p&k #108 "Die andere Perspektive"

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Helios Media GmbH | ISSN 1610-5060 | Ausgabe 05/14 | Oktober/November 2014 | 7,20 Euro

www.politik-kommunikation.de

Bilanziert Was drei MdB-Neulinge in ihrem ersten Jahr im Bundestag erlebten Politik 28

Integriert Wie Jens König das Berliner „Stern“-Büro nach vorne bringen will Medien 70

Die andere Perspekt ive

Ostdeutschland im Bundestag


24.11.

40 Referenten

Béla Nikolai Anda

Dorothee Bär

Thomas Mickeleit

Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte

BILD GmbH & Co. KG

MdB, Parlamentarische Staatssekretärin, BMVI

Microsoft Deutschland

Universität Duisburg-Essen

2014 Quadriga Forum, Berlin

Georg Streiter

Lutz Reulecke

Presse- und Informationsamt Sky Deutschland AG der Bundesregierung

Prof. Dr. Torsten Oltmanns Quadriga Hochschule Berlin

Ulrike Hinrichs Bundesverband deutscher Kapitalbeteiligungsgesellschaften

N E U E PA R T E I E N

V O L AT I L E RAHMENBEDINGUNGEN

NEUE EU-KOMMISSION V E R Ä N D E RT E REGIERUNGSMEHRHEITEN

V E R Ä N D E RT E M A C H T V E R H Ä LT N I S S E Mittagsagora

Gala zur Verleihung des Politikawards

Treten Sie mit 20 Abgeordneten in den Dialog

Renate Künast MdB, Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen

Prof. Dr. Matthias Zimmer

Dr. Sahra Wagenknecht

MdB, CDU-Bundestagsfraktion

MdB, DIE LINKEBundestagsfraktion

Sönke Rix MdB, SPD-Bundestagsfraktion

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Pflichtlektüre

Ost-West-Geschichten

Foto: Julia Nimke

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in Vierteljahrhundert ist es her, dass Hunderttausende in der DDR auf die Straße gingen, um für Freiheit und Demokratie zu demonstrieren. Die friedliche Revolution gipfelte im Fall der Mauer am 9. November 1989. Ein Jahr später, am 2­ . Dezember 1990, fanden erstmals seit 1932 wieder in ganz Deutschland freie Wahlen statt. Und als am 20. Dezember 1990 der erste gesamtdeutsche Bundestag zu seiner konstituierenden Sitzung zusammentrat, tat er das nicht in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn, sondern symbolträchtig im Berliner Reichstagsgebäude – dem heutigen Sitz des Bundestages. Aktuell repräsentieren 103 Abgeordnete die neuen Länder im Bundestag. Doch sehen sie sich eigentlich noch als Vertreter spezifisch ostdeutscher Anliegen und Sichtweisen? Gibt es die 25 Jahre nach dem Mauerfall überhaupt noch? Und existiert so etwas wie ein fraktionsübergreifender Zusammenhalt zwischen den ostdeutschen Parlamentariern? Unsere Autorin Jeannette Goddar hat sich für p&k auf die Suche nach Antworten auf diese Fragen gemacht und mit ostdeutschen Bundestagsabgeordneten über ihr Selbstverständnis gesprochen – und darüber, ob ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall nach dem Wort von Altkanzler Willy Brandt „zusammengewachsen“ ist, „was zusammengehört“ (ab Seite 18). Einen ostdeutschen Wahlkreis vertritt auch Karamba Diaby im Bundestag. Der gebürtige Senegalese kam zu DDR-Zeiten nach Halle, um Chemie zu studieren. Der erste aus Afrika stammende MdB war einer von insgesamt fünf Kandidaten, die p&k im Wahlkampf zur vergangenen Bundestagswahl begleitet und porträtiert hat. Von den Fünfen haben außer Diaby auch Cemile Giousouf (CDU) und Julia Verlinden (Grüne) im September 2013 den Einzug ins Hohe Haus geschafft. Ein Jahr danach haben wir die drei zu einem Round-Table-Gespräch eingeladen, um mit ihnen darüber zu sprechen, wie sie die vergangenen Monate erlebt und welche ihrer Hoffnungen und Erwartungen sich erfüllt haben – und was vielleicht auch ganz anders ist, als sie es sich vorgestellt hatten. Und auch wenn die Neu-MdBs von viel Arbeit und Stress berichten – den Spaß an der Politik haben alle drei ganz offensichtlich nicht verloren (ab Seite 28). Politik bestimmt auch das Leben von Jens König. Der neue Leiter der Hauptstadtredaktion des „Stern“ blickt auf eine DDR-Biografie zurück: Aufgewachsen in Berlin-Friedrichshain, der Vater SED-Funktionär, er selbst lernte das journalistische Handwerkszeug am „Roten Kloster“, der DDR-Kaderschmiede für Journalisten in Leipzig. In ihrem Porträt zeichnet unsere Autopol it ik & kommunikation   |   Oktober / November 2014

rin Ulrike Simon den eindrucksvollen Weg des heute 50-Jährigen nach, der selbstkritisch bekennt, erst spät begriffen zu haben, welcher Ideologie er aufgesessen sei (ab Seite 70). Heute fühle er „eine große innere Unabhängigkeit“, so König, die daher rühre, dass er seinem Land beim Untergehen zugesehen habe. Zusammenbruch, Umbruch, Aufbruch: Es sind diese existenziellen Erfahrungen, die der Journalist mit vielen ostdeutschen Parlamentariern teilt – Erfahrungen, die es auch und gerade ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Mauer zu bewahren und in die gesamtdeutsche Politik einzubringen gilt.

Herzlichst Ihre Nicole Alexander, Chefredakteurin

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Inhalt

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In dieser Ausgabe politik&kommunikation 5/14 – Oktober / November 2014

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Ambitioniert: Julia Verlinden, Karamba Diaby und Cemile Giousouf (v. r.) zogen vor einem Jahr erstmals in den Bundestag ein

„Wenn ich diesen Job machen sollte, mache ich ihn nicht, weil ich ihn will, sondern weil ich ihn kann.“

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Kompakt 3 Pflichtlektüre 6 Berliner Blasen: Zahlen und Zitate 7 Unser Liebling: Erich Hägele 8 Ausgekuppelt: der etwas andere p&k- Nachrichtenrückblick 9 Politikfoto und Expertentipp 10 „Anstupser“ gesucht im Kanzleramt Essay von Dominik Meier 12 Lehrstunde bei Meister Hummel SPD-Politiker Mahmut Özdemir hat ein Faible fürs Autoschrauben – Teil 5 der Fotoserie über Hobbys von MdBs von Laurin Schmid & Viktoria Bittmann Politik 14 16

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Sollten Bundestagsausschüsse öffentlich tagen? Pro und Kontra von Halina Wawzyniak & Michael Grosse-Brömer Plädoyer für mehr Weitsicht Die politische Öffentlichkeit und Partizipation sind keine Errungenschaften der Neuzeit. Ein Blick in die Geschichte von Volker Gerhardt

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Fraktion Ost im Bundestag? 103 MdBs repräsentieren die neuen Bundesländer. Vertreten sie spezifisch ostdeutsche Anliegen? Eine Spurensuche von Jeannette Goddar „Am Anfang habe ich ganz schön abgenommen“ Die Nachwuchspolitiker Julia Verlinden (Grüne), Cemile Giousouf (CDU) und Karamba Diaby (SPD) sitzen seit einem Jahr im Bundestag. Am Round Table ziehen sie eine erste Bilanz von Nicole Alexander & Viktoria Bittmann Vom Gedöns zum Top Act und retour Eine Analyse der Familienpolitik in den Jahren 2000 bis 2013 bringt eigentümliche Lernkurven zutage von Malte Ristau

42 Ein Mann, der den Wechsel liebt Einst arbeitete er für Kinkel, Schröder und Steinmeier, nun ist der Diplomat Martin Jäger aus Kabul zurückgekehrt – um für Wolfgang Schäuble zu sprechen von Hans Peter Schütz 44 MdB auf Abruf Wie lebt es sich als potenzieller Nachrücker? Kathrin Rösel (CDU), Angelika Glöckner (SPD) und Janosch Dahmen (Grüne) erzählen von Viktoria Bittmann 46 Fragt mich alles! Die Möglichkeiten und Vorteile des „Ask me Anything“-Forums auf Reddit von Martin Fuchs 48 Dringende Bitten des Ministers Der Gemeinsame Bundesausschuss soll für mehr Qualität im Gesundheitssystem sorgen. Doch wie funktioniert er? von Thomas Trappe

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Cover: [M] Marcel Franke, thinkstock.com; Fotos: Laurin Schmid (2)

Nüchtern: Jens König wurde im Sommer zum Leiter des Berliner „Stern“-Büros berufen


„Rein ostdeutsche Themen, so viele Jahre nach dem Mauerfall? Die gibt es doch kaum noch.“

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Erfahren: SchäubleSprecher Martin Jäger

18 Pragmatisch: Diana Golze auf der Suche nach gesamtdeutschen Lösungen. Eingespielt: MdB Mahmut Özdemir und Lehrmeister János Hummel

Public Affairs 54

Eine verschwiegene Branche Wer in der Rüstungspolitik nach Informationen sucht, muss sich auf einige wenige Quellen verlassen. Teil 3 der Serie über Branchendienste von Thomas Trappe

Fotos: Laurin Schmid (3)

International 56 Das Kleine Grüne Haus in der K Street Um 1920 war Lobbying in den USA allzu aufdringlich geworden. Der Ruf nach Regulierung wurde unüberhörbar von Marco Althaus 58 Sensible Seitenwechsel Ein halbes Jahr vor den Unterhauswahlen ergeben sich die britischen Konservativen in Flügelkämpfe – und hadern mit UKIP von Aljoscha Kertesz Brüssel tickt deutsch 60 In der EU bekleiden mehr Deutsche denn je Führungspositionen. Ein Blick auf Merkels Männer in Brüssel von Eric Bonse

Medien

Szene

64 Bücher 65 Neue Vorbilder Rezension von Joschka Fischers Buch „Scheitert Europa?“ von Alexander Graf Lambsdorff Nachrichten aus der Blackbox 66 Das US-Nachrichtenportal „Politico“ strebt nach Brüssel. Journalismusexperte Stephan Weichert über die Chancen des geplanten Joint Ventures mit Springer von Martin Koch 70 Der Großstadt-Cowboy Seit Juli leitet Jens König das Berliner „Stern“-Büros. Dabei könnte er aufs Chef- Sein eigentlich verzichten von Ulrike Simon 74 Im Geschäft der Eitelkeiten Christine Blohmann von den „Hoffotografen“ über Empathie hinter der Kamera und verzichtbare Politikberater von Martin Koch

76 Gala Die wichtigsten Events 80 Karrierekurve Heiko Maas 82 Mein Lieblings... p&k fragt Bundestagsabgeordnete nach dem, was ihnen lieb und teuer ist 83 Porträt in Zahlen BKA-Chef Holger Münch 84 Personen und Karriere Kirschsieper leitet Public Policy bei Facebook, Mücke lobbyiert für Zigarettenverband 88 Ossis Welt Das Politikbilderbuch 90 Letzte Seite / Impressum

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Politik

„Am Anfang habe ich ganz schön abgenommen“ „Ich schlafe sehr viel weniger“ „Die Treffen mit Freunden werden rarer“

Das Leben als Abgeordneter kann ziemlich hart sein. Den Spaß an der Politik haben die MdB-Neulinge Cemile Giousouf (CDU), Karamba Diaby (SPD) und Julia Verlinden (Grüne) trotzdem nicht verloren. Vor einem Jahr zogen die drei erstmals in den Bundestag ein. Wie ist es ihnen seither ergangen? Ein Round-Table-Gespräch.

I n t erv ie w: Ni cole Alex a n der u n d Vikto ri a B itt ma n n Foto s : Lau rin Sch m id

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Politik

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ie Geschichte beginnt im Sommer 2013, mitten im Wahlkampf. In Porträts stellt p&k aussichtsreiche Kandidaten zur Bundestagswahl vor. Drei von ihnen – Julia Verlinden (Grüne), Karamba Diaby (SPD) und Cemile Giousouf (CDU) – gelingt der Einzug ins Hohe Haus. In Interviews mit p&k sprechen die MdB-Neulinge wenig später über ihre Gefühle am Wahlabend und ihre Pläne für Berlin. Ein Jahr ist seither vergangen – Zeit für eine erste Bilanz. Doch wie sehr sich das Leben der Nachwuchspolitiker inzwischen verändert hat, zeigt sich schon bei der Termin-

p&k: Frau Giousouf, Frau Verlinden,

Herr Diaby, Sie alle sind vor einem Jahr erstmals in den Bundestag eingezogen. Wie viele Kilo haben Sie seitdem zuoder abgenommen? Cemile Giousouf (lacht): Karamba, als einziger Mann in dieser Runde darfst Du zuerst antworten. Karamba Diaby: Ich habe mein Gewicht gehalten. Darüber bin ich auch froh (lacht). Julia Verlinden: Ich habe ein Kilo abgenommen (lacht ebenfalls). Warum? Aus Stress? Verlinden: Ja, man kommt zu wenig zum Essen. Diaby: Ich kann Dir ein paar Tipps geben, wie man das schafft (alle lachen). Giousouf: Stimmt, abends gibt es ja immer Veranstaltungen, dort kann man ganz viel essen (wieder lachen alle). Ich habe am Anfang ganz schön viel abgenommen, mit der Zeit hat sich das aber eingependelt. Schauen wir zurück auf Ihre ersten Tage in Berlin: Wann kam die erste Post von Verbänden und Lobbyisten? Giousouf: Die war schon da, bevor wir das Büro bezogen haben. Die waren echt schnell. Verlinden: Bei mir lag so ein Stapel Post 8

planung. Erst am Ende einer langen E-Mail-Schleife tut sich in den Kalendern der drei Abgeordneten dasselbe Zeitfenster auf. Leider schließt es sich wieder am Morgen des Interviews: Der Termin platzt wegen plötzlicher Krankheit. Zwei Wochen später drohen Lokführerstreik und Stau im Regierungsviertel die Terminplanung ein zweites Mal über den Haufen zu werfen: Erst 15 Minuten nach dem geplanten Interviewbeginn sind alle Gesprächspartner eingetroffen. Die Anwesenden nehmen’s gelassen: „Dann frühstücken wir eben noch.“ Als an Müsli und Brötchen nur noch Krümel erinnern, bleibt nicht mehr viel Zeit. Legen wir los.

(hebt die rechte Hand 30 Zentimeter über den Tisch). Giousouf: Ja, in dieser Größenordnung hat sich das auch bei mir bewegt. Diaby: Bei mir auch. Das waren mindestens zwei Mappen. War das ein Schock oder hatten Sie das erwartet? Verlinden: Ich war schon überrascht, wie viele Briefe bereits im Posteingang lagen. Aber ich hatte zum Glück auch vom ersten Tag an Unterstützung im Büro. So haben wir ganz schnell geübt, was man aussortiert und was wichtig ist. Diaby: Ich war von der Menge auch überrascht. Dann habe ich mich mit einem erfahrenen Kollegen darüber unterhalten. Und der hat zu mir gesagt: Wenn fünf Prozent dieser Post beim Abgeordneten ankommen, dann hat er etwas falsch gemacht (alle lachen). Eine Art Feuertaufe für die Neuen ist ja ihre erste Rede im Plenum. Wie lange mussten Sie darauf warten? Giousouf: Den Ausschusskollegen war daran gelegen, dass wir Neuen so schnell wie möglich im Plenum reden, damit wir wissen, wie das ist. Ich habe dann im Februar meine erste Rede über ein Thema ge-

halten, für das ich gar nicht Berichterstatterin bin. Es ging ums Bafög. Mittlerweile habe ich drei Reden gehalten. An Verlinden und Diaby: Ihr bestimmt auch, oder? Verlinden: Ich habe bislang sechs Reden gehalten. Das liegt an meinem Thema, der Energiewende. Zum ersten Mal stand ich in einer aktuellen Stunde zum Stromnetzausbau vor dem Plenum. Das war im Februar. Diaby: Ich hatte meine erste Rede im Januar. Da ging es um die Pisa-Studie. Ende September stand ich zum zweiten Mal am Rednerpult, zum Thema Anerkennungsgesetz. In der SPD-Fraktion gab es die Ansage, dass die Neuen nicht ganz so lange warten sollen wie in der vorherigen Wahlperiode. Wie war es, zum ersten Mal im Hohen Haus vor dem Plenum zu stehen? Giousouf: Ich war schon aufgeregt. Durch den Wahlkampf sind wir es ja gewohnt, vor Massen zu sprechen, aber natürlich ist die erste Rede wirklich etwas Besonderes. Da hatte ich schon Herzklopfen. Ich bin aber überrascht, dass man sich relativ schnell daran gewöhnt. Man vergisst sogar die Kameras, weil man im Dialog mit den Kollegen ist und es auch Zwischenrufe gibt.

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Nach der Wahl mussten sich die drei MdBNeulinge erst einmal im Mikrokosmos Bundestag zurechtfinden.

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Politik

Ich glaube, viele vergessen, dass die ganze Welt zuschaut – oder zuschauen könnte (alle lachen). Dennoch haben Plenarreden einen sehr großen Effekt im Wahlkreis. Die Leute freuen sich immer, wenn sie einen im Fernsehen sehen. Für die Außenwahrnehmung ist das ganz wichtig. Es wird aber auch bemängelt, dass die Plenarreihen häufig leer sind. Diaby: Ich war auch aufgeregt beim ersten Mal. Aber inzwischen hat das abgenommen. Ich bin ja auch seit sechs Jahren Stadtrat bei uns in Halle und dort werden Stadtratssitzungen live gefilmt. Da habe ich mich daran gewöhnt, dass einem bei jeder Bewegung zugeschaut wird. Aber ich gebe zu, dass das Plenum im Bundestag schon eine andere Dimension ist. Wirklich überraschend fand ich, dass die erfahrenen Kollegen den Neuen zur ersten Rede gratulieren – wie einem Schulkind zur Einschulung. Verlinden: Ich habe neun Jahre kommunalpolitische Erfahrung. Die Aufregung kam bei mir erst, als andere um mich herum sagten: „Boah, Deine erste Rede!“ So hat sich das auf mich übertragen. Aber die Rede war gut vorbereitet. Man setzt sich ja nicht erst zwei Stunden vorher hin, sondern macht das in Ruhe und übt die Rede auch. Haben Sie Ihre erste Rede selbst geschrieben, Frau Verlinden? Verlinden: In großen Teilen ja. In der Opposition ist es ja leider immer so, dass pro Standarddebatte jeder nur drei oder vier Minuten sprechen kann, damit möglichst

Herzen liegt. Da kommen regelmäßig Zwischenrufe. Ein Kollege (MdB Özcan Mutlu, Anm. d. Red.) und ich haben darüber so eine Art Beziehung aufgebaut. Rufen Sie auch mal zurück? Giousouf: Nein. Aber ich baue den Kollegen mittlerweile in meine Reden mit ein, weil ich weiß, dass bestimmt wieder etwas von ihm kommen wird. Ich finde das gut, denn es zeugt von einer lebendigen Debattenkultur. Haben Sie sich am Anfang mit anderen neuen MdBs ausgetauscht – etwa in Form von fraktionsübergreifenden Treffen? Giousouf: Bundestagspräsident Norbert Lammert hat alle Abgeordneten mit Migrationshintergrund, also nicht nur die neuen, zu einem Empfang eingeladen. Das fand ich großartig und ich wünsche mir mehr solcher Plattformen, auf denen man sich unabhängig von den Kategorien Regierung oder Opposition austauschen kann. Das passiert immer noch zu wenig. Man ist eher mit seinen eigenen Leuten zusammen (Verlinden und Diaby nicken zustimmend). Wie lange haben Sie gebraucht, um sich im Bundestag zurechtzufinden? Verlinden: Wir hatten schon vor der Bundestagswahl ein kleines Kennenlerntreffen mit denen, bei denen es wahrscheinlich war, dass sie in der nächsten Wahlperiode dabei sein würden. Da haben wir schon mal eine kleine Führung durch die Gebäude gemacht und verschiedene Dinge vorbesprochen, damit man sich nach der

„ Angefangen bei der Frage, wie man in welches Gebäude kommt, bis hin zu organisatorischen Details: Keine Frage war zu doof.“ Cemile Giousouf viele von uns drankommen. Mich aufs Wesentliche zu konzentrieren, hat mir die meiste Mühe bereitet. Es ist eine Herausforderung, im Zeitrahmen zu bleiben und trotzdem auf den Punkt zu kommen. Wir reden ja nicht über banale Dinge, wo es nur richtig oder falsch gibt. Mein Thema, die Energiewende, ist schon sehr komplex. Wie gehen Sie mit Zwischenrufen um? Diaby: Ich selbst rufe gern dazwischen. Bei mir gab es zwar einzelne Zwischenrufe, aber nicht so aggressiv, dass ich darauf eingehen musste. Giousouf: Es gibt Grüne, denen das Thema doppelte Staatsbürgerschaft auch sehr am 10

Wahl nicht ganz ins kalte Wasser geschmissen fühlt. Ich habe mir auch den Luxus gegönnt, zwei Tage bei einem Abgeordneten von den Grünen zu hospitieren und in einer Sitzungswoche mitzulaufen. Es hat dann aber trotzdem eine Weile gedauert, bis das Büro wirklich funktioniert hat. Warum? Verlinden: Wir haben zwar schon am zweiten Tag einen Raum mit einem Schreibtisch bekommen, aber das war noch nicht das richtige Büro. Wir mussten auch die Koalitionsverhandlungen von SchwarzRot abwarten, und bis die Regierung im

Dezember entschieden hatte, wie die Ressorts zugeschnitten sind und welche Ausschüsse es gibt. Dann mussten die Fraktionen entscheiden, wer in welchen Ausschuss kommt. Streng genommen kann man erst dann wissenschaftliche Mitarbeiter einstellen, weil man erst dann definitiv weiß, welches Thema man bearbeitet. Ist man am Anfang also Einzelkämpfer? Verlinden: Ja, ein bisschen schon. Manche Abgeordnete haben dann gesagt: „Es ist mir jetzt egal, ich stelle die Leute ein, die ich gut finde, und dann müssen wir irgendwie mit dem Thema klarkommen.“ Andere haben erst einmal nur die Organisationsstellen besetzt und die fachlichen später. Haben Sie sich denn als MdB-Neuling von Anfang an von den alteingesessenen Parlamentariern ernst genommen gefühlt? Giousouf: Ja. Die Unterstützung der alten Hasen war echt großartig. Angefangen bei der Frage, wie man in welches Gebäude kommt, bis hin zu organisatorischen Details: Keine Frage war zu doof. Zumindest wurde mir dieses Gefühl vermittelt. Diaby: Ich habe das Glück, dass eine meiner Mitarbeiterinnen vorher vier Jahre lang bei einem anderen Abgeordneten gearbeitet hat. Das hat mir vieles erleichtert. Ich war auch in einer besonderen Situation, da der Presserummel um meine Kandidatur sehr groß war. Daher kannten mich

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Cemile Giousouf in der Fraktion schon fast alle. Das war ein Bonus. Man ist uns von Anfang an mit Respekt und auf Augenhöhe begegnet. Das hatte ich nicht erwartet, weil ich vorher gewarnt worden war, dass man es als Neuer nicht so einfach hat. Aber ich wurde sofort akzeptiert und bekam viele Tipps. Zum Beispiel? Diaby: Einmal habe ich im Plenum Zeitung gelesen, die „Süddeutsche“ wohlgemerkt. Da hat ein erfahrener Kollege zu mir gesagt: „Das machst du künftig besser nicht mehr.“ Ich habe gefragt, warum. Da sagte er: „Da sind überall Kameraleute, die können irgendein Bild in der Zeitung fokussieren, selbst wenn du es nicht direkt anguckst. So können sehr unangenehme Schlagzeilen entstehen.“ Gott sei Dank bin ich vor einer solchen Erfahrung bewahrt worden. Hinweise dieser Art gab es viele, und das hat mich sehr gefreut, weil ich es als ein Zeichen der Solidarität erlebe. Wie lief das in der Grünen-Fraktion ab, Frau Verlinden? Verlinden: Bei uns haben sich einzelne Mitarbeiter der Fraktion bereit erklärt, dass man bei ihnen alle möglichen inhaltlichen und organisatorischen Fragen loswerden kann. Darüber hinaus gibt es natürlich auch eine thematische Zuordnung. Wir haben zum Beispiel einen stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden, der für alle Energie-, Verkehrs- und Umweltthemen zuständig ist (Oliver Krischer, Anm d.

ist die erste muslimische CDU-Bundestagsabgeordnete. Sie wurde 1978 in Leverkusen geboren. Ihre Familie gehört der türkischen Minderheit in Griechenland an. Die Politologin arbeitete als Referentin unter Integrationsminister Armin Laschet. Sie sitzt u. a. im Bildungsausschuss.

Red.). Der ist mein erster Ansprechpartner, weil er die meiste Erfahrung in diesem Bereich mitbringt. Frau Giousouf und Herr Diaby, Sie sind beide mit dem Status eines „Vorzeigemigranten“ angetreten. Ist das nicht auch eine Belastung, mit so vielen Vorschusslorbeeren zu starten? Giousouf: Nein, überhaupt nicht. Ich fülle diese Funktion gern aus. Meine Botschaft an die Menschen mit Migrationshintergrund lautet: Ich möchte eine Vertretung für euch sein. Ich wurde recht schnell zur Integrationsbeauftragten der Fraktion, so dass das Thema direkt mit mir verknüpft ist. Und ich mache das gerne, denn es ist eines der Zukunftsthemen unseres Landes. Aber besteht nicht die Gefahr, dass man auf diese Rolle reduziert wird? Giousouf: Nein, diese Gefahr sehe ich nicht. Erstens, weil ich Integration für ein Querschnittsthema halte. Und zweitens habe ich mir auch bewusst ein bildungspoli-

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tisches Profil erarbeitet, da Bildung im Bereich Integrationspolitik ein zentrales Thema darstellt. Es ist richtig und wichtig, das Thema Integration mit einer Person zu besetzen, die es auch verkörpert. Diaby: Ich habe mich schon im Wahlkampf dagegen gewehrt, wenn gesagt wurde, ich würde doch bestimmt der Integrationsbeauftragte der Fraktion. Ich habe ganz bewusst am Anfang dafür gekämpft, dass ich in den Bildungsausschuss komme. Ich habe auch mehr Ausschüsse bekommen als gedacht: Ich bin noch im Unterausschuss für bürgerschaftliches Engagement und stellvertretender Vorsitzender im Menschenrechtsausschuss. Ich bin total zufrieden. Sie sind also alle drei in Ihren Wunsch­ ausschuss gekommen. Wie haben Sie das als Neuling angestellt? Giousouf: In unserer Fraktion haben meines Wissens fast alle Neuen ihren Wunschausschuss bekommen. Bei zwei oder drei neuen Abgeordneten ist es der Zweitwunsch geworden, aber es gab niemanden, der völlig fachfremd irgendwo reingesetzt wurde. Verlinden: Bei uns hat das auch gut funktioniert. Da wir eine ziemlich kleine Fraktion sind, ist es praktikabel, dass jeder einen eigenen Sprecherposten hat. Es war mir auch wichtig, dass ich nicht nur in meinen Wunschausschuss – wegen des Ressortzuschnitts ist das der Wirtschaftsausschuss – komme, sondern dass ich auch energiepolitische Sprecherin werde. Ich habe mich sehr gefreut, dass mir die Fraktion dieses Vertrauen gegeben hat, weil das Thema meine Motivation war, überhaupt zu kandidieren. Wir hatten vorhin schon nach der Post von Verbänden gefragt. Wie gehen Sie generell mit Lobbyisten um? Hat es Sie überrascht, wie viele Interessenvertreter an Sie herantreten? Diaby: Ich hatte vorher ein sehr negatives Bild und viele Vorurteile. Ich habe gedacht: „Hoffentlich lassen die mich in Ruhe.“ Aber ich habe festgestellt, dass es wichtig ist, die unterschiedlichen Interessenlagen zu kennen und die Position der eigenen Fraktion deutlich zu machen. Ein Lobbyist für eine bestimmte Sache zu sein, wie zum Beispiel die Sozialverbände, finde ich gar nicht verkehrt. Man muss nur wissen, wie man damit umgeht. Ich höre zu und sage, was unsere Position ist. Ich mache keine Versprechungen. Verlinden: Es gibt ja unterschiedliche Ebe11


Politik

nen: Dass man Post bekommt, ist das eine; dass man um Termine gebeten wird, das andere. Es hat mich schon überrascht, wie schwer es ist, bei so vielen Anfragen seinen Kalender zu organisieren. Wir müssen ganz vielen Menschen absagen, was nicht immer einfach ist. Aber man kann einfach nicht alle treffen. Dass es so extrem ist, habe ich nicht erwartet. Giousouf: Ich habe am Anfang deutlich mehr Termine wahrgenommen, um auch ein Gefühl dafür zu bekommen. Mittlerweile konzentriere ich mich auf die Themen, für die ich Berichterstatterin bin. Es ist tatsächlich terminmäßig sehr schwierig, alles unter einen Hut zu bekommen. Wir werden ja abends oft zu parlamentarischen Abenden eingeladen. Davon habe ich sehr wenige besucht, weil ich meine Energie gezielt einsetzen muss. Ich glaube, es ist effizienter, selbst auf die Gruppen zuzugehen, mit denen man Gesprächsbedarf hat. Wie viele Kontakte mit Interessenvertretern haben Sie in einer Sitzungswoche? Diaby: Ich habe durchschnittlich zwei pro Tag, von Dienstag bis Freitag. Manchmal weniger, manchmal mehr. Verlinden: Pi mal Daumen sind es zehn Kontakte in einer Sitzungswoche, Podiumsdiskussionen und Ähnliches mit eingerechnet. Ist es denn so, dass Interessenvertreter einfach nur ihre Position darstellen, oder geht das auch darüber hinaus? Verlinden: Das kommt aufs Thema an. Wenn es darum geht, zum Erneuerbare-Energien-Gesetz zu lobbyieren, schicken Verbände Briefe mit ganz konkreten Stellungnahmen und Vorschlägen, wie ihrer Meinung nach einzelne Paragrafen geändert werden sollten. Diaby: Ich hatte ein Gespräch mit dem Bundesverband der Kleingartenvereine. Dieses Thema ist wichtig für mich. Ich habe darüber promoviert und auch kommunalpolitisch beschäftige ich mich mit der Zukunft des Kleingartenwesens in Deutschland. Der Verband wusste das und ist dann auf mich zugekommen, obwohl ich nicht in dem zuständigen Ausschuss bin. Ganz konkret ist der Verband an Veränderungen von Verwaltungsvorschriften im Rahmen des Programms „Soziale Stadt“ interessiert. In dem Gespräch habe ich diese Forderungen ganz konkret wahrgenommen. Ich habe dann mit dem entsprechenden Berichterstatter im Umweltausschuss gesprochen. Was am Ende dabei herauskommt, weiß ich noch nicht genau. 12

Nicht nur die vielen Interessenvertreter sind typisch für das politische Berlin, es gibt auch zahllose Journalisten. Das Mediengeschäft in der Hauptstadt folgt dabei ganz eigenen Regeln. Herr Diaby, wissen Sie, was „unter drei“ heißt? Diaby: Nein. Frau Giousouf, Frau Verlinden, ist Ihnen das geläufig? Giousouf: Es gibt unterschiedliche Geheimhaltungsstufen, das ist eine davon. Verlinden: Wenn dieses Gespräch „unter drei“ wäre, wäre das schade. Diaby: Ich höre das zum ersten Mal. Können Sie mich bitte aufklären? „Unter drei“ bedeutet, dass ein Gespräch zwischen Politikern und Journalisten vertraulich ist und das Gesagte nur als Hintergrundinformation gedacht ist, aber nicht zitiert werden darf. Diaby: Es hat mich noch niemand angesprochen, dass er mit mir „unter drei“ reden will. Aber dass es einen solchen Code gibt, finde ich gut. Wie haben Sie sich an die Hauptstadtpresse herangetastet? Haben Sie ein Medientraining gemacht?

Giousouf: Nein, ich nicht. Verlinden: Wir hatten eine kurze Einfüh-

rung in die verschiedenen Arbeitsbereiche der Fraktion, und da war auch die Pressestelle dabei und hat uns ein paar grundsätzliche Tipps gegeben. Dann habe ich mich mit anderen Abgeordneten zusammengetan und ein eintägiges Medientraining gebucht. Immerhin. Diaby: Ich hatte für den Wahlkampf ein fünftägiges Training bei der Parteischule der SPD. Dort haben wir unter anderem gelernt, kurze Statements abzugeben. Aber ein richtiges Medientraining war das nicht. In den vergangenen zwanzig Jahren hat mich die Presse aber immer wieder angesprochen und daher denke ich, dass ich ein bisschen vorbereitet war. Nun ist die Hauptstadtpresse ja dafür bekannt, auch mal etwas forscher vorzugehen. Die Frage an Sie alle: Haben Sie eine Interview-Aussage schon mal bereut? Giousouf: Nein. Ich bitte immer darum, dass mir meine Zitate noch einmal vorgelegt werden, und das funktioniert eigentlich ganz gut. Diaby: Mir fällt da eine Geschichte ein,

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die aber nur indirekt mit Zitaten zu tun hatte. Als der Medienrummel um meine Kandidatur angefangen hat, gab es einen „Spiegel“-Artikel mit der Überschrift „Ein Schwarzer kandidiert in der Hochburg der Nazis“. Im Interview hatten wir aber gar nicht über die „Hochburg der Nazis“ gesprochen, sondern darüber, dass es toll ist, dass ich in Halle aufgestellt wurde. Und dann kam diese Überschrift, das hat mich sehr geärgert. Bereut habe ich es am Ende aber nicht, denn die Schlagzeile hatte den Effekt, dass die Weltöffentlichkeit auf Halle aufmerksam wurde. Die „New York Times“ hat mich am 1. Mai zu einer Massenansammlung begleitet, wohl um darüber zu berichten, wie die Nazis mich verprügeln. Giousouf: Aber das ist doch nicht passiert, oder? Diaby: Nein, im Gegenteil: Ich habe Gewerkschaften, Vereine, Verbände getroffen und alle haben wir uns umarmt. Das war nicht gespielt. Man kann ja nicht eine ganze Stadt inszenieren. Zurück zur Ausgangsfrage: Sie alle lassen sich sämtliche Aussagen, die Sie vor Journalisten treffen, schriftlich vorlegen?

Verlinden: Wenn sie wortwörtlich zitiert

werden sollen, ja. Diaby: Ja, Zitate werden autorisiert. Ist das schlechten Erfahrungen geschuldet? Eigentlich sollte man doch von der Sorgfaltspflicht der Journalisten ausgehen. Warum diese Absicherung? Verlinden: Es kann einem schon passieren, dass man eine halbe Stunde redet und dann ein Satz daraus zitiert wird, der am wenigsten die Quintessenz dieser halben Stunde ist. Ist Ihnen das passiert?

menhalt, Terrorismus oder IS interessiert die Journalisten, was die muslimische Abgeordnete der Unions-Fraktion darüber denkt. Insofern habe ich nicht die Sorge, medial nicht mehr vorzukommen. Herr Diaby, Frau Verlinden, müssen Sie sich an Journalisten wenden oder kommen die auf Sie zu? Diaby: Im Wahlkreis schicke ich Pressemitteilungen an die Journalisten, aber in Berlin war es bis jetzt immer so, dass die Medien auf mich zugekommen sind. Verlinden: Ich habe von Anfang an versucht, die Journalisten, die für das Thema Ener-

„ Es wurde mir empfohlen, mir Zitate noch einmal zur Freigabe vorlegen zu lassen.“ Karamba Diaby Verlinden: So direkt nicht. Aber ich merke

schon, dass Journalisten bei den sehr komplexen Themen, über die ich rede, dazu neigen, Aussagen zu verkürzen. Das liegt auch daran, dass sie viel Stress und wenig Platz haben. Und dann kann schon einmal unabsichtlich etwas schiefgehen. Deshalb finde ich es gut, wenn man nochmal die Gelegenheit hat, Zitate freizugeben. Diaby: Es wurde mir empfohlen, mir Zitate noch einmal zur Freigabe vorlegen zu lassen. Es ist auch schon vorgekommen, dass ich klarstellen musste, dass ich eine Aussage so nicht gemeint hatte. Das muss erlaubt sein. Sie alle drei sitzen erst seit einem Jahr im Bundestag. Dort gibt es Kollegen, die wesentlich etablierter sind als Sie. Wie schaffen Sie es, sich medial Gehör zu verschaffen? Giousouf: Es ist natürlich wichtig, medial präsent zu sein. Meine Hauptpriorität ist aber, bei meinen Themen konkrete Dinge umzusetzen. Als Integrationsbeauftragte bekomme ich tatsächlich viele Anfragen. Bei den Themen gesellschaftlicher Zusam-

Karamba Diaby ist der erste aus Afrika stammende MdB. Er ist 1961 im Senegal geboren. Ab 1986 studierte er Chemie in Halle-Wittenberg. Nach der Promotion war er Projektleiter für interkulturelle Bildung und Referent im Arbeitsministerium von Sachsen-Anhalt. Er ist u. a. Mitglied im Bildungsausschuss.

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giepolitik zuständig sind, kennenzulernen. Ich bin auch noch nicht fertig mit meiner Liste. Es ist wichtig, dass man voneinander weiß. Manchmal kommt es dann vor, dass mein Mitarbeiter Journalisten anruft und fragt, ob sie ein Zitat wollen. Umgekehrt kommen manchmal Journalisten mit einem Vorschlag der Bundesregierung auf uns zu und fragen: „Was sagt ihr denn dazu?“ Solche Anfragen kommen dann drei Minuten, nachdem wir von dem Vorschlag der Regierung erfahren haben – und der ist vielleicht Hunderte Seiten lang. Wie reagieren Sie in solchen Fällen? Verlinden: Man kann ja sagen: „Ich rufe gleich zurück.“ Die einzige Chance ist dann, sich in kürzester Zeit einen Überblick zu verschaffen und sich zu positionieren. Aber dieses schnelllebige Geschäft ist wirklich gewöhnungsbedürftig. Ich bin ja vorher in der Wissenschaft gewesen und finde es schön, wenn man Sachen in Ruhe diskutiert und das Für und Wider abwägt. Aber ich kann auch die Journalisten verstehen, die sofort darüber schreiben müssen und deshalb keine Zeit haben. Haben Sie manchmal das Gefühl, dass eine Recherche nicht ergebnisoffen ist und Sie nur angefragt werden, um ein erwartbares Zitat für einen fertigen Artikel abzuliefern? Verlinden: Ich hatte einmal dieses Gefühl. Ich wurde immer wieder dasselbe gefragt, weil ich offenbar noch nicht genau das gesagt hatte, was der Journalist hören wollte. Aber das ist die Ausnahme. Frau Giousouf, in dem Interview, das wir kurz nach der Bundestagswahl mit Ihnen geführt haben, haben Sie erzählt, dass die türkischen Medien di13


Politik

rekt nach der Wahl ein sehr großes Interesse an Ihnen hatten. Ist dieses Interesse denn ein Jahr nach der Wahl noch vorhanden? Giousouf: Ja, das Interesse ist weiterhin wahnsinnig groß. Als erste muslimische Bundestagsabgeordnete der CDU bin ich international auf viel Aufmerksamkeit gestoßen. Das war auch ein Glück für meinen Wahlkreis. Es kamen ganz viele Besucher nach Hagen, sogar aus Japan. Für türkische Medien schreibe ich mittlerweile regelmäßig Kolumnen. Wir geben außerdem sehr viele Pressemitteilungen heraus, sowohl für den Wahlkreis als auch hier in Berlin.

Julia Verlinden ist 1979 in Bergisch Gladbach geboren. Sie wuchs als älteste von fünf Schwestern auf. Die promovierte Umweltwissenschaftlerin arbeitete sieben Jahre lang im Umweltbundesamt in Dessau. Die 35-Jährige sitzt u. a. im Wirtschaftsausschuss und ist energiepolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion.

„ Ich finde es wichtig, dass es eine Phase gibt, in der man merkt, dass sich die Welt auch dann weiterdreht, wenn man sich mal für einen Tag ausklinkt.“ Julia Verlinden Ziehen wir Bilanz: Sie sitzen seit einem Jahr im Bundestag. Haben Sie an sich selbst oder haben andere an Ihnen Veränderungen festgestellt? Verlinden: Ganz praktisch merke ich, dass ich sehr viel weniger schlafe. Aber ob sich das auf andere Dinge auswirkt, weiß ich nicht (lacht). Diaby: Die Treffen mit Freunden werden rarer. Das macht mir Sorgen, weil es ein Leben nach dem Bundestag gibt. Allerdings beobachte ich, dass Freunde von sich aus ein bisschen zurückhaltender werden. Die sagen – oder denken – schon mal: „Naja, er hat sowieso keine Zeit.“ 14

Giousouf: Freunde zu treffen ist echt zum

Luxus geworden. Aber ich vertraue darauf, dass der harte Kern am Ende bestehen bleibt. Es ist schon traurig, wenn Freundinnen Kinder bekommen und man die dann gar nicht oder einmal zur Geburt und dann erst wieder zum zweiten Geburtstag sieht. Frau Verlinden, wir haben in einem Artikel gelesen, dass Sie nach Ihrer Wahl in den Bundestag Ihrem Mann einen Offline-Tag pro Monat versprochen haben. Sind Sie an allen anderen Tagen rund um die Uhr erreichbar? Verlinden: Nein. Ich finde es wichtig, dass

es auch eine Phase gibt, in der man merkt, dass sich die Welt auch dann weiterdreht, wenn man sich mal für einen Tag ausklinkt. Die Idee mit dem Offline-Tag kam auf, als ich sogar am Wochenende am Frühstückstisch mit meinem Smartphone saß. Da habe ich gemerkt, dass das nicht gerade die zukunftsfähigste Art der Kommunikation mit meinem Mann ist. Reden wir über Erfolge: Worauf sind Sie nach einem Jahr Abgeordnetendasein besonders stolz? Verlinden: Ich habe mich sehr gefreut, dass es uns gelungen ist, fraktionsübergreifend einen „Parlamentskreis Energieeffizienz“ ins Leben zu rufen. Das ist schon einmal ein Schritt in die richtige Richtung. Diaby: In Bezug auf mein Team habe ich mich gefreut, dass es uns schnell gelungen ist, gut zu funktionieren. Das erleichtert meine Arbeit sehr. Giousouf: Wir haben Themen im Parlament verabschiedet, die mir am Herzen lagen, wie beispielsweise die doppelte Staatsbürgerschaft oder die Fortsetzung der Deutschen Islamkonferenz, die der Innenminister 2006 ins Leben gerufen hatte. Zum Schluss ein kurzes Gedankenspiel: Was würden Sie anders machen, wenn Sie noch einmal neu starten könnten? Diaby: Ich habe Wochen gebraucht, um alle Räumlichkeiten zu finden. Ich würde jedem empfehlen, zwei Schnuppertage zu machen wie Frau Verlinden. Giousouf: Das finde ich auch eine gute Idee, vorher so eine Art Praktikum zu machen. 

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Politik

Vo n V iktoria B itt ma n n

M

anchmal wird Janosch Dahmen von seinem Chef gefragt, wie lange er noch für ihn arbeiten wird – mitten in einer OP. „Bisher konnte ich immer die Wasserstandsmeldung geben, dass alles beim Alten ist“, erzählt der 33-Jährige. Er ist Chirurg in der Notfallambulanz der Unfallklinik Duisburg. Vor einem Jahr wäre er um ein Haar für die Grünen in den Bundestag eingezogen. Seit der verlorenen Wahl ist er wieder am OP-Tisch und im Rettungshubschrauber im Einsatz. Doch nicht nur das. Janosch Dahmen ist MdB auf Abruf. Wie so einige: Dutzende Menschen in Deutschland können von heute auf morgen Bundestagsabgeordnete werden. Sie sind Nachrücker Nummer eins auf der Landesliste ihrer Partei. Dass es zum Ernstfall kommt, kann ganz unterschiedliche Gründe haben: der Tod eines Abgeordneten, schwerwiegende persönliche Motive, Krankheit, der Wechsel zurück in den alten Job oder eine Landesregierung – all das sind denkbare Szenarien. Diese Unwägbarkeiten im Hinterkopf, fällt es manchen potenziellen Nachrückern gar nicht so leicht, sich auf ihre neue Rolle einzulassen. Janosch Dahmen war „lange Zeit sicher davon ausgegangen“, den Einzug in den Bundestag zu schaffen. Selbst am Wahlabend „sah es zwischenzeitlich so aus, als würde es klappen“, erinnert er sich. Doch dann kam alles anders. Im Gegensatz zur Bundestagswahl 2009 reichte Platz 14 auf der grünen Landesliste Nordrhein-Westfalens vier Jahre später nicht mehr für ein Bundestagsmandat. Weil ihm erfahrene Parlamentarier dazu geraten hatten, war Janosch Dahmen schon früh auf Mitarbeitersuche für sein Abgeordnetenbüro in Berlin gegangen, hatte Vorvereinbarungen getroffen. Umso bitterer war die Niederlage. Nach der Wahl bat er seinen Chef um drei Wochen Urlaub, „um das alles zu sortieren“. Doch zur Ruhe kam er nicht. „Am Anfang war es ganz schlimm. Als es zeitweise Sondierungsgespräche zwischen 16

MdB auf Abruf Scheidet ein Abgeordneter aus dem Bundestag aus, rückt ein neuer nach. Soweit die Theorie. Wie es sich als potenzieller Nachrücker lebt, erzählen Janosch Dahmen (Grüne), Kathrin Rösel (CDU) und Angelika Glöckner (SPD).

Kathrin Rösel (43) ist Nachrückerin Nummer eins auf der Landesliste der CDU Niedersachsen. Sollte es zum Ernstfall kommen, müsste sie ihren Job als Leiterin des Schulamtes in der Samtgemeinde Meinersen aufgeben.

CDU und Grünen gab, habe ich jede Agenturmeldung verfolgt. Drei Monate lang habe ich bei jeder Nachricht überlegt, ob das bedeuten könnte, dass ich nachrücke“, erzählt er. Auch Angelika Glöckner (SPD) hat die Nachrichtenlage eine Zeitlang besonders

aufmerksam beobachtet. Nach der knappen Wahlniederlage stellte sich bei der 52-Jährigen, die auf Listenplatz elf der SPD Rheinland-Pfalz kandidiert hatte, der Alltag schnell wieder ein. Während der Kabinettsbildung im Dezember 2013 war der Wechsel nach Berlin dann aber plötzlich wieder zum Greifen nah. „Als klar war, dass Andrea Nahles Bundesarbeitsministerin wird, kam die Frage auf, ob sie ihr Abgeordnetenmandat zurückgibt. In diesem Fall wäre ich nachgerückt“, erinnert sich Glöckner. Mit ihrer Familie hatte sie schon vor der Wahl einen Notfallplan aufgestellt – ihr jüngster Sohn ist gerade elf Jahre alt. Nach wenigen Tagen legte sich die Aufregung: Andrea Nahles wurde Ministerin, behielt ihr Mandat – und Angelika Glöckner ihren Job als Personalratsvorsitzende bei der Stadtverwaltung Pirmasens. Kathrin Rösel erlebte am Tag der Bundestagswahl ein Wechselbad der Gefühle. Dass sie tatsächlich über die Landesliste der CDU Niedersachsen ins Hohe Haus einziehen könnte, stand für sie gar nicht zur Debatte. „Für mich war klar, dass die

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Janosch Dahmen (33)

Fotos: www.thinkstock.com; Privat (3)

rückt nach, sollte ein Grünen-Abgeordneter aus Nordrhein-Westfalen ausscheiden. Bis dahin ist der Unfallchirurg rund um Duisburg im Rettungshubschrauber und in der Notfallambulanz im Einsatz.

Liste auf keinen Fall bis Platz 32 ziehen würde. Am Wahlabend kam dann ein Anruf: ‚Wir sind schon bei Platz 28‘. Da dachte ich: ‚Hups! Das wird knapp‘“, erzählt die 43-Jährige. So nüchtern sie ihre Chancen vor der Wahl bewertete, so unaufgeregt lebt sie heute ihre Rolle als potenzielle Nachrückerin. In der Samtgemeinde Meinersen leitet sie nach wie vor die Fachbereiche Personal und Bildung. Hin und wieder kommt die Frage auf: „Was passiert denn, wenn du gehst?“ Kathrin Rösel wiegelt ab: „Das ist ziemlich unwahrscheinlich.“ Das kann man auch anders sehen: Ein Jahr nach der Wahl sind schon vier Abgeordnete nachgerückt. Auf Annette Schavan (CDU), die ihr Mandat niederlegte, um Botschafterin im Vatikan zu werden, folgte im Juli Waldemar Westermayer. Für Sebastian Edathy, der im Zuge der Kinderpornografie-Vorwürfe auf sein Mandat verzichtete, rückte im Februar Gabriele Groneberg nach. Priska Hinz (Grüne) schied im Januar aus dem Bundestag aus, um in Hessen Umweltministerin zu werden. Sie wurde durch Wolfgang Strengmann-Kuhn ersetzt. Und Christian Petry (SPD) rückte im Januar für Reinhold Jost nach, der seither Justizminister des Saarlandes ist. Der Blick in die Statistik zeigt: Bei vier Nachrückern wird es bis zur nächsten Bundestagswahl nicht bleiben. In der vergangenen Legislaturperiode (2009 bis 2013) schieden 32 Abgeordnete vorzeitig aus dem Bundestag aus, in den vier Jahren davor waren es 29. Doch warum rückten je-

weils nur 30 beziehungsweise 26 Parlamentarier nach? Klaus Pötzsch, Pressesprecher des Bundeswahlleiters, klärt auf: Bis zur Wahlrechtsreform 2013 wurden ausscheidende Abgeordnete, die ein Überhangmandat hatten, nicht nachbesetzt. Seitdem es Ausgleichsmandate gebe, die einen theoretischen Überhang de facto neutralisieren, gelte die Regel: Eine Person scheidet aus, die nächste auf der Landesliste der jeweiligen Partei rückt nach. Nur wenn die Liste erschöpft ist, bleibt der Sitz unbesetzt. Wie das Nachrücken im Ernstfall genau ablaufen würde, davon haben Janosch Dahmen, Kathrin Rösel und Angelika Glöckner nur eine vage Vorstellung. Wer offiziell feststellt, dass sie Nachrücker Nummer eins sind (Landeswahlleiter), wie viel Bedenkzeit sie bekämen (eine Woche) – mit den Details haben sie sich bislang nicht beschäftigt. Und tatsächlich hängt viel davon ab, ob ein Platz im Parlament überraschend oder mit einem gewissen Vorlauf frei wird. Auf gepackten Koffern sitzen die drei jedenfalls nicht. „Wenn

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Tag X kommt, dann bekomme ich das organisiert“, sagt Janosch Dahmen, der wenige Monate nach der Bundestagswahl Vater geworden ist. Auch Angelika Glöckner blickt dem Ernstfall gelassen entgegen: „Wenn ich nachrücken sollte, würde der Notfallplan von 2013 greifen. Der Rest würde sich ergeben“, sagt sie. Und auch Kathrin Rösel bleibt entspannt. „Es wird schnell gehen müssen und dazu wäre ich auch in der Lage. Mein Sohn wird jetzt 18 Jahre alt. Er steht auf eigenen Füßen.“ Am Können dürfte es also nicht scheitern, sollten die drei potenziellen Nachrücker eines Tages zum Zuge kommen – eher am Wollen. Einzig Janosch Dahmen zögert bei der Frage keinen Augenblick: „Ich würde sofort nach Berlin gehen“, so der Unfallchirurg. Kathrin Rösel äußert sich da schon etwas vorsichtiger: „Je weniger Zeit von der Legislaturperiode übrig wäre, umso länger müsste ich nachdenken. Ich weiß nicht, ob ich für nur ein Jahr nach Berlin gehen würde“, sagt sie. Und auch Angelika Glöckner will sich im Falle einer „sehr fortgeschrittenen Legislatur“ nicht festlegen: „Das wäre eine schwierige Situation.“ Nicht jeder reißt sich darum, im Nachhinein einen Platz im Plenarsaal zu ergattern. So bleibt es nicht nur für jene spannend, die auf der Nachrückerliste ganz oben stehen. Ein Beispiel: Tobias Lindner (Grüne) rückte im Juni 2011 für Ulrike Höfken nach, die Umweltministerin in Rheinland-Pfalz wurde – allerdings erst, nachdem zwei andere Kandidaten das Ticket nach Berlin nicht gelöst hatten. 

Angelika Glöckner (52) käme zum Zuge, sollte ein SPD-MdB aus Rheinland-Pfalz sein Mandat niederlegen. Solange sie in Berlin nicht gebraucht wird, bleibt sie Personalratsvorsitzende in der Stadtverwaltung Pirmasens. 17


International

Sensible Seitenwechsel Ein halbes Jahr vor den Unterhauswahlen ergeben sich die britischen Konservativen in lähmende Flügelkämpfe, die den Wahlsieg kosten könnten. Einmal mehr geht es um Europapolitik und den Umgang mit der United Kingdom Independence Party (UKIP), dem britischen Pendant der Alternative für Deutschland (AfD).

Vo n Aljo sch a Kerte sz

D

Das politische System ist in Bewegung Mit Carswells Sieg ist Bewegung in die britische Parteipolitik gekommen. Experten wie Paul Webb gehen davon aus, dass es weitere Übertritte geben wird, auf lokaler und auf Landesebene. „Das wird UKIP zu 18

Der Ex-Konservative Douglas Carswell wurde als erster Abgeordneter der UKIP ins britische Parlament gewählt.

mehr Glaubwürdigkeit verhelfen und die Chancen bei den Parlamentswahlen im kommenden Jahr steigern“, sagt der Politikprofessor an der University of Sussex. Im Mittelpunkt der Bemühungen um das Anwerben enttäuschter Tory-Abgeordneter steht Stuart Wheeler, Schatzmeister der UKIP. In seinem früheren Leben war er einer der bedeutendsten Geldgeber der Konservativen, heute versucht er europaskeptische Abgeordnete vom Parteiwech-

sel zu überzeugen. Bereits Anfang 2013 hatte sich Wheeler hierzu mit etwa zehn Abgeordneten getroffen. Doch die Parteistrategen um David Cameron schalteten schnell. Der Premierminister ging auf den rechten Flügel zu und versprach den Briten für 2017 eine Abstimmung über den Verbleib in der EU, sollte er im kommenden Jahr im Amt bestätigt werden. Die Europaskeptiker in seiner Partei frohlockten, an einen Wechsel zu UKIP mochte keiner mehr denken. Erst als im August Douglas Carswell und einen Monat später mit Mark Reckless ein zweiter Ab-

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Fotos: flickr.com / Steve Punter / CC BY SA 2.0; Wikimedia Commons / Mobilelinkchecker; flickr.com / Euro Realist Newsletter / CC BY SA 2.0; Privat

ouglas Carswell hat es geschafft: Der ehemalige Abgeordnete der Konservativen Partei wurde Anfang Oktober bei einer Nachwahl als erster Abgeordneter der UKIP ins britische Parlament gewählt. Dabei hätte sein Parteiwechsel aufgrund der Parlamentsstatuten gar keine Nachwahl erfordert. Carswell hatte sich bewusst für diesen Weg entschieden, um den Beweis anzutreten, dass seine Wiederwahl auch als UKIP-Kandidat gesichert ist. Damit setzt er rund sieben Monate vor den Parlamentswahlen ein Ausrufezeichen für weitere unzufriedene Konservative, die bisher vor allem deswegen vor einem Parteiwechsel zurückschreckten, da sie befürchteten, bei der nächsten Parlamentswahl abgewählt zu werden. Zwar hatte UKIP bereits bei den Wahlen zum Europaparlament mit einem Stimmenanteil von 27,5 Prozent eindrucksvoll den ersten Platz errungen, doch im britischen Unterhaus war die Partei bisher nicht vertreten. Das Mehrheitswahlrecht belohnt nur den jeweiligen Gewinner; die Europaskeptiker kamen bis dato maximal als Zweitplatzierte über die Ziellinie.


geordneter vom rechten Rand der Konservativen zu UKIP gewechselt war, kam das Thema wieder auf die Tagesordnung.

Ein tiefer Riss Zurück bleiben tief verunsicherte Konservative, die um den richtigen Umgang mit UKIP und den europapolitischen Kurs ihrer Partei streiten. Dabei wird die Diskussion intensiver geführt als beispielsweise innerhalb der CDU über den Umgang mit der AfD. Sieben Monate vor den Parlamentswahlen offenbart sich ein Flügelkampf, der die Partei im anstehenden Wahlkampf lähmt. Andrew Percy gehört bei den Konservativen zu den Europaskeptikern. Er fordert eine restriktive Linie bei der Zuwanderung und hofft, dass die Briten 2017 gegen den Verbleib in der EU stimmen werden. Percy ist Mitglied der „Better off out“-Kampagne, einer überparteilichen Initiative, die für den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union eintritt. Die Zahl derer, die den Austritt fordern, soll laut Medienberichten zwischenzeitlich auf rund 100 Abgeordnete angewachsen sein. Das wäre ein Drittel der Fraktion. Vertreter des erzkonservativen, europaskeptischen Flügels wie Percy haben sich unter anderem in der Campaigning-Gruppe „Conservative Way Forward“ oder dem Thinktank „Cornerstone Group“ zusammengeschlossen, um ihre Interessen zu bündeln und zu artikulieren. Sie drängen die Parteispitze dazu, einen Schwenk nach rechts zu vollziehen, um die Flanke zu schließen, die ihrer Meinung nach seit der Amtszeit von David Cameron offen ist.

Mark Reckless‘ Parteiwechsel hat die Diskussion über den Umgang der Konservativen mit UKIP befeuert.

Als frisch gewählter Vorsitzender hatte David Cameron seiner Partei 2005 eine Frischzellenkur verabreicht. Unter dem Motto „Change to Win“ hatte er die Koordinaten seiner Partei nach links verschoben. Vergleichbar mit dem von Angela Merkel eingeschlagenen Kurs innerhalb der CDU, jedoch bei Weitem nicht so entschieden wie die deutsche Bundeskanzlerin. So öffnete sich der mittelständische Altherrenverein, der zwischen 1997 und 2010 auf den Oppositionsbänken schmoren musste, für Frauen und Kandidaten mit Migrationshintergrund. Zudem wurden neue gesellschaftspolitische Schritte gewagt. Der erhoffte Erfolg an der Urne blieb jedoch aus. Statt einer eigenen Mehrheit reichte es bei den Wahlen 2010 nur zu einer Koalition mit den Liberalen. Doch der Modernisierungskurs hatte weitreichende Folgen: Auf lokaler Ebene führte er zu Parteiaustritten, bei den stark europaskeptischen Hinterbänklern in der Fraktion zu heftigen Gegenbewegungen. Ihre Drohungen, Cameron die Gefolgschaft zu verweigern, zeigten zuletzt regelmäßig Wirkung. Zunächst in dem Zugeständnis, den Briten eine Abstimmung über den Verbleib in der EU zu ermöglichen.

Der linke Flügel lahmt

Stuart Wheeler, Schatzmeister der UKIP, wirbt gezielt enttäuschte ToryAbgeordnete ab.

Zudem erreichten die konservativen Kräfte, dass Cameron den pro-europäischen, linken Flügel bei der diesjährigen Kabinettsumbildung stark stutzte. Mit Damian Green, Ken Clarke und George Young verloren drei der profiliertesten Vertreter des linken Parteiflügels ihre Regierungsämter. Clarke ist Vorsitzender der Tory Reform Group, Damian Green und George Young bekleiden wichtige Ämter in der bedeutendsten Gruppierung des linken Parteiflügels. „Die Mitglieder der Tory

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Reform Group sind heute eine vom Aussterben bedrohte Art“, attestiert Tim Bale. Für den Politikprofessor der Queen Mary University of London und Experten für die Konservative Partei ist Staatsminister Francis Maude der einzige verbliebene prominente Vertreter des gemäßigten Parteiflügels. Auch Damian Green weiß, dass der linke Parteiflügel derzeit im Kabinett stark unterrepräsentiert ist. Er tröstet sich jedoch damit, dass moderate Konservative es immer schwer hätten, Einfluss auf die Linie der Partei zu nehmen. „Aber wir werden weiterkämpfen“, sagt der ehemalige Polizeiminister, der als Vorsitzender des „Conservative Mainstream“ ein weiteres Sammelbecken von gemäßigten Konservativen leitet. Für ihn ist klar, dass die Wahlen nicht durch einen Rechtsruck, sondern nur in der Mitte gewonnen werden können. Es bleibt abzuwarten, ob sich der geschwächte linke Flügel mit diesem Ansatz durchsetzen wird.

Eine Stimme für Europa Während die Konservativen noch über die richtige Wahlkampfstrategie im Umgang mit UKIP diskutieren, bereitet sich die europaskeptische Partei auf den anstehenden Wahlkampf vor. Stuart Wheeler hat bereits weitere Übertritte von Parlamentariern in den nächsten Monaten angekündigt. Jeder einzelne beschert UKIP wertvolle Aufmerksamkeit. Zwar wird UKIP bei den Parlamentswahlen im kommenden Jahr aufgrund des Wahlsystems nur eine Handvoll Mandate erzielen. Sie kann die Konservativen jedoch insbesondere in einigen heiß umkämpften Wahlkreisen entscheidende Stimmen kosten, die Labour einen Wahlsieg ermöglichen könnten. Ein Referendum, wie es David Cameron vorschwebt, wäre dann wohl vom Tisch. Somit macht aktuell jede Stimme für UKIP den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union wahrscheinlicher.  Aljoscha Kertesz ist Berater für Public Relations und Public Affairs.

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Medien

Nachrichten aus der Blackbox Das US-amerikanische Nachrichtenportal „Politico“ strebt nach Europa. Der Journalismusexperte Stephan Weichert erklärt, was hinter der Erfolgstory des Unternehmens steckt und wie es die europäische Medienlandschaft verändern könnte.

p&k: Herr Weichert, ab 2015 möchte Axel

Springer zusammen mit dem US-amerikanischen Nachrichtendienst „Politico“ ein Joint Venture in Brüssel starten. Was steckt hinter dieser ungewöhnlichen Kooperation? Stephan Weichert: In den vergangenen Jahren wurde immer wieder bemängelt, dass die Berichterstattung aus Brüssel nicht sonderlich ausgewogen, publikumsnah und strukturiert ist, obwohl viele Korrespondenten dort sitzen und sich bemühen, ein gutes und ganzheitliches Bild zu liefern. Dennoch weiß die Öffentlichkeit kaum, was dort passiert, welche Entscheidungen gefällt werden und wer die wichtigen Akteure sind. Deshalb halte ich das Engagement eines neuen digitalen Angebots wie „Politico“ erst einmal für konsequent, wenn nicht sogar für sehr clever. Auch wenn einige solcher journalistischen Projekte bisher grandios gescheitert sind, muss das nicht bedeuten, dass ein weiteres keine Chance auf Erfolg hätte. Welche Zielgruppe soll Ihrer Meinung nach mit diesem Joint Venture angesprochen werden? Das Portal „Politico“ hat in den USA vor allem damit Erfolg, dass es exklusive Insider-Nachrichten für Insider bereitstellt. Es ist also ein Angebot vor allem für den politischen Betrieb selbst. Und deren Nutzer, die vor allem aus einer elitären Bildungsschicht stammen, zahlen wiederum viel Geld für den geschlossenen Online-Bereich „Politico Pro“. Durch dieses Abonnement-Modell wird das gesamte Angebot trotz eines relativ überschaubaren Pu66

blikums wirtschaftlich tragfähig. „Politico“ ist eines der wenigen Vorbilder in der Medienbranche, bei denen solche Geschäftsmodelle funktionieren. Insofern wird sich das Angebot auch aus Brüssel wohl eher an Spezialisten richten als an die breite Masse. Amerikanische Publikationen wie die „Huffington Post“ und „Buzzfeed“, versuchen momentan, auf dem deutschen Markt Fuß zu fassen. Werden hier einfach erfolgreiche Geschäftsmodelle aus den USA kopiert oder sehen die Medienhäuser in Deutschland ein noch nicht ausgeschöpftes Potenzial? Es ist ja nicht so, dass die deutschen Medien keine eigenen Ideen haben. Es geht einfach darum, internetbasierte Erfolgsmodelle, die anderswo sehr gut funktio-

sie es fachlich nicht könnten, sondern weil sie sich nicht genug bemühen, ihr Zielpublikum zu erreichen. Weshalb braucht Springer dafür die Hilfe von „Politico“? Warum speziell Springer ein solches Medium nicht selbst entwickelt hat, liegt auf der Hand: Die politische Kompetenz von Springer ist in Brüssel nicht sonderlich ausgeprägt. Dennoch liefern die Springer-Titel und der gesamte Verlag eine ideale Infrastruktur – und „Politico“ braucht für sein Vorhaben ebenfalls einen starken Partner. Wie hat es „Politico“ eigentlich geschafft, in Washington D.C. etablierten Medien den Status als politisches Leitmedium abzulaufen?

„‚ Politico‘ ist eines der wenigen Vorbilder in der Medienbranche.“ nieren, für Deutschland zu adaptieren. Springer, Burda und andere sind sehr gut darin, erfolgreiche Startups aufzukaufen oder deren Ideen zu übernehmen. Dabei verwundert es, dass ein Angebot wie „Politico“ hier bisher noch nicht aus sich selbst heraus entstanden ist. Brüssel ist ein Raumschiff, die EU-Politik ist eine Blackbox. Also ist ein Medium eigentlich längst überfällig, das die Akteure sichtbar macht und erklärt, wie die Politik auf EUEbene konkret funktioniert. Ein Angebot für interessierte Bürger, die es genauer wissen wollen. Das können nämlich auch viele Korrespondenten nicht leisten. Nicht weil

2008 habe ich „Politico“ in Washington selbst besucht. Schon damals waren die Gründer des Portals John Harris und Jim VandeHei, zwei ehemalige „Washington Post“-Journalisten, sehr umtriebig und haben weitere gestandene Redakteure von Qualitätsmedien wie der „New York Times“ abgeworben. In den vergangenen Jahren hat sich das Portal zu einem einflussreichen Player entwickelt, weil sie sehr akribisch recherchieren und gute Kontakte in die politische Szene haben. Sie haben Zugang zu Hintergrundkreisen und politischen Strippenziehern, die viele Informationen durchstechen. Dadurch hat

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Foto: Laurin Schmid

I n te rv ie w: Ma rtin Ko ch


Auf dem Zeitungskongress 2014 in Berlin rührte „Politico“Gründungs­chefredakteur John F. Harris die Werbe­trommel für die neue Kooperation mit Axel Springer.

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„Politico“ nach wie vor sehr viele Exklusivmeldungen. So hat das Portal der „New York Times“ in „D.C.“ tatsächlich den Rang ablaufen können. Gibt es weitere Faktoren, die zum Erfolg beigetragen haben? Ja. Hinzu kommt, dass „Politico“ eine sensationelle Social-Media-Performance hat: Viele Beiträge werden tausendfach getwittert und einige Facebook-Posts liegen im fünfstelligen Bereich – solche Werte erreicht eigentlich kaum ein anderes Special-Interest-Medium. Nicht zuletzt ist „Politico“ eines der wenigen Angebote, die es geschafft haben, den umgekehrten Weg zu gehen, den wir Wissenschaftler „reverse publishing“ nennen – nämlich nach einer Online-Only-Präsenz auch ein gedruck-

also noch bevor sie überhaupt irgendein anderes publizistisches Angebot zur Kenntnis nehmen. Einen Newsletter am frühen Morgen zu verschicken, ist also naheliegend, weil man damit einen psychologischen „Priming-Effekt“ auslöst, also eine – in diesem Falle möglichst positive – assoziative Aktivierung unseres Gedächtnisses im Hinblick auf das, was aus Perspektive des jeweiligen Mediums heute wichtig werden wird. Inzwischen imitieren auch deutsche Zeitungen dieses Markenzeichen… In der Branche machen das die Informationsdienste „turi2“ und „Meedia“ ja schon länger, jetzt sind auch Zeitungsmarken wie „Handelsblatt“, „bild.de“, die „Zeit“ und andere dazu übergegangen, ein solches

„ Die Hoffnung des Axel Springer Verlages ist es offenbar, zusammen mit ‚Politico‘ international sichtbarer zu werden.“ tes Magazin herauszugeben. Zusammen mit dem ausgezeichnet funktionierenden kostenpflichtigen Online-Exklusivbreich hat diesen Erfolg meines Wissens weltweit noch kein Medienangebot nachahmen können. Wird „Politico“ diesen Erfolg in Europa wiederholen können? Ob „Politico“ der gleiche Erfolg auch in Europa beschieden sein wird, wage ich zu bezweifeln, weil etwa deutsche Medien wie „Spiegel Online“ einen derart gefestigten Agenda-Setting-Status unter Politikern und Usern haben, dass es einem auswärtigen Medium nur schwer gelingen kann, die Platzhirsche zu vertreiben. Weil aber auch Prestigemedien wie die „FAZ“ mit einem der besten Korrespondentennetze gerade Personal abbauen und Auslandsbüros schließen, könnte es durchaus sein, dass „Politico“ einigen Zeitungen die Deutungshoheit über die EU streitig macht. Welche Rolle spielt der morgendliche Newsletter „Playbook“ bei der Strategie von „Politico“? Ich halte dies für die beste Art für journalistische Angebote, die Nutzer auf die eigene Agenda aufmerksam zu machen. Die Medien wollen, ja müssen sich inzwischen immer mehr einfallen lassen, um die Nutzer zu erreichen. Und das beginnt damit, dass Berufstätige morgens als Erstes ihre E-Mails abrufen. Viele machen das ja noch während der Morgentoilette, 68

„Morning Briefing“ zu verschicken. Das Überraschende ist: Diese Form des Agenda-Settings funktioniert! Mit einer Bestof-Presseschau den Tag zu beginnen, in der mich der Chefredakteur über die wichtigsten Inhalte der kommenden Ausgabe informiert und mir erklärt, warum ich diesen oder jenen Artikel lesen soll, ist doch eine viel persönlichere Form der Leseransprache, als darauf zu warten, dass die Nutzer irgendwann auf meiner Webseite vorbeischauen. Das ist eine moderne, zielgruppengerechte Ansprache und man steigert die Wahrscheinlichkeit, dass die eigenen Inhalte rezipiert werden. Denn die Leute, die Nachrichten nicht lesen wollen, bestellen diese Newsletter in der Regel auch gleich wieder ab. „Politico“ profitiert in Washington auch sehr von der Art und Weise, wie dort Politik personalisiert wird. Nun ist die EU-Politik nicht dafür bekannt, besonders glamourös zu sein. Kann „Politico“ mit diesem Ansatz in Brüssel erfolgreich sein? Ich finde, dass die EU-Politik durchaus Potenzial hätte, stärker personalisiert zu werden. Auch dort gibt es viele Typen, Köpfe und Charaktere, die nicht minder interessant sind als die im Bundeskabinett. Ich würde den Mangel an Personalisierung also nicht darauf zurückführen, dass die EU-Parlamentarier unkenntlich oder uninteressant sind, sondern darauf, dass die Medien es bisher noch nicht ausreichend

versucht haben. Weder die deutsche noch die EU-Politik wird aber jemals solche Intrigen liefern, wie wir das aus der US-Serie „House of Cards“ kennen, die den Politikbetrieb in Washington karikiert. Denken Sie, dass die Kooperation von „Politico“ und Axel Springer dazu beitragen kann, eine gemeinsame internationale Medienöffentlichkeit in Brüssel zu schaffen? Ich vermute, dass Springer darauf spekuliert. „Politico“ hat mit mehreren Medienunternehmen verhandelt. Springer wird ihnen wohl das beste Angebot gemacht haben. Die Hoffnung des Axel Springer Verlages ist es offenbar, zusammen mit „Politico“ international sichtbarer zu werden. Vielleicht schaffen sie es gemeinsam, EU-Entscheidungen nachvollziehbarer und publikumswirksamer zu machen. Wir beobachten das ja auch bei der „Huffington Post“. Lässt sich die „Huffington Post“ denn überhaupt mit „Politico“ vergleichen? Diese spielt natürlich in einer anderen Liga als „Politico“, weil sie weniger Fachals Publikumsmedium ist und daher gelegentlich auch boulevardeske Elemente einsetzt. Aber auch sie ist von der politischen Bühne in den USA nicht mehr wegzudenken. Aber auch in vielen europäischen Ländern funktioniert das Franchise-Modell der „Huffington Post“ sehr gut. Warum sollte das also nicht auch für „Politico“ denkbar sein? Ich würde jedoch generell davor warnen zu erwarten, dass mit „Politico“ das Rad im politischen Journalismus neu erfunden würde. Wir sollten daher nicht allzu sehr enttäuscht sein, wenn das nicht der Fall ist.

Stephan Weichert ist Professor für Journalistik und Kommunikationswissenschaft an der Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation in Hamburg und leitet den Weiterbildungsstudiengang „Digital Journalism“ an der Hamburg Media School.

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Foto: Jörg Müller

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1.12.2014

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Szene

Der Ausdauernde Karrierekurve: 1996 war Heiko Maas der jüngste Staatssekretär Deutschlands. Dann erlebte er eine lange Durststrecke in der saarländischen Opposition. Sein Schicksal als ewiges Talent schien besiegelt. Mit Beharrlichkeit hat es der Hobby-Triathlet – für viele überraschend – als Bundesjustiz- und Verbraucherschutzminister 2013 doch noch auf die große politische Bühne geschafft. 2005 2004

2000

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wird Heiko Josef Maas in Saarlouis als ältester von drei Söhnen geboren. Sein Vater ist Berufssoldat und später Kraftfahrzeugmeister, seine Mutter Schneiderin. Nach Abitur und Wehrdienst arbeitet er ein Jahr lang als Fließbandarbeiter in den Ford-Werken in Saarlouis.

beginnt er ein Jura-Studium an der Universität des Saarlandes. Im selben Jahr tritt er in die SPD ein. Er wird unter anderem stellvertretender Vorsitzender des Juso-Unterbezirks Saarlouis. Heute ist Maas verheiratet und hat zwei Söhne.

zieht Maas, gefördert durch den damaligen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine, als saarländischer Juso-Vorsitzender in den Saarbrücker Landtag ein. Oskar Lafontaine sollte die politische Karriere von Heiko Maas noch lange erheblich mitbestimmen.

ernennt der saarländische Umweltminister Willy Leonhardt Heiko Maas mit gerade einmal 30 Jahren zum damals jüngsten Staatssekretär Deutschlands. Im gleichen Jahr beendet Maas seine juristische Ausbildung mit dem zweiten Staatsexamen.

erlebt Maas‘ rasante Karriere ihren nächsten Höhepunkt. Nur vier Jahre nach seinem Einzug in den Landtag übernimmt der fußballbegeisterte SPD-Politiker als Nachfolger von Willy Leonhardt das Ministerium für Umwelt, Energie und Verkehr im Saarland.

verliert die SPD bei den Landtagswahlen nach 14 Jahren die Regierungsverantwortung im Saarland. Peter Müller (CDU) wird neuer Ministerpräsident. Als SPD-Fraktionsvorsitzender und somit Oppositionsführer im Landtag bleibt Heiko Maas trotz Niederlage im politischen Fokus.

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Fotos: picture-alliance / dpa; Marco Urban (7)

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wird Maas Mitglied im SPD-Bundesvorstand. Bereits ein Jahr zuvor ist der Hobby-Triathlet, der für den Verein Tri-Sport Saar-Hochwald in Merzig bei Wettkämpfen startet, Landesvorsitzender der SPD im Saarland geworden. In den Folgejahren beweist er auch politisch große Ausdauer.

ist Maas Spitzenkandidat der SPD bei den Landtagswahlen. Die Partei sackt auf 30,8 Prozent ab. Oskar Lafontaine, einst politischer Ziehvater von Maas, hatte zuvor seinen Wahlkampf torpediert – für Maas eine seiner größten politischen und menschlichen Enttäuschungen.

rückt Maas auch in der Bundes-SPD vermehrt in den Fokus. Er rückt ins SPD-Parteipräsidium auf und übernimmt die Koordination zwischen Partei und Gewerkschaften. Zwei Jahre zuvor hatte er bereits die Projektgruppe des Parteivorstandes „Moderne Industriepolitik“ geleitet.

führt Maas als „Der neue Mann“ die SPD in die saarländischen Landtagswahlen. Die SPD erlebt mit 24,5 Prozent ein Debakel. Als linker Spitzenkandidat erschwert Oskar Lafontaine erneut die Karriere von Heiko Maas, der zum dritten Mal Oppositionsführer im Saarland wird.

zeigt sich die SPD im Saarland mit Maas als Spitzenkandidat bei 30,6 Prozent erholt und kehrt nach 13 Jahren in einer Großen Koalition in die Regierung zurück. Maas wird Minister für Wirtschaft, Arbeit, Verkehr und Energie sowie stellvertretender Ministerpräsident.

macht sich Maas‘ Ausdauer endgültig bezahlt. Überraschend wird er Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz und zeigt schnell Kante, indem er die Vorratsdatenspeicherung auf Eis legt. Mit 48 Jahren könnte Maas noch für weitere Überraschungen gut sein.

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Redaktion viktoria.bittmann@ politik-kommunikation.de martin.koch@ politik-kommunikation.de anne.huenninghaus@heliosmedia.com florian.patzer@ politik-kommunikation.de anne.strandt@ politik-kommunikation.de

Layout/Illustration Marcel Franke, Mona Karimi, Kim Pham, Antje von Daniels

Mitarbeiter dieser Ausgabe: Marco Althaus, Eric Bonse, Martin Fuchs, Volker Gerhardt, Jeannette Goddar, Aljoscha Kertesz, Dominik Meier, Malte Ristau, Hans Peter Schütz, Ulrike Simon, Thomas Trappe

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Fotografen/Fotoredaktion Laurin Schmid, Julia Nimke, Marco Urban, Frank Ossenbrink Redaktionsbeirat Prof. Dr. Marco Althaus ­ (Technische Hochschule Wildau) Prof. Dr. Günter Bentele (Uni Leipzig) Prof. Dr. Christoph Bieber (Uni Duisburg-Essen) Dr. Frank Esser (Universität Zürich)

Eva Haacke (Deutscher Bundestag) Dr. Peter Köppl, M.A. (Mastermind Public Affairs Consulting) Prof. Dr. Dr. Karl-Rudolf Korte (Uni Duisburg-Essen) Sebastian Lange (Welt Online) Prof. Coordt von Mannstein (von Mannstein) Silvana Koch-Mehrin (Women in Parliaments Global Forum) Peter Radunski (MSL Group) Prof. Volker Riegger (logos Holding) Klaus-Peter Schmidt-Deguelle (Medienberater) Maximilian Schöberl (BMW) Hajo Schumacher (Freier Journalist) Kajo Wasserhövel (Elephantlogic) Cornelius Winter (365 Sherpas)

Herausgeber Rudolf Hetzel, Daniel Steuber Anzeigen Norman Wittig norman.wittig@helios-media.com

Im Internet www.politik-kommunikation.de Twitter: @pundk Facebook: facebook.com/ politikundkommunikation

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