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Helios Media GmbH | ISSN 1610-5060 | Ausgabe 06/13 | Oktober 2013 | 7,20 Euro

www.politik-kommunikation.de

Analysiert Peter Radunski und Frank Stauss erkl辰ren den Ausgang der Bundestagswahl KAMPAGNE 44

Kompliziert Die wichtigsten Spielregeln f端r Lobbyisten in Br端ssel

INTERNATIONAL 52

Hallo Kollegen!

stag? e d n u B m i Mal Zum ersten n m端ssen. e s is w t z t je ie S A lles, was Ab Seite 16


Inhalt

politik&kommunikation 6/13 – Oktober 2013

16 Neu formiert

44 Analysiert

52 Kompliziert

Im 18. Deutschen Bundestag gibt es 229 neue Bundestagsabgeordnete. Um ihnen den Start ins Parlamentsleben zu erleichtern, gibt p&k Tipps für die ersten Wochen.

Hat die SPD die Stimmung der Wähler falsch eingeschätzt und was ließ die FDP scheitern? Die Wahlkampfexperten Peter Radunski und Frank Stauss im Interview.

Noch nie hatte eine Bundesregierung in Brüssel so viel Macht wie derzeit. Dennoch müssen Lobbyisten einige Spielregeln beachten, um nicht verloren zu gehen.

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40 „Zeit des Horchens“ Ex-Lobbyist Wolf-Dieter Zumpfort im Interview von Nicole Alexander

61 Kompakt 62 Wie lief der Wahlkampf im Netz? Kolumne von Martin Fuchs 63 Und der Wahlkampf im Fernsehen? Kolumne von Jörg-Uwe Nieland 64 Bücher und TV

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Meldungen Vielfalt im Plenum, Vorteil Merkel

������� 12 Haben Politiker zu viel Macht in Rundfunkräten? Pro und Kontra von Kurt Beck und Thomas Jarzombek 14 Schon gehört? – Lange nichts gehört! Im Porträt: Rasmus Andresen (Grüne) und Ole von Beust (CDU) von Christian Lipicki 16 Neu hier? 18 „Wow!“ Die Bundestagsneulinge Cemile Giousouf (CDU), Karamba Diaby (SPD) und Julia Verlinden (Grüne) im Interview von Nicole Tepasse 20 Was ist denn ein Mitarbeiter-Sharing, Herr Movassat? Interview mit Niema Movassat (Linke) von Christina Bauermeister 22 Wo geht’s lang? p&k begleitete Emmi Zeulner (CSU) an ihrem ersten Tag im Bundestag von Nicole Tepasse 25 Ach, ihr wohnt zusammen? p&k schaut sich an, welche parlamentarischen Wohnformen es gibt von Christina Bauermeister 28 Und welcher Typ sind Sie? Eine kleine Abgeordneten-Typologie von Nicole Alexander und Marcel Franke 30 Wir sind die Neuen p&k stellt alle 229 neuen MdBs vor

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�������� 42 Kompakt 44 „Nachdenken hilft“ Die Wahlkampf-Profis Peter Radunski und Frank Stauss im Interview von Nicole Alexander ������������� 48 Kompakt 50 Österreich bleibt anders Eine Analyse der Nationalratswahlen von Peter Köppl 52 Brüsseler Fallstricke Das sind die Spielregeln für EU-Lobbyisten von Daniel Brinkwerth und Daniel Florian 54 Ein Graf und ganz Europa p&k-Historie: Teil 21 von Marco Althaus ������ 57 Rhetorik 58 Der weite Weg zum Markenzwieback Tipps für eine erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit als Abgeordneter von Claudius Kroker

����� 66 Karrierekurve Wolfgang Kubicki 68 Personen und Karriere Zwei neue Sprecher für die Werbewirtschaft, Schillinger ist Präsident 72 Gala Die wichtigsten Events 76 Porträt in Zahlen Anton Hofreiter 77 Mein Lieblings... p&k fragt Bundestagsabgeordnete nach dem, was ihnen lieb ist 78 Ossis Welt Das Politikbilderbuch �������� Redaktionstagebuch Liebling des Monats Machtlos im Bundestag Essay von p&k-Chefredakteurin Nicole Alexander 80 Letzte Seite 82 Liebling des Heftes 3 5 6

pol i t ik & kommunikation | Oktober 2013

Cover-Illustration: Wikimedia Commons / Fotos: Thomas Seuthe; SPD; Rainer Christian Kurzeder; Laurin Schmid; European Union 2013 - European Parliament / Pietro Naj-Oleari

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Foto: SPD

Liebling des Monats: Michael Adam Er gilt als das Wunderkind der Bayern-SPD. Und wenn ein 26-jähriger Sozi im tiefschwarzen Niederbayern Landrat wird, kann man durchaus von einem kleinen Wunder sprechen. Ganz zu schweigen davon, dass Michael Adam als schwuler Protestant nun so gar nicht zum landläufigen Klischee eines bayerischen Lokalpolitikers passt. Aber er ist bodenständig und kommt bei den Menschen gut

an. So einen wie ihn könnte man auch bei der CSU gut gebrauchen, heißt es mancherorts. Und vielleicht erfüllt sich der Wunsch der Christsozialen schneller als gedacht. Denn spricht man die bayerischen Genossen auf Adam an, wirken viele etwas verschnupft. Der Grund: Adam hat bei der Bundestagswahl die CSU gewählt. Für ihn wären manche Genossen auf der Landesliste einfach „nicht

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wählbar“ gewesen, rechtfertigte er sich auf Facebook. Die Niederlage bei der Landtagswahl sei totgeschwiegen worden. Und der Stimmenzuwachs, den es gab, allein dem Wahlkämpfer Christian Ude zu verdanken. So spricht keiner, der brav die Sprossen der Parteikarrierenleiter erklimmen will. Aber das kann und will Adam auch nicht. Der Landrat hat schon länger eine ernste Fehde mit sei-

nem Landesvorsitzenden Florian Pronold. Mehr als Parteifreunde werden die beiden in diesem Leben wohl nicht mehr. Und während Pronold nun wieder als Abgeordneter nach Berlin entschwindet, bleibt Adam zurück in der bayerischen Provinz. Eins hat die SPD offensichtlich wirklich nicht aus der Landtagswahl gelernt: In Bayern wählt man auch gern mal einen politischen Querschläger.

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Politik

Grüner Kräftesammler VON CHRISTIA N L I P I C K I

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ei den Grünen sitzt der Schock tief. Statt Stimmenzuwächse gab es für die Partei bei der Bundestagswahl einen Dämpfer. Während sich die Führungsspitze neu formiert, bereiten sich die Hoffnungsträger der nächsten Generation auf höhere Weihen vor. Viele von ihnen sind derzeit in der Landespolitik aktiv. Rasmus Andresen ist einer davon. Mit 27 Jahren hat der Politiker sein Leben noch vor sich. Und doch hat der Flensburger schon viel erreicht: Für die Grünen sitzt er seit 2009 im Kieler Landtag und zählt als Fraktionsvize längst zu den Spitzen-Grünen an der Förde. Außerdem gehört er seit etwa einem Jahr dem 16-köpfigen Bundesparteirat an – der Schaltstelle der Grünen: Der Parteirat berät den Bundesvorstand und koordiniert die Arbeit von Bundespartei, Landesverbänden und Fraktionen. Neben Partei-Prominenten wie Jürgen Trittin und Claudia Roth finden sich hier bundesweit noch nicht so bekannte Grüne wie Tarek Al-Wazir oder Gesine Agena. Und eben Andresen. „Die Jüngeren nehmen genauso Einfluss wie die Älteren“, sagt er. „Hier kann man Dinge in Bewegung bringen.“ Etwas bewegen, Politik gestalten – das ist ihm wichtig. „Die Grünen sind nicht ausschließlich eine ökologische Partei“, sagt Andresen, der sich dem linken Flügel zuordnet. „Wir stehen genauso für soziale Gerechtigkeit und Freiheit im Sinne der Bürgerrechte.“ Deshalb habe er sich mit 15 Jahren für die Grünen entschieden. Und nicht für die SPD, der sein Vater angehört. Sich kritisch mit seiner Umwelt auseinanderzusetzen, hat Andresen in der Schule gelernt. In Essen geboren, wächst er in Flensburg auf, wo seine Mutter Helga eine Professorenstelle für Sprachwissenschaft übernimmt. Wegen seiner dänischen Wurzeln besucht Andresen dänische Schulen und macht dort 2005 sein 4

Abitur. „Der Umgang auf dänischen Schulen ist lockerer, gleichzeitig wird viel kontroverser über Politik diskutiert“, sagt er. Während seiner Schulzeit erleben in Dänemark die Rechtspopulisten einen Aufschwung. Andresen ist irritiert über die Entwicklung in dem bis dahin so offenen Land. Und er lernt, dass man seine Ansichten engagiert vertreten muss. Nach dem Zivildienst in den Mürwiker Werkstätten studiert er Verwaltungs- und Kom-

munikationswissenschaften im dänischen Roskilde. „Ich kann heute sagen, ich bin ein Europäer und ich fühle europäisch. Es ist gut, über den Tellerrand hinauszuschauen“, sagt er.

Harte Politikschule Nach kurzem Gastspiel bei der dänischen Socialistisk Folkeparti und deren Jugendorganisation kommt Andresen gerade rechtzeitig zur Landtagswahl nach Schleswig-Holstein zurück. Weil die Grünen ihr Ergebnis auf 12,4 Prozent verdoppeln, gelangt er trotz des unsicheren Listenplatzes 10 in den Landtag. Hochschul-, Armutsund Minderheitenpolitik sind seine Felder. Bei den Grünen keine Nebenthemen. Abermals macht er wertvolle Erfahrungen. „Man muss geduldiger sein, als ich

es mir vorgestellt habe“, sagt er. „Politische Entwicklungen brauchen ihre Zeit. Aber das Schöne ist: Am Ende hat man wirklich etwas verändert.“ Eine weitere Lehre nimmt er mit: Gute Ideen sollte man nicht ignorieren, auch wenn sie von der politischen Konkurrenz kommen. Als Beispiel nennt er die von der Piratenpartei initiierte Absenkung des Wahlalters in SchleswigHolstein auf das 16. Lebensjahr. Bei der Landtagswahl 2012 zieht Andresen erneut ins Parlament in Kiel ein, diesmal über den Listenplatz 4. Inzwischen hat er sich einen Namen gemacht. Als haushalts- und finanzpolitischer Sprecher der Fraktion und Fraktionsvize der an der Landesregierung beteiligten Grünen steht er nun stärker im Rampenlicht. Und muss zeigen, dass er mit Protesten umgehen kann. Diese harte Politikschule erdet ihn. Und er macht sich Gedanken über Reformen – auch in seiner Partei. „Es ist klar zu spüren, dass sich Parteispitze und Basis sowie Parteispitze und Landesverbände, insbesondere die mit Regierungsverantwortung, besser austauschen müssen“, sagt Andresen. „Jetzt ist die Zeit, das anzugehen.“ Überdies glaubt er, dass die Zeit reif dafür sei, die linken Kräfte in Deutschland zu bündeln. „SPD, Linke und Grüne haben viele Gemeinsamkeiten. Diese stärker zur Geltung zu bringen, würde der linken Politik gut anstehen“, sagt er. „Auch deshalb haben wir mit vielen Unterstützern das Institut Solidarische Moderne gegründet, das quasi als Vordenker neue Wege als Alternative zum Neoliberalismus aufzeigen kann.“ Auch über seine eigene Zukunft hat Rasmus Andresen konkrete Vorstellungen. „Ich mag die parlamentarische Arbeit in Schleswig-Holstein“, sagt er. „Mir gefällt gleichzeitig die Kombination, mich auch in der Bundespartei einzubringen. Das ergänzt sich ideal.“ So spricht jemand, der bereit ist, stärker Verantwortung in der Partei zu übernehmen. Vielleicht nicht gleich. Aber künftig.  pol i t ik & kommunikation | Oktober 2013

Foto: rtn, ute strait

SCHON GEHÖRT? Während sich die Grünen nach der Wahlschlappe neu formieren, bereiten sich die jungen Hoffnungsträger der Partei auf höhere Aufgaben vor. Einer davon ist RASMUS ANDRESEN.


Schwarzer Hamburg-Versteher LANGE NICHTS GEHÖRT! Er hat gezeigt, dass die CDU Großstadt kann, und die erste schwarz-grüne Regierung auf Landesebene gewagt. Heute genießt OLE VON BEUST sein Leben ohne Politik. VON CHRIST I A N L I P I C K I

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roßstädte sind für die CDU eine Herausforderung. „Da wird tendenziell links gewählt“, sagt Ole von Beust. Auch in Hamburg. 44 Jahre lang regiert dort die SPD. Doch bei der Bürgerschaftswahl 2001 gelingt von Beust das Unerwartete: Er setzt sich an die Spitze der Hamburger Stadtregierung und bleibt für neun Jahre Erster Bürgermeister. Beim Antritt seines Amtes ist der damals 46-Jährige politisch ein alter Fahrensmann. Ole von Beust tritt mit 16 Jahren in die CDU ein, arbeitet bald als Assistent der CDU-Bürgerschaftsfraktion und ist später sechs Jahre lang Vorsitzender der Hamburger JU. 1978 zieht er als Abgeordneter in die Bürgerschaft ein. Da ist er gerade 23 Jahre alt und mitten im Jura-Studium.

Beust. „Er war kein schäumender Rechter. Und ich wollte regieren nach all den Jahren in der Opposition.“ In der ersten Amtszeit von Ole von Beust als Bürgermeister wird großes politisches Theater geboten. Schill macht Anstalten, von Beust mit dessen Homosexualität zu erpressen. Schließlich ist es aber der Vater, der entsprechende Gerüchte über seinen Sohn Ole öffentlich bestätigt. „Es war für mich wie ein Schlag. Mein Vater

Großes Polit-Theater

Fotos: Marco Urban; Froehling Mike

Politik bleibt für ihn lange ein Ehrenamt. „Der Entschluss, Politik zum Beruf zu machen, kam erst 1993.“ Damals wird er Chef der CDU-Fraktion in Hamburg. Vier Jahre später geht er als Spitzenkandidat seiner Partei in die Bürgerschaftswahl – und verkürzt den Vorsprung der SPD auf 5,5 Prozent. Offenbar hat die Hamburger CDU verstanden, wie Großstadt-Politik funktioniert. Von Beust will die SPD-Regierung bei nächster Gelegenheit ablösen. 2001 ist es soweit. Zwar verliert die CDU Stimmen, bildet aber mit der FDP und der Partei Rechtsstaatlicher Offensive von Ronald Schill eine Regierungskoalition. Ausgerechnet Schill, den viele ablehnen. „Schill war nicht das Böse schlechthin“, sagt von

hatte nichts abgesprochen. Ich glaube ihm aber, dass er mir nicht schaden wollte.“ Tatsächlich steigt seine Popularität. Gleichzeitig greift er hart durch: „Weil ich Schill aus der Regierung entfernte, galt ich fortan als Drachentöter. Einer, der Schill besiegt hat.“ Von Beust ist auf dem Höhepunkt seiner politischen Karriere. Bei der Wahl 2004 gibt ihm beinahe jeder zweite Hamburger seine Stimme. Absolute Mehrheit für die CDU. Da ist sie, die GroßstadtCDU. Und Ole von Beust ihr Meister.

Wer wird wichtig in der Berliner Republik? Und was ist aus denen geworden, die einmal wichtig waren oder den ganz großen Durchbruch nicht geschafft haben? Diesen Fragen geht p&k in einer PORTRÄT-SERIE nach. pol it ik & kommunikation | Oktober 2013

Doch bei der Bürgerschaftswahl 2008 landet die CDU nur noch bei rund 43 Prozent. Von Beust braucht die Grünen als Koalitionspartner. Wieder Neuland. Und eine Premiere: In Hamburg geht das erste schwarz-grüne Regierungsbündnis auf Landesebene an den Start. „Hier hat das wunderbar geklappt“, sagt er. „Die Grünen waren pragmatisch – egal, ob Wirtschaftsförderung oder Straßenbau.“ Im Gegenzug lässt er sich auf eine Schulreform ein. Glaubt er, Schwarz-Grün sei auf den Bund übertragbar? „Wenn sich die CDU gesellschaftspolitisch moderner aufstellt und die Grünen mehr wirtschaftliches Know-how au�auen, dann ist Schwarz-Grün irgendwann auch im Bund vorstellbar“, sagt er. Von Beust ist zu Beginn seiner dritten Amtszeit 37 Jahre politisch aktiv. Doch der Schwung, der ist raus. Ein Ruf in die Bundespolitik – das hätte ihn vielleicht gereizt. 2008 steht für ihn fest, dass er 2012 nicht wieder antreten will. Am 18. Juli 2010, eine halbe Stunde vor der Schließung der Wahllokale zum Volksentscheid über die Schulreform, erklärt von Beust überraschend seinen Rückzug. Seitdem hat der 58-Jährige, der im Mai 2013 seinen Lebensgefährten heiratet, eine neue Freiheit gewonnen. Er arbeitet zunächst für die Unternehmensberatung Roland Berger, baut dann seine eigene Kanzlei auf und berät Investoren. „Es läuft sehr gut“, sagt er. „Ich kann gestalten und muss nicht vorher alle möglichen Gremien überzeugen.“ Zufrieden sei er, ja, auch glücklich. Und wenn er in Hamburg unterwegs ist, dann denke er oft: „Ach, hier hast Du doch viele Spuren hinterlassen. 

Christian Lipicki arbeitet heute in einem Bundesministerium. Er war zuvor Pressesprecher und viele Jahre lang Journalist. Für p&k schreibt er privat.

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Titel

Und welcher Typ sind Sie? Der Bundestag ist eine Welt für sich. Und seine Mitglieder eine ganz besondere Spezies. Gar nicht so leicht, da durchzublicken. Grund genug für eine KLEINE ABGEORDNETEN-TYPOLOGIE.

DER POLIT-PROMI

DER QUEREINSTEIGER

DER STRIPPENZIEHER

Ist im Parlament und außerhalb bekannt wie ein bunter Hund. Weil er ein wichtiges Amt hat. Oder weil er was zu sagen hat. Oder beides. Oder weder noch. Der Polit-Promi ist ein Meister der Selbstinszenierung. Er liebt es, im Rampenlicht zu stehen, und schmückt sich gern mit einem Markenzeichen: gelber Pullunder, roter Schal, Fliege. Das hat den Vorteil, dass er im Bundestag weder von den Kollegen noch von einem Kamerateam übersehen werden kann. Im Plenum sitzt er selbstverständlich in der ersten Reihe. Doch sein Lieblingsplatz ist der TalkshowSessel.

Plakate kleben und im Wahlkampf Flyer in der Fußgängerzone verteilen? Damit hat der Quereinsteiger nichts am Hut. An der Basis finden das nicht alle toll. Beruflich hat der Quereinsteiger schon viel erreicht. Jetzt will er sich auf politischem Gebiet beweisen. Er wird meist gerufen, weil sich die Partei mit einem echten Experten oder Promi schmücken will und ein unverbrauchtes Gesicht her muss. Das kann gut gehen (Ursula von der Leyen), muss es aber nicht (Paul Kirchhof).

Der große Auftritt ist seine Sache nicht, den überlässt er gern seinen medienaffinen Kollegen. Der Strippenzieher wirkt lieber hinter den Kulissen, dreht dort an allen wichtigen Entscheidungen mit. Absprachen treffen, Unterstützung organisieren, die Dinge still und leise regeln: Das ist sein Metier. Er hat gern alles im Griff; nichts ist ihm mehr zuwider, als wenn innerparteiliche Konflikte nach außen gelangen. Dass er in der Öffentlichkeit längst nicht so bekannt ist wie der Polit-Promi, stört ihn nicht. Denn er ist schlau und weiß, dass zwischen öffentlicher Wahrnehmung und tatsächlicher politischer Macht ein himmelweiter Unterschied besteht.

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DAS URGESTEIN

DER PARTEIKARRIERIST

Nicht mit dem Querulanten zu verwechseln, auch wenn seine Fraktionskollegen das gern behaupten. Fällt durch eigenwillige Ansichten auf, die nicht immer auf Parteilinie liegen, und zelebriert gelegentlich den Habitus des aufrechten Denkers. Seiner Fraktion geht der Querdenker mitunter gehörig auf die Nerven, weil er seine Meinung vorzugsweise dann herausposaunt, wenn sie das gerade gar nicht gebrauchen kann. In der Öffentlichkeit ist er als Gegenmodell zum ach so angepassten Durchschnittspolitiker meist beliebt – und das weiß er auch zu nutzen.

Ist gefühlt seit Gründung der Bundesrepublik im Bundestag und kennt alle Kneipen im ehemaligen Bonner Parlamentsviertel. Hat im Laufe der Zeit fast jedes parlamentarische Amt innegehabt und ist dabei zu einer Art Übervater seiner Fraktion geworden. Das Urgestein hat sich in vielen Jahren parlamentarischer Auseinandersetzung eine gewisse Schlitzohrigkeit zugelegt und weiß genau, für welche politischen Ziele es sich zu kämpfen lohnt. Seinen Humor hat es dabei nicht verloren, im Gegenteil.

Mit 14 Jahren in die Jugendorganisation der Partei, mit 16 in die Mutterpartei, mit Anfang 20 Mitglied in diversen Parteigremien und irgendwann in einem Landesparlament oder im Bundestag: Der Parteikarrierist hat die klassische Ochsentour durchlaufen: geduldig, hartnäckig, immer den nächsten Posten im Blick. Er verfügt über Sitzfleisch, eine ausgeprägte Frustrationstoleranz und einen untrügbaren Instinkt für Gefahren, die durch innerparteiliche Rivalen drohen. Und er weiß: Ohne Mentoren, ohne Netzwerk und ohne klares Ziel vor Augen geht gar nichts.

DER FEINGEIST

DER UNSICHTBARE

DER YOUNGSTER

Führt ein Leben neben der Politik. Klassische Musik, bildende Kunst, Literatur sind seine wahren Steckenpferde. Seine Reden im Plenum sind geschliffen, ungehobelte Kollegen sind dem Feingeist ein Graus. Die finden ihn oft etwas abgehoben – vor allem wenn er im Plenum anfängt, über den deutschen Parlamentarismus zu philosophieren. Doch solange er politisches Talent beweist, lassen sie ihn gewähren – und hieven ihn gern auf repräsentative Posten.

Hat keine herausgehobene Funktion und fällt auch nicht durch Fachwissen auf. Im Plenum sitzt der Unsichtbare am liebsten hinten und das Reden überlässt er sowieso anderen. Kurzum: Man wüsste gar nicht, dass es ihn gibt, wäre da nicht die parlamentarische Sommerpause. Dann nämlich äußert er gelegentlich ausgefallene Vorschläge, die von den Journalisten gern aufgegriffen werden, um das Sommerloch zu füllen. Weil er dafür aber oft Spott erntet, flüchtet er mit Beginn der Sitzungszeit wieder in seinen bevorzugten Zustand: die Unsichtbarkeit.

Jahrelange Ochsentour durch die Parteiebenen? Das überlässt der Youngster anderen. Er selbst nimmt lieber die Abkürzung ins Machtzentrum. Bester Ausgangspunkt für eine politische Blitzkarriere: ein Referentenjob bei einem gut vernetzten Abgeordneten. Da lernt man gleich die richtigen Leute kennen, um sich bei der nächsten Wahl einen aussichtsreichen Listenplatz zu angeln. Im Parlament angekommen, legt sich der Youngster gern mit der Fraktionsspitze an, indem er unpopuläre Vorschläge äußert. Das sorgt für Aufmerksamkeit – und das begehrte Rebellen-Image.

Bilder: Marcel Franke

DER QUERDENKER

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CDU-Mann Radunski

Werber Stauss


Kampagne

„Nachdenken hilft“ PETER RADUNSKI hat als Bundesgeschäftsführer so manchen Wahlkampf der CDU verantwortet, FRANK STAUSS als Werber viele frühere Wahlkampagnen für die SPD. Mit p&k sprachen die beiden über das Totenglöckchen der FDP bei der Bundestagswahl 2013, platte Umfragen und warum Parteien die Wählerstimmung oft falsch einschätzen.

INTERVIEW: NICO L E A L E X A N D E R

Fotos: Laurin Schmid

p&k: Herr Radunski, wo haben Sie sich

die Wahl angeschaut? Peter Radunksi: Zuhause. Im Konrad-Adenauer-Haus redet man immer mit so vielen Leuten, da hätte ich zum Schluss gar nicht gewusst, wie das Ergebnis ist. Deswegen bin ich an Wahlabenden nicht so gerne dort. Und wo waren Sie am 22. September, Herr Stauss? Frank Stauss: Im Willy-Brandt-Haus, oben im 6. Stock. Als es am späten Nachmittag zum ersten Mal Gerüchte gab, die Union könnte die absolute Mehrheit haben, herrschte da natürlich Fassungslosigkeit. Hat Sie der Wahlausgang überrascht? Radunski: Ja. Dass die FDP nicht gut abschneiden würde, war klar. Aber dass sie aus dem Bundestag fliegt, damit habe ich nicht gerechnet – noch dazu bei einer Bundestagswahl, bei der es der CDU so gut geht. Das ist schon eine Sensation. Genauso überrascht war ich vom guten Abschneiden der CDU. Stauss: Ging mir genauso. Bei den letzten beiden Bundestagswahlen haben wir erlebt, dass die Union am Wahlabend schlechter abgeschnitten hat als bei den letzten Umfragen vor der Wahl. Und dass es die FDP nicht schafft, hat wirklich niemand erwartet. Das zeigt, dass man eben nicht alles steuern kann. Wie meinen Sie das? Stauss: Die CDU hatte Angst, dass etwas Ähnliches passiert wie bei der Landtagswahl in Niedersachsen im Januar, wo die Liberalen mit ihrer Zweitstimmenkampagne völlig überraschend ein für sie traumhaftes Wahlergebnis eingefahren haben. Deswegen hat die Union nach der Baypol it ik & kommunikation | Oktober 2013

ern-Wahl massiv dafür geworben, mit der Zweitstimme nicht die FDP zu wählen. Ob sie heute damit noch so glücklich ist und nicht lieber ein Prozent weniger gehabt hätte und die Liberalen dafür ein Prozent mehr – wer weiß. Radunski: Ja, das Wahlergebnis in Niedersachsen und das neue Wahlrecht haben den Leuten bei der Bundestagswahl das Stimmensplitting alles andere als schmackhaft gemacht. Weil viele geglaubt haben, dass es ohnehin Ausgleichsmandate geben wird. Insofern haben auch institutionelle Faktoren aus der Vorzeit des Wahlkampfes den Wahlkampf entschieden. Stauss: Stimmt. Doch das wahre Totenglöckchen für die FDP war die AfD. Das hat man ganz klar an den Wählerwanderungen gesehen. Man darf nicht vergessen: Vor zwei Jahren gab es innerhalb der FDP noch die Eurorebellen, da gab es ganz heftige Debatten, auch Verwundungen. Einige Liberale sind dann zur AfD. Kein Mensch weiß heute, ob die FDP der Union jemals wieder als Koalitionspartner zur Verfügung stehen wird. Radunski: Na, da wage ich den Tipp, dass die FDP in ein paar Jahren wieder da sein wird – und zwar in ihrer schönen Form als Koalitionsbeschafferin. Ich will nicht wissen, wie viele sich heute schon ärgern, dass sie nicht gesplittet haben. Denn die Situation, in der wir uns jetzt befinden, dass eigent-

„Ich muss politisch auch mal etwas so richtig finden, dass ich mich traue, das auch durchzuhalten“ Peter Radunski

lich keine Partei eine Regierung mit einer der anderen Parteien bilden will, findet ja keiner schön. Das stärkt die FDP rückwirkend etwas. Stauss: Was hart wird für die Liberalen, ist die Strecke, die sie vor sich haben. Wir haben im Mai 2014 zunächst einmal Europawahlen, mit einer niedrigeren Prozenthürde, aber mit einem klassischen AfDThema. Und dann kommen drei Landtagswahlen im Osten – auch nicht gerade das Territorium der FDP. Diese Durstrecke wird sich voraussichtlich durch das komplette nächste Jahr ziehen. Radunski: Die AfD ist ja die andere Sensation dieser Wahl. Der Zufall wollte es, dass sie nicht reingekommen ist. Aber ihr gutes Abschneiden ist ein hervorragendes Beispiel dafür, dass man wichtige Themen nicht unterdrücken kann. Das freut mich, auch wenn ich als Wahlstratege keiner Partei empfohlen hätte, über Europa zu diskutieren, weil es nichts bringt. Doch da sollten wir Wahlkämpfer wohl stärker an die Wähler denken. Keine Frage, der Wahlabend war sehr spannend. Wie haben Sie den Wahlkampf erlebt? Stauss: Eine ganz entscheidende Beobachtung war, dass wir im Wahlkampf kein richtiges Thema hatten. Das hat ihn so einzigartig gemacht und zeigt das Dilemma gerade für meine Partei, in diesem Wahlkampf zu reüssieren. Im Juni 2012 betrug der Abstand zwischen CDU und SPD zwei Prozent, am Wahltag, etwas mehr als ein Jahr später, 14 Prozent. Radunski: Sie können sogar 16 Prozent sagen, wenn Sie hart zu sich sein wollen (lacht). Stauss: (lacht ebenfalls) Wenn ich rechnen könnte, meinen Sie? Die Frage ist: 21


Kampagne

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Zwei Wahlkampf-Profis beim p&k-Gespräch: Peter Radunski (l.) und Frank Stauss

ziale Gerechtigkeit ganz stark betont hat. Das ging an der Stimmungslage eines großen Teils der Bevölkerung völlig vorbei. Stauss: Die SPD hat die Umfragen zu banal gesehen. Man kann nicht einfach sagen: 75 Prozent der Leute sind für einen Mindestlohn, dann mache ich eben ein Plakat zum Mindestlohn und 75 Prozent der Leute wählen mich. Radunski: (lacht) Wenn es so einfach wäre, würde man Herrn Stauss und mich nicht brauchen. Der große Nachteil an den heutigen Umfragen ist, dass sie gar nicht mehr operationabel sind.

„Der Schlüssel, eine aussichtslos scheinende Wahl noch zu drehen, liegt in qualitativen Untersuchungen“ Frank Stauss Inwiefern? Radunski: Sie müssten viel differenzierter sein. Wenn es in einer Umfrage heißt: 75 Prozent der Leute sind für einen Mindestlohn, dann muss man sich anschauen: Wie alt sind diese Leute, aus welchem Milieu kommen sie etc. Man bräuchte eine richtige Grundlagenstudie. Solche Studien hatten wir früher. Dadurch konnten wir ein Thema differenziert betrachten und an den Wähler bringen. Heute haben die Parteien dafür kein Geld mehr. Stauss: Oder sie sind nicht willens, das Geld richtig auszugeben. Der Schlüssel, eine aussichtslos scheinende Wahl doch noch zu drehen, lag für uns immer in qualitativen Untersuchungen, in gründlichen Interviews, und nicht in einem platten Ablesen von Mehrheitsmeinungen. Wenn es

immer nach den Mehrheitsmeinungen gegangen wäre, hätte es die entscheidenden Weichenstellungen in dieser Republik nie gegeben. Denn die Menschen sind grundsätzlich erst mal gegen Veränderungen, aber sie sind ja nicht unbelehrbar. Radunski: Im Grunde wird im Wahlkampf verkehrt herum gerechnet. Da wird der Budgetplan gemacht und dann heißt es: Wir brauchen so und so viele Plakate und die City Lights brauchen wir auch noch. Und dann ist das Geld weg. Und dann sollen wir uns auch noch einen Berater wie den Stauss leisten, nein, das geht nun wirklich nicht. Dabei ist die Beratung, das Nachdenken davor, das Entscheidende. Stauss: Dummerweise denken gar nicht so wenige in der Politik, dass die Agenturen die sind, die die Plakate machen, und dass man die nur in den letzten sechs Wochen braucht. Das ist Quatsch. Die ganze Arbeit läuft ja lange, lange vorher. Was hätte die SPD gut daran getan, wenn sie schon früher Berater gehabt hätte, die ihre Agenda 2010 anders verkaufen hätten als ein kaltes Reformpaket. Radunski: Der Landesvorstand der Liberalen in Baden-Württemberg hatte vor längerer Zeit mal beschlossen, dass 30 Prozent des Budgets für Nachdenken ausgegeben wird. Das hätten die FDP-Leute dieses Jahr auch besser getan. Auch wenn die eigentlichen Wahlkämpfe immer kürzer werden, kann das Nachdenken über eine Strategie gar nicht früh genug beginnen. Zurück zum Wahlkampf der SPD: Was hätten Sie gemacht, wenn Sie ihr Kampagnenmacher gewesen wären? Radunski: Zunächst hätte man die gute Stimmung benennen müssen, hätte aber sagen können: Kinder, das geht nicht so weiter. Ein Gedanke steht ja im Raum: Was passiert eigentlich in Europa, wenn diejenigen, die von uns Geld bekommen pol i t ik & kommunikation | Oktober 2013

Foto: Laurin Schmid

Wie konnte das passieren? Wir hatten 2012/13 kein Thema, das die SPD nachhaltig beschädigt hätte, wir hatten auch keine massiven Angriffe der Union auf die SPD. Nichts, was es gerechtfertigt hätte, dass die Partei innerhalb eines Jahres von 32 auf 25 Prozent absackt. Radunski: Stimmt, es gab kein großes Thema im Wahlkampf. Das wird jetzt in den Koalitionsverhandlungen kräftig nachzuholen sein. Ich glaube, viele werden überrascht sein, wie viele wichtige Themen es in diesem Land gibt. Aber ich glaube, entscheidend war etwas anderes. Zu jeder guten Strategie gehört, dass man einschätzt: Wie fühlen sich die Leute? In welcher Stimmung sind sie? Da gab es in diesem Wahlkampf zwei Deutschlandbilder. Das von Merkel, die gesagt hat: Uns geht es prima, so soll es bleiben. Und das von Steinbrück, der wörtlich gesagt hat: Das Land ist nicht im Lot. Das tat mir richtig weh, einen Kanzlerkandidaten so etwas sagen zu hören. Warum? Radunski: Weil es einfach nicht die Stimmung ausgedrückt hat, in der sich die Deutschen in dem Moment befanden. Hinzu kam eine Kanzlerin, die dieses „Feel good“ sehr gut repräsentieren konnte, die keinerlei selbstkritischen Zweifel an ihrem Kurs hat au�ommen lassen. Genauso wie sie über sich selbst nicht lange gesprochen hat. Ein sensationeller Moment im Wahlkampf war für mich, als sie im TVDuell sagte: „Sie kennen mich.“ Eine derart selbstbewusste Aussage eines Spitzenkandidaten hat es in der Geschichte der Bundesrepublik selten gegeben. Da hatte es die SPD schwer, gegenzuhalten. Stauss: Die SPD hat sich in eine Ecke der Hoffnungslosigkeit manövriert dadurch, dass sie nur noch der Anwalt der Armen und Entrechteten war. Da fehlte der klassische sozialdemokratische Aufstiegsgedanke, den diese Partei immer hatte: Dass sie auch denen ein Angebot macht, die nach oben wollen. Wie kann eine Partei in ihrer Einschätzung der Wählerstimmung so falsch liegen? Radunski: Eine solche Fehleinschätzung ist ganz typisch für Parteien. Sie können in sich selbst einen gewissen Konsens bilden, so ist es bei der SPD gewesen. Ich habe mit Spannung, ja sogar mit Aufregung die Parteitage der SPD verfolgt. Da hat Steinbrück versucht, mit seiner Basis wieder eine Einheit zu schaffen, indem er das Thema so-


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haben, um ihre Schulden zu tilgen, dennoch nicht auf die Beine kommen? Darüber hätte man doch diskutieren können. Stauss: Die SPD war schon auf einer längeren Strecke zu hasenfüßig. Bei der ganzen Europa-Debatte hatte sie von Anfang an viel zu viel Angst vor der „Bild“-Zeitung, vor einer Schlagzeile wie: Die SPD will noch mehr Geld nach Griechenland bringen. Dabei hätte sie doch selbstbewusst sagen können: Schaut, mit einem massiven Konjunkturprogramm haben wir 2008 die Wirtschaftskrise in den Griff bekommen, deshalb müssen wir das jetzt in der Eurokrise wieder tun. Die Frage ist: Macht es Sinn, in einer Situation, in der eigentlich alle zufrieden sind, einen mutlosen Wahlkampf zu machen? Und die Antwort ist: nein. Radunski: Wir bekommen ja bei politischen Themen dauernd die Ansage: So und so viel Prozent sind dafür bzw. dagegen. Damit ist das Thema aber noch nicht durch. Ich muss politisch auch mal etwas so richtig finden, dass ich mich traue, das durchzuhalten. Hätte die SPD mit einem mutigen Wahlkampf die Sache noch drehen können? Stauss: Hätte, hätte, Fahrradkette (lacht). Radunski: (lacht ebenfalls) „Sie kennen mich“ und „Hätte, hätte, Fahrradkette“ – diese beiden Sätze des Wahlkampfs muss man sich merken. Stauss: Ja, das wird bleiben. Radunski: Realistisch gesehen hätte die SPD es nicht so drehen können, dass sie eine rotgrüne Mehrheit bekommen oder gar vor der Union gelegen hätte. Ich glaube allerdings, dass sie mit einer perfekten Kampagne die Chance gehabt hätte, auf um die 30 Prozent zu kommen. Sie hat ja in den letzten drei Wochen einen wirklich tollen Wahlkampf gemacht und echten Kampfgeist gezeigt. pol it ik & kommunikation | Oktober 2013

Stauss: Ja, die Leute waren bereit zu fighten.

Die waren draußen auf der Straße, überall. Diesmal hat die Basis der Spitze gezeigt, wie es geht, und nicht umgekehrt. Kompliment übrigens an die Union: Ihr Durchmarsch war ja alles andere als selbstverständlich. Wenn man zurückschaut: Die Wahl in Nordrhein-Westfalen 2012: eine Katastrophe für die CDU. Dann die vielen Kabinettsrücktritte. Und die Wahlniederlage in Niedersachsen noch im Januar. Und dann dieses Ergebnis bei der Bundestagswahl. Das war schon eine Leistung. Heute sagen alle: Das war selbstverständlich…

„Diese Wahl hat gezeigt, dass die Persönlichkeit des Spitzenkandidaten immer wichtiger wird“ Peter Radunski Radunski: Nein, davon kann gar keine Rede

sein. Das ist erarbeitet worden. Die CDU hat es mit etwas anderen Mitteln gemacht als die SPD, aber sie hat auch gut durchmobilisiert. Der beste Beweis dafür ist, dass Nichtwähler zurückgekommen sind. Die Volksparteien waren ja ein Steinbruch für Nichtwähler. Und das haben sie in diesem Wahlkampf durch Gespräche und Haustürwahlkampf verhindert. Die CDU ist ja oft für ihre asymmetrische Demobilisierungsstrategie kritisiert worden. Radunski: Das Wort gefällt mir gar nicht, so etwas hat es auch nie gegeben. Bevor die CDU überhaupt angefangen hat, hat die Kanzlerin ja einen eigenen Wahlkampf gemacht, wie ich ihn in der Qualität eigentlich nur bei Willy Brandt gesehen habe.

Mit all den Komponenten der Sympathie – ob sie nun ins Kino gegangen ist oder spazieren war, ob sie Schulklassen besucht oder mit Leuten diskutiert hat. Der Homestory-Faktor? Radunski: Ja, aber sie hat das alles in einer Form gemacht, wo es nicht so knackte vor PR-Handwerk, sondern wo es fast eine normale menschliche Mitteilung war. Ich will das mal generalisieren: Dies war ein Wahlkampf, in dem eine einzelne Person eine riesige Rolle gespielt hat. Ich denke, diese Wahl hat gezeigt, dass die Persönlichkeit des Spitzenkandidaten immer wichtiger wird. Und dass die Leute künftig weniger auf die Themen der Parteien schauen werden, sondern ob sie jemanden wie Merkel zu bieten haben. Diese Wahl ist vorbei, doch die nächste kommt bestimmt. Wann beginnt der Wahlkampf zur Bundestagswahl 2017? Stauss: Wir sind schon mitten drin. Was in den anstehenden Koalitionsverhandlungen passiert, bestimmt die Ausgangslage für die nächste Bundestagswahl. Ganz entscheidend dabei ist natürlich die Frage der Ressortverteilung. Radunski: Richtig. Auch die Positionen, die jetzt in den Parteien neu besetzt werden, können nachhaltig sein – sowohl was die Themen als auch was das Personal angeht. Im Moment werden echte Weichenstellungen vollzogen – vor den Augen einer Öffentlichkeit, die noch sehr aufmerksam ist, die wissen will, was aus ihrer Stimme wird. Damit hat der Wahlkampf natürlich schon wieder begonnen. Nur leider machen sich das die Parteien oft nicht klar.

Peter Radunksi war von 1981 bis 1991 Bundesgeschäftsführer der CDU und in dieser Funktion in seiner Partei verantwortlich für drei Bundestagswahlen, zwei Europawahlen sowie die Volkskammerwahlen und die Landtagswahlen in den neuen Bundesländern 1990. Der Senator a. D. ist heute für die PR-Agentur MSL Germany als Senior Advisor tätig.

Frank Stauss ist Mitinhaber der Kommunikationsagentur Butter. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat er an über 20 Wahlkämpfen mitgewirkt, unter anderem 2012 für die NRW-SPD. Im Frühjahr 2013 hat er sein Buch „Höllenritt Wahlkampf – Ein Insider-Bericht“ veröffentlicht, das zum „Spiegel“-Beststeller wurde.

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International

Brüsseler Fallstricke Auch wenn Berlin zu einer Art zweiten Hauptstadt der EU geworden ist, sollte man sich als Unternehmen oder Verband nicht allein auf das Kanzleramt verlassen. Doch um in Brüssel ERFOLGREICH ZU LOBBYIEREN, muss man die dortigen Spielregeln kennen. VON DANIEL BR I N K W E R T H UND DANIEL F LO R I A N

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Reflexartige Abneigung Merkels Bilanz in EU-Fragen ist durchaus gemischt: Zwar hat sie einerseits für eine stärkere „Vergemeinschaftung“ geworben (etwa mit Blick auf die Kontrollrechte der EU in Haushaltsfragen und rechtlich verbindliche „Reformverträge“ zwischen der Kommission und den Mitgliedsstaaten), andererseits hat sie sich aber auch gegen mehr Kompetenzen für EU-Institutionen ausgesprochen. 24

Martin Schulz (3. v. l.) will EU-Kommissionspräsident werden

Das „Handelsblatt“ spekulierte deswegen kurz vor der Wahl über eine „Kehrtwende“ in der deutschen Europapolitik nach der Bundestagswahl und auch die Auslandspresse zeigte sich in der ersten Pressekonferenz nach der Wahl besorgt, dass die Bundesregierung einen härteren Kurs in EU-Fragen einschlagen könnte. „Unsere Europapolitik wird sich nicht ändern“, versicherte die Kanzlerin. Dennoch: Es bleibt der Eindruck, dass Merkel einerseits nicht führt, sich andererseits aber auch nicht die Zügel aus der Hand nehmen lässt. So entsteht ein Vakuum in Europa, das den Kontinent bremst. Jetzt, nach der gewonnenen Bundestagswahl, muss Merkel offenlegen, welches Europa sie will. Denn in knapp acht

Monaten wird das Europaparlament (EP) gewählt. Diese Wahl ist eine wichtige Weichenstellung für die EU, denn erstmals werden die Parteien eigene Spitzenkandidaten aufstellen, die zugleich auch Bewerber für das Amt des Kommissionspräsidenten sind. Die Sozialisten haben den Deutschen Martin Schulz zu ihrem Spitzenkandidaten gekürt, die Konservativen könnten von der jetzigen Justizkommissarin Viviane Reding oder dem polnischen Premierminister Donald Tusk angeführt werden. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die Regierungen der Mitgliedsstaaten dem EP in dieser Angelegenheit entgegenkommen werden. Jedes neue Kommissionskollegium muss von den Europaparpol i t ik & kommunikation | Oktober 2013

Foto: European Union 2013 - European Parliament / Pietro Naj-Oleari

ei Union und SPD spielte Europa im Wahlkampf kaum eine Rolle: Zu groß, so ein führender Genosse im kleinen Kreis, sei die Gefahr, dass am Ende die Euroskeptiker gewinnen und CDU und SPD den Kürzeren ziehen. Die Sorge ist nicht unberechtigt, schließlich verpasste die AfD nur knapp den Einzug in den Bundestag. Jenseits dieser Wahltaktik wird parteiübergreifend akzeptiert, dass der EU-Binnenmarkt für die Exportnation Deutschland von kaum zu überschätzender wirtschaftlicher Bedeutung ist. Und umgekehrt geht auch in Brüssel fast nichts mehr ohne Zustimmung des Kanzleramtes. Auf den Fluren der EU-Institutionen und in manchen Redaktionen ist zu hören, dass Berlin zu einer Art „zweiten Hauptstadt“ der EU geworden sei. Gideon Rachman, Kolumnist der „Financial Times“, ist überzeugt, dass der Preis für die deutschen Euro-Hilfen ein „deutsches Europa“ sei, in dem nichts mehr ohne die Zustimmung der Kanzlerin gehe. Nicht immer ist das als Kompliment gemeint, denn aus Sicht der anderen Mitgliedsstaaten steht Deutschland bei einigen Projekten – wie zum Beispiel der Bankenunion – allzu oft auf der Bremse. Manche Medien berichteten, EUDiplomaten hätten Angela Merkels Eintreten für eine weniger strikte CO2-Richtlinie sogar als „erpresserisch“ bezeichnet. Im Auto-Land Deutschland ist das Wohlergehen der Automobilindustrie Staatsräson.


WAS MAN BEIM LOBBYING IN BRÜSSEL WISSEN SOLLTE

lamentariern bestätigt werden. Gelingt es ihnen, glaubhaft zu machen, dass sie bereit sind, dieses Veto einzusetzen, würde ihnen das einen größeren Einfluss bei der Auswahl der neuen Kommissare geben. Es würde aber auch zu Verzögerungen führen, da die Komposition des Kollegiums ein Drahtseilakt ist, der die Interessen von 28 Mitgliedsstaaten zum Ausgleich bringen muss. Diese stärkere Anbindung der Kommission an das Parlament ist notwendig, denn bei Bürgern wie Unternehmen gibt es oft immer noch eine reflexartige Abneigung gegen die „Brüsseler Bürokraten“. Dahinter steckt oft eine gehörige Unkenntnis über die politische Kultur am „Rondpoint Schuman“. Unternehmen, die sich auf EULobbying einlassen, sind oft überrascht, dass Sachlichkeit und konstruktive Mitarbeit bei Anhörungen in Brüssel wichtiger sind als Seilschaften und Netzwerke. Das liegt insbesondere daran, dass die Kommission – anders als eine „normale“ Exekutive – keine einfache Links-RechtsAusrichtung hat, sondern sich aus Kommissaren unterschiedlichster politischer Couleur zusammensetzt. Sie gleicht damit eher einer permanenten „Allparteienregierung“, die sich für jedes Gesetzesvorhaben neue Mehrheiten in Parlament und Rat organisieren muss.

Fotos: Privat (2)

Koalition der Willigen In Brüssel warten dafür ganz andere Fallstricke auf Unternehmen, denn die Interessenlagen – und damit auch das Lobbying – sind weitaus komplexer und vielschichtiger als auf nationaler Ebene. Während Verbände und Unternehmen die Kommission und das EU-Parlament in Brüssel und Straßburg überzeugen müssen, wird die Position der Bundesregierung selbstverständlich in Berlin formuliert. Entscheidungen im Rat werden per Mehrheitsentscheidung getroffen, so dass es in der Regel ausreicht, eine „Koalition der Willigen“ aufzustellen, also diejenigen Staaten anzusprechen, die ein direktes Interesse an einem Thema haben. Die Konzentration auf eine „Kerngruppe“ erleichtert dabei die Kommunikation und Koordinierung. Dennoch: Es reicht nicht aus, sich allein auf die vertraute Hausmacht an der Spree zu verlassen. Deutschland sieht sich traditionell als Motor der europäischen Integration und die deutschen Vertreter im Rat treten nur ungern als Bremser auf. Das pol it ik & kommunikation | Oktober 2013

1 DIE NATIONALSTAATEN WERDEN NICHT VERSCHWINDEN: Die Hauptstädte großer EU-Mitgliedsstaaten bleiben wichtige Elemente einer europäischen Lobby-Strategie.

2 POLITIK IM MEHREBENENSYSTEM FORDERT STRATEGISCHES GESCHICK: Relevante Gesetzgebungsverfahren müssen erkannt werden, sobald sie in Brüssel oder auf der Ebene der Mitgliedsstaaten entstehen, nicht erst wenn die eigene nationale Ebene erreicht wird.

KLEINE MITGLIEDSSTAATEN KÖNNEN GROSSE WIRKUNG HABEN: Nämlich dann, wenn es ihnen gelingt, die Agenda der EU-Kommission zu kapern. 3

4 DAS EP IST NICHT DER BUNDESTAG: Im Unterschied zum Bundestag ist das EP ein Redeparlament und der Umgangston rauer als in Berlin. Abstimmungen verlaufen oft nicht nach Parteizugehörigkeit, sondern werden von nationalen Interessen überlagert.

5 DER BUNDESTAG WIRD ZUM EUROPÄISCHEN AKTEUR: Umgekehrt zeigen nationale Parlamente seit der Griechenlandkrise ebenfalls ein größeres Interesse an der EU – sie sind deswegen ein wichtiger Machtfaktor auch bei europapolitischen Fragen. 6 EINE EUROPÄISCHE ÖFFENTLICHKEIT GIBT ES (NOCH) NICHT: Politische Probleme werden oft entlang nationaler Grenzen debattiert – es gibt allerdings Ausnahmen wie die europaweiten Proteste gegen das ACTA-Abkommen. Bürgerrechtsthemen scheinen europaweit eher kampagnenfähig zu sein als die Frage, ob Fracking erlaubt sein sollte. 7 DER TEUFEL STECKT IM DETAIL BZW. IM „DELEGIERTEN RECHTSAKT“: Strittige Punkte oder technische Bestimmungen werden bei EU-Gesetzesvorhaben oft in sogenannten „delegierten Rechtsakten“ versteckt und können damit jenseits des Parlaments oder des Rats entschieden werden. Das birgt Risiken für Unternehmen.

„PARLEZ-VOUS FRANÇAIS?“: Die richtigen Sprachkenntnisse können in Brüssel Türen öffnen. Einen Parlamentarier oder Beamten in seiner Muttersprache anzusprechen, bringt oft wertvolle Sympathie-Punkte und Einfluss. 8

ist verständlich, weil Deutschland es sich im Rat der 28 nicht leisten kann, isoliert zu sein. Ratsverhandlungen sind ein Geben und Nehmen zwischen den Mitgliedsstaaten – daher ist es für Unternehmen wichtig, ein weitgespanntes Sicherheitsnetz an Kontakten zu haben, um zu verhindern, dass eine wichtige Position einem Kuhhandel zwischen vielleicht ganz unterschiedlichen Gesetzgebungsvorschlägen zum Opfer fällt.

Chaotisches Parlament Das EP schließlich besteht wie auch der Bundestag aus verschiedenen Fraktionen; im Unterschied zum deutschen Parlament gibt es allerdings keine Trennung zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen, somit fehlt eine echte Fraktionsdisziplin. Dadurch entsteht häufig der Eindruck eines „chaotischen“ Parlaments – zumal die Konfliktlinien innerhalb des EU-Parlaments oft zwischen den Landesgruppen verlaufen und nicht entlang der Parteigrenzen. Je mehr neue Rechte dem EP zugesprochen werden – etwa bei der Kontrolle der Bankenaufsicht –, desto stärker wird sich auch das Verhalten der Abgeordneten ändern. Diese Entwicklungen zeigen deutlich: Eine deutsche Firma, der in Berlin alle Türen offen stehen, kann in Brüssel ziemlich verloren sein, wenn die Brüsseler „Spielregeln“ nicht beachtet werden oder wenn ein Thema zu spät erkannt wird. Eine gut funktionierende „Früherkennung“ – sowohl innerhalb der Kommission als auch mit Blick auf die wechselnden Ratspräsidentschaften – ist essentiell für das Lobbying in der EU. Schließlich werden über 80 Prozent der Kommissionsvorschläge bereits in der ersten Lesung verabschiedet. Wer sich also nicht auf ein belgisches Hase-und-Igel-Spiel einlassen will, sollte in Brüssel genauso präsent sein wie in Berlin.

Daniel Brinkwerth ist Partner bei g+ und berät Unternehmen und Verbände in Brüssel.

Daniel Florian ist Account Director und Leiter des Berliner Büros von g+.

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Medien

Wie lief der Wahlkampf im Netz, Herr Fuchs? Fehlende Innovationen, langweilige Profile? Von wegen. Noch nie war ein Wahlkampf so DIREKT und HIERARCHIEFREI.

der Parteibasis gut angenommen wurden. Noch nie konnte der Wahlkampf so direkt, hierarchiefrei und reaktionsschnell geplant und organisiert werden. VON MARTIN FUCHS Zudem gab es eine Reihe von wirklich kreativen und gut geour more years“ textete Barack Obama, verbunden mit einem machten Blogs, die reaktionsschnell von den Parteien oder paremotionalen Wahlsieger-Foto, nach seiner Wiederwahl. Dieteinahen Privatleuten ins Netz gestellt wurden. Beispielhaft seien ser Tweet und auch das parallele Posting auf Facebook sind hier nur die tumblr-Blogs „Merkels Raute“, „Wo Peer seine Findie meist geteilten Inhalte in beiden Netzwerken und somit Geger drin hat“, „Pofalla beendet Dinge“ oder auch „Gut gemacht, schichte geworden. Die Botschaft FDP“ genannt. von Angela Merkel nach ihrer überAuch erste zarte Ansätze des ragenden Wiederwahl war ein kurKontrollverlustes von Seiten der zes Videointerview, das es bisher Parteien konnten bei Twitter-Acimmerhin auf knapp 10.000 Likes counts wie @WirsindGruen und und über 1000 „Teilen“ schaffte. @WirsindCDU beobachtet werDass die Bundeskanzlerin mit dieden. Im Sinne des Rotation-Curasem Posting in die Geschichtsbütion-Gedankens twitterte hier jede cher eingeht, ist zu bezweifeln. Woche ein anderes Parteimitglied Abgesehen davon, dass die poim Namen der Partei, ohne dass litische Kultur und die Struktur diese die Tweets vorher freigab. des Parteiensystems in DeutschNicht jeder Abgeordnete land Vergleiche mit dem ameribraucht Social Media und nicht kanischen Wahlkampf verbieten, jeder Parlamentarier muss die war der Onlinewahlkampf nicht so Netzwerke selbst aktiv nutzen. langweilig, unkreativ und schlecht, Trotzdem sollte jeder Volksverwie ihn viele Medien und Experten treter samt seinem Büro das Netz gemacht haben. Ich habe vielmehr Voller Spott: Der tumblr-Blog zu Merkels Rauten-Plakat im Blick haben und zuhören. Ein den Eindruck, dass die Erwartunschmales Social-Media-Monitoring gen der Öffentlichkeit an das, was Wahlkampf im Netz leisten sollte im Jahr 2013 genauso zur täglichen Routine werden wie der soll, verzerrt und überzogen sind. ausgedruckte Pressespiegel. Mehr als 60 Prozent der Bürger informieren sich im Netz Von den Abgeordneten, die sich für eine Nutzung entschieüber politische Themen, insbesondere in der heißen Wahlkampfden haben, wünsche ich mir wirklichen Dialog. Argumente und phase. Fast jeder Kandidat war mit einer Webseite im Netz prädie Funktionsweise von Politik müssen nun in den kommenden sent, über 60 Prozent der aussichtsreichsten 600 BundestagsJahren auch kontinuierlich erklärt werden. Die Fans und Follokandidaten waren auf Facebook mit einer eigenen Fanseite aktiv wer sollten mit exklusiven Informationen und direkten Frageund immerhin jeder dritte Bundestagsabgeordnete twitterte in stellungen zu aktuellen Diskussionen in die eigene Meinungsden letzten Wochen vor der Wahl. bildung einbezogen werden. Nur so bindet man SympathisanDie Parteien bereiteten ihre Programme in leichter Sprache ten erfolgreich an sich. auf, ließen das Wahlprogramm von Parteipromis via Soundcloud Die Abgeordneten sollten einen Schritt auf Blogger zugehen, vorlesen (SPD) oder fassten die zentralen Punkte multimedial deren Fach-Expertise nutzen und sich stärker auf fremden Blogs au�ereitet in zwei Minuten zusammen (Grüne). Der Großteil der tummeln. Politik muss an den verschiedensten Ecken des NetFragen auf abgeordnetenwatch.de wurde zügig beantwortet, die zes erklärt werden, etwa in Fashion- oder Foodblogs, und zwar Wikipedia-Seiten waren in den meisten Fällen aktuell und es gab in leicht konsumierbarer Form wie Videos oder Infografiken.  fast keinen Kandidaten, der kein eigenes Video ins Netz stellte. Die Kritik, dass es zu wenige Innovationen gab, teile ich Martin Fuchs ebenso wenig. Der Ruf nach digitaler Beteiligung wurde erhört. berät öffentliche Institutionen und die Politik bei der Nutzung sozialer Medien. Unter Beide Volksparteien stellten mit „CDUplus“ und „mitmachen. www.hamburger-wahlbeobachter.de bloggt er über Social Media in der Politik. spd“ Mitmach- und Diskussionsportale bereit, die ebenfalls von 26

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Fotos: Privat; tumblr

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Und der im Fernsehen, Herr Nieland? DESINTERESSIERTE Journalisten und rhetorische Fragen: Der Wahlkampf als Hochzeit der Demokratie hat bessere Sendungen verdient.

haben. Mit Ausnahme von „Das Duell“ auf n-tv und spärlichen Sommergesprächen gab es nämlich kaum Informationen über die Wahl. Da stach Stefan Raab mit seiner Show am Vorabend des VON JÖRG-UWE NIELAND Wahlsonntags heraus. Doch anders als im TV-Duell wirkte Raab m die These vorwegzunehmen: Die Polit-Talkshows konnten dort gelangweilt und entlockte lediglich Gregor Gysi einige flotte die Bürger offenbar nicht für die Bundestagswahl begeistern Sprüche. Ansonsten wurden Jungwähler vorgeführt und ominöse – jedenfalls stieg die Wahlbeteiligung nur leicht. Koeffizienten brachten eine schräge Wahlprognose hervor. Doch das ist ja auch kein Wunder, wenn die medial transporDer Wahlkampf als „Hochzeit der Demokratie“ hat bessere tierte Botschaft lautet: Der WahlSendungen verdient. Zumal die kampf ist inhaltsleer. Fragesteller allzu oft im Modus der Dabei war eben dieser WahlFarbenspiele verfangen blieben. kampf durchaus themenreich und Besonders auffällig war dies kontrovers – die wachsende sozibei den unflexiblen Fragen der ale Ungleichheit, die Unwuchten Journalisten am Wahlabend. Beder Eurorettung, die Energiewende obachten konnte man eine Berufsoder die millionenhafte Überwagruppe, die es sich zum Hobby gechung von Bürgern, um nur einige macht hat, die Aussagen von PoliBeispiele zu nennen. tikern nicht ernst zu nehmen und Da alle Parteien für diese Proihr Gegenüber auch noch permableme Lösungsansätze anboten, nent zum Wortbruch herauszuforhätten genau diese Themen in den dern. Das ist einfach respektlos. Talkshows debattiert werden müsBedenklich ist auch, dass nach sen. Doch der Boom, den der Wahlder Wahl kein Umdenken einO-Mat am Tag vor dem Wahltag ersetzte. Sogar die Witze werden lebte, zeigt einerseits, dass die Bürimmer schlechter; so wurde bei ger an den Positionen der Parteien Die guten Fragen stellten Stefan Raab und die Bürger „Günther Jauch“ Mutti Merkel kurinteressiert sind. Und andererseits, zerhand in „Schwarze Witwe“ und dass die TV-Journalisten ihrem Informationsauftrag nicht ausdie SPD in „größte Nichtregierungorganisation“ umgetauft. reichend nachgekommen sind. Wie geht es nun weiter? Die gar nicht so überraschende WahrVermutlich stimmt die Behauptung, dass die Wähler die Parscheinlichkeit einer Großen Koalition könnte den Talkshows wieteiprogramme nicht kennen. Doch schlimmer ist: Eine nicht under einen tieferen Sinn geben. erhebliche Zahl von Polit-Journalisten scheint sich ebenfalls nicht Denn: Talkshows in Zeiten einer Großen Koalition sind nicht viel aus der Parteiprogrammatik zu machen. für Moral oder Populismus zuständig, sondern können und müsDie Wählkämpfer fanden sich mitunter in zwei Parallelwelsen einen Beitrag zur Kontrolle und Kritik politischer Entscheiten wieder. In der einen Welt trafen sie auf Kundgebungen auf dungen leisten. Ein Lichtblick immerhin: Angesichts der beinteressierte Bürger, die zum Beispiel wissen wollten, wovon in denklichen Wortwahl des Parteivorsitzenden der Alternative für 20 Jahren ihre Rente finanziert wird. In der anderen Welt begegDeutschland Bernd Lucke, der am Wahlabend unter anderem von neten sie Journalisten, die sie regelrecht anflehen mussten, nicht „Entartungen von Demokratie“ sprach, setzte eine Woche nach mit ihnen über ausgestreckte Mittelfinger oder farbige Halsketder Wahl ARD-Talker Frank Plasberg mit der Entzauberung der ten sprechen zu müssen. AfD an.  Bei vielen Sendungen drängte sich gar der Eindruck auf, dass mit zwei (rhetorischen) Fragen und einem Einspieler das Pulver verschossen war. Die guten Fragen an die Kanzlerin und ihren Herausforderer stellten die Wähler in der ARD-Wahlarena und Jörg-Uwe Nieland Stefan Raab im TV-Duell. ist Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Politik, Medien und Gesellschaft an der Die privaten Fernsehsender scheinen das Projekt, meinungsUniversität Duisburg-Essen. bildende Politiksendungen zu präsentieren, schon aufgegeben zu

Fotos: Privat; ZDF und ARD/Max Kohr

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Szene

Tage dauerte es, bis sich Anton Hofreiter, genannt Toni, mit gebrochener Wade und Knöchel nach einem Unfall auf einer Expedition im Norden Perus bis nach Lima durchgeschlagen hatte, um sich dort ärztlich versorgen zu lassen.

Monate verbrachte der Doktor der Biologie im Rahmen seines Studiums in Kolumbien, Ecuador, Peru und Bolivien. Während seines Aufenthalts wurde der heute 43-Jährige mit Kinderarbeit auf einer Bananenplantage konfrontiert. Für Hofreiter ein Erweckungserlebnis für das Thema soziale Gerechtigkeit.

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Jahre war Hofreiter alt, als er das erste Mal eine Veranstaltung der Grünen besuchte. Schon in diesem jungen Alter war ihm klar, dass er sich für den Erhalt der Umwelt einsetzen möchte. Wegen seines ökologischen Profils wird Hofreiter in den Medien gern als „Urgrüner“ oder als „Grüner erster Stunde“ bezeichnet.

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von 63 Stimmen erhielt der Parteilinke bei seiner Wahl als Co-Fraktionschef der Grünen im Bundestag. Seine Kollegin, Katrin Göring-Eckardt, bekam 41 Stimmen.

ANTON HOFREITER ist der neue Fraktionsvorsitzende der Grünen. Der Biologe mit der markanten langen Mähne ist eigentlich Botanik-Experte, hat sich aber als Verkehrsexperte einen Namen gemacht.

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wissenschaftliche Publikationen hat der Biologe bis heute veröffentlicht. Thematisch befasst er sich darin mit der Pflanzengattung Bomarea, die hauptsächlich in Südamerika beheimatet ist.

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statt 50 km/h fordert Hofreiter als Höchstgeschwindigkeit in Ortschaften. Er wurde vor zwei Jahren zum Vorsitzenden des Verkehrsausschusses gewählt als Nachfolger von Winfried Hermann, der Verkehrsminister in Baden-Württemberg wurde. Das Themenfeld beackert Hofreiter bereits seit 2005, als er erstmals ins Parlament gewählt wurde.

ist die Wahlkreis-Nummer von München-Land, in dem Hofreiter als Direktkandidat antrat und 11,1 Prozent der Stimmen holte. Da sich der Wahlkreis rund um die bayrische Landeshauptstadt zieht, wird er auch als „Speckgürtel Münchens“ bezeichnet. Zehn Jahre lang war Hofreiter dort Sprecher des GrünenKreisverbandes.

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Follower (Stand: 09.10.) hat Hofreiter bei Twitter. Die Zahl verdoppelte sich nach seiner Wahl zum Fraktionsvorsitzenden innerhalb von nur wenigen Stunden und das, obwohl Hofreiter bis dahin noch gar nichts getwittert hatte.

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Einwohner (Stand 31.12. 2012) hat die Gemeinde Sauerlach etwa 20 Kilometer südöstlich von München, aus der Hofreiter stammt. In Sauerlach ging zur Grundschule, bevor er aufs Gymnasium nach München wechselte. Darüber, wie Hofreiter privat lebt, ist nur wenig bekannt. Nur so viel: Er ist liiert und hat keine Kinder.

pol i t ik & kommunikation | Oktober 2013

Foto: Stefan Kaminski

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Porträt in Zahlen


Liebling des Heftes: Jakob Maria Mierscheid Ich, Jakob Maria Mierscheid, gelernter Schneidermeister aus Morbach im Hunsrück, geboren 1933, gehöre dem Deutschen Bundestag seit 1979 an und bin seitdem Mitglied geblieben, weil ich nie eine Gegenstimme erhalten habe. Man bezeichnet mich als holografische Persönlichkeit: transparent, vieldimensional, plastisch und anschaulich, aber

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dennoch schwer zu greifen, für manche auch zu begreifen. Der Deutsche Bundestag hat seine sehenswerte Ausstellung zum Thema Parlamentarismus im Deutschen Dom am Berliner Gendarmenmarkt neu gestaltet. Ich stehe da ausführlich und intensiv, als idealtypischer Vertreter des deutschen Volkes. Da ich nicht immer anwesend sein kann, auch

filmisch. Ein Besuch lohnt sich trotzdem. Ich bin kein Phantom, wie mir manchmal nachgesagt wird, ich bin auch kein Phänomen, man sagt, ich sei einfach phänomenal. Wie der Verfassungsjurist Friedrich Nagelmann aus Karlsruhe und der Berufsdiplomat Edmund F. Dräcker vom Auswärtigen Amt, meine Kollegen von den anderen Gewalten,

der Judikative und der Exekutive, gehöre ich zu den Säulen unseres Staatswesens. In einem Wikipedia-Artikel werde ich als fiktiver deutscher SPD-Politiker bezeichnet. Das ist natürlich Unsinn, denn könnten Sie sonst so einfach einen Text von mir über mich lesen? Man sagt, es sei schön, dass es mich gibt, aber schlimm, dass es mich geben muss.

pol i t ik & kommunikation | Oktober 2013

Foto: Wikimedia Commons. Das Foto zeigt Karl Ranseier aus der Comedy-Serie „RTL Samstag Nacht“

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