KOM 3/2022 #AgendaSetting

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Quadriga Media Berlin GmbH № 7 — Ausgabe 3/22 www.kom.de

Medienmacht „dpa“

Wie Chefredakteur Sven Gösmann die Bedeutung der Agentur einschätzt.

Aufmerksamkeit

Warum es bei PR-Stunts nicht mehr reicht, eine gute Story zu erzählen.

Arbeit und Urlaub

Homeoffice mit Meerblick oder Bergkulisse: Was gilt es bei Workation zu beachten?

#AgendaSetting


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EDITORIAL

Aufgeblasene Themen

Coverbild: Lucia Ricciardi / Unsplash

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ie re:publica widmete sich in einer Session dem Thema Haltung im Journalismus. Auf der Bühne saß unter anderem Marieke Reimann, zweite Chefredakteurin beim SWR und vorher beim „Zeit“-Jugendableger „ze.tt“. Sie zeigte sich froh darüber, dass am Anfang der Coronazeit die Nachfrage nach Journalismus stark gestiegen war. Die Zahl der Klicks und verkauften Digitalabos stieg rasant. Ann-Katrin Müller vom „Spiegel“ sprach davon, dass aufgrund der hohen Nachfrage nach Nachrichten ein Sog entstanden sei, auch über die kleinste Kleinigkeit noch zu berichten. Es sei zu wenig gefiltert worden. Jeder mit einer „spitzen These“ sei zitiert worden. Was Müller eigentlich sagt: Zugunsten von Klicks und Reichweite bläst ein Leitmedium wie der „Spiegel“ ein fraglos wichtiges Thema künstlich auf. Die Qualität leidet. Zu Beginn des Kriegs in der Ukraine lief es ähnlich. Selbst unwahrscheinlichste Spekulationen und aus den sozialen Netzwerken zusammengesuchte Geschichten wurden veröffentlicht. Das zieht sich durch fast alle Leitmedien. Diese haben einen enormen Einfluss auf das politische Agenda Setting und darauf, was Menschen denken. Bestimmt zahlengetriebenes Clickbaiting die Themenauswahl, verschiebt sich die Agenda. Ein wichtiges, aber etwas dröges Thema bekommt weniger Raum, als es bekommen sollte. Andersherum passiert dasselbe. Wozu die Nachrichten-Überdosierung führt, zeigt der kürzlich veröffentlichte „Digital News Report“ vom Reuters Institute. Immer mehr Menschen konsumieren bewusst keine Nachrichten. Es gehe zu häufig um dieselben politischen TheWWW.KOM.DE

men, sagen 43 Prozent. 36 Prozent verzichten auf News, da sie ihnen schlechte Laune bereiten. 29 Prozent vertrauen Nachrichten nicht mehr. Nur: Menschen, die keine Nachrichten mehr konsumieren, lassen sich auch für politisch wichtige Inhalte nicht mehr erreichen. Das Clickbaiting von Leitmedien hat einen negativen Effekt auf die politische Meinungsbildung. In dieser Ausgabe erklärt „dpa“-Chefredakteur Sven Gösmann im Interview, die Berichterstattung der Nachrichtenagentur berücksichtige kaum PR. Für die Aktivitäten von Unternehmen trifft das sicher zu. Als bekannte Persönlichkeit aus Politik, Wirtschaft, Sport oder Gesellschaft mit Statements bei „dpa“ vorzukommen, erscheint mir einfacher als je zuvor. Man muss nur bereit sein, pointierte Meinungen zu vertreten. Das gilt für Karl Lauterbach wie für Uli Hoeneß. Statements, Pressemitteilungen, Tweets oder in Interviews getätigte Aussagen sind PR. Sie vermitteln häufig einen Spin. Die Bekanntheit einer Person dominiert über inhaltliche Relevanz. „Wilson Gonzales Ochsenknecht hat sich den Zeh gebrochen.“ Darüber sprach der Schauspieler am Rande einer Veranstaltung. Die Meldung lief über den „dpa“-Ticker. Wenn das keine PR ist, was dann? Viel Spaß beim Lesen dieser Ausgabe!

Volker Thoms, Chefredakteur 3


IN DIESER AUSGABE

MEINUNG

6 Kommentar Das Ende der symbolhaften Kommunikation. SZENE

8 Zugang/Abgang Elisa Randelzhofer unterstützt Frank Thelen. Carline Mohr wechselt in den Journalismus zurück. 14 Kommunikationskongress Die Speakers Night ist zurück. „Präsenz“ lautet das Motto. MENSCHEN

16 Drehanfragen und Hassmails André Puchta von den Sana Kliniken beschreibt einen Arbeitstag. IM WORTLAUT

18 Maximale Reichweite „dpa“-Chefredakteur Sven Gösmann über die Bedeutung der Nachrichtenagentur für die Politik und wie seine Redaktion relevante Themen identifiziert. TITEL: AGENDA SETTING

24 Agenda Setting Vier Versuche, eine Debatte zu starten.

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7 Sprecherspitze 10 Meldungen 12 PR-Foto 78 Kolumne 80 Wechselbörse 81 Impressum 90 Feedback

26 Mehr als laut und ­ungewöhnlich Bei PR-Stunts geht es längst nicht mehr nur um Aufmerk­ samkeit. Kampagnen müssen einen Impact haben.

50 Reichweite vor Prestige Die Nachrichten der Portale Web.de und Gmx werden kaum zitiert, aber viel gelesen. Für politische Akteure werden sie zunehmend interessant.

KARRIERE

30 Aufspringen oder nicht? Drei Kommunikations­ verantwortliche erklären, wie sie auf aktuelle Nachrichten reagieren.

54 KOM fragt Fragen zu Agenda Setting und Agenda Surfing. Drei Expert*innen antworten.

72 Humor im Job Ein bisschen lustig soll es bei der Arbeit schon zugehen. Auch remote.

AGENTUREN

BÜCHER

56 Kurz vorgestellt: Juliane Claus Wie ist es, politische Institutionen und Behörden zu beraten? PRAXIS

76 Depressiver Realismus Die Politologin Juliane Marie Schreiber hat eine scharfzüngige Wutrede gegen die Kultur der Positivität geschrieben.

58 BND auf Instagram Seit etwa einem Jahr ist der Bundesnachrichtendienst auf Instagram. Wie läuft es?

78 Kolumne René Seidenglanz über Agenda Setting als strategische Herausforderung für PR.

32 Veränderte Themenlage Interview mit Bayer-­ Kommunikationschef Michael Preuss. Wie reagiert der Konzern auf die angespannte Nahrungsmittelsituation? 36 Mit Zahlen punkten Organisationen setzen in ihrer Kommunikation auf Studien. Wie müssen diese aufgebaut sein, damit sie gut laufen? 40 Präsenz-Wettbewerb Wohl kein Wirtschaftszweig setzt in seiner Kommunikation so sehr auf Daten wie die Krankenkassen. Warum? 46 CEOs im Interview Wer ein Unternehmen leitet, repräsentiert es nach außen. Wie lassen sich CEO-Interviews einsetzen?

70 Professionell vor dem ­Bildschirm Wie sich der Eindruck in Videocalls verbessern lässt.

60 Bus und Bahn Bahn-Chef Richard Lutz und Flixbus-Gründer André Schwämmlein im CEO-Duell. 64 Hingehen oder wegbleiben? Für wen lohnt sich ein Besuch bei OMR und re:publica? 66 Arbeiten am Urlaubsort Die neue Homeoffice-Freiheit ermöglicht Arbeiten an paradiesischen Orten. Es gibt allerdings einiges zu beachten.

82 Verband Sommerakademie, Ausblick Kommunikationskongress, Kolumne „Fair formuliert“ und ­Hautnah-Interview. KOM № 7

Fotos: Serviceplan; Alexander Rentsch; picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild; Julian Huke; Jan Michalko

3 Editorial


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Unternehmen und NGOs nutzen PR-Stunts, um „Buzz“ zu erzeugen. Es geht längst um mehr als Storytelling: Am Ende eines Projekts sollte eine Aktion stehen, die etwas bewegt.

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Die „dpa“ hat eine enorme Reichweite. Chefredakteur Sven Gösmann erklärt, wann ein Thema für die Nachrichtenagentur interessant ist, welche Bedeutung die „dpa“ für die Politik hat und wie seine Redaktion mit Fehlern umgeht.

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Mit Studien schärfen Unternehmen, Verbände und Stiftungen ihr Profil – auch auf der politischen Bühne. Was macht eine Studie erfolgreich?

WWW.KOM.DE

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Vor der Corona­ pandemie fanden OMR und re:publica parallel statt. Das war in diesem Jahr anders. Man konnte zu beiden Veranstaltungen. Für wen lohnen sich die Events? 5


IM WORTLAUT

Mit Nachrichten die Agenda bestimmen Als größte Nachrichtenagentur Deutschlands hat die „dpa“ eine enorme Reichweite. Chefredakteur Sven Gösmann erklärt, wann ein Thema für die Agentur interessant ist, welche Bedeutung die „dpa“ für die Politik hat und wie er und seine Redaktion mit Fehlern umgehen.

Herr Gösmann, es gibt Kommunikator*innen, die Fernsehanstalten, private wie öffentlich-rechtliche, nahezu sagen etwas überspitzt: Wenn sie es mit ihrem alle Rundfunkanstalten und die Zeitungsverlage und DigitalThema in eine „dpa“-Meldung schaffen, können publisher. sie sich die restliche Pressearbeit sparen. Für wie Auf welchen Wegen erreichen Sie Inhalte aus PR groß halten Sie den Einfluss der Agentur auf die und Unternehmenskommunikation? öffentliche Meinung? Gösmann: Auf vielfältigste Art und Weise. Wenn man eine solche Reichweite bieten kann, haben natürlich viele Menschen Gösmann: Es stimmt natürlich, dass die „dpa“ eine sehr große Reichweite hat, weil sie – anders als ihr manchmal unterInteresse daran, dass sie mit ihren Produkten, Leistungen und stellt wird – nicht nur für Printmedien von großer Bedeutung Versprechungen gehört werden. Aber es ist sicherlich so, dass ist, sondern auch für alle elektronischen und digitalen. Dazu nahezu alles, was PR ist, bei uns keine Berücksichtigung findet. kommt dieser Stempel: Das ist glaubDas ist nicht der Kern unseres Versprewürdig, dem kannst du vertrauen. Das chens für unsere Kunden. Unser Verist immer wichtiger geworden in den sprechen steckt im Begriff der Gattung Sven Gösmann letzten Jahren. ­Nachrichten. ist seit 2014 Chefredakteur der Deutschen Wann hat ein Thema für Sie Äußerungen von Politiker*innen Presse-Agentur („dpa“). Nach einem Voloneinen Nachrichtenwert? sind für Sie aber relevant. tariat bei der „Braunschweiger Zeitung“ und dem Studium der Politikwissenschaft an der Welche Kriterien muss eine Gösmann: Eine Nachricht muss mögFU Berlin arbeitete er unter anderem für Politikeraussage erfüllen, damit lichst viele Menschen betreffen und für „Berliner Morgenpost“ und „Welt“, als Landessie zu einer „dpa“-Meldung wird? uns recherchierbar sein. Das heißt, es korrespondent für „Braunschweiger Zeitung“ und „Weser-Kurier“ und als Politikchef für die muss die Möglichkeit geben, sie zu veriGösmann: Das wichtigste Kriterium ist, „Welt am Sonntag“. 2001 wurde er stellvertrefizieren. Der alte Agenturgrundsatz „Be dass sie eine gewisse Bedeutung hat auftender Chefredakteur der „Bild“-Zeitung mit first, but first be right“ ist unser ehernes grund des Amtes oder der Bekanntheit Zuständigkeit für Politik und Wirtschaft. 2005 ging er als Chefredakteur zur „Rheinischen Gesetz. Wir definieren Relevanz auch der Person. Gerhard Schröder hat kein Post“. Bei der „dpa“ hat er drei Stellvertrenach dem, was unsere Kunden von uns Amt mehr, ist aber eine bekannte Perterinnen: Antje Homburger (Chefin Aktuelwollen – darunter die 174 Gesellschafson. Wenn er sich ungerecht behandelt les), Silke Brüggemeier (Chefin Visuelles) und ter der Deutschen Presse-Agentur: alle Jutta Steinhoff (Chefin Netz). fühlt und sich dazu bei Linkedin äußert, 18

KOM № 7

Foto: Alexander Rentsch

Interview KATHI PREPPNER


IM WORTLAUT

Gösmann im Berliner Newsroom der „dpa“: Im kommenden Jahr zieht die Zentralredaktion um. Etwa 1.000 Journalist*innen arbeiten für die Agentur weltweit. Gesellschafter sind 174 deutsche Medienunternehmen. WWW.KOM.DE

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TITEL: AGENDA SETTING

Mehr als laut und ­ungewöhnlich Unternehmen und NGOs nutzen PR-Stunts, um maximale Berichterstattung und Social Media Buzz zu generieren. International ausgezeichnete Cases liefern längst mehr als Storytelling: Am Ende eines Projekts sollte eine Aktion stehen, die wirklich etwas bewirkt. Von VOLKER THOMS

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rien dominieren. In den Case-Filmen ist dann zu sehen, wie die Kampagnen es insbesondere auf dem US-Markt bis in die Sendungen der führenden TV-Networks schaffen. NBC, CNN oder Bloomberg nutzen Marketing, Werbung und die öffentliche Darstellung von Unternehmen gerne als Aufhänger, um ein Thema zu diskutieren. Diversität und Inklusion waren in Cannes in diesem Jahr die Themen, die die Einreichungen am häufigsten adressierten. Nicht ohne Grund nehmen Debatten um Diversität auf der politischen Agenda in den USA und darüber hinaus viel Raum ein. In Cannes nominierte Projekte sind oft mit einem Millionenbudget unterlegt. Für die meisten Organisationen und ihre Kommunikationsabteilungen im deutschsprachigen Raum sind solche Ausgaben für ein einziges Projekt unrealistisch. Durch die an der Côte d’Azur gezeigten PR-Stunts zieht sich eine ähnliche Systematik, wie über Medienberichterstattung und Social Media eine enorme Reichweite erzielt wird. Ganz neu ist der Kampagnenansatz nicht: Storydoing statt Storytelling lautet die Kurzformel. Bedeutet: Am Ende

steht eine Aktion, die eine bleibende Wirkung, eine Verbesserung und eine Veränderung herbeiführt. Es entsteht etwas Greifbares. Mal ist es wie beim Case „Hope Reef“, dem Gewinner in der Kategorie „Media“, ein Riff, das über mehrere Jahre rekultiviert wurde und dessen gesunde Korallen den Schriftzug „Hope“ zeigen. Oder es wurden Out-of-Home-Anzeigeflächen in Hamburg gebaut, die gleichzeitig Obdachlosen eine Unterkunft bieten. Auch der deutsche Case vom Flutwein leistet mehr als Storytelling. Die limitierten, mit Schlamm verklebten Weinflaschen von Weinbetrieben aus dem Ahrtal werden gegen eine Spende abgegeben. Der Erlös soll in den Wiederaufbau der vom Hochwasser zerstörten Region fließen. Es seien mehr als 4,5 Millionen Euro zusammengekommen, schreiben die Kampagnenorganisatoren.

Kein Selbstzweck Sabine Hückmann, CEO bei der Agentur Ketchum Deutschland, sieht PR-Stunts als Teil eines guten Kommunikationsmix. „Aber sie sind niemals KOM № 7

Foto: Sericeplan; Cannes Lions

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as Generieren von Aufmerksamkeit ist das Ziel zahlreicher Kommunikationsaktivitäten. Wer freut sich nicht darüber, wenn sich die Ergebnisse der eigenen Arbeit in groß aufgemachten Artikeln, TV-Beiträgen zur besten Sendezeit oder in Likes und Shares in den Social Media widerspiegeln? Wenn Unternehmen und andere Organisationen Reichweite wollen, denken sie und ihre Agenturen oft in PR-Stunts. Eine Maßnahme muss her, die „knallt“. Eine, bei der „Bild“ aufspringt. „Tagesthemen“, „Heute Journal“ und internationale Leitmedien wären die „Cherry on the Cake“. In den Social Media und auf Youtube sollen Influencer die Reichweite multiplizieren. Es soll „Buzz“ erzeugt werden. Am Ende braucht es einen „Impact“. So das Wording. Die weltweit herausragendsten PRStunts werden bei den Cannes Lions präsentiert. Überwiegend sind es die international führenden Werbeagenturen und PR-Netzwerke, die mit ihren Kampagnen für Weltkonzerne wie Samsung, Burger King, Apple, Procter & Gamble oder Anheuser-Busch die PR-Katego-


TITEL: AGENDA SETTING

Penny machte mit seinem Weihnachtsspot „Der Wunsch“ auf die Situation der Jugend während der Coronapandemie aufmerksam.

Abräumer in Cannes: das Team von Serviceplan mit seinem Film für Penny. WWW.KOM.DE

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TITEL: AGENDA SETTING

KOM fragt In dieser Ausgabe haben wir Regine Kreitz, Iris Brand und Jonas Numrich jeweils eine Frage zum Agenda Setting gestellt. Ihre Antworten.

Der Begriff Agenda Setting hatte für mich schon immer etwas Großmäuliges. Einfach mal so ein Thema setzen, über das dann alle reden sollen? Natürlich kann das gelingen, wenn es sich beispielsweise um ein außergewöhnliches Ereignis handelt. Tesla konnte bei der Standorteröffnung sogar Medien aussperren. Alle Augen waren dennoch auf Grünheide gerichtet. Ob das klug war, steht auf einem anderen Blatt. Aber wer wirklich neue Debatten eröffnen oder grundlegend beeinflussen will, muss einen langen Atem haben und sich zu verbünden wissen. Wie sehr würden wir davon profitieren, hätten es einzelne Organisationen vor 25 Jahren geschafft, den Klimaschutz auf der weltweiten Agenda dort zu platzieren, wo er heute steht! Nur mühsam kletterte das Thema auf der medialen Tagesordnung nach oben, obwohl nicht nur alle notwendigen Fakten auf dem Tisch lagen, sondern auch viele einflussreiche Stimmen sich dafür starkmachten. Warum? Auch weil es weitaus mächtigere Player gab, die das Thema eben nicht auf der Agenda sehen wollten. Gibt es eigentlich auch hierfür einen Fachbegriff? Agenda Clearing? Ist Agenda Surfing dann eher etwas für Opportunist*innen, die ihr Fähnchen nach dem Wind hängen, um was von der Aufmerksamkeit abzubekommen? Ja, wenn es falsch verstanden und schlecht gemacht ist. Der Pride Month liefert hier oft zahlreiche Beispiele. Dann fliegt es aber auch schnell auf. Gutes Agenda Surfing heißt hingegen, die gesellschaftliche Debatte genau zu beobachten und den eigenen Akzent darin mit einem Gefühl für das Timing zu setzen. Und zwar nicht nur einmal, sondern permanent. Organisationen, denen es damit ernst ist, wissen auch, wann es Zeit ist, die Klappe zu halten. Und das war nie so wertvoll wie heute. Wenn eine Pandemie oder ein Krieg „dazwischenkom54

men“, muss man die ursprüngliche eigene Agenda loslassen können – und zwar schnell. Die Deutsche Bahn etwa hat nach dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs sofort ihre Kommunikationsprioritäten verschoben. Die Hilfe für Geflüchtete und der Transport von Hilfsgütern standen im Vordergrund und wurden mit angemessener Nüchternheit und Empathie kommunikativ begleitet. Andere – wie beispielsweise Edeka – enttäuschten wiederum mit hohlen Lippenbekenntnissen. Wenn unsere krisenreichen Zeiten etwas Gutes haben, dann ist es, dass die Zuhörer oft besser aufgestellt sind als die Großmäuler. • Regine Kreitz leitet die Kommunikation bei der Stiftung Warentest. Sie ist Präsidentin des BdKom.

Zu welchen gesellschaftlichen und politischen Fragen sollte man sich als Unternehmen positionieren? Zu welchen besser nicht? Jedes größere Unternehmen stellt sich aktuell wahrscheinlich die Frage, welche Rolle Wirtschaftsvertreter*innen mit Blick auf gesellschaftspolitische Herausforderungen wie Globalisierung, Digitalisierung, Migrationsbewegungen oder das Erstarken populistischer Kräfte übernehmen sollten. Als Teil des Komplexes zwischen Gesellschaft, Politik und Wirtschaft sind Unternehmen gefragt, außerhalb der eigenen Wertschöpfungskette Verantwortung zu übernehmen. Wir haben in den vergangenen Jahren beobachtet, dass sich der Ton im öffentlichen Diskurs verschärft hat. Unsere demokratische Werteordnung ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Als Bürger*innen möchten wir jedoch in einer offenen und demokratisch agierenden Gesellschaft leben. Als Unternehmen sind wir auf einen stabilen Wirtschaftsraum angewiesen. Bei Philip Morris begreifen wir unsere erweiterte Verantwortung daher als Chance, unsere Gesellschaft mitzugestalten und die Demokratie zu stärken, indem wir Themen wie InkluKOM № 7

Foto: Die Hoffotografen GmbH Berlin

Agenda Surfing statt Agenda Setting? Inwieweit können einzelne U ­ nternehmen Debatten lostreten und die mediale ­Agenda bestimmen?


sion und Integration vorantreiben und die Diskussionskultur stützen. Konkret fördern wir seit Jahren Gleichberechtigung, Vielfalt und Toleranz durch unseren soziokulturellen Förderpreis „The Power of the Arts“, haben mit unserer Studienreihe „Wie wir wirklich leben“ eine Diskussionsplattform für gesellschaftlichen Diskurs eröffnet und den Demokratieaward „Power for Democracy“ ins Leben gerufen. Dies sind nur einige Bausteine unseres gesamtgesellschaftlichen Engagements, mit welchem wir unserer Verantwortung als Unternehmen Taten folgen lassen. Insgesamt positionieren wir uns übergeordnet und gesamtgesellschaftlich. Wir gehen nicht explizit auf parteipolitische Debatten oder einzelne Personalien ein. Unternehmen sollten ein eindeutiges Verständnis über ihre eigene Rolle in der Gesellschaft haben – und kommunikativ-gesellschaftlich entsprechend agieren. Es geht nicht darum, als Dauerkommentator aufzutreten, sondern sich wohl dosiert und mit Haltung in Debatten einzubringen. Das erfordert den Mut, auch mal Gegenwind auszuhalten. Ich erlebe das regelmäßig. Doch ich bin

davon überzeugt, dass es sich immer lohnt, Haltung zu zeigen. Unabhängig davon, ob als Bürger*in oder als Unternehmen. • Iris Brand ist Head of Corporate Responsibility & Contributions bei Philip Morris.

Fotos: privat; Kai Bublitz

Aufspringen oder nicht? Anhand welcher Kriterien beurteilen Sie, zu welchen Themen Sie sich als Unternehmen äußern? Wir bei Coca-Cola folgen zunächst einmal sehr konsequent unserer eigenen strategischen Themenplanung, die wir für das laufende Jahr festlegen. Diese ist abgestimmt auf die uns wichtigen Themen rund um Nachhaltigkeit und Verantwortung – WWW.KOM.DE

wie zum Beispiel nachhaltige Verpackungen, zuckerfreie Produkte, Vielfalt und Gleichberechtigung. Das heißt, gezielt über diese Themen zu sprechen und Berichterstattung oder eine Diskussion auf unseren Social-Media-Kanälen anzustoßen. Aufhänger für unser Agenda Setting sind Thementage wie der Tag der Verpackung, der Welt-Recycling-Tag oder Ereignisse, die über längere Zeiträume gehen, wie der Pride Month. Wir wollen hier unsere Geschichten kommunizieren, uns aber auch kritisch mit Themen auseinandersetzen. Beim Aufspringen auf aktuelle Themenwellen mit unseren Corporate-Themen gehen wir mit Bedacht vor. Effekthascherei vermeiden wir. Bei Fragen rund um Klimawandel, Verpackungsmüll oder Ernährung sollten Unternehmen nicht leichtfertig auf der Agenda surfen, sondern einen klaren, langfristigen Standpunkt in der Diskussion einnehmen. Aber nicht alle relevanten Themen lassen sich schon zu Beginn des Jahres festziehen. Dazu muss es auch nicht immer einen direkten Bezug zu unseren Coca-Cola-Produkten geben. Ein Beispiel ist unser kurzfristiges Aufspringen auf die Impfkampagne #ZusammenGegenCorona, um hier mit vielen anderen Akteuren ein starkes Zeichen zu setzen. Bei der Kommunikation unserer Marken nutzen wir Agenda Surfing häufiger. Das erwartet die Community von einem Unternehmen wie Coca-Cola. Wenn wir uns hier entscheiden, mit der tagesaktuellen Welle zu surfen, müssen wir schnell agieren. Dafür haben wir immer grobe Geschichtsentwürfe und auch Video- oder Fotoinhalte bereits in der Schublade, die wir dann auf das jeweilige aktuelle Thema anpassen. Dieses Aufspringen nutzen wir vor allem in unseren SocialMedia-Kanälen, in denen wir dem Thema unseren Spin geben können. Grundlage dafür sind ein kontinuierliches Monitoring sowie eine gute Abwägung, ob das kurzfristige Agenda Surfing zu diesen Ereignissen, Events oder Hashtags auch wirklich Sinn macht. • Jonas Numrich verantwortet als Director Public Affairs, ­Communications & Sustainability die Kommunikation für Coca-Cola in Deutschland. 55


PRAXIS

Hingehen oder wegbleiben? Vor der Coronapandemie fanden die Konferenzen OMR und re:publica parallel statt. Das war in diesem Jahr anders. KOM-Chefredakteur Volker Thoms war auf beiden Veranstaltungen, auf der OMR zum ersten Mal. Für wen lohnen sich die Events?

Die OMR-­ Bühnen machen optisch einiges her. In den Gängen zwischen den Hallen ist es dafür teilweise zu voll.

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Plus: Die OMR bietet unglaublich viel Abwechslung. Es wird vorausgeschaut. Metaverse, Data-Driven E-Commerce, NFTs, Influencer Marketing via TikTok. Wer etwas über die digitale Ansprache jüngerer Zielgruppen und Brands erfahren möchte, findet hier reichlich Inspiration, aber auch Übertriebenes. Die zahlreichen Präsentationen von Start-ups zeigen, was und wer gerade angesagt ist. Wer Stars live auf der Bühne sehen will, hat hier die Gelegenheit. Der Außenbereich bietet zumindest bei gutem Wetter die Möglichkeit zum Networking und Abhängen. Zahlreiche Vorträge sind online verfügbar. Insgesamt steht der Festivalcharakter im Fokus. Heißt: Spaß, Musik und das Erlebnis. In vorab zu buchenden Masterclasses lässt sich tatsächlich etwas lernen.

Minus: Substanzielle inhaltliche Debatten kommen schon allein aufgrund der Kürze der Vorträge zu kurz. Alles ist unglaublich kommerziell und muss superdigital sein. An Ständen werden Verkaufsgespräche geführt. Man kann auch Austern essen. Die Bühnenauftritte sind zu oft Werbeveranstaltungen. Es fehlt die kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Handeln. Die Welt wird hier nicht gerettet. Beispiel: „Gorillas“-Gründer Kağan Sümer darf auf der Bühne ohne Widerspruch seine Geschichte erzählen. Wenige Tage später gibt der Lieferdienst die Entlassung der Hälfte seiner Mitarbeiter in der Zentrale bekannt. Der ideale Festivalbesucher ist ein zwischen 25 und 35 Jahre alter Digitalfreak, der am liebsten mit seinem Krypto-Wallet Affen-NFTs tradet, bevor es dann zum Online-Gaming geht,

was dann alles via TikTok und Instagram Reels mit dem Rest der Welt geteilt wird. Vorschlag für einen Vortrag im nächsten Jahr: ein Psychologe, der über die Gefahren von Online-Sucht referiert. Relevant für: Alle, die etwas mit Online-Marketing, Start-ups, Events und Marken zu tun haben. Man bekommt ein gutes Gefühl dafür, was jüngeren Menschen wichtig ist. Klassische PR – also Medienarbeit – spielt keine Rolle. Es gibt Vorträge rund um Journalismus. Da bieten allerdings andere Veranstaltungen deutlich mehr Substanz. Wer seinem Digital- oder Online-Marketing-Team etwas Gutes tun will, schickt es nach Hamburg und gewährt allen noch einen Fuffi Spesengeld, um sich auf Firmenkosten ein paar Bier, Wein oder irgendwas anderes zu gönnen.

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Foto: OMR / Julian Huke Photography

Fakten: Zur OMR kamen an zwei Tagen Mitte Mai nach Veranstalterangaben mehr als 70.000 Gäste. Das von Philipp Westermeyer in den Hamburger Messehallen initiierte Event nimmt gefühlt die halbe Stadt in Beschlag. Die Speaker*innen reichen von Prominenten wie US-Schauspieler Ashton Kutcher und Regisseur Quentin Tarantino bis zu Rezo, Markus Lanz, Gabor Steingart, Sänger will.i.am und Porsche-Chef Oliver Blume. Hinzu kommen unzählige Influencer*innen, Start-up-Gründer*innen und sonstige Personen, die irgendwas mit Digital, Marketing und Selbstvermarktung zu tun haben. Mal wird über Fußball, mal über veganes Essen, NFTs, Cybersecurity oder die Gen Z diskutiert. Abends finden Konzerte und Partys an den Ausstellerständen statt.


PRAXIS

„Toxic ­Wokeness“ – eines der Themen von Sascha Lobo in seinem ­Vortrag.

Foto: Jan Michalko

re:publica Fakten: Die re:publica fand in diesem Jahr an drei Tagen auf dem Gelände der Arena und des Festsaals Kreuzberg statt – direkt an der Spree. Entsprechend konnten die Besucher*innen auch den Sandstrand am Badeschiff und das Schwimmbad nutzen. Nach Veranstalterangaben verzeichnete das Event 21.000 Besuche. Die Bezeichnung „Digitalkonferenz“ wird der re:publica nicht mehr gerecht. Es geht um gesellschaftliche Debatten und Veränderungen. So gab es eine Vielzahl von Vorträgen zu Klimaschutz, Mobilität, Gesundheit, Identitätsthemen, Fake News und Medien. Zu den Sprecher*innen gehörten unter anderem Bundeskanzler Olaf Scholz, Luisa Neubauer, die Transformationsforscherin Maja Göpel, Alena Buyx vom Deutschen Ethikrat, Professor Bernhard Pörksen und

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Sascha Lobo mit seinem obligatorischen Vortrag zum Abschluss des ersten Tages. Abends gab es DJ-Musik und ein Konzert der Band Tocotronic. Ab dem dritten Tag fand zwei Tage lang die Tincon statt, die sich speziell an die junge Generation wendet. Plus: Wie die OMR fährt die re:publica zahlreiche hochkarätige Speaker*innen auf. Es sind viele darunter, die insbesondere auf Twitter aufgrund ihrer Reichweite einen erheblichen Einfluss auf Debatten haben. Dass Sascha Lobo in seinem Vortrag über „Wokeness“ sprach, dürfte einen einfachen Grund haben: Die Mehrzahl der Speaker*innen und Besucher*innen wird sich wohl als „woke“ bezeichnen. Inhaltlich setzen sich Vortragende kritisch mit dem Status quo der Gesellschaft auseinander und appellieren für

Veränderungen. Die Location direkt am Wasser mit Strand ist perfekt zum Networking. Die Präsenz zahlreicher Mitglieder der Bundesregierung wertet die Veranstaltung auf, wirkt aber etwas spießig und nimmt die Leichtigkeit. Eine gute Idee: das Nachhaltigkeitskonzept. Minus: Die Prominenz der Referierenden macht diese interessant, ist aber auch ein Nachteil. Gefühlt weiß man bei den meisten Personen aufgrund von TV-Auftritten, Social Media oder sonstiger Berichterstattung, wo sie stehen. Es fehlt das Überraschende – und damit die Inspiration. Außerdem war der Anteil an Vorträgen mit konkreten Impulsen für den Arbeitsalltag deutlich geringer als bei früheren Ausgaben. Natürlich finden sich im Programm Sessions zu Trendthe-

men wie Metaverse oder NFTs genauso wie zu TikTok, Podcasts oder Instagram. Auch gab es einige Programmpunkte zu Journalismus. Doch insgesamt fehlt die Anwenderperspektive. Was bringt mir das im Job? Trotz zahlreicher Partner und Sponsoren kommt die Sicht von Unternehmen zu kurz. Abgesehen von Stage 1 wirkten die Bühnen etwas mickrig. Relevant für: Alle, die sich für gesellschaftliche Debatten, Digitales und Politik interessieren. Der Bezug zum beruflichen Alltag von Kommunikationsverantwortlichen ist gering. Für sie lohnt sich die Veranstaltung vor allem, um ein Gefühl für aktuell wichtige Themen zu bekommen und Akteure kennenzulernen, was beides für Kommunikation hilfreich ist. Leute treffen ist vor allem im Außenbereich möglich. 65


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