben darf«.
hoffnungslos verbogen, der Rahmen nur noch ein deformier-
Schweiß rann mir den Rücken herunter, direkt rein in den
ter Klumpen Schrott. Er trug es mit Fassung. »Das zahl ich de-
Polyesterslip. Er musterte mich jetzt zumindest etwas freundli-
nen heim«, knurrte er zu sich selbst, schulterte das Wrack und
cher. »Also gut. Ich habe mich entschlossen, deine Entschuldi-
stieg mit Schwung an der nächsten Station aus.
gung anzunehmen. Man nennt mich Bruce. Und ich muss jetzt
Ich dachte mir nur »Den merk ich mir«, hatte Bruce aber fast wieder vergessen, als ich ihn das nächste Mal gut zwei Monate
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zügig von dannen.
später an der Uni traf. Ich hatte mein Seminar verpasst, stand
Später fand ich heraus, dass er in Wahrheit Bernd hieß, seit
Kaffee trinkend vor dem Aushang, warf meine Zigarette auf den
jeher aber Bruce gerufen wurde, weil er die Deutschen nämlich
Boden und drückte diese leichtfertig mit dem Schuh aus.
hasste, so sehr, dass er keinen ihrer Namen guten Gewissens
»Das solltest du so nicht machen«, tönte es hinter mir.
Irgendwann hörte ich auf, die Tage zu zählen. Mittlerweile waren es jedenfalls Wochen oder Monate, die ich auf der kleinen Matratze verbracht hatte, ohne mich zu bewegen. Ab und an, wenn Emily sich im Nebenraum befand, versuchte ich mich aufzurichten, konnte mich aber keine drei Sekunden mehr auf den Beinen halten.
los. Vielleicht sehen wir uns ja noch mal.« Dann schritt er groß-
tragen konnte. Er war zudem Anführer einer Art Geheimbande.
Irgendwann Ich drehte mich um, vor mir stand ein in schwarz gekleideter
hörte ich auf, die Tage zu zäh-
len. Mittlerweile waren es jedenfalls WoRiese, den ich nach zwei Sekunden Rätselratens schließlich chen oder Monate, die ich auf der kleinen als jenes Wesen identifizierte, dessen Fahrrad die moderne verbracht hatte, ohne mich zu Bahnbaukunst tückisch zerlegt hatte. »Das solltest duMatratze näm-
bewegen. Ab und an, wenn Emily sich im Nelich überhaupt nicht machen«, sprach er mit bebender Vibefand, versuchte ich mich aufbratostimme, sammelte die Zigarette vom Boden auf benraum und zurichten, konnte mich aber keine drei presste sie mir in die Handfläche. »Dir ist doch hoffentSekunden mehr auf den Beinen halten. lich klar, dass die eine der osteuropäischen Reinigungskräfte später für dich aufheben muss? Und jetzt hinaus mit der Kippe, raus aus dem Gebäude, mir aus den Augen,
Bruce begriff sich als eine Art numinosen Bakunin-Wieder-
bourgeoiser Lump«, duldete er keinen Widerspruch, zeigte mit
gänger, dessen kollektivistischen Anarchismus er als die Bes-
herrischem Blick in imposanter Geste gen Tür.
te aller möglichen Ideen pries, nur mit dem Unterschied, dass
In tiefster Demut stolperte ich mit hängenden Schultern
es einen herrschaftsfreien Raum erst peu à peu geben kön-
zum Ausgang und warf den Stummel ordnungsgemäß in den
ne, einer müsse anfangs alles im Blick haben und dazu hät-
dort feststehenden Aschenbecher. Ich fühlte mich wie ein Stall-
te er halt vorübergehend sich auserwählt. Er aber würde nur
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eingreifen, wenn es wirklich absolut nötig sei und die genau-
einzigen Galerie ausgestellt geschweige denn verkauft wor-
Auf jeden Fall, als ich einen Tag später das nächste Mal er-
Fleisch, welches auf der schäbigen Matratze leise vor sich
en Details könnten wir auch später noch absprechen. Einig
den. Die Bilder waren meist monochrom, ein bisschen wie aus
wachte, waren plötzlich auch meine Hände mit Metallhand-
hin verdorrte.
waren wir uns alle, dass das bestehende System nicht wei-
dem Farbkasten, genaugenommen wie von einem Dreijährigen
schellen auf den Rücken gefesselt, was ich nur mehr resigniert
ter aufrechtzuerhalten wäre. Wir würden also erst einmal hier
gemalt, obwohl ich mich da vertun mag. Jedenfalls war das
zur Kenntnis nahm. Emily hatte mir eine dünne matratzenar-
alles zum Einstürzen bringen und dann gäbe es schon einen
nicht gerade Yves Klein. Auch die Plastiken sahen sich sehr
tige Matte untergeschoben, dazu ein kleines rotes Couchkis-
Eines Morgens kam Emily in mein Zimmer geschlichen und
Dominoeffekt. Wir würden die Welt aus den Angeln heben.
ähnlich, zumeist deformierte Rümpfe, deren ausladende Brüs-
sen. Ich hatte keinerlei Spielraum mehr, war ihren Machen-
löste mir langsam die Fesseln. Sanft schaute sie mich an und
Hätten wir erst einmal genug Geld, würden wir uns auch ein
te im Vergleich zum Rest völlig fehlproportioniert wirkten.
schaften hilflos ausgeliefert.
strich mir übers brüchig gewordene Haar. Meine Arme und Bei-
anständiges Hauptquartier mieten. Meine Aufgabe war es, die Sparkasse am Eigelstein zu beschatten, weil wir die irgendwann überfallen wollten. Also saß ich den ganzen Tag auf einer Bank vor der doofen Filiale und guckte in der Gegend herum. Am nächsten Tag wieder dasselbe. Ich sollte eine Statistik anfertigen. Bruce gab mir Stift und Papier, für jeden Polizeiwagen, der an der Straße
Aber Emily war nett und ich bekam noch mehr Wein, von da
Jegliches Leben war aus meinen Gliedern gewichen. Beide wussten wir längst, dass es vorbei war.
ne konnte ich schon lange nicht mehr bewegen. Sie hob mich
an hielt ich höflichst meinen Rand. Meine Augen wurden klei-
Jeden Tag bekam ich genau eine minimalst kleine Mahlzeit.
behutsam hoch wie ein Kind und trug mich in den Nebenraum.
ner, es war schummrig warm. Ich schlief schließlich in der Mit-
Für die Dauer des Essens zog Emily mir das Klebeband vom
An der Wand hatte sie zwischen dem ockerfarbenen Tableau
te des Raumes auf dem Teppichboden ein, während Emily re-
Mund und hielt mich währenddessen mit altbekanntem Instru-
und einer der kryptischen Gipsskulpturen ein Strohlager für
dete und redete.
ment in Schach. Sie verließ die Wohnung so gut wie nie und
mich errichtet, auf welchem sie mich nun Jesusartig drapierte.
schlief wenig, so dass ein Fluchtversuch völlig ausgeschlos-
Über mir hing ein Messingschild, dessen Inschrift ich erst nach
Als ich aufwachte, schlug es gerade elf. Ich hätte Bruce
sen war. Ich konnte mich in einem Radius von vielleicht einem
einigen Minuten konzentrierten Hinguckens entziffern konnte.
vorbei fuhr, sollte ich auf dem Papier einen Strich machen, für
Emily lag hinten auf der Schlafcouch und sägte mit beben-
halben Meter bewegen und kam an keinerlei Gegenstände he-
Ich bin mir wirklich nicht mehr ganz sicher, aber ich meine, das
jeden Wachtmeister auf Fußstreife ebenso, und so weiter. So
den Nüstern vor sich hin. Ich konnte sie ja schlecht wecken.
ran, mit denen ich sie hätte überwältigen können, auch meine
Wort »Hungerkünstler« hing über mir eingraviert. Ich war also
könne er das Risiko angeblich besser abschätzen.
Also griff ich mir Stift und Papier von dem kleinen Arbeitstisch-
Arme blieben stets auf dem Rücken zusammengebunden. Ihre
ein Künstler, das war ja was. Meine Muskulatur hatte vollends
längst berichten müssen.
Schon am zweiten Tag hatte ich überhaupt keine Lust mehr
chen und hinterließ eine Nachricht, in der ich mich artig für
Motive blieben mir rätselhaft. Zunächst dachte ich, sie bräuch-
den Geist aufgegeben, lediglich die Augen schienen noch ein-
und guckte gar nicht mehr auf die Straße, sondern machte am
Gastfreundschaft und Gesöff bedankte. Dann schnappte ich
te einfach nur Gesellschaft, aber sie redete kaum noch mit mir
wandfrei zu funktionieren. Mit ihnen fixierte ich nun den Raum.
Ende des Tages nach Gutdünken elf Striche bei »Polizeiauto« und
mir meinen Mantel und hurtete zur Wohnungstüre, kam aber
und auch die anfängliche Herzlichkeit erschien wie weggebla-
Ich sah Emily vor mir auf einem Sessel sitzen, mich zufrieden
vier bei »Wachtmeister. Am Vortag waren es zehn Polizeiautos in
nicht weit, weil irgendetwas Kaltes an meinem Fuß zerrte. Ich
sen. Sie wirkte schroff und unterkühlt.
bemusternd. Ein stechender Schmerz durchfuhr meinen Unter-
zwölf Stunden gewesen. Die Präsenz der Uniformierten hier war
blickte an mir hinunter. Um meinen Knöchel war eine silber-
Meine Klamotten stanken. Ich hatte sie tagelang nicht
leib, ich glaube, eine der beiden Nieren hatte sich gerade ver-
ein Witz. Wir konnten problemlos nicht nur die Sparkasse, son-
ne Metallfessel geschnallt, welche mir, je mehr ich dran zog,
mehr gewechselt. Selbst aufs Klo gehen durfte ich nicht, ich
abschiedet. Vermutlich die linke, denn dort zog es jetzt sehr
dern das ganze Viertel komplett leer räumen, wie es schien.
schmerzhaft ins Fleisch schnitt. An dieser befand sich wieder-
urinierte und defäkierte in eine Bettpfanne, die Emily jedes
heftig. Emily nickte mir liebevoll zu. Mir wurde schummrig, da-
um eine Kette, die bis unter die Wandheizung reichte. Ich war
Mal mit ekelverzogenem Gesicht entsorgte.
für fror ich aber nicht mehr ganz so schlimm. Helle Punkte
Am dritten Tag lernte ich schließlich Emily kennen. Sie
angekettet. Und wurde ziemlich hysterisch.
Sie hielt sich vorwiegend im Nebenzimmer auf, nachts
tanzten wie Glühwürmchen auf der Wand vor sich hin und fla-
war in den Siebzigern oder Achtzigern mal Schauspielerin und
Mein lautes Gebrüll ließ Emily jedenfalls mit voller Wucht
wachte sie auf der Couch ein paar Meter weiter über mich. Sie
ckerten rasch. Ich glaube, der Fernseher lief, jedenfalls hörte
Künstlerin gewesen, hatte es aber nie in eines der ganz gro-
von der Couch plumpsen. Überrascht schien sie, mich wie ein
starrte regelrecht. Ihren rastlosen Blick konnte ich im Dun-
ich irgendetwas im Hintergrund hallen.
ßen Ensembles geschafft und war auch in künstlerischer Hin-
Kleinkind schreien zu sehn, deutete dann mit ihrem Zeigefin-
keln auf mir spüren. Weder erotisiert, noch mörderisch schien
Der Tagesschausprecher wirkte ernsthaft konsterniert.
sicht ziemlich erfolglos geblieben. Ich glaube, sie war Frührent-
ger auf den Lippen an, dass ich wohl ruhig zu sein hätte.
er zu sein, im Gegenteil, jegliche emotionale Färbung ging ihm
Was war denn los? Ich versuchte, mich auf den Ton zu konzen-
ab, dem Blick. Emily schien sich zunehmend in einer Art Tran-
trieren, aber in meinem Kopf rauschte es nur. Die Moderati-
ce zu befinden.
on wurde ruckartig unterbrochen, stattdessen floss unten ein
nerin oder so was, jedenfalls erschien sie mir ziemlich jeck.
Ich schrie indes fleißig weiter, schließlich war ich kein Tier,
Sie hatte massig Zeit und unterhielt sich prächtig. Das golde-
das man mal so eben an einem Baum festband. Sie hastete in
ne Zeitalter, Zadek, Fassbinder, Peymann, Päffgen, Czukay und
die Küche und kam mit einem Elektroschockgerät und einer Rolle
Meine Kräfte ließen nach. Ich bekam von Tag zu Tag weni-
Nachrichtenband durchs Bild. »Kapitalismus soeben zusam-
wer auch immer, sie hatte mit jedem schon mal irgendwo ge-
Klebeband wieder, von der sie säuberlich einen Streifen abschnitt
ger zu essen. Meist nur noch ein bisschen Kartoffelpüree und
mengebrochen«. Ich sah Bruce auf der Mattscheibe. Es war
sprochen, gezecht und erzählte mir alles haarklein.
und auf meinem Mund platzierte, meine Gegenwehr wurde indes
ein Glas Wasser.
wohl ziemlich dringend.
Sie spendierte uns eine Flasche Wein und so saßen wir
durch glühende Stromschläge im Keim erstickt. Ich solle mich
Irgendwann hörte ich auf, die Tage zu zählen. Mittlerweile
Er grinste in die Kamera. Im Hintergrund tanzende Menschen.
auf der Bank und tranken fröhlich vor uns hin. Irgendwann kam
erst einmal hinsetzen und wieder beruhigen, lautete ihre Anwei-
waren es jedenfalls Wochen oder Monate, die ich auf der klei-
Ein hupender Autokorso. Ganze Straßenzüge voller Glück. Sie
eine Frau in Kostüm und hochhackigen Schuhen aus der Filiale
sung. Wenn ich auch nur davon träumte, den Klebestreifen anzu-
nen Matratze verbracht hatte, ohne mich zu bewegen. Ab und
hatten es geschafft. Zweifellos ganz ohne meine Hilfe.
gehetzt, sie würde gleich die Polizei rufen, wenn wir hier weiter-
fassen, würde sie mich nämlich in Schutt und Asche legen. Dann
an, wenn Emily sich im Nebenraum befand, versuchte ich mich
Ich war so glücklich, dass mein Herz ein letztes
hin alkoholische Getränke konsumierten und die Kunden ver-
faltete sie die Hände in ihrem Schoß und bestaunte mich.
aufzurichten, konnte mich aber keine drei Sekunden mehr auf
Mal tobte, das Restblut in mir den finalen Triumph-
den Beinen halten. Ich krachte immer wieder zusammen. Ob
zug durch den Kreislauf antrat, ehe Emily leise mit ei-
Bruce wenigstens nach mir suchte, mein getreuer McGuffin?
ner Kerze auf mich zu geisterte und mir mit sanfter Hand auf im-
schreckten durch unser kurioses Äußeres. Ich entgegnete zwar,
Meinen Protest konnte ich aus naheliegenden Grün-
da könne sie lange warten und zeigte ihr zum Beweis meinen
den verbal nicht äußern, von da an beschränkte sich dieser
Strichzettel, aber es half alles nichts und so zogen wir weiter.
auf emsiges an der Kette rütteln, die Fessel schien nicht
Emily vernachlässigte mich zunehmend. Schließlich be-
Emily wohnte in einer kleinen Bruchbude hinterm Breslau-
mal ein Loch für einen Schlüssel zu haben. Unter der Hei-
kam ich gar nichts mehr zu essen, nicht einen einzigen sch-
er Platz. Ich hatte eh nichts groß mehr vor, abends musste ich
zung befand sich ein an die Wand eingelassener Metallring,
malen Happen. Auch kein Wasser. Nicht mal einen Blick. Mir
Bruce zwar meinen Bericht abliefern, aber das war erst in ein
an welchem meine Fessel wie selbstverständlich befestigt
wurde zunehmend kalt. Ich fühlte mich innerlich ausgetrock-
paar Stunden. Wir schlenderten also zu ihr nach Hause, wo es
hing. Emily hatte eine hochprofessionelle Kerkereinrich-
net. Die Kachexie fiel über meinen schwachen Leib her, zerr-
mehr Wein und jede Menge Geschichten zu erzählen gab.
tung in ihrem kleinen Drei-Zimmer-Appartement installiert.
te ihn nieder. Von Muskelkrämpfen wurde er geschüttelt. Aus
mer die Augen verschloss.
An den Wänden hingen unzählige Bilder, die ganze Woh-
In meinem Magen wurde es flau, als würde ich von innen
meiner Kehle kam kein Laut mehr, so sehr ich mich auch ab-
nung war voller Skulpturen, Plastiken, Lithografien. Sie erklär-
gekitzelt. Keine Chance, die Kette aus der Wand zu reißen
mühte. Nur ein leises Krächzen hallte aus dem Rachenraum
te mir alles, während ich weiterhin viel trank. Die meisten Ar-
oder meinen Fuß auf andere Art zu befreien. Auch traute ich
gegen die Klebebandvorrichtung und wieder zurück. Ich lag
Von Sebastian Ingenhoff ist im Ventil Verlag bereits die postmoderne
beiten waren von ihr selber und sind nie auch nur in einer
mich tatsächlich nicht, das Klebeband abzureißen.
einfach da. Mein Körper war nur noch ein saftloses Stück
Rebellennovelle »Rubikon erscheint.
32
33
DAS EnDE DEr gESCHiCHTE
Gab es denn Vorbilder für Euch?
Zufall und ich hätte ein rechtes Arsch-
War Che Guevera für euch ein Held? Die 68er
loch mit der gleichen Biographie werden
oder daraus folgende Gruppierungen?
können, das ist so kontingent, da würde
HATE
Personenvorbilder oder je-
ich niemals im Nachhinein sagen: Nur
manden zu vergöttern ist nicht so mein
weil das bei mir so geworden ist, muss
Ding und war es auch nie.
man das nun wieder so machen. Im Ge-
JULIA
Ein Interview von J O NAS G E M pp
Mit der Wiedervereinigung 1990 und dem Ende des Konkurrenzkampfes zweier höchst unterschiedlicher Gesellschaftssysteme änderten sich in Deutschland politische und gesellschaftliche Konstellationen. Seitdem sind 20 Jahre vergangen; Jonas Gempp hat sich an einem regnerischen Montag im Juli mit drei sehr unterschiedlichen Linken getroffen und sich mit ihnen ausführlich über L I NK E P OL I T I K unterhalten.
SAMI Che Guevera war schon ein
genteil: Mich haben die konservativen
Vorbild, aber ein richtiges Idol? Karl
Lehrer einfach politisch mehr gefordert
Marx hingegen war sehr früh für mich
als die Gruppenarbeitslehrer. Ich konnte
ein Idol; Marx und Feuerbach habe ich
an denen mein Profil entwickeln. Es wa-
mit 17 oder 18 gelesen; wir hatten uns
ren eben charismatische Lehrerpersön-
im Religionsunterricht mit Religionskri-
lichkeiten, die autoritär waren und mit
tik auseinandergesetzt und ich fand das
einer kritischen Distanz hat man inter-
von Anfang an richtig. Marx war in sei-
essante Sachen gelernt. JULIA
Der typische Lateinlehrer …
SAMI
Lateinlehrer, aber auch Ge-
HATE Ihr drei kommt aus unterschiedlichen Spektren: Julia und Fran-
dann noch mehrere Optionen was man machen kann; Nazi
nem gesellschaftlichen Kontext schon
ziska, ihr arbeitet beide parteipolitisch, Sami, Du machst außerparlamenta-
werden war keine Option, also bin ich erst mal Linker ge-
damals Punk. Das ist alles in der Schu-
risch Politik und arbeitest wissenschaftlich. Gibt es ein Ereignis oder einen
worden. Allerdings waren meine politischen Ansichten ziemli-
le passiert. Ich wurde sozusagen von
schichte und Gemeinschaftskunde, wäh-
Punkt in eurem Lebenslauf, der euch zu aktivem politischem Engagement
cher Mainstream und fast schon konservativ. Zumindest war
Sami Khatib wurde 1976 in Hamburg ge-
links-liberalen Lehrern in der Schule an-
rend Deutsch-Lehrer eher die linkeren wa-
gebracht hat? Beschreibt doch mal eure politische Sozialisation.
ich nicht angezogen von der linken Szene in der Studenten-
boren, wuchs in der hessischen Provinz
gefixt und verdanke ihnen sehr viel.
ren und die Religionslehrer links-liberal.
JULIA SEELIGER Ich war als Jugendliche zwar schon immer
stadt Marburg; dort gab es zwar viele Linke, aber eher Alter-
auf und lebt seit 1999 in Berlin. Bis 2004
für soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz, aber nicht sonder-
native und Ökos, das war gar nicht mein Ding. Später in den
lich politisch. Irgendwann war ich mal bei einem Vortrag eines
90ern war mir nach den Neonazi- und Deutschmobattacken
CDU-Politikers und der sagte, man solle sich engagieren und da dachte ich mir: »Ja, das mache ich mal.« Mit einem Erlebnis wie »Als ich 1991 bei der Demo gegen den Irak-Krieg war …« kann ich leider nicht dienen. FRANZISKA DROHSEL Mein politisches Grundbewusstsein
Wir hatten auch solche Leh-
HATE Was waren im Nachhinein be-
studierte er an der Freien Universität Ber-
rer. Die haben mich aber immer genervt.
trachtet der Kontext für euer politisches En-
lin Philosophie und Publizistik, schreibt
Das waren so Alt-68er, die immer Grup-
gagement?
auf Ausländer klar, dass ich links bin. Ich war damals dann
gerade seine Doktorarbeit (über Karl Marx
penarbeiten machen wollten …
auch schon antheoretisiert, wohnte in Hamburg und da war
und Walter Benjamin); arbeitet als Jour-
SAMI Das war bei mir nicht so. Die
scheidend, dass ich mich als Linke lo-
man auch schnell draußen …
JULIA
FRANZISKA
Für mich war es ent-
nalist (u.a für die de:bug) und beschäftigt
waren richtig frontal und straight, ha-
gischerweise auf Seiten einer linken
HATE
… wenn man kein Popper war?
sich außerdem noch mit Popkultur, Mu-
ben uns zum Lesen gezwungen, vor al-
Partei organisiere. Ich hatte das Glück,
SAMI
Nein, ich war immer Popper, schon auf dem Dorf war
sik (Teilzeit-DJ, Teilzeit-Polit-Party-Organi-
lem waren das aber die konservativeren
dass ich bei den Jusos mit 15 auf Leu-
ist durch meine Eltern geprägt, die politische Menschen sind
ich gegen die Metaler und ich war Pet Shop Boys-Fan, aber das
sator) und Politik (von Lesekreis bis De-
Lehrer. Eigentlich waren die die ge-
te getroffen bin, die ähnliche Interes-
und durch den Kontext Alt-68er und zweiter Bildungsweg politi-
hat sich in Hamburg als Großstadt umgedreht. Da trugen die
monstration).
rechteren, weil sie alle zum Lesen ge-
sen hatten. Wir haben die gleichen Fra-
siert wurden. Als ich 13 war, kamen dann Grunge und Nirvana.
Popper alle Barbour-Jacken und hochgeklappten Kragen, das
zwungen haben und mit ihren konser-
gen gestellt und haben uns in einem
Das habe ich voll mitgemacht; dieses Grundgefühl, dass alles
war nicht so mein Ding. In den Jahren nach der Wiedervereini-
vativeren Bildern haben sie mich dazu
Lesekreis mit Marx und Rosa Luxem-
Scheiße ist und sowieso nichts bringt. Mit 15 war ich auf den
gung gab es dann die Anschläge gegen Ausländer und ich lan-
FRANZISKA Bei mir kann man das
gezwungen das ideologische Angebot
burg beschäftigt. Dann kam noch hin-
Demos gegen die französischen Atomtests auf dem Mururoa
dete in Göttingen. Dort habe ich mich dazu durchgerungen,
schon sagen. Bei uns wurde viel über Po-
der anderen Fraktion gegen sie auszu-
zu, dass man bei den Jusos beides
Atoll. Dort habe ich eine Schülergruppe getroffen, die sich ge-
mich auseinanderzusetzen.
litik geredet. Ich bin in Berlin aufgewach-
spielen. Das hat wunderbar geklappt.
machen konnte: sich einerseits mit ra-
sen, habe relativ früh Obdachlosigkeit
Marx war gegen Religion, gegen Staat,
dikaler Gesellschaftskritik beschäftigen
und soziale Ungleichheit mitbekommen
gegen Alles. Ein totaler Outlaw und das
und grundsätzliche Fragen stellen, um
und wurde auch von meinen Eltern auf
hat mir imponiert.
gen Atomkraft bei den Jusos engagierte, bei denen habe ich mitgemacht und seitdem mache ich Politik.
HATE
Hast du dann auch schon damit angefangen auf Demons-
trationen zu gehen?
HATE Also durch ein politisches Ereignis, das war bei dir ähn-
SAMI
Nein, das war erstmal eine theoretisch Auseinan-
dersetzung. Als heranwachsender Junge wirst du ja gezwun-
lich, Sami?
JULIA
Aber daraus würdest du
nicht die Forderung nach möglichst
man das mit dem Atheismus ernst nimmt, dann kann man ja
gressiv links, meine Mutter war immer
frontalem Unterricht ableiten, dass
nicht mehr die religiöse Karte ziehen, wenn man den Wehr-
recht öko, ich konnte aber dadurch auf
man nur die konservativen Knochen
dienst umgehen will. Es sei denn du bist Zyniker und du sagst
der politischen Ebene nicht wirklich ge-
vor die Klasse stellt, damit Wider-
aufwächst und nicht
»Scheißegal!«. Ich habe mir dann aber nach und nach den poli-
gen meine Eltern rebellieren.
stand provoziert wird?
in die Kirche geht,
tischen Überbau gesucht und den mit Marx auch gefunden.
gen dich zu äußern und zwar bei der Musterung und wenn
de, war ich Atheist, zumindest bilde ich mir das im Nachhinein ein. Wenn man wie ich auf dem Dorf
ist
man
draußen.
erstmal Es
gibt
HATE
Ihr habt aber alle drei auf Grund eurer bildungsbürgerli-
chen Herkunft gewisse linke Werte vermittelt bekommen?
Julia Seeliger wurde 1979 in Buchholz in der Nordheide (Niedersachsen) geboren, studiert Tech-
JULIA
Ein bisschen rebellieren ging
SAMI Nein, man sollte sowieso
bei mir schon, aber an sich ist mein Hin-
nicht zuviel aus einem retrospektiven
tergrund ein liberal-bürgerlicher.
Gefühl ableiten. Vielleicht ist es auch
SAMI
Franziska Drohsel wurde 1980 in Berlin geboren, promoviert gerade an der Humboldt
nikjournalismus und gehört seit Dezember 2006 dem Parteirat von Bündnis 90/Die Grünen an.
Universität zu Berlin in Rechtswissenschaften. Sie ist Mitglied im Parteivorstand der
Von 2004 bis 2006 war sie Mitglied des Bundesvorstandes der Grünen Jugend, seit 2007 ist sie
SPD und seit November 2007 Bundesvorsitzende der Jusos. Franziska ist seit 1995 bei
frauen- und geschlechterpolitische Sprecherin der Grünen in Berlin.
34
das Thema gestoßen. Meine Eltern sind auch pro-
Schon bevor ich politisch und Linker wur-
SAMI KHATIB
den Jusos aktiv und seit 2001 Mitglied in der SPD.
35
ein kritisches Bewusstsein zu verbreiten, aber andererseits
spruch hätte ich nicht ausgehalten und deswegen war eine
man Sachen verändern, um zu neuen Lösungen zu kommen,
hen und verstehen was Kapitalismus überhaupt ist; was ist
eben auch Realpolitik. Man diskutiert also nicht nur und geht
Partei keine Option für mich.
aber bei den Grünen ist das anders: Es gibt andere Flügelkon-
das für ein gesellschaftliches Verhältnis? Sie muss also erst-
Gesellschaftskritik
stellationen; die einen, die viel Real- und somit Machtpolitik
mal darüber Auskunft geben und wenn man kritisieren will, ist
kostenloses Kita-Jahr gibt oder was man eben gerade sinnvoll
bleibt auf Parteibasis ja nun auch immer innerhalb eines gewissen
machen und der andere Flügel, der aber auch sagt »Wir sind
es zunächst eine theoretische Position, die mit anderen politi-
findet. Gleichzeitig muss man aber auch sagen, dass das Ver-
Rahmens, das hat man ja bei Franziska mit der Roten Hilfe gese-
die Realisten!«. Das ist ein Problem der Partei: Die Realos hef-
schen Positionen aushandelt, sich aber nie den Weg ins refor-
hältnis zur SPD als Linke schwierig ist.
hen; über einen gewissen Punkt kann man nicht hinweggehen, sonst
ten sich das Pragmatismus-Label an und stellen die Linken als
mistische Lager verbauen muss. Antifaschismus ist ein gutes
kommt es eben zu Reaktionen wie z. B. diese widerliche Homepage na-
Fundis dar. Daher war mir das eher fremd, dass es eine Ein-
Beispiel, denn da wird immer Bündnispolitik gemacht. Man arbeitet mit bürgerlichen-liberalen Kräften zusammen, denn man muss aus den historischen Fehlern der Linken lernen; wie vor
auf Demos, sondern kann sich dafür einsetzen, dass es ein
HATE
Bist du SPD-Mitglied?
HATE Apropos Widersprüche:
Radikale
FRANZISKA Ja, ich bin irgendwann eingetreten. Man kann
mens stoppt-drohsel.de, die von Brandenburger JU-Spinnern gemacht
teilung in Reform/Theorie gibt, wie das bei den Jusos der Fall
auch nur Juso-Mitglied sein und das war ich recht lange, aber
wird. Sobald der Verdacht aufkommt, dass eine Staats- oder Kapitalis-
ist. Bei uns geht es um zwei widerstreitende Ideologien. Die ei-
letztendlich ist es sinnvoll sich klarzumachen, dass man, wenn
muskritik über einen gesunden Reformismus hinausgeht, ist man ganz
nen sagen, man muss das marktwirtschaftlich lö-
dem 1. Weltkrieg, als einige Kommunisten mein-
man jahrelang bei den Jusos Politik macht, Teil der Sozialde-
schnell in der links-extremistischen Ecke. Bist du in dieser Hinsicht
sen, die anderen sagen, man muss das über den
ten: »Lasst die Imperialisten sich gegenseitig ver-
mokraten ist.
vorsichtiger geworden?
Staat machen und zu Regelungen kommen, aber
nichten, wir wollen realpolitisch gar nichts ma-
antikapitalistisch bin ich nicht. Ich bin nicht dafür
chen.« Man muss schon eingreifen und ich sehe
Geld abzuschaffen, Geld ist eine coole Sache.
da auch keinen Widerspruch.
JULIA
Als ich 18 war, wollte ich auch immer zur SPD ge-
FRANZISKA
Es ging bei der roten Hilfe um die Mitglied-
hen, weil ich gewerkschaftlich geprägt war, meine Eltern be-
schaft und erstmal nicht um eine explizite politische Position.
kamen immer die Zeitung der GEW und die SPD war erstmal
Aber es gibt allgemein schon einige Widersprüche und die Tat-
»gut«. Das war in den 90er-Jahren aber auch eine andere Zeit:
sache, dass man in einer Partei ist, die historisch viele tolle,
Die SPD hatte solide Wahlergebnisse und stand einfach po-
aber auch viele schlimme Sachen gemacht hat – Kriegskredi-
sitiv da. Das ist jetzt auch keine Kritik an der heutigen SPD,
te, Kosovo-Krieg, Agenda 2010 – ist für mich als Linke schwie-
Positionen, die es schon seit fast 100 Jahren gibt: Links, links-
noch mit Stolz getragen wird, aber letztendlich nur als identitäres La-
sondern ich will damit nur meine damalige Position erklären.
rig. Aber mein Selbstverständnis war es immer, dass ich in
liberal, linksradikal und letztendlich ist die Finalperspektive im-
bel zu entlarven ist. Und was ist denn dann noch das bindende Glied in
Ich fand es auch attraktiv, dass es den Bezug zur Arbeiterbe-
einer Partei bin um die Positionen, die ich richtig finde, durch-
mer eine andere. Ich persönlich würde sagen, dass das Pro-
einer pluralistischen und bis ins Letzte ausdifferenzierten Linken?
wegung gab und diese großen Theorien. Als ich mir dann aber
zusetzen und daher ist das für mich ein strategisches Kampf-
gramm »Kapitalismus verschönern« zu neuen Widersprüchen
JULIA Das stimmt, aber was erreicht man damit? Natürlich
überlegte, dass ich mich in einer Partei engagieren möchte,
feld und man hat, vor allem bei den Jusos, die Freiheit radika-
führt und nichts wirklich ändern kann und deswegen bin ich so
muss man Sachen verändern, um zu neuen Lösungen zu kom-
merkte ich aber, dass die SPD doch nicht so mein Ding ist und
le Gesellschaftskritik zu äußern. Wenn man sich aber konkret
radikal, dass ich den ganzen Referenzrahmen, in dem sich das
men, aber bei den Grünen ist das anders: Wir haben nicht die-
dass eher die Grünen zu mir passen. Zum einen wegen des
in die reformistische Politik rein begibt, dann hat man es na-
abspielt, kritisiere. Da es aber im Kapitalismus kaum eine an-
se Spaltung in Theorie und Praxis. Deswegen streiten wir uns
Öko-Aspekts, aber auch wegen der individualistischen Viel-
türlich mit in den Zwängen der Realpolitik zu tun.
HATE
»Links« wird also sehr unterschiedlich rezi-
HATE Aber macht es denn dann überhaupt noch
piert. Wie würdest du dein Links-Sein einordnen, Sami?
Sinn von einem linken Oberbegriff auszugehen. Ist das
Das sind ja nun die klassischen linken
nicht ein sozialromantischer Anachronismus, der zwar
SAMI
tikapitalistische Praxis per se gibt, muss man sie immer fin-
bei unseren Parteitagen auch immer so sehr: Man geht davon
Das finde ich schwierig, ich bin eine pragmatische
den, man kann sie nicht fixieren, denn diese Praxis ist liquide.
aus, dass die Bundestagsfraktion sich dafür einsetzt, dass die
etwas Gutes hat. Aber es passt nicht dazu wie ich Politik ma-
Linke und ich würde diese Spaltung zwischen Realpolitik und
Da hat Julia Recht, wenn sie sagt, dass das eine theoretische
Parteitagsbeschlüsse umgesetzt werden. Theoretische Grund-
chen möchte. Ich brauche eher ein kreativeres, chaotischeres
Theorie nicht wollen. Erstmal benutze ich Reformismus nicht
und schon fast scholastische Position ist. Eine Position, die ir-
satzdiskussionen sollen auch zu politischer Praxis werden.
Umfeld. Bei einem Grünen-Parteitag kann immer etwas Unvor-
faltsperspektive. Die SPD ist mehr die alte Tante, was ja auch
JULIA
mit solch einer Verachtung. Eine pragmatische linke Politik
gendwelche Marx-Kapital-Exegeten untereinander aushandeln
Zwar gibt es Leute, die sagen »Wir sind die Realisten!« und an-
hergesehenes passieren. Ich denke das ist bei der SPD nicht
sollte, und das hört sich jetzt richtig realohaft an, auch jeden
können. Das ist ein Vorwurf den man an Lesekreis-Linke ma-
dere, die sagen »Seid doch mal visionär«, aber eine klare Ein-
so. Klar war auch, dass ich mich in einer linken Partei engagie-
Euro nur einmal ausgeben, aber ich finde dennoch, dass man
chen kann. Der ist sicher zum Teil zutreffend, auch wenn ich
teilung in »Theorie« und »Praxis« gibt es bei uns nicht. Und noch
re. Auf Bratzen wie die FDP hätte ich keine Lust.
sich Handlungsspielräume schaffen muss …
selber dieser Fraktion angehöre. Aber man muss das nicht to-
mal zu dem antikapitalistisch sein: Man braucht einen starken
tal undialektisch sehen und wahrscheinlich bin ich da auch nä-
Sozialstaat und starke Institutionen auf nationaler und inter-
her an Franziska dran; ich würde nämlich auch sagen, dass ich
nationaler Ebene, aber antikapitalistisch bin ich nicht. Ich bin
den Kampf um Handlungsperspektive im Kapitalismus nicht
nicht dafür Geld abzuschaffen, Geld ist eine coole Sache.
SAMI
Die Grünen waren bei mir auch mal im Gespräch.
Ich fand das radikalere Modell in den frühen 90ern – der blei-
FRANZISKA
Kurze Frage: würdest du dich denn als antika-
pitalistisch verstehen?
ernen Helmut Kohl Zeit – interessant. Die Grünen waren mir
JULIA
auch mentalitätsmäßig näher als die SPD. Die SPD war mir
FRANZISKA
verlassen kann, nur weil ich den Referenzrahmen kritisiere. Es
HATE Aber macht es denn dann überhaupt noch Sinn von einem
schon immer suspekt. Das fing im Geschichtsunterricht mit
JULIA Ich bin aber auch nicht so theoriefixiert. Ich möchte
ist sogar eher andersrum: Ich würde sagen: Die Kritik im Jetzt
linken Oberbegriff auszugehen. Was ist denn dann noch das binden-
der Revolution an. Nicht Fisch nicht Fleisch; mal so, mal so.
eine Politik machen, die jedem Individuum gleiche Rechte gibt.
beraubt sich seiner Möglichkeiten, wenn von vorneherein ge-
de Glied in einer pluralistischen und bis ins Letzte ausdifferenzierten
Das war mir nicht geheuer. Ich hatte einen Hang zu erlebnis-
Es geht darum, soviel sozialen Ausgleich zu machen, wie wir
schrieben wird: wir wollen nicht radikal sein, sondern geben
Linken?
orientierter und direkterer Politik und zu radikal-theoretischen
können, so viele Kita-Plätze schaffen, wie wir können und wir
jeden Euro eben nur einmal aus. Gerade die wahrhaft refor-
Positionen. Das findet man in Parteien eher nicht. Man hat
müssen auf internationaler Ebene viele Regelungen schaffen,
mistische Position müsste bei den Forderungen immer drü-
das zwar abgeschwächt, aber immer in einem parlamentari-
wie man Lebensräume gerecht verteilen kann und dass die gro-
ber liegen, über dem was machbar ist innerhalb der Verhält-
HATE Aber nach Gleichheit streben auch die Nazis. Die wollen
schen Rahmen, auch bei den Vorfeldorganisationen. Außer-
ßen Konzerne nicht die Umwelt straflos
nisse, um aus einer Defensiv-Position
auch eine gerechte Verteilung, wenn man sich anschaut, was Autono-
dem muss man noch die geographischen Kontingenzen da-
verschmutzen können.
zu einer Offensiv-Position zu gelangen.
me Nationalisten für Forderungen vertreten.
Nein. Okay, das ist dann ein Unterschied.
JULIA Dass man nach sozialem Ausgleich strebt und anderen Leuten nicht die Lebensmöglichkeiten beschränkt.
zurechnen; mit Städten, Leuten, die man kennt und was das
HATE Aber man kann doch Verhält-
Also rein aus einer polittaktischen Per-
Umfeld eben gerade so macht. Damals war dann eben der
nisse mit dem Wissen kritisieren, dass sie
spektive. Ich selber bin ja im Refor-
Kampf gegen Nazis extrem wichtig. Die etablierten Parteien,
sich in den nächsten Jahrzehnten wahr-
mismus nicht groß tätig, aber es kann
außer vielleicht partiell die Grünen, hatten da keine Antwort
scheinlich eher nicht ändern werden, aber
taktisch durchaus sinnvoll sein, Anti-
Streben das Nebeneinander von Volksgemeinschaften bzw. Völkern an
drauf. Diese Appeasement-Politik gegenüber dem deutschen
trotzdem den Reformismus als eine Linde-
kapitalismus im Reformismus selbst
und da spielt soziale Gerechtigkeit auch eine große Rolle.
Mob fand ich extrem problematisch. Man ist in einer Partei in
rung verstehen.
zu verorten. Das könnte man zumin-
JULIA Aber Nazis sind ja nicht für Gleichheit, sobald man
Das stimmt, aber was er-
dest diskutieren. Die Position »linksra-
nämlich aus einem anderen Land kommt, gilt dieser Gleich-
reicht man damit? Natürlich muss
dikal« jedoch muss an die Wurzel ge-
heitsgrundsatz nicht mehr.
einer schwierigen Lage, denn man muss ja an diese Leute adressieren, um eine Wahl zu gewinnen. Diesen inneren Wider-
36
JULIA
JULIA Wobei bei den Linken noch eine internationale Perspektive hinzukommt … HATE
… welche die Nazis aber durchaus auch haben, denn sie
37
Dennoch ist es aber auch so, dass die Koexistenz von
mal kurz darauf eingehen was Julia
Es muss also auf Höhe des Kapitals eine Selbstkritik sein,
HATE Warum muss denn dieses linke Label beibehalten werden?
Völkern zwar die »Anderen« ausschließt, aber ihnen dennoch ein
gesagt hat, nämlich dass Linkssein
z. B. der Globalisierung. Da kann man vom Abstrakten ins Kon-
Links ist so ausdifferenziert und pluralistisch, dass die Überschneidun-
Existenzrecht zugesteht.
natürlich ein Resultat von gesell-
krete gehen, aber was wichtig ist, ist die Selbstkritik des Ka-
gen teilweise extrem gering sind. Ist man Menschen, die liberal sind –
schaftlichen Kämpfen ist. Links ist
pitals, denn sonst sitzt man mit den Nazis im selben Boot,
also richtig liberal, nicht im FDP-Sinn – nicht näher als den SteinzeitAnti-Imperialisten?
HATE
JULIA
Das ist dann allerdings eine biologistische Heran-
also genau das, was gesellschaftliche Gruppen ausgehandelt
dann ist die Analyse nicht daran geknüpft, was das Kapital
FRANZISKA »Links« ist halt in der politischen Diskussion ein
und definiert haben. Aber man darf eines nicht vergessen: Am
eigentlich sein soll und man ist sehr schnell bei der struktu-
SAMI Ich weiß, was du meinst. Es geht wieder um die
Kampfbegriff und die Frage was »links« heißt, muss in unter-
Ende geht es um eine Politik der Wahrheit; links ist nämlich et-
rell antisemitischen Kapitalismuskritik. Man versucht also Ver-
Wahrheit: Was ist »links«? Wenn man die soziologische Ka-
was »Richtiges«.
hältnisse, die sich in Personen kristallisieren, an diesen fest-
tegorie benutzt, dann ist der Linke solange ein Linker, wie er
gehensweise und damit nicht »links«.
schiedlichen Kontexten immer wieder neu erkämpft oder verteidigt werden. Es ist einfach nichts Feststehendes. Aber es macht
JULIA
Was du richtig findest …
durchaus Sinn, an dem Label und der Begrifflichkeit »links« fest-
SAMI
Ja, aber genau das ist ja der Diskurs. Das ist es,
zumachen. Es geht also um eine Politik der Wahrheit. HATE
Dann gibt es diesen gemeinsamen Nenner aber doch ei-
gentlich nicht. Denn für einen Großteil der Linken ist jene verkürzte Kapitalismuskritik doch typisch, wenn man beispielsweise mal die globlisierungskritische Linke betrachtet. JULIA
Aber sind das nicht Randerscheinungen? Das hat
man doch selbst bei Gruppen wie ATTAC inzwischen erkannt. HATE Aber spielt sich das wirklich nur am Rand ab? »Heuschrecke« ist eine Begrifflichkeit, die in den letzten Jahren von links kam,
sich von meiner Kritik adressiert fühlt. Aber wenn man diesen
aber in breiten Teilen der Gesellschaft angekommen ist und auf nati-
soziologischen, empirisch wahrnehmbaren Bereich verlässt,
onalsozialistische Rhetorik zurückgeht. Menschen werden mit Tieren
könnte man fragen: warum brauche ich diese Linken? Da kann
gleichgesetzt, Verhältnisse werden personifiziert, das Wesen der Cha-
ich genauso den Liberalen adressieren und dann wird das Ar-
raktermasken wird nicht erkannt. Ich sehe da kein bindendes Glied
gument scharf. Aber bei meiner radikalen Gesellschaftskritik
mehr in der Linken.
finde ich keinen Gesprächspartner im marktradikalen Bereich.
Doch, ich sehe das schon. Eben weil sie sich von
Komischerweise finde ich den eher noch in der strukturell anti-
der Kritik, die du übst und die ich so weitestgehend teile, ad-
semitischen Linken, weil der sich qua Ansprechbarkeit als Lin-
SAMI zuhalten, denn es gibt in der Gesellschaft noch immer Interes-
was Linke ausmacht; das Aushandeln dessen. Aber wenn man
ressiert sehen, weil sie sich in einem innerlinken Diskurs des
ker immer noch eher als Gesprächspartner erweist, als der sa-
senskonflikte und ich würde grundsätzlich sagen, dass man als
das von vornherein aufgibt und sagt, dass es nicht um Wahr-
Aushandelns befinden. Es gibt keine a priori richtige linke Po-
turierte und angekommene Markliberale, auch wenn der 90%
Linker erstmal auf der Seite derer steht, die Pech haben und de-
heit geht, bricht genau das weg, was die Diskurse vorher am
sition ohne Aushandlung.
der Analyse teilt.
nen es nicht so gut geht. Alles was verhindert, dass in dieser
Laufen gehalten hat. Ich würde sagen, dass es eine retroakti-
Gesellschaft Menschen frei und gleich zusammenleben, also
ve Wahrheit gibt. Man kann auf einer sehr abstrakten Ebene
gleiche und nachdem Müntefering das gesagt hatte, wurde be-
alle Strukturen, die dazu beitragen, dass das nicht so ist, sind
vielleicht sagen, dass eine emanzipatorische Selbstkritik des
reits thematisiert, dass das schlecht ist. Das war vielen Leu-
SAMI Das kann man so sehen …
zu kritisieren. Aber man muss in seiner Kritik genau bleiben.
Kapitalismus links ist, aber dann müsste man schauen, was
ten nicht klar, denke ich.
FRANZISKA
HATE
Man nimmt also Zustände oder Verhältnisse als ungerecht
und falsch wahr und »links« ist dann die Symptombekämpfung.
JULIA
Das wurde aber auch diskutiert, gerade die Tierver-
HATE Also ist der Kern des Ganzen doch ein sozialromantisches Gefühl? Nein, ich sehe das im Ergebnis nicht so. Das
Na ja, was man sicher schon sagen kann ist,
Gemeinsame von Leuten, die sich als links verstehen, ist im-
sie sind nicht emanzipatorisch, sondern regressiv. Sie halten
dass die Friedensbewegung und die globalisierungskritischen
mer noch der Ansatz, dass sie sich an der Gesellschaft des-
Proteste in Teilen antisemitisch und antiamerikanisch ist …
halb stören, weil Menschen nicht frei oder gleich sind. Das
das bedeutet. Die Nazis sind ein ganz gutes Beispiel, denn
FRANZISKA
FRANZISKA Nein, wenn man feststellt, dass es soziale Un-
an Sachen fest, die der Kapitalismus bereits zerstört hat, z. B.
gleichheit gibt und man sagt das liegt am Kapitalismus – also
die Vorstellung, dass es Rassen gibt oder Völker und eine Ord-
Kapitalismus als System, das Konkurrenz und damit auch im-
nung. Dann kommt der Kapitalismus dazu und vermischt das
Ja gut, vielleicht auch das, über die Ausprä-
richtig, dass es Ungleichheit gibt und betrachten diese Un-
mer Verlierer produziert – und dass die Überwindung dieser
alles, »Rassenschande« sagen dann die Nazis. Hingegen wol-
gung kann man sicher streiten. Bewegungen und Gruppen
gleichheit als Ergebnis von Konkurrenzprozessen. Dann gibt
Verhältnisse erstmal etwas wünschenswertes ist, dann ist das
len die Linken nicht dahinter zurückfallen. Wenn die Güter frei
kämpfen auch um Meinungen und auch da muss man um
es natürlich Leute aus linken Gruppen oder die sich als Lin-
mehr als bloße Symptombekämpfung.
zirkulieren, wollen wir, dass auch die Menschen frei zirkulie-
progressive Antworten kämpfen bzw. diese geben. Es gab in-
ke verstehen, die bei den komplett falschen Antworten lan-
SAMI
Manifest antiamerikanisch …
FRANZISKA
ist bei Marktliberalen nicht der Fall, denn die sagen, dass ist
In dem Zusammenhang ist mir auch ein Spruch ein-
ren. Wenn es Barrieren gibt, die am Horizont des Kapitalismus
nerhalb der Linken immer reaktionäre Antworten und es wird
den und strukturell antiamerikanisch argumentieren. Und na-
gefallen: »Gleiche Rechte für Ungleiche«, das finde ich gut,
als abbaubar erkannt werden können, dann wollen wir noch
sie auch immer geben. Die Frage ist, was der progressive Teil
türlich spiegeln sich diese falschen Gedanken auch im linken
weil es die Differenz zwischen unterschiedlichen Menschen
einen draufsetzen. Wenn wir sehen, dass das Recht zu allen
ausrichten kann.
Kontext wieder. Die Frage ist nur, ob man es von progressiver
beschreibt, unterschiedliche Nationalitäten, Religionen etc.
Menschen gleich ist, die abstrakte
Seite aus schafft, dass sich antisemitische Gedanken nicht
dürfen keine Rolle spielen, sondern alle sollen die gleichen
Gleichheit aber Ungleichheit produ-
durchsetzen. Heiligendamm ist in gewisser Hinsicht ein posi-
Rechte haben. Ich meine damit aber nicht nur Bürgerrechte,
ziert, dann können wir sagen, dass
tives Beispiel. Die Debatten um Antiamerikanismus und Anti-
sondern auch soziale Rechte.
das Kapital bereits einen Hinweis da-
semitismus hat es vor Ort ja auch gegebenen und auch euer
JULIA
HATE Aber ist nicht der Kapitalismus an sich ungerecht? Ist es
rauf gibt, was abstrakte Gleichheit
Block, Sami, hat sich von gewissen Argumentationsweisen dis-
nicht vollkommen unlogisch zu fordern, dass es da eine Ordnung geben
sein könnte; also wollen wir die reale
tanziert und eine progressive Kapitalismuskritik formuliert.
muss, die eine bestmögliche Gerechtigkeit herstellen soll?
Gleichheit. Aber ich möchte noch mal
JULIA
Ich bin nicht so in diesen roten Lesekreisstrukturen
SAMI Der Kapitalismus ist beides; gerecht und unge-
auf die Wahrheit kommen; Wahrheit
drin, weil es das bei uns nicht gibt. Das heißt aber nicht, dass
recht. Die Rechtigkeit im Kapitalismus, die Gleichheit vor dem
hat natürlich einen Zeitkern und das
ich keine radikalen Veränderungen möchte. Denn diese sind
Recht, ist faktisch eine Ungerechtigkeit. Aber ich möchte noch
Kapital entwickelt sich immer weiter.
ja in Anbetracht der ungerechten Verteilung des Reichtums
38
39
auf der Welt notwendig.
weltvernichtung schon einpreisen und mit einberechnen. Das
arbeiten soll, da unterstütze ich dich auch, aber es ist eben
es zu entwickeln und man kann z. B. die richtigen Fragen stel-
Ich finde auch den Punkt
ist ein sehr gutes Beispiel wie es machbar ist, eine schein-
keine radikale Gesellschaftspolitik. Ökologie ist ein sehr gutes
len. Warum kann ein Kind nur zwei Eltern haben? Zuerst gab es
Reisefreiheit interessant:
bar linke antikapitalistische Frage, kapitalistisch umzuformu-
Beispiel für die Wandelbarkeit des Kapitalismus. Der Kapitalis-
die Diskussion ob Schwule und Lesben heiraten können und
Was
passieren,
lieren und da sind die Grünen sowieso gut drin, was ja erstmal
mus scheint ein System zu sein, ein Zusammenhang, der alle
sollen, jetzt gibt es wenigstens die eingetragene Lebenspart-
wenn alle Grenzen offen
nichts Schlechtes ist. Aber es gibt auch Möglichkeiten auf et-
Hindernisse, die man ihm entgegenstellt in einen Motor für
nerschaft. Ich denke, dass es schon Initiierungsimpulse aus
wären? Die Globalisierung
was zu verweisen, dass außerhalb des jetzt Denkbaren liegt.
das eigene Vorkommen verwandelt. Das ist faszinierend.
der Linken gibt und diese führen auch zu Fortschritten.
würde
Aber mir ist nicht klar, was das mit der Praxis zu tun
SAMI Das stimmt, aber hat natürlich auch eine gewisse
dass morgen die Marsmännchen kommen, dass die Welt un-
hat? Wenn du dir z. B. die Auswirkungen der Umweltverschmut-
Halbwertszeit. 1979 war das radikal, heute ist es nicht mehr
tergeht, eine Eiszeit anbricht, wir können uns alles mögliche
zungen anschaust. Der Kapitalismus, wenn ich ihn als System
radikal. Es gibt einen Zeitkern. Die Antwort ist sozusagen in der
Vorstellen, aber das Ende des Kapitalismus ist komplett au-
sehe, nimmt doch gar keine Rücksicht auf die Umwelt und es
Person von Franziska enthalten: Franziska hat eine Scharnier-
ßerhalb der Reichweite unserer Gedanken. Das Einfachste der
ist doch überhaupt nicht möglich alles einzupreisen, weil es
funktion zwischen
Welt ist nicht denkbar.
viel zu komplex ist. Ich glaube, dass die Komplexität der Zu-
progressiven linken
kunft wie auch der Umwelt nicht einschätzbar ist, daher kann
Positionen und der
man es auch nicht einpreisen.
Partei. Man kann
Žižek hat mal diesen Witz gemacht: Wir können uns vorstellen,
FRANZISKA Deswegen frage ich mich aber auch, wie eine antikapitalistische Praxis aussehen kann. Bei den Jusos wurden früher so genannte systemüberwindende Reformen diskutiert – Reformen, die zwar reformistisch umgesetzt werden, aber hat globalisierte Kommunikation und globalisierten Handel er-
den Kern der Systemüberwindung, der Emanzipation des Men-
möglicht, aber Reisefreiheit und Mobilität sind für viele Men-
schen in sich tragen.
schen immer noch eingeschränkt und wenn es eben diese Reisefreiheit gäbe, würde es drunter und drüber gehen.
JULIA
SAMI
Nicht die ganze Umwelt, aber die wichtigen Sachen,
die für das Überleben des Kapitalismus entscheidend sind. JULIA
Aber es geht ja um die Menschen … SAMI
Das mag sein, aber der Horizont ist of-
ganz
gut
sehen,
dass
Antisemitis-
mus und eine fetischistische Kapita-
möchte
fen und was ich sagen will: Der Kapitalismus hat
lismuskritik ein Thema geworden sind, aber man sieht auch
noch mal auf das Ein-
Ökologie adaptiert, hat sie zum Teil seiner eigenen
ganz gut das historische Moment: Eben in dem Moment wo
JULIA
Ich
SAMI Man kann die gesellschaftlichen Fronten offen sam-
preisen zurückkommen:
Entwicklung gemacht. Sie ist angekommen im Ka-
ein unreflektierter Philosemitismus um sich greift, wo Angela
meln. Es gibt einen Kernbereich linker Politik, wo mit Libera-
Sami, du denkst also,
pitalismus.
Merkel Israel zur Staatsräson Deutschland erklären will – was
len nichts zu machen ist. Ich würde sagen, dass du marktlibe-
es ließe sich alles ein-
HATE Ich glaube worauf Sami hinaus will, ist die Tat-
von völliger Selbstüberschätzung zeugt – und sich einige ost-
rale Leute findest, die 90% meiner Ansichten teilen oder ich
preisen. Aber das wird
sache, dass Ökologie genauso im Kapitalismus enthalten ist
deutsche Antifas als widerliche Rassisten gegenüber den Pa-
ihre, aber es sind eben 10% Differenz. Und da gibt es wohl
ja in der Realität gar
und ausgehandelt wird und dass der Kapitalismus sich in
lästinensern erweisen, in dem Moment, wo der Kampf gegen
eine Schere zwischen der Wahrheitsposition und der soziologi-
nicht gemacht.
dem Maße Umweltschutz zu Nutze macht, dass dieser ihm
Antisemitismus zu einem ganz langweiligen, identitären Allge-
hilft, sich zu reproduzieren und seine Existenz zu sichern.
meinplatz wird, ist die Avantgardefunktionen der Linksradika-
schen Position, die dann aber entscheidend ist, denn sie ent-
SAMI
Erdöl ist aber
hält die Marx’sche Aufforderung, dass alle Verhältnisse umzu-
doch ein gutes Beispiel;
werfen sind, in denen der Mensch ein geknechtetes Wesen
da wird eingepreist bis
ist. Aber noch mal zur Begrifflichkeit »radikale Gesellschafts-
zum Geht-nicht-mehr.
kritik«: Das heißt natürlich radikale Veränderung. Die Grünen,
JULIA
Aber
SAMI
Wobei wir natürlich nicht wissen, ob der
Kapitalismus damit Erfolg hat.
man
len natürlich weg. Und wenn man sich anschaut, wie es mit dem Philosemitismus, als schönem Bruder des historischen
JULIA
Können wir das Thema wechseln?
Antisemitismus in Deutschland, der immer nur die schöne Sei-
HATE
Okay. Hat die radikale Linke eine Avantgarde-
te der Sonderbehandlung dargestellt hat, aussieht, dann ist
so wie ich sie verstehe, wollen zwar Veränderung, aber keine
müsste ja auch theo-
Funktion? Sowohl für die Linke als auch gesamtgesell-
eine Avantgarde-Funktion nicht mehr gegeben. Das muss man
radikale. Denn radikale Veränderung geht immer an die Wur-
retisch die Umweltver-
schaftlich? Sei es eine Israel-Solidarität, die sich in Fahnen
kritisieren und natürlich geht es auch darum, eine emanzipa-
zel. Radikal wäre es hier, den Referenzrahmen selbst zu hinter-
schmutzung einpreisen.
auf Demos explizierte und Skandale evozierte und inzwi-
torische Kritik an der israelischen Politik in Palästina zu formu-
Das wird ja
schen in weiten Teilen der Linken angekommen ist, aber
lieren, denn die Zustände dort sind katastrophal.
fragen und das tun die Grünen nicht. JULIA
Das ist jetzt aber deine Wahrnehmung. Nur weil
SAMI
auch gemacht.
man rhetorisch radikal ist, heißt das noch nicht, dass man
JULIA
Nein,
auch die Pop- und Kulturlinke, die ja traditionell von stump-
JULIA Das sehe ich anders. Das würde ja bedeuten, dass
das
fem Antiamerikanismus geprägt ist, lehnt inzwischen z. B.
die Debatte sinusförmig verläuft und sich irgendeinem Ziel an-
wirklich was verändert. Deswegen finde ich auch, dass man
wird
gemacht.
das Palituch ab. Bei den Jungen Grünen kursierte, in Anleh-
nähert und dann wieder entfernt, aber das Ziel sollte doch real
z. B. die ökologische Frage als soziale Frage denken muss.
Der
Emmisionshandel
nung an einen ehemals antideutschen Blog, ein Flugblatt
sein. Bei uns trat auch so ein entleertes Pop-Antideutschtum
Man müsste also bestimmte Autos verbieten und mehr sub-
ist doch ein Witz. Das
mit dem Titel »Koksen, Kotzen, grüne Jugend«, welches sich
auf und es wurde, wie bei einem Fussballspiel, »Israel, Israel«
ventionieren …
ist
mit antideutschen Positionen auseinandersetzt.
gerufen und ein Künstler auf dem Medienmarkt in Weimar, for-
nicht
theoretisch
alles
SAMI Da stimme ich dir ja zu; du kannst, ohne das rhe-
denkbar, aber schau dir
FRANZISKA Wobei das alles innerlinke Diskurse
derte einen jüdischen Staat in Thüringen einzurichten. Das fand
torisch auszuarbeiten, antikapitalistisch sein in dem was du
doch mal an, wie es mit
sind. Israelsolidarität ist ja nun auch in anderen Mi-
ich nicht so cool, weil man viele Probleme mit Nazis in Thürin-
forderst. Es kommt nicht darauf an zu sagen, dass man rhe-
Kyoto
lieus zu finden. Was aber schon eine Rolle spielt ist
gen hat und die jüdische Gemeinde fand das auch nicht toll.
torisch radikal ist, sondern du kannst qualitativ fordern und
ist und wirklich auf erneuerbare Energien umstellen ist ein
die Tatsache, dass es ab und zu wahrnehmbare radikale Gesell-
Vielleicht ist das auch einfach etwas Avantgardistisches gewe-
dann bist du antikapitalistisch, denn was du forderst, ist im
hohes Ziel.
schaftskritik gibt. Das erzeugt in der Gesellschaft nämlich die
sen, was ich nicht verstanden habe, aber wenn man jetzt den
Hier und Jetzt definitiv nicht machbar. Und was du mit der Glo-
weitergegangen
Aber so ist das eben im Kapitalismus; da existiert
Notwendigkeit, sich damit auseinanderzusetzen, das ist wich-
Philosemitismus kritisiert, wie du das machst, führt das zu ei-
balisierung ansprichst: Es würde den Kapitalismus natürlich
ein Ideal und ein Ist-Zustand, der immer schlecht und zu kri-
tig. Ich finde aber, dass Avantgarde in dem Zusammenhang eine
nem ewigen Hin und Her. Man muss danach trachten, das wei-
aus den Angeln heben, wenn die Migrationsströme nicht regle-
tisieren ist und den dann anzugreifen ist Politik. So war das
blöde Formulierung ist.
ter auszudifferenzieren. Es ist natürlich gut, dass es eine Kehrt-
mentiert wären. Aber die Ökofrage ist total kapitalistisch, denn
schon immer und ist bei Umweltpolitik genauso, aber das ist
der Ökokapitalismus ist der nächste Punkt der Vergesellschaf-
klassische reformistische Politik. Die ist total wichtig und ich
tung. Das Kapitalverhältnis wird jetzt und in Zukunft die Um-
will gar nicht sagen, dass das ein Feld, ist auf dem man nicht
40
SAMI
HATE
Das soll aber erstmal keine elitäre Implikation haben, son-
dern nur eine Vorreiterrolle beschreiben. JULIA
Wenn man radikal ist, entsteht die Möglichkeit Neu-
wende gab, weg von einem stumpfen Antiamerikanismus und einer stumpfen Israelschelte auf einer vermeintlichen Basis des Völkerrechts, die viele Aspekte ausblendete. Ich finde es sinn-
41
voll, dass man mit Gruppen nach Israel fährt und sich näher mit
ner Aussage »Monogamie ist keine Lösung« hören. Ich war
nicht so gerne macht,
gut, das ist aktive Stadt-
der Politik Israels und dem Antisemitismus in Deutschland aus-
dann fast schon beruhigt als ich den Artikel las. Natürlich ist
vor allem bei Jugendli-
gestaltung. Früher gab es
einandersetzt, dass das Thema einfach erschlossen wird.
das positiver Sexismus, denn mir werden vermeintlich weib-
chen oder gerade anpo-
Reclaim The Streets, aber
Ich meinte aber, dass es unterschiedliche Adressa-
liche Attribute zugeschrieben; Unschuld, freundlich, lieb, kur-
litisierten Anfang-Zwan-
das ist irgendwann einge-
ten gibt: Der Linksradikale spricht erstmal die anderen Linken
zer Rock und so was. Zum Thema Sexismus: Bei den Grü-
zigern, denn das sind
schlafen. Von den Themen
an oder die anderen Linksradikalen. Die Gewerkschaftsleute
nen gibt es eine Frauenquote, die man auch als positiven
Nerv-Jobs und meistens
her ist der ganze Bereich
der IG Metall schicke ich nach Israel, die sollen sich mal mit ih-
Sexismus sehen könnte, die ist jedoch nur eine Übergangs-
machen das Frauen.
soziale Ungleichheit einer,
rem antisemitischen Antikapitalismus auseinandersetzen, die
lösung bis die Gleichberechtigung zwischen den Geschlech-
antideutschen Philosemiten schicke ich einfach mal nach Pa-
tern hergestellt ist. Unterdrückung durch Männer gibt es bei
sitzt bei Veranstaltungen
eine ganze Weile
lästina in die besetzten Gebiete und die sollen sich dann die
den Grünen nur dahingehend, dass sich diejenigen, die stark
auf dem Podium oder
schäftigen wird. Eine ent-
Vor-Ort-Politik der israelischen Besatzungstruppen angucken,
als Männer sozialisiert wurden, in Diskussionen vordrängen.
entscheidet was im Flug-
scheidende Frage, die ich
dann kann man sich darüber noch mal unterhalten. Es gibt für
Wenn man dann keine Instrumente wie eine quotierte Rede-
blatt drinsteht?
mir stelle, ist, ob die Zu-
mich einfach verschiedene Ansprechpartner, es gibt verschie-
liste hat, dann führt das dazu, dass solche Männer in einer
dene Blind-Spots bei verschiedenen Leuten. Warum sage ich
Gruppe viel mehr Einfluss haben, aber diese Hilfsstrukturen
eine
Philosemitismus? Weil einfach die ganze Situation im Nahen
hat man bei den Grünen noch und die helfen, dass man zu-
Geschichte geht, dann
die
Osten rückgespiegelt und als Reflektionsmedium missbraucht
mindest auf den höheren politischen Ebenen ein Gleichge-
macht man das fifty-fifty,
politisch aktiv sind, denn
wird für eine innerlinke Debatte in Deutschland.
wicht hat. Ich denke aber dennoch, dass Männer und Frauen
natürlich kann es auch
der Druck für Jugendli-
die gleiche Machtpolitik machen.
vorkommen, dass dann
che Fremdsprachen zu ler-
doch zwei Männer oder
nen, Praktika zu machen
SAMI
HATE Aber dem Philosemitismus geht doch eine theoretische Israel-Solidarität voraus? SAMI
Der aktuelle Philosemitismus ist bei einigen an-
tideutschen Linken eigentlich, nur eine identitäre Figur, die
HATE Wobei weibliche Machtpolitik erstmal aus einer Indifferenz resultiert. Kann man das so gleichsetzen?
FRANZISKA
SAMI
Und wer
den meine Partei noch
Wenn es um
wichtige
spitzung von sozialen Zu-
mediale
nur zwei Frauen auf dem Podium sein …
be-
ständen dazu führt, dass Menschen
weniger
und Lebenslauf orientiert die eigene Biographie zu gestalten,
Und was kommt da in der Praxis bei raus? Wie vie-
nimmt zu. Ich denke, dass man dann keine Zeit mehr für kol-
versucht ein Objekt in der Weltgeschichte ausfindig zu ma-
konnotiert das erstmal männlich, weil wir in der patriachal-ka-
le Männer und wie viele Frauen sind das dann? Habt ihr also
lektive Interessensorganisation oder politisches Engagement
chen, dem man alle Weihen menschlicher Emanzipation ver-
pitalistischen Gesellschaft leben und diese Gesellschaft erst-
eine Doppelspitze?
findet und es kein Äquivalent zur klassischen Arbeiterbewe-
leihen kann. Früher hatte die Arbeiterbewegung als emanzipa-
mal männlich ist, aber ich finde, dass Machtpolitik, zumindest
torisches Subjekt eine ähnliche Rolle. Das ist jetzt die Kritik, die ich innerhalb eines gewissen Kreises (den Antideutschen) üben würde, aber bei der IG Metal oder der Sozialdemokratie
JULIA
Machtpolitik ist aber erstmal Machtpolitik, man
JULIA
Nein, so was wie eine Doppelspitze gibt es bei uns
gung gibt, dass also Betroffene ihre Interessen formulieren.
bei uns Grünen, von beiden Geschlechtern gleich erfolgreich
nicht. Es ist alles viel unorganisierter, aber wenn es offiziell
Und ich stelle mir dann die Frage,was die politische Organisie-
gemacht wird.
wird, dann wird schon auch mal drauf geachtet, meistens war
rungsantwort darauf ist.
FRANZISKA
Es gibt bei uns auch quotierte Redelisten und
würde ich eine andere Kritik üben, denn dort herrschen wie-
quotierte Vorstände. Das sind Instrumente, die ich auch im-
der andere Zustände, andere Diskurse. Das ist aber Interaktion zwischen Linksradikalen und Linken, die ja auch stattfindet und es gibt Themen, wo gleiche Wellen existieren; das kann
SAMI
es sogar noch schwieriger den männlichen Part zu finden.
SAMI Mediaspree ist ein gutes Beispiel für Perspektiven
Als ich noch bei der Grünen Jugend war, da haben
linker Politik. Da können sich alle drauf einigen, weil es der
mer verteidigen würde und es trägt dazu bei, dass es in den
wir auch gemerkt, dass sich in der BUND-Jugend, die keinen
Gegner einfach verdient hat. Diese kleinbürgerlichen Volltrot-
offiziellen Gremien angenehmer ist. Bei den Jusos geht es
Vorstand, sondern eine »Bundes-Jugend-Leitung« hat und ak-
tel aus Berlin, die die halbe Stadt für einen Appel und ein Ei
überwiegend, weil da schon ein gewisser Konsens herrscht
tivistischer ist, mehr Frauen engagieren. Bei der Grünen Ju-
an irgendwelche Idioten verscherbeln. Das ist der Klassiker
man Rückblickend beim Sexis-
hinsichtlich der Kämpfe und Ziele der Frauen-
gend hingegen engagieren sich mehr Männer, die kandidieren
in Berlin und bis ins bürgerliche Lager denken die Leute: »Oh
mus in den 90ern sehen; das
bewegung. In der Partei oder dem gesamten
öfter und verbleiben länger im Amt, während es bei Frauen
man, wie kann man nur so blöd sein? Da bin ich dagegen.«
ging in der Linken los und heu-
politischen Geschehen erlebe ich allerdings
eine höhere Fluktuation gibt. Es sieht so aus, als sei dieses
Und Politik funktioniert auch ein bisschen flashmobmässig;
te reden alle wie selbstver-
auch oft diesen positiven Sexismus. Mich
antihierachische attraktiver für Frauen.
es gibt ein paar Leute, die das organisieren, es existiert ein
ständlich vom Gender-Main-
nervt es einfach, dass ich mich mit so einem
SAMI Ja, Frauen scheinen vermeintlich zuverlässiger für
einfacher Kristallisationspunkt und dann machen die Leute ihr
streaming.
Scheiß auseinandersetzen muss, dass ich mir
diese ehrenamtlichen Jobs und genau das ist problematisch,
Kreuzchen. Aber das hört bei der Agenda 2010 schon wieder
denn es zeigt auf der anderen Seite: die anderen sind zu faul.
auf. Gab es da ein Volksbegehren? Nein.
JULIA
HATE Wo wir bei Sexismus
Sprüche anhören muss, dass man was erklärt
sind, würde mich interessieren
bekommt. Wie ist das denn bei euch, Sami ?
HATE Wir haben über die linken Unterschiede, Gemeinsamkei-
wie das für euch als junge Frau-
Gibt es da einen Unterschied in der Gruppe, ob
ten und Differenzen gesprochen, aber was sind denn eurer Meinung
en in der Politik ist? Werdet ihr
man ein Mann oder eine Frau ist?
nach Arbeitsfelder für die Zukunft? Kann der Spagat zwischen radika-
dass es diese kleinen bzw. kleinteiligen, schlagfertigen Orga-
Es gibt auf jeden Fall einen Unter-
ler Gesellschaftskritik und gestaltender Lebensweltpolitik gemeistert
nisationen gibt, die auch Anbindung an Parteipolitik haben,
vem, konfrontiert? Julia, zu dir
schied. Vielleicht ist es besser als bei den Ju-
werden? Was ist mit den Protesten gegen Mediaspree hier in Berlin?
deswegen ist es auch wichtig, dass es Menschen wie Julia
schrieb die Bildzeitung, als du
sos, aber es hat sich herausgestellt, dass die
Scheinbar können sich alle auf die Gegnerschaft einigen. Existiert mit
und Franziska gibt, die eine Scharnierfunktion haben. Aber
entscheidenden organisatorischen und struk-
dieser Art der Stadtgestaltung wieder ein kleinster gemeinsamer Nen-
so richtige Perspektiven im Sinne eines gemeinsamen Pro-
ner? Welche Perspektiven gibt es für linke Politik?
jektes gibt es nicht. Und als Linksradikaler hat man erstmal
mit Sexismus, auch mit positi-
SAMI
in den Parteirat gewählt wurdest, folgendes: »Lila Jacke zum knappen Mini, unschuldiger Blick – Julia
turellen Dinge immer von Frauen gemacht werden … Oh …
Seeliger sieht so harmlos aus. Doch mit ihren Ansichten mischt die
JULIA
27-jährige Grünen-Politikerin die Ökopartei kräftig auf!« Werdet ihr
FRANZISKA
Ach, ist das so?
FRANZISKA SAMI
Gleiches gilt für die Bahn-Privatisierung.
Ich bin da ein bisschen ratlos; es ist total wichtig,
JULIA Ich finde das gut, man sollte das aber auf eine hö-
viele Gegner; Gegner kann man mit unterschiedlichen Mitteln
here Ebene bringen, wenn man nicht nur öffentlichen Raum an-
bekämpfen, bearbeiten und adressieren und bei Mediaspree
Ja, diese Basis-Dinge sind häufig von Frauen be-
eignet und verteidigt, sondern eben auch sagt, dass man die
hat es endlich mal geklappt mit allen Menschen dagegen
setzt. Die wichtigen Funktionen, die Hausarbeit einer Politgrup-
Errungenschaften des Sozialstaates verteidigen muss und da-
zu sein. Aber diese Flashmob-Politik hat ihre Grenzen, das
Ich hatte ja einen viel schlimmeren Artikel erwar-
pe, machen meist die Frauen. Da müssen Postfächer geleert
für eine breite öffentliche Sphäre schafft.
leuchtet schnell auf und verschwindet dann wieder. Es gibt
tet, denn die Bild-Zeitung rief mich an und wollte was zu mei-
und Geld eingetrieben werden. Das sind alles Sachen die man
mit so etwas öfters konfrontiert? Wie ist das in der Partei? Macht sich das in Arbeitsweisen bemerkbar? JULIA
42
SAMI
FRANZISKA
Ich finde die Aktionen zu Mediaspree auch
kein Reflektionsmedium, dass man sich mit den Leuten aus-
43
tauscht und mehr erreicht als der re-
Berlin – so, dass sie zur langweiligen Betonwüs-
alpolitische, direkte Erfahrungsraum
te verkommt?
das suggeriert.
JULIA
JULIA Ich bin mal gespannt was
Vielleicht kann da der Theoreti-
ker was zu sagen?
bei der Mediaspree-Sache heraus-
SAMI
Es ist ein wichtiges Politikfeld
kommt. Ich bin da pessimistisch und
in dem sich die Leute direkt und haptisch
hoffe, dass sich der Bezirk nicht tot-
ihrer Handlungsmacht bewusst werden
zahlen muss und die Sache trotzdem
können. Mit dem Verlust des Ideologie-
gut ausgeht.
kampfes Kapitalismus versus etwas an-
HATE Was heißt denn gut ausgehen?
deres, wird die Attraktivität dieses Feldes
JULIA Gut ausgehen heißt, dass
groß, weil man gewisse Fragen ad acta le-
man möglichst viel öffentlichen Raum
gen und sich darum kümmern kann wie
erhält, damit viel Freiraum bleibt, den
der Kiez aussieht. Aber man sollte anders-
man gestalten kann.
rum denken: Globale Fragen lokal formulieren. Bei Stadtpolitik
HATE Aber momentan ist der Raum ja nicht öffentlich. Die Mul-
bist du nach drei Sätzen bei Geld sticht weniger Geld, am Ende
tis, die kommen und »uns« das Spreeufer wegnehmen, sind also auch
ist man beim Protektionismus und der Frage: Wen will man im
nur die halbe Wahrheit.
Kiez haben. Nach dem postfordistischen Modell heißt es jetzt,
FRANZISKA Da hat sich neulich auch jemand beschwert,
dass alles wieder rückgängig gemacht wird; keine Trennung
dass er eben nicht einfach das schöne Spreeufer betreten
von Arbeit und Wohnen mehr; die reichen Leute kommen in
kann, weil die Strandbars alle Eintritt kosten.
die Innenstädte und gehen nicht mehr in den Speckgürtel. Da
JULIA Ja, aber unabhängig davon ist es ein Beispiel für
entscheidet halt der Geldbeutel und damit bist du ganz schnell
erfolgreiche basisdemokratische Organisierung
auch bei einer Kapitalismuskritik, das ist
von Leuten und das ist schon mal eine gute Sa-
also eine große Chance, aber wenn man
che. Ich fände es gut, wenn es so etwas öfter
das auf dem Niveau von Kiezverschöne-
gäbe, auch wenn ich dieses Anliegen nicht teile.
rung und Selbstvergewisserung für ideo-
FRANZISKA Da ist dann halt auch noch mal
logische Kleingärtner betreibt, dann hat
die Frage wofür.
man nur eine Scheinlösung für tief lie-
JULIA Für ihr Anliegen. FRANZISKA
gende gesellschaftliche globale Proble-
Aber es kann ja auch ein ver-
me erzeugt und ich würde sagen, dass
kehrtes Anliegen sein.
die unterschiedliche Art und Weise auf
JULIA Ich fand das Anliegen ja auch verkehrt
die sich Kapitalismus als Gesellschafts-
und polemisch, aber es ist ein positives Beispiel
verhältnis in die verschiedenen Städte
für erfolgreiche Demokratie im Kiez.
einschreibt ein hochinteressantes Feld
HATE
Praktische Lebensraumgestaltung …
JULIA In dem Fall haben sich aber auch nicht alle Akteure im Kiez richtig beteiligt, vielleicht wird das in Zukunft noch mehr.
ist. Die radikale Linke würde sich ins eigene Fleisch schneiden, wenn sie das Potential nicht erkennt. JULIA
Ich glaube die Leute werden schlauer. Irgendwann
Ich finde es ja auch gut, aber eine Initiative
formulieren sie dann ihre Vorstellungen. Mediaspree ist sehr
gegen Moscheebau ist nicht toll. Es ist ja schon immer die
polemisch, vielleicht formulieren sie beim nächsten Mal et-
Frage wofür die Leute sich organisieren. Alleine die Tatsache,
was genauer und erzielen über das Thema hinausgehende
dass sich Volkes Stimme erhebt und organisiert, ist noch
Fortschritte.
FRANZISKA
nicht per se gut.
FRANZISKA
Es ist halt auch die Frage, was wir als politi-
Es sind alles Erfolgser-
sche Handlungsfelder sehen. Überall wo es Wi-
lebnisse: Bei Mediaspree haben
dersprüche gibt, besteht auch die Möglichkeit
die Leute mal was angekreuzt
politisch zu intervenieren. Das ist aber auch
und es hatte direkte Auswirkun-
eine alte Frage, denn schon die Hausbeset-
gen. Das wird jetzt schwieriger,
zer haben städtischen Raum angeeignet. Aber
das Ding zu bauen.
ich sehe das genauso wie Sami; das kann et-
SAMI
HATE Wie kommt es, dass stadt-
was Reaktionäres sein, wenn Kleinbürger ih-
politische Themen auf soviel Anklang
ren Kiez gegen Eindringlinge verteidigen, aber
stoßen? Haben wir es mit einer neu-
es kann auch etwas Progressives sein, wenn
en sozialen Bewegung zu tun? Man ge-
städtischer Raum für alle gefordert wird.
staltet sich die Stadt – in diesem Fall
HATE Vielen Dank für das Gespräch.
44
45
Neue Erzähler und Pointenmörder von Jochen Overbeck
Die amerikanische Kinokomödie hat sich im 21. Jahrhundert neu erfunden. Filmemacher wie J udd A patow Jared Hess oder Todd Phillips und Darsteller wie Will Ferrell oder Jon Heder befreien sie von den Fesseln der Pointe und führen sie in neue Richtungen. Jochen Werner erklärt, wo die postpointierte Komödie steht, wohin sie will und warum das interessant ist.
46
Man konnte es leicht versäumen, wenn man nicht so genau
Léaud für die nouvelle vague war – einen stereotypisch über-
hingesehen hat. Konnte Judd Apatows »The 40 Year Old Virgin« in
zeichneten Geek, der in der Selbstbewusstseins- und Aufreiß-
der Ahnenreihe jener Sexkomödien verorten, die seit den Spät-
schule des diabolisch coolen Billy Bob Thornton zum neuen
neunzigern und »American Pie« ungebrochen die Lichtspielhäu-
Menschen zu werden strebt. Die ersten Augenblicke reihen nun
ser überfluten. Konnte in Will Ferrell einen Epigonen früher Adam-
eine Reihe von kurzen Sequenzen aneinander, in denen der
Sandler-Komödien sehen, und konnte die Filme von Jared Hess
stoffelige Roger in seinem Versagertum charakterisiert und ko-
für von Internetgeeks überhypte Nerdklamotten halten. Vermut-
mödientypisch vorgeführt wird – bis schließlich etwas ganz und
lich könnte man das heute noch, wenn man denn unbedingt woll-
gar Ungewöhnliches geschieht. Nachdem Roger die finale De-
te. Und doch, inzwischen scheint es selbst das konservativste
mütigung hinnehmen musste, indem er beim Big-Brother-Pro-
Feuilleton spitzgekriegt zu haben: In der amerikanischen Kinoko-
gramm für Waisenkinder von seinem Schützling zurückgewie-
mödie ist einiges in Bewegung. So hat denn mittlerweile jede Ta-
sen wird (zum wiederholten Mal!), läuft er konsterniert hinaus
geszeitung, jedes Stadtmagazin und wahrscheinlich auch schon
auf die Straße – und ganz plötzlich verzerrt sich sein Gesicht,
die Bäckerblume einen Leitartikel zu Judd Apatow im Repertoire
stürzen Tränen aus seinen Augen, beginnt sein Körper sich zu
gehabt, mit recht ähnlichen Ergebnissen: Seine Filme sind gera-
krümmen und buchstäblich in sich zusammenzufallen. Und auf
de sehr erfolgreich, und irgendwie total lustig. Der eigentlichen
einmal, ganz abrupt, ist an dieser Situation nichts mehr lus-
Frage aber, warum denn gerade all das, wo die Finger von Wri-
tig, sieht man sich als Zuschauer unversehens damit konfron-
ter/Director/Producer/Tausendsassa Apatow drinstecken, um
tiert, dieser Figur beim Zerstörtwerden zuzusehen. Das macht
so vieles besser funktioniert als ähnlich gelagerte Werke der ci-
freilich nur einen (wenngleich prominent platzierten) Moment
néastischen Konkurrenzmanufakturen, wollte man bislang noch
in Phillips’ Film aus, und doch verleiht es dem Werk als Gan-
nicht so recht auf den Grund gehen – vermutlich sind die meis-
zem eine andere, dunklere Tönung. Das liegt daran, dass hier
ten der armen Lohnschreiber, die einen Text zu Apatow & seiner
schon im Auftakt eine überraschende Dynamik zwischen dem
Crew herunterbrechen mussten, sich ihrer noch nicht einmal be-
Lachen mit und dem Lachen über einen Charakter etabliert
wusst. Die Kinokassen entscheiden, und Apatow ist halt gerade
wird – und vor allem daran, dass hier jene Kategorie reanimiert
hip, oder, gottbewahre: Kult. Nicht selten gerät einem beim Lesen solcher Huldigungen Peter Fondas Anekdote aus jener Zeit
wird, die im Grunde schon immer einen lustigen Film von einer großen Komödie unterschieden hat: die der Fallhöhe. Wil-
in den späten 60ern in den Sinn, als er soeben mit Drogenkum-
ders »The Apartment«, Edwards’ »Breakfast at Tiffany’s«, oder
pel Dennis Hopper und »Easy Rider« das amerikanische Kino ge-
jüngst die Meisterwerke Wes Andersons – eigentlich immer wa-
rettet hatte: Der Punkt, als ihr Film an den Kinokassen einschlug
ren die größten Kinokomödien jene, bei denen man die meis-
wie eine Bombe und völlig unerwartet viel Geld einbrachte, sei
te Zeit über traurig war. (Und andererseits ist es natürlich auch
der Zeitpunkt gewesen, an dem das verständnislose Kopfschüt-
so, dass eine Komödie, die pausenlos zum Lachen reizt, noch
teln allerorten aufgehört habe – um von verständnislosem Ni-
längst nicht automatisch einen guten Film ausmacht.) Fragt
cken ersetzt zu werden.
man sich schließlich, warum eigentlich das so ist, so rührt man
Der Frage, warum die Neue Amerikanische Kinokomödie so
an die Grundfesten der Kunst überhaupt: Eine Pointe, das ist
gut funktioniert, lässt es sich vielleicht am besten über die
schließlich zunächst einmal ein Mechanismus, augerichtet auf
ersten fünf Minuten von Todd Phillips’ »School for Scoundrels«
ein eindeutiges Ziel – den Lachreiz. Schönheit, und somit der
– einer Art Variation auf Peter Segals Meisterwerk »Anger Ma-
Kern eines jeden Kunstwerks, entsteht aber erst in der Abkopp-
nagement« mit Adam Sandler auf der Höhe seiner Kunst – an-
lung eines Elementes von seinem Gebrauchswert. (Hierin liegt
nähern. Darin gibt Jon Heder – der für die Neue Amerikani-
etwa der Grund, dass ein allzu ausgefeiltes Drehbuch ein filmi-
sche Kinokomödie das zu werden verspricht, was Jean-Pierre
sches Meisterwerk meist eher verhindert als bedingt.)
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Das Projekt der Neuen Amerikanischen Kinokomödie könnte
thisch und fast immer sogar klug. Radikaler hingegen präsentie-
man nun beschreiben als eine Befreiung der Komödie von ih-
ren sich einige jener Filme, in denen der offenbar durchaus auf
rer Strukturierung durch die Pointe. So bleibt etwa festzustellen,
einen gewissen Mainstream-Appeal bedachte Apatow sich auf
dass Apatows Filme »The 40 Year Old Virgin« und »Knocked Up«
die Produzentenrolle beschränkte. So etwa mit den von Adam
eigentlich nicht einmal so sehr zum lauten Lachen reizen – eher
McKay inszenierten »Anchorman: The Legend of Ron Burgun-
handelt es sich um Filme, die zum konstanten Grinsen animie-
dy« und »Talladega Nights: The Ballad of Ricky Bobby« die bei-
ren. Die klassische Pointe als Strukturelement dominierte die Komödiengeschichte seit dem Slapstick des frühen Films und hatte nur selten (etwa bei Tati) die Chance, erwachsen zu werden. Vielleicht lässt sich nun die Differenz zwischen der klassischen, pointenstrukturierten, und der neuen, postPOINTIERTEN Komödie ähnlich greifen wie der von Hitchcock erläuterte Unterschied zwischen
An die Stelle der Rekonstitution der Narrativität durch die Öffnung der Struktur in den Filmen Apatows tritt also hier eher eine Überschreitung, ein AuSSerkraftsetzen bei gleichzeitiger, stark betonter Zelebration.
surprise und suspense: Wo die erstere einen aufwendigen, außerhalb dieser Funktion aber wertlosen, Aufbau benötige, um zu einem Effekt – der Überraschung oder dem Schock – hinzuführen, kreiert letztere eine durchgängige
den bisherigen Hauptwerke Will Ferrells: Diese beiden Filme,
Emotion. Beide Methoden rufen folglich starke Wirkungen her-
und überhaupt Ferrell als Komiker, funktionieren durchaus eben-
vor, wobei sich aber die surprise, bzw. Pointe, blitzartig in einem
falls über das Erzählen, aber in einem ganz anderen Sinn. So er-
Höhepunkt entlädt, dem alle anderen Elemente als bloße Werk-
zählen Ferrells Filme mit ihren Geschichten von tiefem Fall und
zeuge in der Kinomaschinerie untergeordnet sind, während der
spektakulärem Comeback grundsätzlich eigentlich immer das-
Suspense-Thriller oder die postpointierte Komödie die zugrun-
selbe, tun dies aber mit einem heiligen Ernst, der weniger ein-
de liegende Emotion eher zu verflüssigen trachten. Die post-
zelne Situationen (das Leslie-Nielsen-Prinzip) als vielmehr die
pointierte Komödie betrachtet sich stärker als ihre klassische
Erzählung in ihrer Gesamtheit ins Absurde kippen lässt, und
Form als ein Ganzes im Sinne eines Kunstwerks, und als sol-
widmen sich detailbesessen den Schnörkeln und Ornamenten,
ches sucht sie sich mit Komik gewissermaßen zu durchtränken,
mit denen sie ihre monströs klischeehaften Charaktere über-
um in einer offeneren Struktur frei zu werden und so jedes The-
reich verzieren. An die Stelle der Rekonstitution der Narrativität
ma behandeln, jede Geschichte erzählen zu können. Nur so ist
durch die Öffnung der Struktur in den Filmen Apatows tritt also
es, am Rande betrachtet, überhaupt noch möglich, die Filme ei-
hier eher eine Überschreitung, ein Außerkraftsetzen bei gleich-
nes Wes Anderson in die Form der Komödie zu integrieren; spre-
zeitiger, stark betonter Zelebration. An die äußersten Grenzen
chen diese doch tatsächlich von nichts anderem als Tod, Ver-
wird diese Überschreitung dann in den Filmen von Jared Hess
lust, Schmerz und Scheitern.
getrieben, die ihren Schöpfer in ihrer Konsequenz letztlich als
Wenn nun in dieser V e r f l ü s s i g u n g des Humors das Band
den wahren Avantgardisten unter den Autorenfilmern der Neuen
besteht, das die Kreativen der Neuen Amerikanischen Kinoko-
Amerikanischen Kinokomödie qualifizieren. Als one-joke movies
mödie zusammenschmiedet, so nutzen sie doch diese ähnliche
wurden »Napoleon Dynamite« und »Nacho Libre« nicht selten dif-
Ausgangsposition dazu, in ganz unterschiedliche Richtungen
famiert – und damit wider Willen nicht einmal schlecht charak-
aufzubrechen. Judd Apatow etwa, und darin mag nun tatsäch-
terisiert. Wo das Slapstickkino sich von jeher im Spannungs-
lich das Geheimnis seines großen Erfolges liegen, benutzt die-
feld von Reiz und Reaktion entfaltet und seine Pointen durch
ses Modell, um wieder im klassischen Sinne erzählen zu kön-
Verkürzung oder Verlängerung der Verbindungen zwischen die-
nen. So nimmt etwa Steve Carell in »The 40 Year Old Virgin«
sen Polen konstruiert hat, da scheint für Hess’ ortlose Protago-
bereits offenkundig jenen vermeintlichen Karriereumschwung
nisten diese Verbindungslinie gekappt, ziellos, ins Unendliche
vorweg, der ihn später im weitgehend misslungenen »Little Miss
überdehnt. Napoleon Dynamite etwa, glamourös unglamouröse
Sunshine« als einzigen Lichtblick strahlen ließ und als sensiblen
Galionsfigur der Neuen Amerikanischen Kinokomödie, scheint
Charakterdarsteller outete; und spätestens die zweite Regiear-
eher einem Beckett-Stück entsprungen als einem Teeniekla-
beit »Knocked Up« ließ es dann überdeutlich werden: Apatow
mauk, und seinem Schöpfer Jared Hess scheint es eher um
ist in erster Linie ein handwerklich blitzsauberer und ein wenig
das langsame Erwürgen denkbarer Pointen zu gehen als um
konservativer Geschichtenerzähler. Jene Rückwendung zum ge-
eine massenkompatible Lachnummer. Natürlich sind seine Fil-
konnten Handwerk, für die im Hollywood des 21. Jahrhunderts
me trotzdem schreiend komisch, aber eben auf einer ande-
Namen wie Peter Jackson oder Sam Raimi im Spektakelkino
ren Ebene. In Anlehnung an den Godard der späten 60er Jah-
oder die späte Entdeckung Clint Eastwoods im dramatischen
re könnte man zusammenfassen: der Neuen Amerikanischen
Fach zeugen, verkörpert Apatow für die Komödie. Selten revo-
Kinokomödie ist nicht mehr daran gelegen, komische Filme zu
lutionär und bestimmt nicht Avantgarde, aber souverän, sympa-
machen – sondern daran, Filme komisch zu machen.
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CUM FROM SPACE Ciao! i’m on a trip with my little spaceshuttle, because i felt incredibly bored on my planet. i found the white record, so i’m searching for a place where i can drop this fat electro bomb. my engine had a breakdown. i crashed into this forest and discovered the turntable. i started spinning the record and burned down this place with my presure. i couldn’t help myself i have to touch myself. when i woke up totally exhausted i gave signs with my smoke stick that they have to pick me up and bring me back to my planet.
fotografen johannes buettner,
Martin trojanowski, model Francesco aka Mr.Ties (myspace.com/mrties) asistenten michael nadjé, Mario
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I WANT YOU NOW, I NEED YOU NOW I CAN’T GO ON, I MUST BE SURE I COME FROM SPACE, I WANT TO KNOW IF I CAN DO, MY LOVE IS TRUE
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Horror. Suspense. Myster y. Action. Sci-Fi. Anime. Fantastisches. Surreales.
Deadline. Das Filmmagazin. Alles außer Fußball. -------------------------------------------------------------------------------
Alle zwei Monate am Kiosk.
Abo und Infos unter: www.deadline-magazin.de
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Neu!
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Sonntags gibt es drauSSen nur Kännchen
Eine Betrachtung von Beweggründen und Ressentiments gegenüber dem amerikanischen Kaffeeimperium.
Jochen Overbeck untersucht den Hass der Deutschen auf Starbucks.
Eigentlich war es eine kleine Meldung der Grafiker-Adres-
ebenfalls zu irritieren. Und dann ist’s natürlich die Globalisie-
großen Global Player findet: Als McDonalds vor gut einem Jahr
se Fontblog: Starbucks, so wurde dort berichtet, würde in zwei
rung: Der Amerikaner macht sich breit und sorgt dafür, dass
seine erste Filiale in Kreuzberg eröffnete, war die Entrüstung
Niederlassungen in den USA quasi umdekorieren: Statt dem
die Fußgängerzonen von München, Düsseldorf und Berlin aus-
bekanntlich groß. Substanzlos war sie freilich auch, denn für
üblichen grün-schwarzem Logo würde man sich dort auf die Ur-
sehen wie die Einkaufsstraßen in Los Angeles, London oder
den ernährungstechnisch völlig gleichgeschalteten Bezirk ist
sprünge beziehen und das Zeichen verwenden, das die Kaf-
Kuala Lumpur. Nebenher weigert sich die Firma, sich gemäß
der Burgerbrater fast eine Bereicherung, und ob die Arbeitszei-
feeröster bei ihrer Gründung Anfang der 70er-Jahre benutzten:
den Vorschriften von Attac und Co. zu verhalten: Hintergrund
ten und -bedingungen sowie die Qualität der Rohwaren bei der
ebenfalls eine Meerjungfrau, aber weniger abstrahiert und kör-
ist vor allem die angebliche Weigerung des Unternehmens, Ge-
Dönerbude ums Eck besser sind, ist dann doch eine Frage.
perlich – nun ja – detailreicher dargestellt: mit Brüsten und ei-
werkschaftsmitglieder einzustellen und der Kauf von konven-
Zurück zum Kaffee beziehungsweise zu der Variante, die ir-
nem Bauchnabel. Was folgte war keinesfalls eine Diskussion
tionellen Kaffeeprodukten. Das dritte Argument ist indes ein
gendwo schnell runtergezogen wird: Das ist übrigens keine
über die Qualitäten des Logos – die Internetcommunity griff lie-
durchaus stimmiges: Starbucks ist teuer, wer einen großen
grundamerikanische Errungenschaft. Was gerne vergessen
ber in den großen Topf der Ressentiments. Auch Ulrich Rosen
Milchkaffee bestellt, darf gute vier Euro berappen. Schon ein
wird, ist, dass in Sachen Coffeeshop, nach wie vor eine urdeut-
notiert in seinem Blog Nachdenkenswertes zum Thema Star-
Batzen Geld für ein Getränk, aber eine Sache, die letztendlich
sche Firma ganz vorne mitspielt. Die meisten Ausschankstel-
bucks: Da kann man dann eine Audiodatei anhören, wo der
der Markt regeln wird.
len dürften unter dem Tchibo-Logo und damit Beiersdorf-Füh-
Blogger irgendetwas sehr Großes mit einem sehr amerikanischen Namen bestellt, um zu zeigen, dass man in einem dieser Läden ja unmöglich einen Kaffee (ganz normal, also nach deutschen Maßstäben) bekommen würde. Das Problem an der Sa-
rung ihrem Geschäft nachgehen. Und bei denen geht so richtig
Einmal ist da das typisch dummdeutsche Herummäkeln an allem Neuen.
che: Es ist Unsinn, und zwar gleich doppelter. Denn erstens ist
der Punk ab. Massive Verletzungen des Datenschutzes, der Gewinn der zweifelhaften »Plagiarus«-Auszeichnung für Ideenklau und Zulieferer, denen massive Verletzungen der Arbeitsund Menschenrechte vorgeworfen werden. Bei der Koffeinauf-
das von ihm gewählte Getränk technisch gar nicht herstellbar,
Bisweilen treibt die Coffeeshop-Skepsis absurde Blüten. Da
tankstation für die Ü-60-Generation geht’s traditionell rund.
und zweitens kann man auch in jeder Starbucks-Filliale – eben-
wird dann einfach mal alles kritisiert, was geht. Die Freundlich-
»Jede Woche eine neue Welt« titelt man und verkauft neben
so, wie bei Coffee Fellows, San Fancisco Coffee Company oder
keit, eh klar. Weil sie nicht vom Herzen kommt. Aber auch das
Kaffeeprodukten Porzellan, Tangastrings, Reitstiefel und Tele-
Balzac – einen ganz normalen Filterkaffee bestellen. Tipp: Ein-
W-Lan, das ab und an ja sogar umsonst ist. Gerne werden dann
fontarife. Kritik? Gibt’s. Unlängst demonstrierte eine Blogge-
fach mal fragen, meistens steht’s aber auch auf der Tafel.
Sätze gesagt wie: »Ich trinke meinen Kaffee lieber in einem
rin im über einen Service der Firma bedruckten T-Shirt vor ei-
Aber darum geht es ja gar nicht. Die in einem breiten Kon-
kleinen, unabhängigen Laden als bei einer Kette«. Als Beispiel
ner Filiale in Hamburg. Alleine, wohlgemerkt. Starbucks muss
sens formulierte Starbuckskritik hat andere Wurzeln. Einmal
werden dann gerne Läden wie die portugiesischen Cafés auf
sich indes in den USA ganz anderer Kritik ausgesetzt sehen:
ist da das typisch dummdeutsche Herummäkeln an allem
der Hamburger Schanze genannt. Das Ausleben der eigenen
Nachdem eine Hoax-Mail in Umlauf kam, in der behauptet wur-
Neuen. Dass man plötzlich selbst überlegen kann, wie sein
Vorlieben ist natürlich eine feine Sache und soll hier nieman-
de, dass Starbucks den Irak-Einsatz amerikanischer Truppen
Getränk schmeckt und auch bei der Größe ein gewisses Mit-
den verboten werden, das Problem ist aber, dass diese Verwei-
ablehne und deshalb einer Bitte nach Kaffeespenden nicht
spracherecht hat, mag für ein Land, in dem Kaffee noch vor 20
gerung der Großkette gegenüber oft genug auf einen morali-
nachkommen wollte, bezog das Unternehmen Stellung – und
Jahren nur als magenkratzende Filterplörre und Sonntags nur
schen Thron gehoben wird, der doch arg unsicher steht. Denn
teilte lapidar mit, dass die amerikanische Armee in der Tat kei-
im Kännchen gereicht wurde, ein schwer fassbares Glückser-
auch der Feinbäcker am Schulterblatt agiert nach den Geset-
ne Care-Pakete bekommen würde – weil es sich dabei um kei-
lebnis sein. Dass die Menschen, die einen bedienen, zumin-
zen des Kapitalismus. Auch hier steht im Laden ein Angestell-
ne karitative Organisation handle und weil es steuerrechtlich
dest an der Oberfläche freundlich sind – mehr kann man ja bei
ter, der vermutlich relativ mies bezahlt wird, während irgend-
nicht möglich sei. Die vermeintliche Speerspitze des Bösen
einem Verkaufsgespräch kaum erwarten – und dass man die
jemand den großen Reibach macht. Ein systemimmanentes
Globalisierungshalligallis als vaterlandslose Gesellschaft?
Ware anschließend nicht nur innerhalb des Lokals, sondern an
Problem, das von der Wohlfühllinken gerne wegignoriert wird
Vermutlich ganz gut, dass die deutsche Gefühlslinke das nicht
jedem Ort verzehren kann, an dem man das möchte, scheint
und seinen Höhepunkt bei der Diskussion um einen anderen
weiß – sie würde vermutlich implodieren oder so.
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Nest Text von A ntonia B aum
Gucken Sie, was gelebt und so genannt wird, ist ein Platz
Neun Stunden pro Tag (eher werden es zwölf) bewacht sie mit
mit braunhölzernen Ansammlungen drauf, gestapelt, gefä-
vorgehaltenem Speer ihren gläsernen Schreibtisch und vor al-
chert, gespickt, ineinander gesteckt, verkeilt, vermischt und
lem sich. Sie begrenzt sich und bekämpft anderer Leute Ansin-
vermengt. Aus Gründen tragen die versammelten Menschen
nen. Sinnvollerweise, denn nur zwei Tage, da war ihr Federkleid
Speere mit sich durch die Enge und es ragen blutverklebte
schon bekotzt und bekotet1. Ohne ihren Speer, den sie inzwi-
Spitzen in die Luft. Die Tragweite kennt im Einzelnen keiner,
schen professionell durch die Luft zu peitschen weiß, selbst
aber mein Gott (ja, der liebe Gott, dem hätte vielleicht wer Be
wenn überhaupt gar kein anderer in Reichweite ist, wäre sie
scheid sagen sollen, wenn der überhaupt mal irgendwann da
wahrscheinlich schon längst Suppenhuhn im Topf der Allge-
gewesen wäre).
meinheit. Nun ist sie ja aber gerade eben erst dem, mit der
Aber am Ende will’s ja nie einer gewesen sein, man selbst
verdorbenen Familienjauche drin entkommen. Was gelebt und
am allerwenigsten und dann kriegt man Seitenhiebe und blu-
so genannt wird »lässt sie sich jedenfalls von nichts und nie-
tet von Kriegen mit der Mama, dem Papa und dem Geschwis-
mandem mehr verderben«, ist, was sie sich vor dem Spiegel
terchen auch (ein Geschwisterchen, ei, wie schön, viel schö-
stehend, mit der Drei-Minuten-Intensiv-Kur im Gesicht, laut auf-
ner!, knackt es aus dem morschen Familiengestänge und das
sagt, bevor sie sich zwischen kalten Bettschichten einnistet,
nächste Ei liegt mit zerplatzter Schale am Boden).
um sich Kraft anzuschlafen, für den nächsten Tag, an dem wie-
Da ist die Wirtschaftswissenschaft aber inzwischen schon so
der der Speer von ihr vor ihr her gejagt werden muss.
weit, da kriegt man dann einmal die Woche einen ausgebildeten
Muss denn das Alles sein, fragt sie sich nun doch hin und
Seelenverwalter zur Seite gestellt zum Krieg gegen die einen Be-
wieder immer öfter dann am Wochenende. Das ist doch kein Le-
kriegenden und der bricht dann eine Lanze. Auch für Dich, we
ben, ich soll doch aber leben und Spaß dabei haben. Wege zum
want you, dafür brauchst Du aber ein properen Seelenhaushalt,
Glück, glatter Haut, Besteck aus Edelstahl, dem Traummann und
sonst können wir dich hier nicht brauchen. Schon fährt der Pati-
das Alles. Einen Arbeitsplatz habe ich doch jetzt auch. Auf dem
entin der nächste Zeigefinger ins Herzfleich. Es tropft, der Notarzt
Platz aus braunhölzernen Ansammlungen findet sie nur so recht
kommt und transportiert die Patientin endlich aus dem Nest ab.
ihren Platz nicht, aber sie schlägt sich tapfer. Den Speer in der
»Mein Gott, was hamse denn wieder gemacht?«
Hand faucht, sticht und zischt sie zähneklappernd mit den rest-
Ja eben nichts.
lichen Angestammten mit, macht Leichen und wird selber eine.
»So befreien sie sich doch endlich. Ade zur Familierei,
Da ist es nicht mehr schwer ihr den Speer aus der Hand zu schla-
raus aus dem Fetttopf, Sie mit den kleinen verklebten Flü-
gen et voilà: finde raus, ob er wirklich dein Traummann ist! Die-
gelchen«. Die werden jetzt noch mal eben abgerieben, desin-
ser unbewegte Lehmklumpen mit den starken Schultern, immer
fiziert, trockengeföhnt und! auch bestreichelt. Wichtig, betont
da, mit gutem Einkommen, mit dem wird sie schon auskommen.
der Seelenstudierte.
Ganz gewiss, weiß sie und gemeinsam macht man sich an den
Und es tuckert Kochsalzlösung, Valium und was sie da
Nestbau. Bedauerlicherweise, lässt sie (denn er lässt sie ein-
sonst noch so reinspritzen durch das von Haut umspannte
fach nicht) beim Ineinanderstecken, Hämmern und Vermischen
Fleischgerüst. Tatütata, der Arzt, der Seelenspezialist ist wie-
beträchtlich viele Federn und lässt ihn darüber völlig vertrock-
der da. Er guckt noch mal besorgt nach unten, auf die Patien-
nen. In seine aufgeplatzte Oberfläche hackt sie ihr SEIN rein,
tin. »Da, sehen Sie«, sagt er zu dem Auszubildendenden ne-
dafür erhält sie im Gegenzug die Flügel mit seinen Lehmvorstel-
ben dran, »da kommt wieder Farbe ins Gesicht. Die kommt
lungen bestrichen und drum herum haben sie gebaut: Das Nest
wieder auf die Füße, in zwei bis drei Wochen«, aber im Leben
(Tusch, Einweihungsfeier mit Grillen & Nudelsalat). Das Ehepaar
halt nicht mehr, »also, raus an die Luft mit Ihnen«. Die Patien-
hat einen engmaschigen Korb gewählt, Reisig in die Zwischen-
tin fliegt durch die Luft an die Luft, probiert ihre neu gereinig-
räume gestopft, Holzpflöcke an entsprechenden Stellen verkeilt
ten Flügel aus und jauchzt: »Oooo, was ist das groß hier.«
(zur Sicherheit für die Statik) und ein rostfreies Alarmschloss in-
Sie segelt über die braunen Ansammlungen aus Menschen,
stalliert. Geschafft! Nachwuchs wird schnell geschaffen, denn
umschifft geschult ihr dickflüssiges Sekret (aufpassen auf die
dann kann ja nichts mehr schief gehen, wird sich gedacht. So
Flügel!) und gleitet geübt an den senkrecht in die Luft ragenden
lässt es sich überleben, auf dem Platz mit den braunhölzernen
und durch sie hindurch fliegenden Speeren vorbei, auf schnells-
Ansammlungen. Mit der Mama, dem Papa und dem Geschwis-
tem Weg zu ihrem Arbeitsplatz, einem Sekretariat. Geschafft.
terchen auch. Ein Geschwisterchen! Ei, wie schön! 1
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Ab hier ist es dann aber wirklich Kunst, okay?
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Text von M ORITZ JASPE R KUHN & G E O R G I G AVA Z OV
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MIND THE CRAP ON TOUR ANDRE CROM /ANDRE GARDEJA /ASEM SHAMA AUTOTUNE / BENNO BLOME /BRIAN CARES /BURGER DANIEL DREIER / DIMA / DIRTY DOERING / FABIANO JENS BOND / FRAENZEN TEXAS / GUNNAR STILLER EMPRO / RUEDE HAGELSTEIN / MARCUS MEINHARDT MOLLONO.BASS / PHILIP BADER / KOMBINAT 100 WWW.MTCBOOKING.COM
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brian cares - fingerprints CD Bar25 - 08 / 2008 featuring howard katz / raz ohara / justine electra / jake the rapper album out oct 6th on bar25 via wordandsound brian cares - fingerprints 12 inch Bar25 - 07 / 2008 including mymy rmx and exclusive re-edits of album tracks 12 inch out sept 15th on bar25 via wordandsound all music also available as digital download myspace.com/briancares
bar25.de
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