Helios Media GmbH | ISSN 1610-5060 | Ausgabe 08/11 | Dezember 2011 / Januar 2012 | 7,20 Euro
www.politik-kommunikation.de
Identitätslos Angela Merkel rückt die CDU in die politische POLITIK 14 Mitte – und vernachlässigt die Basis
Skrupellos Die konservativen Koch-Brüder Charles und INTERNATIONAL 30 David spalten die USA
Kretschmann Politiker des Jahres
pol it ik & kommunikation | Dezember 2011 / Januar 2012
Handelsverband Deutschland
NOCH ZWEI ATTRAKTIVE ANGEBOTE DES HANDELS: 160.000 AUSBILDUNGSPLÄTZE UND DAZU DIE BESTEN KARRIERECHANCEN.
Kristin Plaumann, Warengruppenführerin Obst & Gemüse bei Kaufland in Berlin
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Redaktionstagebuch VORAUSSCHAUENDE DELEGIERTE
14. November Der CDU-Parteitag war geprägt von Diskussionen über Eurokrise, Mindestlohn und Oberschule – zumindest im Plenarsaal. Abseits der Bühne ging es unter anderem darum, wer das Rennen um Angela Merkels Nachfolge als Kanzlerin macht (dass es ein Sozialdemokrat sein könnte, zog kaum jemand in Betracht). Dabei fielen immer wieder die Namen zweier Politiker, die sich angeblich bereits jetzt für die besseren Kanzler halten: Ursula von der Leyen und Norbert Röttgen. Die Delegierten tuschelten darüber, wer die besseren Chancen habe, und auch in der Presselounge gab es angeregte Diskussionen. Für Abwechslung sorgte ein Journalist, der einen dritten Namen in die Diskussion warf: Thomas de Maizière. Nach der Einschätzung des erfahrenen Polit-Korrespondenten werden sich Röttgen und von der Leyen nach Merkels Abgang um den Parteivorsitz streiten, während de Maizière ihnen das Kanzleramt vor der Nase wegschnappt. Nicht jeder Kollege teilte diese Einschätzung. Mehr über die Stimmung auf dem Parteitag lesen Sie in dem Artikel „Die Abräumerin“ auf Seite 14. p&k-Redakteur Florian Renneberg hat sich in Leipzig umgehört, was die Delegierten vom neuen Kurs der CDU halten, und wie die Mandatsträger ihn kommunizieren.
WAHLJAHR
Im Dezember Geschafft, das Wahljahr 2011 liegt hinter uns. In der ersten Ausgabe dieses Jahres wagte p&k anhand der WahlUmfragen eine Prognose darüber, wie wohl die sieben Landtagswahlen ausgehen könnten – und lag gar nicht so schlecht, so war auch die Möglichkeit eines grünen Ministerpräsidenten in Baden-Württemberg ein Thema in diesem Heft. Aber genug uns selbst auf die Schulter geklopft, das kann ja auch schmerzhaft werden, wenn man es übertreibt. Blicken wir nach vorn: Im Jahr 2012 gibt es nur eine einzige Landtagsawahl, die im Mai in Schleswig-Holstein. Es könnte passieren, dass dort der Sozialdemokrat Torsten Albig Nachfolger des Christdemokraten Peter Harry Carstensen. Wer mehr über Albig erfahren will, dem sei das „Porträt in Zahlen“ auf Seite 77 empfohlen. Nun aber wünscht die Redaktion Ihnen eine gute Lektüre, eine schöne Weihnachtszeit und alles Gute für 2012! Anzeige
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Fotos: Christian Mund; www.marco-urban.de
JENSEITS DER RITUALE
Am 26. November eröffnete die Friedrichshafener Zeppelin Universität (ZU) mit einer großen Feier ihr neues Hauptstadtbüro am Hackeschen Markt. Der Höhepunkt des Abends: eine Podiumsdiskussion zum Thema „Politische Kommunikation jenseits der Rituale“. Tatsächlich schaffte es die ZU, eine Gesprächsrunde zu veranstalten, die mit einer der sonst üblichen Praktiken in Berlin wenig zu tun hatte: diplomatisch korrekte und oft einschläfernde Zurückhaltung. Zwei der Podiumsgäste sorgten für klare Worte: TV-Moderator Günther Jauch und Zukunftsforscher Matthias Horx. Auf seine seit September laufende Talkshow angesprochen, sagte Jauch: „Rund ein Drittel der Ausgaben waren schlecht, das weiß ich auch.“ Er brauche einfach noch ein paar Sendungen, um seinen Rhythmus zu finden. So viel Demut kam beim Publikum an, der spontane Applaus bewies es. Nicht ganz so viel Zustimmung bekam der Moderator des Abends, ZU-Präsident Stephan Jansen. Regelmäßig verlor er sich in Anekdoten – in denen er selbst die Hauptrolle spielte. Das Publikum nahm es mit Verwunderung hin. Nicht so Horx. Als Jansen ihn fragte, über welche Qualifiktion Politiker heute verfügen müssten, sagte der Forscher: „Quatschen“, und fügte an: „Sie können das übrigens auch ganz gut.“ Jansen moderierte sichtlich verärgert weiter, Horx freute sich, das Publikum auch – und p&k wartet schon gespannt auf die nächste ZU-Diskussion! pol it ik & kom munikat io n | Dezember 2 0 1 1 / Janu ar 2 0 1 2
TK-Pressestelle Pressesprecherin Dorothee Meusch Bramfelder Straße 140 22305 Hamburg Tel. 040 - 69 09-17 83 Fax 040 - 69 09-13 53 pressestelle@tk.de www.tk.de
Der direkte D ra h t
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Essay
Idioten Mal ein bisschen das Bankenviertel BESETZEN ist schon ganz ok, doch eigentlich macht die Jugend der westlichen Welt lieber noch einen MBA, um ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern.
VO N S E B A ST I A N L A N G E
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mpört Euch! Occupy Wallstreet! Jawohl, die Jugend der Welt begehrt auf gegen das Finanzkapital, und die „99 Prozent“ der vom System Abgehängten wehren sich, sie organisieren sich – und überhaupt: Erleben wir in diesen Tagen nicht ein neues 1968? Ja, ein bisschen. Aber nur ein ganz kleines bisschen. Wenn man genauer hinschaut, hält sich das politische Bewusstsein der Jugend in Grenzen, was eigentlich für die meisten Bewohner der westlichen Welt gilt. Im Grunde sind wir Idioten, und zwar im ursprünglichen Sinne. „Idiotes“, so hießen im antiken Griechenland die Bürger, die sich nicht um die Belange der Polis, der Allgemeinheit, kümmerten. Der Begriff war damals noch kein Schimpfwort, er bezeichnete eine Art Privatier. Doch war das politische Bewusstsein den alten Griechen wichtig, und nur als politisch engagierter Mensch war man ein vollwertiger Bürger. Jeder, der wählte, sollte auch bereit sein, sich selbst wählen zu lassen. In unseren Zeiten, in denen Politiker meist Berufspolitiker sind, ist das Idealbild des Bürgers jedoch eher das des Homo Oeconomicus als das des Homo Politicus. Zum Homo Oeconomicus, der sein Schicksal nach wirtschaftlich-rationalen Gesichtspunkten gestaltet, wurden Generationen wie meine, die der in den 70er oder 80er Jahren Geborenen, frühzeitig erzogen. War schon zu Helmut Kohls Zeiten immerfort die Rede vom „Standort Deutschland“, so ging es unter den an die Macht gekommenen 68ern von Rot-Grün ähnlich weiter: Konsumieren war Bürgerpflicht, auf die Nachfrage kam es an; Gerhard Schröder forderte die Bürger auf, einkaufen zu gehen. Zugleich wurde das System der universitären Ausbildung europaweit auf Effizienz getrimmt, auf dass die kleinste wirtschaftliche Einheit, der Mensch, sich auf dem Arbeitsmarkt behaupten könne. Humboldtsches Bildungsideal, Studium Generale? Weg mit dem Plunder, nun war der Master of Business Administration, der MBA, gefragt. Auch der Kunsthistoriker sollte Manager sein – wie sollten künftige Museumsdirektoren denn sonst vernünftig Sponsoren werben können? 6
Nach der ersten Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 frohlockte manch einer, das Primat des Politischen kehre endlich zurück, nun, nachdem das Versagen der Finanz- und Wirtschaftselite so offenbar wurde. Doch war das Versagen schnell vergessen, und mit der zweiten Krise, der aktuellen, da zeigte sich: Die politische Klasse versagte ebenso, nicht nur in Griechenland, sondern in ganz Europa und den USA. Sie türmte Schulden auf, weil sie den Wählern, diesen Idioten, keinen der Wünsche abschlagen wollte, die sie nie geäußert hatten. Nun aber begehren einige zaghaft auf. Occupy Wallstreet, empört Euch! – das ist schnell auf Facebook „geliked“, und so dürfen wir uns als Teil einer globalen Bewegung fühlen, ohne dass es dazu nennenswerter Anstrengung bedürfte. Tatsächlich aber ist der „Like“ ein Accessoire, Teil des Designs unserer Selbstdarstellung. Tatsächlich engagieren wir uns wenig, sind eher damit beschäftigt, beruflich voranzukommen – obwohl wir inmitten eines unfassbaren Wohlstands leben, in einem Land, das so friedlich ist wie nie zuvor. Doch fühlen wir uns gefährdet, haben Angst um den Klassenerhalt, um die iPads, Flachbildschirme und Manufactum-Möbel. Gerne stellen wir, die gut Ausgebildeten, die Systemfrage – theoretisch. Doch fehlt es an persönlicher Betroffenheit. Wo die 68er noch persönliche Konflikte austrugen, weil es ihre Eltern waren, die sich in Unrecht verstrickt, ihre Lehrer, die sich autoritär gebärdet hatten, geht es uns womöglich zu gut, um so richtig wütend zu werden, uns zu empören. Die Probleme der Welt sind drängend, aber wir spüren sie noch nicht. Natürlich ist jeder gegen Hunger in Afrika, doch fühlt es sich für viele irgendwie total „eighties“ an, dagegen zu protestieren. Wir sind nicht betroffen. Wir sind Idioten. Vielleicht wissen wir es nicht besser. Der Grieche wusste noch, was seine Polis ist, sie begann unten am Hafen und endete oben auf der Burg. Was aber ist unsere Polis? Unsere Polis ist die hochvernetzte Welt, doch sind die globalen Institutionen noch zu schwach, als dass wir uns wirklich als Weltbürger fühlen dürften. Wir kommunizieren weltweit miteinander, doch beschränkt sich das meist noch auf flüchtige Klicks. Und überhaupt: Wo soll man bloß anfangen? Protest ist ein guter Anfang, doch könnte man in der Zwischenzeit vielleicht mal zu einer dieser altmodischen Parteiversammlungen gehen; man könnte in die Ortsgruppe vom Naturschutzbund gehen oder in die Kirchengemeinde nebenan. Da finden Graswurzeln Boden. Die Leute dort sind langweilig? Das mag sein, aber wenigstens sind sie keine Idioten.
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Für Jugendliche gibt’s bei uns nichts zu holen. Tabakwaren gehören nicht in die Hände von Kindern und Jugendlichen. Diese Haltung vertreten wir seit langem, seit 2001 z.B. mit dem Packungsaufdruck „Rauchen: Bitte nur Erwachsene.“ Auch die Erhöhung des Abgabealters von 16 auf 18 Jahre haben wir immer bejaht: Der Schlüssel zum konsequenten Jugendschutz ist die Nichtverfügbarkeit von Tabakwaren für Jugendliche. Deshalb haben wir eine umfassende Informationskampagne gestartet, die den Handel und die Gastronomie darin unterstützt, an Jugendliche unter 18 Jahren keine Cigaretten zu verkaufen. Mehr über unser Engagement erfahren Sie auf bat.de/jugendschutz
Kompakt Ko mp akt
Die CDU wirbt um Mitglieder, indem sie Mitglieder zeigt. Zum Beispiel Johanna Gaßmann, nur auf dem Fußballplatz neutral. C D U- KAMPAGNE
Mitglied um Mitglied Auf ihrem Bundesparteitag Mitte November in Leipzig hat die CDU eine neue Mitgliederwerbeaktion vorgestellt. Das Motto: „Verpassen Sie der CDU Ihre Handschrift!“ Ins Zentrum der Neumitglieder-Kampagne haben die Christdemo-
kraten eine Motivreihe mit zwölf CDUMitgliedern gestellt, die für eine Parteimitgliedschaft werben. Die Union setzt dabei auf ihren Charakter als Volkspartei und lässt unter anderem einen Mittelständler, einen Pfarrer und eine Sportle-
LOB B YISM U S
IMAGE-KAMPAGNE
Klare Regeln
Kampf gegen Rechts statt Eigenwerbung
Die Otto-Brenner-Stiftung hat Anfang Dezember die Lobby-Studie „Marktordnung für Lobbyisten“ veröffentlicht. Die Autoren Andreas Kolbe, Herbert Hönigsberger und Sven Osterberg empfehlen darin ein Transparenzregister und einen verbindlichen Verhaltenskodex. Demnach sollen Abgeordnete nach dem Ausscheiden aus der Politik beispielsweise eine Karenzzeit einhalten, bevor sie als Interessenvertreter tätig werden. Um die Einflussnahme von Lobbyisten auf die Politik transparenter zu gestalten, fordern die Macher der Studie zudem, Stellungnahmen, Gutachten und Expertisen frei zugänglich zu veröffentlichen.
Thüringen hat seine im August gestartete Image-Kampagne „Das ist Thüringen“ vorerst eingestellt. Vor dem Hintergrund der Mordserie der rechtsextremen Jenaer Terrorzelle sei es kontraproduktiv, die Kampagne weiterzuführen, sagte Wirtschaftsminister Matthias Machnig (SPD) gegenüber der „Thüringer Allgemeinen“. Stattdessen hat das Bundesland einen Teil der freigewordenen Mittel – rund 120.000 Euro – in eine Anzeige mit dem Titel „Gesicht zeigen – Thüringen Das thüringische Landeskabinett setzt ein Zeichen gegen Nazis“ investiert. In der von der Kommunikationsagentur KNSK entwor- zert „Rock‘n‘Roll-Arena in Jena – für fenen Anzeige sprachen sich die Landes- die bunte Republik Deutschland“. Dort regierung und die Vorsitzenden der Land- traten zahlreiche Künstler, darunter Udo tagsfraktionen Anfang Dezember gegen Lindenberg, Clueso und die Band Silly, rechte Gewalt aus. Zudem warb die Lan- vor rund 60.000 Zuschauern auf, um ein desregierung in der Anzeige für das Kon- Zeichen gegen rechte Gewalt zu setzen.
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www.mitglied.cdu.de
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Fotos: www.mitglied.cdu.de; Das ist Thüringen!
www.lobby-studie.de
rin zu Wort kommen. Ein kurzer Beistelltext erklärt jeweils, warum die einzelnen Personen der Partei beigetreten sind. Die CDU will die Motive vor allem als Postkartensets an der Basis einsetzen.
TRANSPARENZ
Senat soll Daten offenlegen Die Hamburger Volksinitiative „Transparenz schafft Vertrauen“ hat Ende Oktober ihre Kampagne für ein Transparenzgesetz gestartet. Hinter der Initiative stehen die Nichtregierungsorganisationen Mehr Demokratie, Transparency International Deutschland sowie der Chaos Computer Club (CCC). Sie fordern den Hamburger Senat auf, Verträge, Gutachten, Statistiken und Verwaltungsvorschriften im Internet zu veröffentlichen. Bislang müssen Bürger einen
Das Hamburger Rathaus
Antrag stellen, um diese Daten einzusehen. „Künftig soll es eine Bringschuld
des Senats und der Verwaltung gegenüber den Bürgern geben“, sagt Michael Hirdes vom CCC. Ziel der Initiative ist es, zeitgleich mit der Bundestagswahl 2013 einen Volksentscheid zum Thema durchzuführen. Dafür musste sie bis zum 9. Dezember 10.000 Unterschriften sammeln. Die Hamburger Piratenpartei, der GrünenLandesverband, die Hamburger Linksfraktion, die ÖDP und Attac Hamburg unterstützen die Initiative. www.transparenzgesetz.de
LO B B Y I S M US I I
NETZPOLITIK
Lobbycontrol vergibt Medaille
Netz als Chance
Die Transparenzinitiative Lobby Control hat der Deutschen Bank und deren Vorsitzenden Josef Ackermann Anfang Dezember die „Lobbykratie-Medaille“ für undemokratische Lobbyarbeit verliehen. Der Grund: Das Geldinstitut habe die Konditionen der Griechenland-Rettung durch seine politischen Kontakte zugunsten des Bankensektors beeinflusst und zugleich vorgegeben, hart von den Maß-
nahmen getroffen zu werden. Bei der Online-Abstimmung über den erstmals vergebenen Negativ-Preis votierten rund 45 Prozent der über 5500 Teilnehmer für die Deutsche Bank. Nominiert waren auch die Spielautomatenfirma Gauselmann, der Bundesverband Medizintechnologie, die Deutsche Vermögensberatung und der Energiekonzern RWE.
64 Prozent der deutschen Internetnutzer glauben, dass das Netz die Demokratie stärkt. Das geht aus einer Studie des Verbands Bitkom hervor. Vor allem junge Menschen sehen im Netz die Chance, Politik aktiv mitzugestalten. Das Institut Aris hat über 1000 Internetnutzer ab 14 Jahren in Deutschland befragt.
www.lobbycontrol.de
www.bitkom.org
Fotos: www.flickr.com ; Privat (3); Marco Urban; Uni Münster; Marco Urban
TENEXPER P T IP
Lohnuntergrenze, Oberschule, Energiewende: Verprellt Merkel die Stammwähler der Union?
Ulrich Sarcinelli (Uni KoblenzLandau)
Ulrich von Alemann (Uni Düsseldorf)
Karl-Rudolf Korte (Uni DuisburgEssen)
Wichard Woyke (Uni Münster)
Uwe Jun (Uni Trier)
Wolfgang Ismayr (Uni Dresden)
Peter Lösche (Uni Göttingen)
Zu Guttenberg bringt sich wieder ins Gespräch: Schafft er die Rückkehr in die Bundespolitik? SPD-Altkanzler fordern schnelle Entscheidung: Sollte die SPD zügig einen Kanzlerkandidaten benennen? Partizipation und offene Gesellschaft: Machen die Piraten den Grünen Kernthemen streitig? Republikanische Kandidaten patzen im US-Vorwahlkampf: Hat Obama bei der Wahl 2012 leichtes Spiel?
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Kompakt
KOMMUNIKATIONSSTUDIE
Sei persönlich Internetauftritte von zahllosen lokalen Parteien und Regionalpolitikern kennen oft nur eine Form der Aktualität: die Pressemitteilung. Während in Zeitungen und Radio kaum noch über Lokalpolitik berichtet wird, halten Ortsverbände und Politiker im Wahlkreis stoisch daran fest, klassische Pressemitteilungen herauszugeben. Internet sei dank, haben die eine zweifelhafte, neue Bestimmung gefunden. Sie werden auf die eigene Webseite gestellt und dienen dort als „Aktuelle Nachrichten“. Besucher lokaler Politik-Webseiten sind aber selten Journalisten, sondern meistens Bürger, Nachbarn oder Vereinskollegen. Sie müssen nun die harte Journalistenkost schlucken, obwohl sich die Form der Schreibe gar nicht an sie richtet. Der Aufmacher auf der persönlichen Webseite der Lokalpolitikerin muss statt „CDU-Ratsfrau Mönkeberg stimmt dem Neubaugebiet am Stadtrand von Musterstadt zu“ lauten: „Das geplante Neubaugebiet finde ich gut.“ Über sich selbst in der dritten Person zu schreiben, macht unnahbar und distanziert. Beenden wir am besten die Zweitverwertung von Pressemitteilungen als vermeintlich aktuelle Nachrichten! Schreiben wir besser flotte, kurze Meldungen zum Geschehen im Ort und schildern die Standpunkte aus dem eigenen Blickwinkel. So wie wir es auch im persönlichen Gespräch auf dem Dorfplatz oder im Wirtshaus tun. Oliver Zeisberger ist Inhaber der barracuda digitale agentur und berät Parteien und NGOs bei Kommunikationsstrategien. Mit anderen Autoren hat er 2009 das Online-Projekt Kampagnenpraxis gestartet. www.kampagnenpraxis.de Für p&k analysieren die Autoren der Arbeitsgemeinschaft für Online-Kommunikation „Kampagnenpraxis”, wie Politiker das Internet für ihre Kampagnen nutzen können.
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Digitaler Nachholbedarf Die Kommunikationsagentur Edelman hat Anfang Dezember zum dritten Mal den „Capital Staffers Index“ veröffentlicht. In diesem Jahr hat die internationale Studie das Online-Nutzungsverhalten von Abgeordneten und MitarbeiWelche Online-Kanäle nutzen die Bundestagsabgeordneten? 66
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Text Messaging
(Alle Angaben in Prozent)
Blogs
Instant Messaging
Quelle: Capital Staffers Index
tern in elf Parlamenten untersucht. Die Ergebnisse bestätigen den Trend der vergangenen Jahre: Digitale Medien spielen in der politischen Kommunikation eine immer größere Rolle – seit 2009 ist die Bedeutung sozialer Netzwerke um 32 Prozent gestiegen. Das bedeutet auch für Lobbyisten eine Umstellung. Nur eine intelligente Mischung aus traditionellen und digitalen Strategien führe zu einer effektiven politischen Interessenvertretung, sagt Bernd Buschhausen, Leiter des Edelman Standorts Berlin. In Deutschland haben die Parlamentarier und ihre Mitarbeiter jedoch Nachholbedarf. Nur 30 Prozent nutzen den Kurznachrichtendienst Twitter für die politische Kommunikation. Zum Vergleich: Im Durchschnitt tun das 60 Prozent der Befragten in den untersuchten Parlamenten. Den Spitzenwert erreichen die Kanadier mit 96 Prozent. Auf Facebook sind immerhin zwei von drei deutschen Abgeordneten aktiv. Neben Deutschland, Großbritannien, Frankreich, der EU und den USA hat der Index erstmals auch Schwellenländer wie China, Indien und Brasilien berücksichtigt. www.edelman-newsroom.de
POLITISCHE BILDUNG
Zuschauer bestimmen Drehbuch Das Online-Polit-Portal für Jugendliche „Du hast die Macht“ hat Anfang November die interaktive Online-Serie „Wenn Du Dich traust“ gestartet. Im Mittelpunkt der Serie stehen die Gesamtschüler Alex und Hayal aus Berlin-Wedding. Obwohl die beiden 16-Jährigen zunächst nicht viel verbindet, erleben sie im Verlauf der Serie gemeinsam alltägliche Situationen rund um Inte- Die Hauptdarsteller der interaktiven Serie gration, Mobbing, Jugendgewalt, Armut und Emanzipation – und kommen Zuschauer online, wie die Geschichte sich dabei langsam näher. Das Besondere weitergeht. Das im Jahr 2010 gegründete an der Serie: Vor dem Start des Projekts Online-Portal „Du hast die Macht“ ist ein konnten Internetnutzer die Hauptcha- gemeinsames Projekt der Robert-Boschraktere und die ersten Dialoge bestim- Stiftung und der Filmfirma Ufa. men, nach jeder Folge entscheiden die www.duhastdiemacht.de/wenn-du-dich-traust pol it ik & kommunikation | Dezember 2011 / Januar 2012
Fotos: Privat / Screenshot: www.youtube.de
KAMPAGNENTRENDS
Kompakt
Foto: www.flcikr.com
Aufgedeckt: Apokalypse Gaga Neulich, es ging des Landes. Geplant gerade die Welt war, beim Test einen kurzen schrilunter, hatte der Präsident der Vereiniglen Pfeifton über ten Staaten von Ameden Äther zu senrika nichts Besseden. Das passierte dann auch, nur zog res zu tun, als im sich der schrille Ton viel zu gewagten so lange hin, dass er Kleid und mit spitzem Ton kokette Liesich schließlich als der zu singen. Nun Lied von Lady Gaga ist die Lage in den herausstellte. Auf Noch nicht US-Präsidentin: Lady Gaga anderen Kanälen lieUSA nicht so, dass fen alte Footballdies ein angemesseSpiele oder Shopping-TV. Kurz gefasst: nes Verhalten wäre für ein Staatsoberhaupt, und so sind wir recht erleichMan wünschte sich als betroffener tert, dass sich hernach alles als IrrFernsehzuschauer in diesen Minuten tum rausgestellt hat. Beziehungsweise wohl nichts sehnlicher als das, wovor gewarnt werden sollte, nämlich das als mal gehörig versemmelte Generalprobe. Getestet werden sollte an jenem Ende der westlichen Zivilisation. Doch, Tag nämlich die Einsatzfähigkeit des wie auch immer, bei Licht betrachseit 50 Jahren bestehenden „Emergency tet hat die ganze Misere ja auch etwas Alert System“. Dieses ermöglicht es der Optimistisches. Denn obwohl wir zu Regierung, sich beim Einfall von zum Redaktionsschluss noch nicht wussten, Beispiel Aliens, Terroristen oder Komwann genau demnächst die Welt untermunistennazis „draufzuschalten“, und geht – wir dürfen wohl sicher sein, dass zwar auf sämtliche Rundfunkkanäle auch das in den Sand gesetzt wird.
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pol it ik & kommunikation | Dezem ber 2011 / Januar 2012
POLITIKER-REDEN
Diffuses Bild Politiker haben ein diffuses Bild ihrer Bürger. Das geht aus einer Studie des Verbands der Redenschreiber deutscher Sprache (VRDS) und der Universität Koblenz-Landau hervor. Vertreter von VRDS und Hochschule haben zehn Reden deutscher Spitzenpolitiker von Angela Merkel über Guido Westerwelle bis Sigmar Gabriel analysiert. Danach halten Politiker die Bürger eher für einen Teil des Problems als für dessen Lösung. „Die Rede ist verräterisch. Sie offenbart oft mehr, als der Redner ausdrücklich sagen möchte“, so VRDS-Präsident Vazrik Bazil. Der Studie zufolge teilen Politiker Bürger rhetorisch in vier Kategorien ein: schwer fassbare Subjekte, widerspenstige Kinder, Sozialleistungsempfänger oder Beitragszahler sowie Menschen, denen Freiheit Angst mache.
Politik
Angela Merkel auf dem Parteitag der CDU in Leipzig
Die Abräumerin Angela Merkel stellt die ersten Weichen für den kommenden Bundestagswahlkampf – und führt die CDU dabei immer weiter nach links. Durch die Öffnung der Partei will sie bei Wechselwählern punkten – dabei verliert sie jedoch die Stammwähler aus den Augen.
VON FLORIAN R E N N E B E R G
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er Parteitag in Leipzig war ein voller Erfolg für die CDU. Die Partei zeigte sich geschlossen, Angela Merkel rief die Union zum wirtschaftlichen Reformmotor des Landes aus und grenzte sie scharf von der politischen Konkurrenz ab. Mitglieder und Mandatsträger waren geeint in dem Wissen um eine christdemokratische Identität. Die CDU war ganz bei sich – und voller Zuversicht für die kommende Bundestagswahl. Das war im Jahr 2003. In diesem November fand erneut ein CDU-Parteitag in Leipzig statt, doch die Vorzeichen könnten unterschiedlicher nicht sein. Die Partei hat sich von alten christdemokratischen Gewissheiten ver14
abschiedet: die Wehrpflicht ausgesetzt, das Elterngeld eingeführt, den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen. Auf dem Parteitag stimmen die Delegierten für ein „Lohnuntergrenze“ genanntes Mindestlohn-Modell und die Reform des dreigliedrigen Schulsystems.
Keine Leidenschaft Vom neoliberalen Reformeifer des Jahres 2003 ist nicht viel geblieben. Während Merkel damals in ihrem Werben für die Kopfpauschale, die Bierdeckel-Steuerreform und einen flexiblen Arbeitsmarkt polarisierte, bemüht sie sich heute, niemandem weh zu tun. Am Ende ihrer Rede erhält sie pflichtschuldig minutenlangen Applaus von den Delegierten – Leiden-
schaft kommt in der Leipziger Messehalle jedoch nicht auf, weder bei Merkel, noch bei ihren Zuhörern. Eine sachliche Arbeitsrede habe die Kanzlerin gehalten, sagen nachher diejenigen, die es gut mit ihrer Parteichefin meinen. Die Botschaft der Kanzlerin ist klar: Die Volkspartei CDU ist für alle wählbar. Was auf den ersten Blick beliebig wirkt, folgt einem klaren Muster. Denn politische Konfrontationen rufen nur allzu leicht Emotionen hervor. Das mobilisiert die eigenen Anhänger – allerdings auch die des politischen Gegners. Und daran hat die Kanzlerin kein Interesse. Denn zwischen den beiden Leipziger Parteitagen liegen nicht nur acht Jahre, sondern auch zwei Bundestagswahlen, aus denen Merkel ihre Lehren gezogen hat.
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2005 war die Union haushohe Favoritin, die SPD schien weit abgeschlagen. Merkel setzte auf klare Kante und wirtschaftsliberale Themen – das Ergebnis: Die Gewerkschaften liefen Sturm gegen die Reformthesen der CDU-Vorsitzenden, und viele Arbeitnehmer waren verängstigt – die vermeintlich darniederliegenden Sozialdemokraten bekamen Auftrieb. Der Union blieb mit einem Prozent Vorsprung auf die SPD letztlich nur der Weg in die Große Koalition.
Diffuse Wohlfühlpolitik „Emotionen sind für die Union im Wahlkampf eine große Gefahr“, urteilt der Chef des Umfrageinstituts TNS Emnid, KlausPeter Schöppner. Deshalb tue Merkel gut daran, Themen mit Emotionalisierungspotenzial möglichst klein zu halten, so der Demoskop.
sich her treiben können, so der Bonner Politikwissenschaftler: „Die CDU hat die SPD und die Grünen mit ihren Entscheidungen zum Mindestlohn und der Energiewende ein Stück weit entwaffnet.“ Aus wahltaktischer Sicht sei diese Entscheidung richtig gewesen, sagt Langguth. Denn eine Fortsetzung der schwarzgelben Koalition liegt in weiter Ferne – Union und FDP kommen in Umfragen derzeit auf nicht einmal 40 Prozent der Stimmen. Aber: Rot-Grün hätte den Demoskopen zufolge ebenfalls keine Mehrheit. Sollte die FDP bis zur kommenden Wahl die Kurve kriegen und die Piraten ihren Höhenflug fortsetzen, wären sechs Parteien im Bundestag vertreten. Die Koalitionsoptionen wären merklich eingeschränkt – insbesondere, da die Piratenpartei und die Linke derzeit nicht koalitionsfähig seien, wie Klaus-Peter Schöppner bemerkt. Das kommt Merkel ent-
munaler Ebene für die Partei aktiv ist, ergänzt: „Manchmal weiß selbst ich nicht genau, warum ich die Union wählen soll.“ Der Unmut über die Aufgabe des konservativen Markenkerns sei an der Basis permanent zu spüren, versichern viele Teilnehmer des Parteitags. Das bleibt auch den Mandatsträgern nicht verborgen. Jens Spahn, gesundheitspolitischer Sprecher der Unions-Fraktion, spürt eine große Verunsicherung an der Basis. Er findet die Positionsveränderungen der vergangenen Monate allerdings richtig – und er glaubt, auch die Anhänger der Partei von diesem Kurs überzeugen zu können. „Die Menschen an der Basis sind keine KernkraftFanatiker“, sagt Spahn, „aber sie erwarten zu Recht, dass wir ihnen erklären, warum wir unsere Meinung ändern.“ Der Abgeordnete wünscht sich mehr und offenere Diskussionen innerhalb der Partei: „Das
Fotos: www.marco-urban.de
In der Union richten sich alle nach der Kanzlerin: Ursula von der Leyen, Karl-Josef Laumann, Angela Merkel, Norbert Röttgen und Annette Schavan (v.l.)
Vor der Bundestagswahl 2009 ist ihr das gelungen. Merkel führte einen Kuschelwahlkampf: nicht zuspitzen, nicht festlegen, keine Angriffsflächen bieten. Stattdessen bot sie eine diffuse Wohlfühlpolitik für alle an. Das Ergebnis: Trotz Verlusten von 1,4 Prozent konnte sie ihre damalige Wunschregierung aus CDU/ CSU und FDP bilden. Anders als noch 2005 fanden die Sozialdemokraten kein Thema, mit dem sie ihre Wähler mobilisieren konnten. In dieser Strategie – von Politikwissenschaftlern asymmetrische Demobilisierung genannt – scheint die Kanzlerin ihre Taktik für den kommenden Bundestagswahlkampf gefunden zu haben. Dass sie plötzlich ihre Leidenschaft für den Mindestlohn entdeckt hat, glaubt Merkel-Biograph Gerd Langguth nicht. Mit dem Vorstoß habe die Kanzlerin vielmehr ein unangenehmes Thema bereinigt, bei dem die SPD die Union hätte vor
gegen. Ihr Kalkül ist einfach: Sollte die Union stärkste Kraft werden, kann nicht gegen sie regiert werden. So könnte sich Merkel womöglich als Kanzlerin einer Großen Koalition – oder einer schwarzgrünen Koalition – in eine dritte Amtszeit retten.
Gefährliche Gratwanderung Doch die vermeintlich sichere Wahlstrategie entpuppt sich mehr und mehr als gefährliche Gratwanderung, die sich 2013 bitter rächen könnte. Indem Merkel sämtliche konservativen Stolpersteine aus dem Weg räumt, demobilisiert sie zunehmend die eigenen Anhänger. „Früher konnte ich aus dem Stegreif fünf Gründe aufzählen, die CDU zu wählen – das geht heute nicht mehr“, sagt eine Delegierte aus Baden-Württemberg am Rande des Parteitags. Ein Delegierter aus NordrheinWestfalen, der seit vielen Jahren auf kom-
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wäre gut für die CDU, für unsere Anhänger und für die Ergebnisse.“ Doch das ist in der Merkel-CDU eher Ausnahme als Regel – auch auf dem Parteitag bleiben kontroverse Diskussionen aus. Anstatt die Partei behutsam auf Veränderungen vorzubereiten, verteidigt die CDU-Führung ihre Positionen bis zuletzt eisern, um deren Aufgabe schlussendlich als alternativlos und selbstverständlich zu postulieren. Christean Wagner, Fraktionsvorsitzender der CDU im hessischen Landtag, verweist in diesem Zusammenhang auf Mindestlohn, Energiewende und Hauptschule. „Dort haben wir innerhalb kürzester Zeit jahrzehntelange Positionen aufgeben – ohne intern ausreichend darüber zu diskutieren. Das hält keine Partei aus.“ Die Auswirkungen dieser Politik spürt Wagner direkt vor Ort. In seinem Kreisverband sind bereits Mitglieder ausgetreten. Von ihnen höre er immer öfter, die 15
Politik
Wunsch nach heiler Welt Anstatt eigene Akzente zu setzen, reagiert die CDU hauptsächlich auf äußere Einflüsse. Anfang November beschwerte sich ein Nutzer auf dem Kurznachrichtendienst Twitter beim Parlamentarischen Geschäftsführer der CDU/ CSU-Fraktion, Peter Altmaier, über den Schlingerkurs der Union. Das Mitglied der Schwesterpartei CSU schrieb, dass er an den Infoständen heute zum Teil das Gegenteil dessen vertreten müsse, wofür er vor vier Jahren geworben habe. „Wehrpflicht war KT, Kernkraft war Fukushima, Lohnuntergrenze ist Basis. Euro ist Griechenland“, fasste Altmaier die Volten der Partei lapidar zusammen und hängte zum Zeichen des Bedauerns einen traurigen Smiley an. Dabei wäre eine klare Linie dringender geboten denn je. Je komplexer und komplizierter die Fragen, desto einfachere Antworten wünschen sich die Mitglieder an der Basis. Denen nimmt der Bundestagsabgeordnete Michael Fuchs den Wind aus den Segeln: „Die Menschen wollen eine heile Welt, aber die kann ihnen die Politik nicht liefern.“ Auch den Vergleich mit dem Leipziger Parteitag aus dem Jahr 2003 lässt er nicht gelten: „Von 2003 bis heute hat sich die Welt ein paar 16
Christean Wagner sorgt sich um das Profil der CDU: „Das hält keine Partei aus.“
Mal um sich selbst gedreht und die politischen Veränderungen sind den neuen Realitäten geschuldet.“ Den vielbeschworenen Markenkern sieht Fuchs nicht beschädigt. In diese Kerbe schlägt auch Thomas Strobl, Bundestagsabgeordneter und CDU-Chef in Baden-Württemberg: In der CDU gebe es keine heiligen Kühe oder Heilsideologien. Das unterscheide die Partei wohltuend von linken Dogmatikern. „Wenn die Welt sich verändert, verändert sich auch die Union – das war schon immer eine Stärke der CDU“, so Strobl. Eine Verletzung des Markenkerns kann auch er nicht erkennen. Seine Argumentation: Beim Modell der Lohnuntergrenze würden die Tarifpartner gestärkt, und in der Bildungspolitik setze sich die Union deutlich von der Einheitsschule ab. Also alles im Lot? Nicht ganz. „Viele Mitglieder sind verwirrt über den Kurs der Partei“, räumt Strobl ein. Umso wichtiger sei es zu kommunizieren, zu diskutieren und zu erklären, so der baden-württembergische Parteichef.
Keine konservativen Ausputzer Dass das Reservoir an CDU-Stammwählern immer mehr austrocknet, liegt nicht allein an Angela Merkel, sondern auch daran, dass es der Union an Integrationsfiguren mangelt. „Der Union fehlen konservative Ausputzer, die die Seele der Parteibasis streicheln“, urteilt Gerd Langguth. „Die Konservativen vermissen bei Merkel die Orientierung.“ Früher hätten Typen wie Alfred Dregger oder Friedrich Merz diese Funktion ausgefüllt – heute ist diese Flanke verwaist. „Angela Mer-
kel ist eine pragmatische, unideologische Problemlöserin“, so der Politikwissenschaftler. Die Kunst eines CDU-Politikers sei es, Wechselwähler zu gewinnen – und die Stammwähler trotzdem zu halten. Die Kanzlerin sei im Gewinnen jedoch deutlich besser als im Halten. Wenn mehr alte Anhänger gehen als neue dazu kommen, steht die Union vor einem Problem. Kann die CDU ihre einstigen Stammwähler nicht mehr mobilisieren, droht der Partei ein Überbietungswettbewerb mit der politischen Konkurrenz um die Gunst der Wechselwähler. Den kann sie nur um den Preis der Selbstaufgabe gewinnen. Die Delegierten auf dem Leipziger Parteitag sind sich dieser Gefahr bewusst: „Der CDU hat es noch nie gut getan, die SPD links zu überholen“, sagt eine Teilnehmerin. Ein anderer ist sich sicher: „Einen Linksschwenk nehmen die Bürger der Union sowieso nicht ab.“ Ihre größte Sorge ist, dass sich die Partei nicht mehr ausreichend von der politischen Konkurrenz abhebt. Sie teilen den Wunsch Christean Wagners, die Union möge sich mehr auf die eigenen Stärken konzentrieren und diese offensiv vertreten. Bislang nimmt die Kanzlerin darauf wenig Rücksicht. Merkels Taktik – aus der Schwäche der Anderen Kapital zu schlagen – steht allerdings auf tönernen Füßen. Selbst wenn sie es schaffen sollte, die Union 2013 wieder in die Bundesregierung zu führen, gefährdet sie mit ihrem Kurs auf Dauer die Schlagkraft der CDU. Sie wäre nicht die erste Bundeskanzlerin, die ihre Partei durch den Verlust großer Teile der Stammklientel in eine lange, tiefe Krise stürzt.
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Foto: Axel Heyder
CDU sei nicht mehr ihre Partei. „Eine andere Partei wollen die gar nicht wählen“, sagt Wagner, „aber die CDU eben auch nicht mehr.“ Asymmetrische Wählerdemobilisierung nennt er einen „Angriff auf den gesunden Menschenverstand“. Er fordert: „Wir sollten uns weniger um SPDund Grünenwähler und mehr um unsere eigenen Anhänger kümmern.“ Die seien der Partei in Scharen davongelaufen. „Die CDU hat erstmals ein Nichtwählerproblem“, sagt auch Emnid-Chef Schöppner. Das liege daran, dass die Partei ihren Markenkern vernachlässige: „Gerade in Zeiten von Entpolitisierung und oberflächlicher Betrachtung bietet er den Wählern eine wichtige Richtschnur“, so Schöppner. Außerdem, so der Demoskop, schütze ein intakter Markenkern die Partei davor, dass die Konkurrenz mit kurzfristig au�ommenden Themen punkten kann: „Je stärker der Markenkern, desto weniger anfällig ist eine Partei für Agenda-Setting.“ Wo vor einigen Jahren der konservative Kern der Union lag, ist heute jedoch ein großes Loch.
Gesundheit ist unbezahlbar. Genau deshalb muss sie bezahlbar bleiben. Deutschland geht neue Wege. Mit Antworten für nachhaltige medizinische Versorgung.
Unsere Gesellschaft altert – wir leben länger. So wird sich die Altersgruppe der über 65-Jährigen bis zum Jahr 2030 nahezu verdoppelt haben. Mit der Zahl älterer Menschen steigt der Bedarf an medizinischer Versorgung. Und damit die Belastung für das Gesundheitssystem. Die Lösung sind Vorsorge, Früherkennung und effizientes Management von Diagnosedaten. Innovative Medizintechnik kann dabei entscheidend helfen, zum Beispiel mit neuen bildgebenden Verfahren oder sensitiver Labordia-
gnostik. Je spezifischer die Diagnose, umso individueller kann der Patient behandelt werden. Was sich positiv auf Heilungschancen und Behandlungsdauer auswirkt – und damit auf die Kosten. So kommt innovative Medizintechnik nicht nur dem Patienten zugute, sondern dem gesamten Gesundheitssystem. Die Antworten für nachhaltige medizinische Versorgung sind da. Und die Zeit für neue Wege ist jetzt. Denn die Welt von morgen braucht unsere Antworten schon heute.
siemens.com /answers
International
Milliardäre, Libertäre und einflussreiche Unterstützer der Tea-Party-Bewegung: Charles (Foto links) und David Koch
Im Zentrum des Hasses VON JOHANNES A LT M E Y E R
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en amerikanischen Traum verteidigen – um nichts weniger geht es Anfang November in Washington DC. Zum fünften Mal hat die konservative Stiftung „Americans for Prosperity“ (AFP) zu ihrer jährlichen Konferenz „Defending the American Dream“ eingeladen. Thematischer Schwerpunkt: die „Schuldenpolitik von Barack Obama“. Ganz vorne im Washington Convention Center sitzt AFP-Gründer David Koch. Entspannt und gut gelaunt hört der schwerreiche Industrielle den Rednern zu. Direkt vor dem Kongresszentrum ist von der gelassenen Stimmung nichts zu spüren. Anhänger der „Occupy“-Bewegung demonstrieren lautstark gegen Koch. Ihr Vorwurf: Als Geldgeber der populistischen TeaParty-Bewegung verhinderten David und sein Bruder Charles jeglichen politischen Fortschritt in der US-Hauptstadt. Als die Konferenz endet, bricht David Koch auf. Das Kongresszentrum verlässt er jedoch nicht durch einen Seiteneingang, er wählt den Haupteingang. Der 71-Jährige geht direkt an den Protestierenden vorbei, die wenige Minuten zuvor seinen Namen ge30
rufen haben. Koch bleibt unerkannt. Die vom Wirtschaftsmagazin „Forbes“ überlieferte Begebenheit beweist: Längst sind David und sein fünf Jahre älterer Bruder Charles zu mächtigen Gegenspielern Obamas geworden – vor den neugierigen Blicken der Öffentlichkeit konnten sich die Kochs jedoch lange Zeit verstecken.
Kerngeschäft Öl Den Kampf gegen die Politik des US-Präsidenten finanzieren die beiden Brüder mit ihrem milliardenschweren Familienunternehmen Koch Industries. Dieses sitzt in Wichita, im US-Bundesstaat Kansas, und erwirtschaftet im Jahr rund 100 Milliarden US-Dollar – mehr als das Software-Unternehmen Microsoft und der Internetriese Google zusammen. Nach eigenen Angaben beschäftigt das Unternehmen – Charles fungiert als Vorstandsvorsitzender, David als sein Stellvertreter – rund 70.000 Mitarbeiter in 60 Ländern. Zu den hergestellten Produkten gehören unter anderem Kunstfasern, Kaffeebecher und Küchenrollen. Das Kerngeschäft ist jedoch: Öl. Die Koch-Brüder besitzen Pipelines, die quer durch die USA
und Kanada verlaufen, und verfügen über zahlreiche Öl-Raffinerien. Eine profitable Mischung: Mittlerweile ist Koch-Industries der zweitgrößte private Konzern der USA. David Koch bezeichnete ihn selbst einmal als „das größte Unternehmen, von dem Sie noch nie etwas gehört haben“. Laut „Forbes“ können die Brüder auf ein privates Vermögen von je rund 25 Milliarden US-Dollar zurückgreifen. Auf der von dem Wirtschaftsmagazin jährlich erstellten Liste der reichsten Amerikaner teilen sie sich den vierten Platz. Die Kochs sind klassische Libertäre – sie fordern drastisch reduzierte Steuersätze, minimale Sozialleistungen und vor allem: keine staatlichen Auflagen. Mit allen Mitteln wollen sie ihr Vermögen vor dem Zugriff des Staats schützen. „Ihre Weltanschauung passt mit ihren wirtschaftlichen Interessen zusammen“, sagt Christoph von Marschall, der sich als USKorrespondent des Berliner „Tagesspiegels“ regelmäßig mit den Koch-Brüdern beschäftigt. „So setzen sie sich als ÖlProduzenten beispielsweise für weniger staatliche Umweltrichtlinien ein.“ Zwar stellt Koch-Industries auf seiner Webseite zahlreiche Projekte vor, mit denen
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Fotos: ddp images / AP; AP Photo/Mark Lennihan; www.wikimedia.org/FreedomFan
Die KOCH-BRÜDER spalten die USA: Für die Liberalen sind sie Reizfiguren und Dunkelmänner, die Konservativen verehren sie als Mitgründer der „Tea Party“ und einflussreiche Obama-Gegner. Doch wie groß ist der Einfluss der beiden Milliardäre wirklich?
sie Abgase vermeiden und Energie sparen, viele Amerikaner wollen dem Unternehmen sein „grünes Gewissen“ aber nicht abkaufen. Für die Umweltschutzorganisation Greenpeace verfolgt die Firma schlicht eine „zerstörerische Agenda“. Auch aus der Wissenschaft kommt Kritik: In einer im Frühjahr 2010 veröffentlichten Studie führt die Universität von Massachusetts Koch Industries als einen der zehn größten Umweltsünder der USA auf. Kein Wunder, dass der 2009 mit ehrgeizigen umwelt- und sozialpolitischen Zielen gestartete Präsident Obama schnell zum Feindbild der Koch-Brüder wurde. „Es gibt niemanden in den USA, der so viel Geld für politische Zwecke gespendet hat wie die Koch-Brüder“, zitiert das Magazin „The New Yorker“ im August vergangenen Jahres Charles Lewis, den Gründer der Journalistenorganisation Center for Public Integrity. „Sie brechen systematisch das Gesetz. Sie manipulieren und verwischen ihre Spuren. So etwas habe ich in Washington noch nicht erlebt.“
Die „Tea Party“ als Machtmittel Die Kochs setzen ihr Geld ein, um politischen Einfluss zu erlangen. Zwei Organisationen spielen dabei die Hauptrolle: AFP und Freedom Works (FW). Beide gingen 2004 aus dem Think-Tank „Citizens for a Sound Economy“, auf Deutsch: „Bürger für eine starke Wirtschaft“, hervor, den die Koch-Brüder Mitte der 80er Jahre gegründet hatten. AFP und FW setzen sich als vermeintliche Graswurzelbewegungen für niedrigere Steuern und reduzierte Staatsausgaben ein. Klassische Koch-Ziele. Während der Präsidentschaft des Republikaners George W. Bush hielten sich AFP und FW mit öffentlichen Kampagnen zurück. Bushs politische Agenda war maßgeblich von den Ideen erzkonservativer Berater geprägt – es gab keinen Grund, gegen die Politik des Präsidenten zu demonstrieren. Mit Obamas Einzug ins Weiße Haus änderte sich das. Inmitten der Finanzkrise kündigte der Demokrat an, die kollabierende US-Wirtschaft mit Staatshilfen zu retten. Dazu kam sein im Wahlkampf geäußertes Ziel, eine staatliche Gesundheitsvorsorge einzuführen. Für die Aktivisten der TeaParty-Bewegung waren das die maßgeblichen Gründe für ihre Proteste. AFP und FW unterstützten die „Tea Party“ finanziell und organisatorisch. Mit Erfolg: Bei
logisch aufgeladenen und mit einem wisder Kongresswahl 2010 konnten die Republikaner – dank der Hilfe der Tea-Partysenschaftlichen Gütesiegel versehenen Aktivisten – das Repräsentantenhaus zuStudien beeinflussen längst die öffentlirückerobern. che Meinung. „Das Problem mit dem Libertarismus Ein gekaufter Präsident? in den USA war lange Zeit, dass er zwar viele Anhänger hatte, es aber keine wirkliche Bewegung gab“, sagte der Historiker Zurzeit sorgen die republikanischen Präsidentschaftskandidaten dafür, dass poliBruce Bartlett einmal über die politischen tische Schlagwörter wie SteuererleichteBeweggründe der Koch-Brüder. Mit der rungen und Ausgabenkürzungen in poli„Tea Party“ habe sich das geändert. Bartlett: „Die Brüder wollen die populistische tischen Diskussionen auftauchen. So zum Bewegung kontrollieren. So versuchen Beispiel bei den von Millionen US-Amerikanern verfolgten TV-Debatten der Partei sie, unbemerkt ihre eigenen Ziele durchzusetzen.“ Der linke Blog „Think Pro– oder jener AFP-Konferenz Anfang Nogress“ bezeichnete die Kochs jüngst als vember in Washington. Als prominenten „die Milliardäre hinter dem Hass“. Redner konnte die Organisation unter anderem den republikanischen PräsidentSo sehr das liberale Amerika mit den schaftsbewerber Mitt Romney gewinnen. beiden Industriellen auf Kriegsfuß steht: Auch die Demokraten bauen auf einen Milliardär, der die Partei finanziell unterstützt: den Investor George Soros. Mit seinem Open-Society-Institut hat der 81-Jährige zahlreiche demokratische Kampagnen unterstützt – 2008 auch die des damaligen Präsidentschaftskandidaten Obama. Doch im Gegensatz zu den KochBrüdern unterstützt Soros zivilgesellschaftliche Projekte. Er setzt sein Geld nicht dafür ein, den eige- Tea-Party-Protest im September 2009 in Washington D.C. nen Reichtum politisch Artig bedankte er sich bei David Koch für abzusichern. Die Kochs machen das – die Einladung: „Vielen Dank für all das, und vertrauen dabei nicht nur auf AFP und FW. was Sie und AFP tun.“ Bei so viel demonstrativer Nähe fragen sich viele Amerika1977 war Charles Koch einer von drei ner: Entscheiden am Ende gar die beiden Gründern des konservativen Cato Instituts, heute einer der einflussreichsten Koch-Brüder mit ihrem MilliardenvermöThink-Tanks der USA. Laut dem Center gen, wer ins Weiße Haus einzieht? for Public Integrity haben die Koch-Brü„Das glaube ich nicht“, sagt Christoph der der Denkfabrik alleine in den 80er von Marschall. Natürlich, Geld sei wichund 90er Jahren rund elf Millionen UStig. Anzeigen und TV-Werbung in den Dollar gespendet. Cato verfasst Studien, einzelnen Bundesstaaten zu schalten, sei die zahlreiche Zeitungen, TV-Sender und nun mal kostspielig. „Aber“, fügt von Marschall an, „Geld ist nicht alles.“ Am Ende Webseiten weiterverbreiten. Kernthemen des Think-Tanks laut eigener Webseite: zähle der Kandidat. Dieser müsse glaubwürdig sein, für etwas stehen – und die „Freiheit, schmaler Staat und freie WirtParteibasis begeistern. Ein solcher Kanschaftsmärkte“. Auch die Umweltpolitik gehört zu den Kernthemen der liberdidat fehle den Republikanern. Von Martären Denkfabrik: 2008 schaltete Cato schall ist sich sicher: „Das Geld der Kocheine ganzseitige Anzeige in der „New York Brüder ist hilfreich. Aber selbst sie können Times“, in der das Institut erklärte, warum mit noch so viel Geld nicht einen Politiker Obamas These der wissenschaftlich belegins Weiße Haus bringen, den die Wähler baren Erderwärmung falsch sei. Die ideo nicht wollen.“
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Politikaward
PO L I T I K E R DES JAHRES
„Das Volk hat gesprochen“ WINFRIED KRETSCHMANNS Wahl zum ersten grünen Ministerpräsidenten Deutschlands war eine Sensation. Die BadenWürttemberger bewundern ihren neuen Regierungschef – selbst die verlorene Volksabstimmung über „Stuttgart 21“ schadet ihm nicht. Ein Interview mit dem Politiker des Jahres. INTERVI E W : SEBASTIAN LANGE, JOH A N N E S A LT M E Y E R
p&k: Herr Ministerpräsident, Sie sind seit rund sieben Monaten badenwürttembergischer Regierungschef. Haben Sie sich schon an die Insignien der Macht gewöhnt? Den sprit-
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schluckenden Dienstwagen Ihres Amtsvorgängers beispielsweise. Winfried Kretschmann: Ob es im 21. Jahrhundert wirklich ein Insignium der Macht ist, eine schwere Limousine zu fahren, das will ich einmal bezweifeln. Im Übrigen: Mittlerweile habe ich ein Fahrzeug, das wesentlich weniger Sprit verbraucht. Na-
türlich ist es gepanzert und daher ziemlich schwer. Aber es ist umweltfreundlicher als das Vorgängermodell. Sie sind einen weiten politischen Weg gegangen: vom späten Achtundsechziger bis zum Ministerpräsidenten. Würde der Kretschmann der 70er Jahre den heutigen Kretschmann als zu bürgerlich kritisieren? Das glaube ich nicht. Nachdem ich meine linksradikale Vergangenheit hinter mir gelassen habe, war meine weitere politische Entwicklung nicht mehr so kurvenreich. Und was meine Werteorientierung angeht, meine Grundauffassungen, da habe ich seit vielen Jahren ein klares und festes Gerüst. Sind Sie ein Wertkonservativer? Wer mich so beschreibt, der denkt in Klischees. Natürlich habe ich meine konser-
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Foto: www.marco-urban.de
vativen Ecken. Und auch eines der wichtigsten Ziele der Grünen ist konservativ: die Schöpfung zu bewahren. Aber ich würde mich eher als Liberalen bezeichnen. Und selbst mit der Nachhaltigkeit ist es doch so: Um etwas bewahren zu können, muss man Dinge auch verändern. Zum Beispiel das aktuelle Wirtschaftssystem. Ist Ihnen die Occupy-Bewegung sympathisch? Durchaus. Die Finanzmärkte haben eine dienende Funktion gegenüber der Realwirtschaft. Sie daran zu erinnern, und zwar heftig und klar, das ist richtig. Sie engagieren sich in der katholischen Kirche, deren Papst anmahnt, dass der Mensch nicht zum Diener des Kapitals werden dürfe. Wurzelt Ihre Sympathie für die Occupy-Bewegung im Glauben? Die soziale oder sozialökologische Marktwirtschaft ist natürlich durch das christliche Gedankengut imprägniert. Die Nächstenliebe ist – neben der Gottesliebe – das wichtigste Gebot. Mit dem Subsidiaritätsgedanken hat die Kirche der Welt außerdem ein wunderbares Geschenk gemacht. Bedauerlich ist, dass sie es nur als Exportartikel betrachtet. In den eigenen Reihen wird es nicht wirklich angewendet. Der Konflikt um „Stuttgart 21“ war einer der Gründe für Ihren Wahlsieg Ende März, doch müssen Sie als Ministerpräsident nun für die Umsetzung des Projekts sorgen. Haben Sie keine Angst, dass Sie Ihre Wähler verprellen werden? Das Volk hat gesprochen – und zwar in einer direkten Abstimmung. Mehr Demokratie geht einfach nicht. Deswegen muss jeder Demokrat das akzeptieren. Wir müssen uns immer wieder vor Augen führen: In einer Demokratie entscheidet am Ende immer die Mehrheit – und nicht die Wahrheit. Und das ist gut so. Werden Sie Wasserwerfer einsetzen, wenn die „S21“-Gegner auch weiterhin gegen das Bauprojekt demonstrieren? Ich bin qua Amt dazu verpflichtet, Recht zu wahren – dazu gehört auch das Baurecht. Aber dazu gehört auch das Demonstrationsrecht. Um dort eine ausgewogene Balance zu finden, orientiere ich mich an der Verhältnismäßigkeit der Mittel. Diese muss man beachten. Aber mir ist auch klar: Letztlich bleibt das ein Dilemma, das ich nie ganz lösen kann.
Was ist Ihr Fazit des Konflikts um „Stuttgart 21“? Diese Protestbewegung hat Deutschland einen großen Dienst getan. Sie ist in der Sache zwar gescheitert, in der gesamten Republik hat sie jedoch etwas angestoßen: In Zukunft werden solche Projekte nicht mehr von oben durchgedrückt. Die Bürgerschaft wird daran beteiligt. Von daher kann ich mit Überzeugung sagen, dass diese Protestbewegung erfolgreich war. Der Protest als Lehrstunde in Sachen Demokratie. Nicht nur das. Die Demonstrationen waren ein großer Schritt in Richtung Bürgergesellschaft. Wenn wir erreichen, dass die Zivilgesellschaft die gleichen Möglichkeiten hat, so auf Regierung und Par-
„Ich kann nicht mehr so unbekümmert reden wie in der Opposition“ lament einzuwirken, wie es starke Interessenvertretungen und Lobbys schon immer getan haben, dann haben wir einen guten Job gemacht. Sind Sie ein Befürworter von direkter Demokratie? Ja, denn es gibt keinen Grund, dem Volk zu verweigern, solche Entscheidungen wie „Stuttgart 21“ anzufechten. Genauso wichtig ist jedoch, neue Formate zu entwickeln, die es den Bürgern ermöglichen, sich an neuen Infrastrukturprojekten und ähnlichen strittigen Vorhaben zu beteiligen. Zum Schluss müssen natürlich immer gewählte Mehrheiten darüber abstimmen – oder eben das gesamte Volk. Sie sind der erste grüne Ministerpräsident in Deutschland. Wie haben die Mitarbeiter im Stuttgarter Staatsministerium, dieser alten CDU-Bastion, auf Sie reagiert? Im Staatsministerium arbeite ich mit einer hervorragenden Ministerialverwaltung zusammen. Das sind engagierte Beamte, die das machen, was sie sollen. Dazu gehört auch, einen Wechsel an der Spitze zu akzeptieren. Die Verwaltung folgt dem Demokratieprinzip. Das ist die Theorie – es ist erfreulich, das in der Praxis mitzuerleben. Als p&k Sie Ende November mit dem Politikaward ausgezeichnet hat, hielt
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Thomas Schmid, der Herausgeber der Welt-Gruppe, die Laudatio. Schmid, der Sie gut kennt, sagte, dass er Ihren neuen Weg mit Sympathie verfolge, aber auch mit Sorge. Muss er das? Höchstens, wenn es um meine Gesundheit geht. Spüren Sie bereits die Belastung durch das Amt? Es beansprucht einen mit einer Totalität, die ich so nicht erwartet habe. Jeder, der in so ein Amt gewählt wird, muss sich ganz gezielt Freiräume schaffen, sonst hält er das auf Dauer nicht durch. Sehnen Sie sich womöglich nach der Oppositionsbank zurück? Nein, in keiner Weise. Unser Ziel in der Opposition war es ja, die Regierung abzulösen. Nach 30 Jahren haben wir das jetzt endlich geschafft. Müssen Sie sich als Regierungschef oft verbiegen? Etwas biegen lassen muss ich mich schon. Jeder Halbsatz wird jetzt auf die Goldwaage gelegt. Ich kann also nicht mehr ganz so unbekümmert reden wie in der Opposition. Aber mich in meinem Alter verbiegen zu lassen? Nein. Fühlen Sie sich inzwischen schon als Landesvater, oder ist das nicht die Rolle, in der Sie sich sehen? In den ersten drei Monaten habe ich mich gegen den Begriff gewehrt. Ich finde ihn so paternalistisch. Aber mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt. Es scheint ein Bedürfnis nach diesem Typ Politiker zu geben. Ich interpretiere das einfach so: In schweren Krisenzeiten wollen die Menschen jemanden haben, der besonnen und verlässlich ist. Auf Bundesebene befinden sich die Grünen im Umfrage-Sinkflug, ihre Werte in Baden-Württemberg dagegen steigen. Das bekomme ich mit. Aber als Christ weiß ich, dass zwischen Hosianna und Kreuzigung nur drei Tage liegen.
Winfried Kretschmann ist seit Mitte Mai baden-württembergischer Ministerpräsident und Deutschlands erster grüner Regierungschef. Die Jury begründete ihre Wahl, den 63-Jährigen zum „Politiker des Jahres“ zu küren, mit dem „neuen Politikstil der Offenheit und Beteiligung“ die Kretschmann in die Landespolitik gebracht hat.
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In den Bundesministerien verliert das Ideal des preußischen Beamten an Bedeutung ����������
Was ein Fotograf bei Interviews mit Politikern erlebt – und was er ihnen rät
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Die Lobby der Netzbürger
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Die Politik setzt immer stärker auf Youtube-Filme als Kommunikationskanal
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Die konservativen Koch-Brüder Charles und David spalten die USA ���������������
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Zwischen Fraktionszwang und Gewissen
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Welche Rolle das Design im modernen Wahlkampf spielt �����������
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Die US-Kampagnentrends
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Die Bürger erwarten mehr Transparenz – doch die Parlamentarier tun sich schwer ���������������� �
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Das Internetportal Greenleaks soll helfen, Umweltskandale aufzudecken. ���������
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Was Politiker von Machiavelli & Co lernen können
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Die Sozialen Medien spielen bei der arabischen Revolution eine wichtige Rolle. ���������������
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Wie Helmut Metzner von den Medien zum „Maulwurf“ gemacht wurde.
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