politik&kommunikation: Anspruchsvoll

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Anspruchsvoll alles so heiß wie es gekocht wird.

US-Midterms: Verliert Joe Biden den Kongress? Die Parteijugend sucht ihren neuen Platz Facebook-Targeting: Eine Gefahr für die Demokratie? Quadriga Media Berlin GmbH  ISSN 1610-5060  Ausgabe III/2022 — N º  140 www.politik-kommunikation.de
Die Ampelkoalitionäre haben große Aufgaben und ein Problem: Momentan wird
gegessen,

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Weil’s um

NICHT KLECKERN

Im Getriebe der Ampel knirscht es. Von Anfang an war klar, dass die Koalition von SPD, Grünen und FDP keine Liebesheirat ist (auch wenn ich das in einer Glosse kühn behauptet habe). Vor allem die Liberalen erin nern sehr gerne daran, zumal in Zeiten des Landtagswahl kampfs und in Anbetracht verlorener Wahlen in wichtigen Bundesländern. Zu den unterschiedlichen Ansichten der Ampelkoalitionäre über Themen wie Waffenlieferungen an die Ukraine, Atomausstieg und Einhaltung der Schul denbremse sind die Parteien zusätzlich aber auch mit sich selbst beschäftigt.

Die SPD ringt bei den Waffenlieferungen um ihr klas sisches Außenpolitikverständnis, die Grünen loten beim Atomausstieg die Spannung zwischen Realpolitik und (endlich) erreichter Abschaltung der Nuklearreaktoren aus und die FDP achtet angesichts zunehmender Wahl schlappen in den Ländern darauf, nicht als Zahlmeister für rot-grüne Projekte dazustehen – und kultiviert das „Nein“.

Weil das in der derzeitigen Situation nicht besonders verantwortungsvoll aussieht, rechtfertigen sich alle drei Parteien in einigen Diskussionen mit Argumenten, die ein wenig vorgeschoben daherkommen – vor allem wenn sie nach der Salamitaktik schrittweise geräumt oder unter anderem Etikett verkauft werden. Offenbar sind die Anten nen vieler Menschen aber jetzt gerade besonders sensibel dafür, wenn jemand von einer Position nicht abrückt und das mit alten Hüten erklärt. Darunter leidet die Außendar stellung der Parteien – und die Koalition gibt kein gutes Bild ab. Ab Seite 14 denke ich darüber nach und frage, ob es nicht Zeit wäre, einfach einmal beherzt umzufallen.

Andernfalls kann die wahrgenommene Lücke zwischen Politikern und Bürgern, die Florens Mayer und seine Kol legen von Civey gemessen haben (S. 42), nicht geschlossen

werden. Helfen könne es, wenn die Politiker ihrer Wäh lerschaft noch direkter und als Menschen gegenübertre ten. Allerdings ergeben sich dadurch auch die Fragen, die zu Problemen werden können. Wie privat ist poli tisch notwendig, ab wann ist es zu privat? Welche Details beschreiben eine Politikerin als Menschen, welche gehen die Öffentlichkeit gar nichts an? Darüber ist zuletzt häufi ger diskutiert worden, weil führende Politiker sich in der Öffentlichkeit für ihr Privatleben erklären mussten, wie Maximilian Flügge zusammenfasst (S. 28).

Eine neue Rolle suchen die Jugendorganisationen der Parteien. Viel wurde darüber spekuliert, wie sich vor allem die selbstbewussten Jusos und die aufmüpfige Grüne Jugend in ihrer Funktion als Jugendabteilung einer Regie rungspartei zurechtfinden würden. Um das herauszufin den, hat Fabian Busch für p&k mit den Beteiligten gespro chen – und auch geschaut, wie sich die Jungliberalen ori entieren und wie sich die Kaderschmiede der Union, die Junge Union, in der Opposition zurechtfindet (S. 20).

Im vergangenen Jahr war eine Linken-Politikerin bei uns im Wahlcamp zu Gast, um über ihren Wahlkampf zu sprechen. Der Beginn unseres Vorgesprächs ist mir in Erinnerung geblieben. Sie hatte Hunger. Großen Hun ger. In den langen Tagen und zwischen unzähligen Termi nen blieb einfach keine Zeit zum Essen. Wir brachten ihr etwas Obst aus dem Kühlschrank. Sie verputzte mehrere Birnen – mit Stumpf und Stiel. Das Thema hat mich seit her nicht mehr losgelassen. Wie ernährt man sich eigent lich anständig, wenn man kaum Zeit zum Essen hat? Mein Kollege Rouven Chlebna hat diese und andere Fragen mit einem Ernährungsberater besprochen (S. 32). Und ich habe mich natürlich um das Wortspiel in der Überschrift gekümmert, das sich beim Thema Abgeordnete und gesun der Diät aufdrängt.

Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre.

Konrad Göke KONRAD GÖKE ist Chefredakteur von politik&kommunikation.
3III/2022
EDITORIAL

14

UMFALLEN ERWÜNSCHT

In der Not müssen Parteien ihre Grundüberzeugungen prüfen von Konrad Göke

20

JUGEND FORSCH

Die Parteijugend sucht einen neuen Platz im Machtgefüge von Fabian Busch

24

AUSWÄRTSSPIEL

Warum Politiker die Nähe zum Sport suchen von Günter Bannas

28

DAS PRIVATE IST POLITISCH

Egal, ob Politiker tanzen, heira ten oder ein Haus bauen – die Öffentlichkeit schaut zu von Maximilian Flügge

32

WENN POLITIKER ESSEN

Interview mit Ernährungsbera ter Dominik Dotzauer von Rouven Chlebna

JUGEND FORSCH

AfD und Linkspartei sind im Ab wärtsstrudel. Gehen sie unter? von Eckhard Jesse

MISSTRAUENSVORSCHUSS

Zwischen Bürgern und Politik klafft eine Vertrauenslücke von Florens Mayer

ZIEL ERREICHT?

Ob politisches die Menschen manipuliert und die Demokratie bedroht von Simon Kruschinski

ES GEHT ANS AUSGEMACHTE

Warum immer mehr unge schriebene Regeln jetzt aufge schrieben werden von Alex Schmidtke

FAKE-NEWS mit EU-Kommunikati onsspezialist Lutz Güllner von Kathi Preppner

AMERIKANISCHE

Halbzeitwahlen in den Verei nigten Staaten von Judit Cech

64

ABGEKLATSCHT

Warum die Pflege ihre Forde rungen nicht durchbekommt von Celine Schäfer

68

GUTE AUSSTRAHLUNG

Wie eine Kampagne den Men schen die Angst vor dem 5G-Ausbau nimmt von Sybille Neuß

74

BEHÖRDENDSCHUNGEL

Was machen die Bundesbehörden? von Marvin Neukirch

86 GLOSSE

Begriffsakrobatik verdreht uns den Kopf von Konrad Göke

3 Editorial 5 Schnappschuss Expertentipp Pro & Kontra Fragerunde Floskelalarm Reschs Rhetorik Review Filme + Bücher Impressum Ein Tag mit ...

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6
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INHALT
20 WER FÄLLT UM? 14 INTERVIEW MIT LUTZ GÜLLNER 46 38 NUR SO AM RANDE
42
46
Online-Targeting
50
54
BEKÄMPFEN Interview
60
KAMMERSPIELE

WIE IM MÄRCHEN

Wieso ist in Bayern zur Oktoberfestzeit eigentlich nie Kaiserwetter? Ach ja, weil es nur ein Königreich ist, pardon: war. Heute ist der Chef Ministerpräsident und heißt Markus Söder. Der wird hier mit seiner Gattin Karin zur Wiesn kutschiert, wie im Mär chen. Mal sehen, wer von beiden nachher seine Schuhe verliert.

5III/2022
SCHNAPPSCHUSS

KANZLER HABECK, PFLEGE, SPORT

Kann ein Politiker sein Privatleben aus der Öffentlichkeit fernhalten?

Die politischen Ränder schrumpfen: Wird Deutschland besser mit der Polarisierung fertig als andere Länder?

Können wir Teile der Bevölkerung, die in Echokammern abgedriftet sind, noch erreichen?

Nach dem MaischbergerInterview: Hat Robert Habeck noch Kanzlerformat?

Könnte eine stärkere Lobby die Probleme der Pflege lösen?

Ja, auch wenn sich die Öffentlichkeit oft für den Menschen hinter dem Amt interessiert.

Eher nicht. Wir dürfen eher von Glück reden, dass die Extremen keine charisma tischen Figuren haben

Sollten deutsche Sportverbände an Turnieren in autoritären Staaten teilnehmen?

Das deutsche System ist vom Prinzip her auf Kompromiss und Verhandlung zwischen Parteien und zwischen Bund und Ländern ausgerichtet.

Durch unsere historische Verantwortung gibt es einen stärkeren gesellschaftlichen Konsens gegen Polarisierung, als es in anderen Ländern der Fall ist – bislang zumindest.

Die Frage würde ich nicht von einem Interview abhängig machen, sondern von politischen Ergebnissen im Laufe der Legislatur.

Klar, wenn er nach 16 Jahren Scholz noch Lust dazu hat.

Können Politiker mit Selbstdarstellung auf Social Media die Distanz zu Bürgern verringern?

Haben die parteipolitischen Jugendorganisationen ihre Zähne verloren?

Lobby kann Prioritäten verschieben. Pflege braucht eine höhere Priorität und mehr finanzielle Mittel.

Die spannendere Frage: Sollen Verstöße sanktioniert werden? Und wie?

Im politischen Betrieb gibt es inoffizielle Konventionen: Sollten diese festgeschrieben werden?

Carolin Zeller Vizepräsidentin, Quadriga Hochschule Berlin Hajo Schumacher Journalist und Autor Carsten Ovens Executive Director, Elnet Deutschland
politik & kommunikation6 EXPERTENTIPP

Für viele ist das kein Problem. Mir ist es damals nicht komplett gelungen, die mediale Jagd darauf war zu groß.

Nicht selten ziehen Positionen der politischen Ränder in die Mitte ein und erzeugen so Achsenverschiebungen innerhalb des Main streams. Beispielsweise kann heute noch schwerlich abgrenzungsfrei von konservativer oder linker Politik gesprochen werden.

Oft ersetzen sie den Stammtisch, mit dem Unterschied, dass der Stammtisch noch Hemmschwellen besaß, die insbesondere in digitalen Echokammern kaum noch vor handen sind. Was das mit Mensch und Psyche macht, erfahren wir derzeit schmerzhaft.

Wer sind „wir“? Welche Teile der Bevölkerung? Wir sollten weniger über Echokammern fabulieren und öfter in uns selbst hineinhören, ob wir noch in der Lage sind, mit ande ren Menschen einen Dialog aufzubauen, ohne die eigene Position zu überhöhen.

Das Gesundheitssystem als Ganzes bedarf dringender Reformen. An das heiße Eisen trauen sich aber die wenigsten. Zum Beispiel sollten Shareholder im Gesundheitssystem eigentlich nichts zu suchen haben.

Ich denke nicht, dass Robert Habeck jemals Kanzlerformat hatte.

Natürlich. Ein nicht so gelungener Auftritt, stellt doch diese Eignung nicht infrage. Wir erinnern uns auch bei Vorgängern an Auftritte, die nicht gelungen waren.

Das kann nur eine vernünftige Bezahlung, Ausbildung und gute Arbeitsbedingungen. Wir sollten für mehr Anerkennung sorgen.

Es bleibt stets ein Drahtseilakt und schwer, künftig nur Weltsport ereignisse in den von uns genehmen Regionen stattfinden zu lassen. Das würde sich auch mit der Idee der Völkerverständigung beißen.

Ja, wenn die jeweiligen Länder nicht weltweit geäch tet sind. Sport ist auch Botschafter.

Ja, aber der Preis ist hoch – es droht der Verlust von Privatheit.

Denn die Darstellungsart in den sozialen Medien verläuft oft nach einem ungeschriebenen Gesetz: nämlich des Brandings. Was dann oft realitätsverzerrend ist und gegebenenfalls dann die Distanz noch erhöht.

Wenn sie nur reine Kader- und Rekrutierungsmaschinen sind, verlieren sie ihren Biss.

Wir leben in einer Zeit, in der zu viele meinen, sie hätten Zähne und müssten diese vorzeigen. Dabei sind die meisten ungeputzt, haben Karies und müssten dringend gezogen werden. Dass die Parteijugend angesichts ihrer Senioren teilweise mehr Haltung zeigt, ist das kleinere Problem.

Unbedingt. Politiker sind Machthaber und Machtha ber dürfen sich in keine Grauzonen zurückziehen, ihr Tun muss immer kontrollierbar sein. Inoffizielle Kon ventionen gerne im Privaten.

Alev Doğan Chefreporterin, The Pioneer Vorsitzender, Zentralrat der Muslime in Deutschland Katja Suding Senior Advisor, Rud Pedersen Volker Ratzmann Executive Vice President Corporate Public Affairs, Deutsche Post DHL Group Ursula Münch Direktorin, Akademie für Politische Bildung Angela Merkel ist in dieser Hinsicht Vorbild.
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Das sind meine Gestaltungsspielräume. Die Freiheit, sich mit anderen zu vernetzen, neue Themen zu erschließen und das eigene Zeitbudget zu managen. Public Affairs bedeutet, flexibel zu sein, zeitlich und räumlich. Wer wie ich für mehrere Bundesländer zuständig ist, weiß das zu schätzen. Die Offenheit für unsere Anliegen im politischen Umfeld ist groß. Deutschland flächendeckend mit Glasfaser zu versorgen, ist ein Ziel, hinter dem sich alle versammeln. Jetzt gilt es, alle Ampeln beim Infrastrukturausbau auf Grün zu stellen.

ist

Beauftragter Deutschen Telekom für die Landespolitik in Berlin, Brandenburg und Thüringen.

FRAGERUNDE

DREI JOBWECHSLER STELLEN SICH GEGENSEITIG FRAGEN

Das war Anfang des Jahres mit der Erkenntnis, dass wir doch eine feministische Außenpolitik brauchen, wie sie beispielsweise die deutsche Außenministerin und andere Politikerinnen weltweit vorleben. Denn überall dort, wo es keine gelebte Gleichberechtigung gibt, steht es nicht gut um Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Feministische Außenpolitik bedeutet für mich auch, sich zu wehren und andere zur Selbstverteidigung zu befähigen –beispielsweise dann, wenn ein Aggressor einseitig den Frieden in Europa aufkündigt.

Berater sollten immer wieder die Kundeninteressen auf ihre politische Durchsetzbarkeit überprüfen. Aufgrund der aktuellen Entwicklungen verschieben sich politische Prioritäten und feste Glaubenssätze beginnen zu wanken. LobbyingStrategien müssen damit häufiger nachjustiert werden. Darin sehe ich meine Verantwortung und den Mehrwert für die Kunden.

Was macht aus Ihrer Sicht in der derzeitigen wirtschaftlichen und politischen Lage und der kommenden Rezession richtig gute Beratung aus und wie verändern sich dadurch Ihre Schwerpunkte im Beratungsangebot?

FLOSKELALARM

Ob Olaf Scholz und seine Leute neuerdings nur noch unter gehakt unterwegs sind, ist nicht überliefert. Jedenfalls sol len sich die Bürgerinnen und Bürger in diesen Krisenzei ten unterhaken – so lautet die Botschaft des SPD-Kanz lers, die er seit Wochen verbreitet. Gerne mit der Ergän zung: „You’ll never walk alone“. Fußballfans kennen die Zeile aus der gleichnamigen Hymne des FC Liverpool. Aber was soll das nun praktisch im Angesicht der Energie- und Preiskrise bedeuten? Im Stadion an der Anfield Road glühen die Herzen, weil man sich mit

Zehntausenden anderen Anhängern des eigenen Clubs verbun den fühlt. Aber in Deutschland herrscht ja nach dem russischen Überfall auf die Ukraine nicht einmal Einigkeit darüber, dass Wla dimir Putin ein Aggressor und Kriegsverbrecher ist. Kanzler Scholz reitet die Unterhaken-Phrase dennoch, um Zusammenhalt zu stif ten. Aber ohne gemeinsame Basis bleibt der Appell nicht mehr als eine Worthülse – und entwertet außerdem eine fantastische Fußballhymne.

„MÜSSEN UNS JETZT UNTERHAKEN“
MAIKE BECKER-KRÜGER ist seit Juni Head of EU & Germany Corporate Affairs bei Merck. KATHRIN ZABEL leitet seit Juni als neue Partnerin den Berliner Standort der Strategie- und Kommunikationsberatung Boldt. Wann hat sich Ihre Meinung zu einem Thema zuletzt grundlegend geändert? Was hat Sie am meisten überrascht, als Sie bei der Telekom eingestiegen sind? FLORIAN GATHMANN IST REDAKTEUR IM „SPIEGEL“-HAUPTSTADTBÜRO
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MARC DRÖGEMÖLLER
seit Juli neuer
der

UMFALLEN GEFÄLLT

Die dramatische Notsituation stellt die Ampelparteien vor die Wahl: Halten sie an grundlegenden ÜBERZEUGUNGEN fest, selbst wenn sie im Augenblick als falsch erscheinen? Von der Beliebtheit des Umfallens aus Einsicht

Das ändert alles“ ist normalerweise nur ein Spruch. Wenn sich die Umstände derart verändern, dass man nicht mehr auf denselben Wegen weiterwan deln kann wie bisher, dann sagt man sowas. Auf die derzeitige Situation trifft das zu. Wenn die Zeitenwende nicht schon im Februar stattgefunden hat, so vollzieht sie sich sicher derzeit vor unseren Augen. Viele Krisen treffen da zusammen: die auslaufende Corona-Pandemie, deren Nachwehen uns in Form des chinesischen Lockdowns und den daraus entstehenden Lieferengpässen noch immer drü cken. Der Ukraine-Krieg, auf dessen schnelles Ende wir wohl nicht hoffen dürfen. Die Energieversorgung, die infolge des sen nicht nur teurer, sondern aktuell auch unsicherer wird. Die Inflation, die uns still beraubt.

Die Menschen spüren, dass alles anders ist – natürlich. Wie schon die Corona-Pandemie sind auch diese Krisen mit den Händen zu greifen und treten in unseren Alltag ein. Zuallererst im Supermarkt und für viele auch auf der Neben kostenabrechnung. Die Politik hat das verstanden und aller lei Maßnahmen erlassen, um die Folgen der Krisen für die Bürger abzumildern. Dennoch brechen die Zustimmungswerte der Regierungs parteien ein. Die SPD und die FDP ver lieren eine Landtagswahl nach der ande

ren. Die Grünen sind erst seit Kurzem auf dem absteigen den Ast. Was ist passiert?

Es scheint, als trage jede der Ampelparteien einen Ruck sack, mit dem sie nicht so recht klarkommt. Oft berührt das fundamentale Überzeugungen, die das Selbstbild einer Partei geprägt haben. Wenn neue Weltlagen diagnostiziert werden, so scheint es, ist es ein bitterer Fehler, hierzu eine alte Schallplatte aufzulegen.

Bei der SPD ist diese offenkundig das Verhältnis zu Russ land und die Sehnsucht, mit einem pragmatischen Verhält nis zum Riesenreich außenpolitische Reife herauszustellen. Die CDU mag in Teilen und historisch dasselbe Problem haben, zu ihrem Glück ist sie derzeit aber nicht in Verant wortung. Zudem winden sich bei den Sozialdemokraten die Regierungsmitglieder und die Parteispitzen in ähnlichem Takt, auch wenn Michael Roth querschießt.

Das könnte kalter Kaffee sein. Allerdings halten ihn Par teivertreter wie Ralf Stegner und die Berichterstattung über Spenden des russischen Honorkonsulats an die niedersäch sische SPD noch warm. Natürlich haben die Sozialdemo kraten versucht, dieses Bild zu korrigie ren. Kanzler Olaf Scholz hat der Ukraine den Sieg im Krieg gewünscht und Nie dersachsens Ministerpräsident Stephan

„Die Zeitenwende vollzieht sich vor unseren Augen.“
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Christian Lindner (FDP), Olaf Scholz (SPD) und Robert Habeck (Grüne) vor dem Schloss Meseberg.
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AUSWÄRTSSPIEL

SPORT und Politik sollte man trennen, heißt es immer wieder. Da spielt die Politik allerdings nicht mit. Die Nähe zu Sport und populären Athleten eignet sich zu gut, um auch nah bei den Leuten zu sein.

Die Altvorderen als Vorbild? Bundespräsident Wal ter Scheel und Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) waren 1974 in München dabei, als die Mann schaft des Deutschen Fußballbunds gegen die Nie derlande Fußballweltmeister wurde. Helmut Kohl (CDU) wollte es sich 1986 nicht nehmen lassen, zum Endspiel der Fußballweltmeisterschaft nach Mexiko zu fliegen, weshalb der Bundeskanzler eine Viertelstunde nach dem Sieg des deutschen Teams im Halbfinale die Botschaft in Mexiko wissen ließ, er werde kommen. Weil es nach damaligem Brauch ausgeschlossen war, Staatsoberhaupt und Regie rungschef könnten das Finale gemeinsam besuchen, hatte Kohl die Befürchtung, Bundespräsident Richard von Weiz säcker könne ihm zuvorkommen. Kohl also flog.

Erstmals rückte ein Kanzler samt Entourage zu den Spielern in die Kabine ein – spendete Sekt und wegen der Niederlage gegen Argentinien Trost. Auch für Ger hard Schröder (SPD) war es 2002 selbstverständlich, zum WM-Endspiel eines deutschen Fußballteams zu fliegen –von einem Gipfeltreffen in Kanada reiste er ins japanische Yokohama. Angela Merkel (CDU) trat in die Fußstapfen ihrer Vorgänger, gemeinsam sogar mit Bundespräsident Joachim Gauck flog sie 2014 nach Brasilien. Deutschland gewann – und kaum jemand jubelte so ausgelassen wie die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland. Besuche in der Mannschaftskabine gehörten zum Standardprogramm Merkels bei solchen Anlässen; Trainer Jogi Löw und seine Spieler versicherten, sie fänden das schön.

Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) besucht die deutsche Fußballnationalmannschaft nach dem Auftaktsieg gegen Portugal bei der WM 2014 in Salvador, Brasilien in der Kabine.
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Und kaum hatten die deutschen Fußballerinnen das Halbfinale der Europameisterschaft erfolgreich hinter sich gebracht, teilte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) – via Twitter, noch in der Nacht – sein „Ich fahre nach London“ mit. Auch Scholz war nach dem Spiel in der Kabine – mit Dank und Trost. Die Englände rinnen hatten gewonnen. Schön finden es die Spitzen der Politik, sich in der Popularität des Sports zu sonnen. Demnächst auch im Winter, bei der Fußballweltmeis terschaft der Männer? Auf nach Katar?

Sport begeistert

Mit ihrer Nähe zum Sport wol len Politiker ihre Nähe zum Volk dokumentieren. Fast wo auch immer. Russlands Präsident Wla dimir Putin geriert sich als Eis hockeyspieler und brach deswe gen sogar eine Telefonkonferenz mit dem französischen Präsiden ten Emmanuel Macron ab. Silvio Berlusconi war nicht nur italieni scher Ministerpräsident, sondern dazu noch Eigentümer des Spit zenvereins AC Mailand. Französi sche Präsidenten pflegen die Tour de France einen Tag lang im offi ziellen Fahrzeug des Veranstalters zu begleiten. Der Kiewer Bürger meister Vitali Klitschko profitiert von seinen Erfolgen im Boxsport. Mao Tse-tung schwamm einst im Jangtse-Fluss, um seine körper liche Fitness zu beweisen und Gerüchte über seinen Gesund heitszustand auszuräumen.

Im Vergleich dazu hat die deutsche Politik wenig zu bieten. Immerhin: Franz Josef Strauß (CSU) und Joschka Fischer (Grüne) waren in ihrer Jugend als Rennradfahrer im Amateurbe reich erfolgreich, Annalena Baer bock im Trampolinsport. Rudolf Scharping (SPD) trimmte sich am Tourmalet und wurde nach dem Ende seiner politischen Lauf bahn Präsident des Bundes Deut scher Radfahrer. Doch weil König Fußball in Deutschland die mit

Abstand populärste Sportart ist, warfen sich die meisten am liebsten Fußballschals um und verbreiteten ihre fuß ballerische Vergangenheit. Helmut Kohl sei ein begna deter Mittelfeldspieler gewesen. Gerhard Schröder habe in seiner Mannschaft als Stürmer den Rufnamen „Acker“ getragen. Wenn immer bei sei nen öffentlichen Wahlkampfauf tritten draußen im Lande sich die Gelegenheit bot: Sakko aus, Elfmeterschießen. Über Martin Schulz hieß es, als er SPD-Kanz lerkandidat war, er habe das Zeug zum Bundesligaspieler gehabt.

Seit langem gibt es im Bun destag eine fraktionsübergrei fende Fußballmannschaft, „FC Bundestag“ mit Namen, die auch im Ausland auftritt, manch mal in halbdiplomatischer Mis sion. Nebenwirkung: Beilegung politischen Streits beim Spiel und Umkleiden. Mannschafts sport verbindet mehr als Golf, Rennradfahren und Jogging im Berliner Tiergarten, was nicht wenige Abgeordnete tun, der eigenen Fitness wegen und ohne davon viel Aufhebens zu machen – Olaf Scholz zum Beispiel.

In Schals geworfen

Fans aber sind sie auch, jedenfalls manche. Indem sich ein Politiker zu einem Fußball verein der Heimat bekennt, stellt er seine Verwurzelung und Her kunft heraus, ohne das noch umständlich erklären zu müs sen. Im Bundestag haben sich Fanclubs von Vereinen – aus München, Köln, Frankfurt und Gelsenkirchen zum Beispiel –gebildet, die von den Clubs als Gesprächs- und Kommunikati onsforen genutzt werden. Mar kus Söder (CSU) hängt heimat verbunden am 1. FC Nürnberg. Martin Schulz (SPD) half dem 1. FC Köln bei einer komplizierten Spielertransaktion mit China. Gerhard Schröder war, ehe er wegen seiner Näher zu Putin verstoßen wurde, Ehrenmit

Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko (o.) beim Ice-Hockey. Gerhard Schröder (SPD) schießt auf eine Torwand (m.). Angela Merkel (CDU) und Joachim Gauck jubeln im Stadion bei der Fußball-WM 2014 (u.).
25III/2022

BUNDESTAGSDIÄT

Schwächeanfälle, Heißhungerattacken – der stressige Alltag in der Politik lässt häufig nicht genug Zeit, gut zu essen. Wie gelingt eine gesunde Ernährung zwischen langen Sitzungen, Gesprächen, Interviews und Reisen?

Im Gespräch mit p&k gibt der Gesundheitsberater DOMINIK DOTZAUER Tipps.

Herr Dr. Dotzauer, wenn man auf Instagram #SöderIsst eintippt, erhält man eine kulinari sche Auswahl des bayerischen Ministerpräsidenten, der offenbar gern Gulaschsuppe und Schweinenackensteaks isst. Ist das gesund?

In Bildern gesprochen, hat Fleisch heutzutage zwei kleine Teufelshörnchen. Ich lasse an dieser Stelle den Umweltaspekt außen vor und spreche nur über die individuelle Gesundheit. Es wird schon sehr viel Panik verbrei tet. Die Kalorien aus fettigem Fleisch mit viel Sauce und Nudeln sättigen nur kurz. Klar erscheint es manch mal so, dass vor allem übergewichtige Menschen immer zur Bratwurst grei fen. Aber es ist nicht der Fleischanteil, der die Gewichtsprobleme verursacht. Vielmehr kommt es zu einer Energie vergiftung: Zu viel Energie plus zu viel Körperfett.

DOMINIK DOTZAUER

an Mikronährstoffen aus den Pflanzen und Ballaststof fen, was in der Summe zum Beispiel zu einem erhöh ten Darmkrebsrisiko führt. Kombiniert man stattdessen Fleisch mit Gemüse, zum Beispiel Rindersteak mit Brok koli, interagieren diese Lebensmittel nachweislich. Pflan zenstoffe machen ungesunde Stoffe aus dem Fleisch teil weise unschädlich. Das wird häufig übersehen, dabei ist es für viele sicherlich eine angeneh mere Lösung, Gemüse zu ergänzen, statt ganz auf Fleisch zu verzichten.

Gerhard Schröders Hommage an die Currywurst als „Kraftriegel der Facharbeiter“ ist aus Sicht der Ernährungsmedizin also eher mit Vorsicht zu genießen. (lacht) Naja, die Currywurst liefert schon Energie, aber eben zu viel. Wie sieht eigentlich der Kraftrie gel des Veganers aus?

Vergiftung ist ein starkes Wort dafür. Ist Energie wirklich so schädlich?

Wirklich schädlich am Fleischkon sum sind sonst nur verbrannte Stellen oder Transfette. Zudem mangelt es

ist privater Gesundheitsberater. Er hilft Menschen, ihr Essverhalten in gesündere Bahnen zu lenken. Dabei setzt der Ernährungsexperte auf motivierende Routinen statt einengende Verbote. Er hat am Uni versitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) zum Thema „Psychologie der Ver änderung“ promoviert.

Meistens fehlt es hier an Eiweiß. Viele essen auch nicht automatisch genug Gemüse, nur weil sie auf tieri sche Produkte verzichten. Es lohnt sich auch hier, auf Eiweiß und Gemüse zu setzen. Mit einem stabilen Blutzucker spiegel können Sie sich in Diskussio

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Olaf Scholz bekommt bei der Kanzlerwahl einen Korb mit Äpfeln überreicht (o.). Gerhard Schröder und Peter Struck essen Currywurst (u.).
33iII/2022

MISSTRAUENSVORSCHUSS

Zwischen Bürgern und Politik klafft eine VERTRAUENSLÜCKE.

Sie setzt sich zusammen aus einzelnen negativen Meinungen, die Menschen über Politiker haben und messbar sind.

Wie lässt sich das ändern?

VON FLORENS MAYER

Im politischen Kontext ist Misstrauen eigentlich nicht automatisch negativ. Die Gewaltenteilung ist das zen trale Ordnungselement des Rechtsstaats – und nichts anderes als das institutionalisierte Misstrauen gegen über politischer Macht. Gleichzeitig sind demokratische Staaten darauf angewiesen, dass die Menschen dem Sys tem und seinen Institutionen vertrauen. Das sogenannte Institutionenvertrauen unterscheidet sich in der Regel kaum vom Vertrauen in die Politiker, die diese Institutio nen nach außen repräsentieren. Ausnahmen bilden über parteiliche Organe wie die Bundeswehr oder das Bundes verfassungsgericht.

Umso mehr lohnt es sich, genauer nachzuforschen, wie es um das Vertrauen der Menschen in ihre Repräsen tanten bestellt ist. Eine repräsentative Bevölkerungsbefra gung von Civey ergibt, dass nur rund 20 Prozent der Bun desbürger der Auffassung sind, die meisten Politikerin nen und Politiker in Deutschland seien vertrauenswürdig. Zwei Drittel der Befragten sehen das nicht so. Die übrigen Befragten legen sich nicht fest und antworten mit „unent schieden“. Die „Vertrauenslücke“, die zwischen Wahlbe rechtigten und Politikerinnen und Politikern aufklafft, lässt sich also präzise beziffern.

Frust im Osten

Bemerkenswert ist der Meinungsunterschied zwischen Ost und West: Im Osten sind fast acht von zehn Befragten der Meinung, die meisten Politiker seien nicht vertrauens würdig; im Westen sind es etwas mehr als sechs von zehn. Auffällig ist auch, dass sich Alter und Geschlecht kaum auf das Antwortverhalten auswirken. Ein wichtiger Faktor ist dagegen die aktuelle politische Orientierung der Befrag ten: Die AfD-Anhängerschaft ist fast zu einhundert Pro

zent der Meinung, die meisten Politikerinnen und Poli tiker in Deutschland seien nicht vertrauenswürdig. Von den Anhängern der Grünen sind weniger als 40 Prozent dieser Auffassung. Die übrigen Parteianhänger sortieren sich zwischen diesen beiden Maximalwerten ein.

Um die „Vertrauenslücke“ genauer zu verstehen, hat Civey sie mithilfe demoskopischer Instrumente vermes sen. Dazu haben wir in unserem Online-Panel drei Aus sagen auf Zustimmung getestet. Dabei handelt es sich um Vorurteile gegenüber Politikerinnen und Politikern:

• „Die meisten Politiker interessieren sich nicht für die Probleme der Menschen im Land.“

• „Die meisten Politiker reden nur, statt Probleme zu lösen.“

• „Die meisten Politiker können die Probleme norma ler Menschen nicht nachempfinden.“

Alle drei Aussagen werden jeweils von einer deutli chen Mehrheit der Befragten geteilt. Die Zustimmungs werte liegen zwischen rund 70 und rund 80 Prozent. Die drei getesteten Vorurteile existieren also in weiten Tei len der Bevölkerung und sind kein Phänomen, das nur in

ABB. 1: INWIEWEIT STIMMEN SIE DER AUSSAGE ZU: „DIE MEISTEN POLITIKERINNEN UND POLITIKER IN DEUTSCHLAND SIND VERTRAUENSWÜRDIG.“

Stimme eindeutig zu 4,2 Stimme eher zu 15,0 Unentschieden 13,7 Stimme eher nicht zu 22,8 Stimme eindeutig nicht zu 44,3

Grundgesamtheit: Deutschland Befragungszeitraum: 27.07.2022 – 02.08.2022 Stichprobengröße: 5002

Angaben in Prozent

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43III/2022 ABB. 2: ABLEHNUNG DER AUSSAGE: „DIE MEISTEN POLITIKERINNEN UND POLITIKER IN DEUTSCHLAND SIND VERTRAUENSWÜRDIG.“ Grundgesamtheit: Deutschland  Befragungszeitraum: 27.07.2022 – 02.08.2022   Statistischer Fehler: 5,0 %  Stichprobengröße: 5002  Mittelwerte Quartale  BREMEN   61,6 %  HAMBURG   54,9 %  SCHLESWIG-HOLSTEIN   60,3 %  NIEDERSACHSEN   63,4 %  NORDRHEIN-WESTFALEN   61,9 %  RHEINLAND-PFALZ   64,0 %  SAARLAND   64,3 %  HESSEN   63,3 %  BADEN-WÜRTTEMBERG   64,1 %  BAYERN   70,4 %  MECKLENBURG-VORPOMMERN   83,4 %  SACHSEN-ANHALT   84,0 %  BRANDENBURG   84,0 %  SACHSEN   80,3 % THÜRINGEN   79,3 %  BERLIN   64,5 %

ES GEHT ANS AUSGEMACHTE

Gesetzgebung und politische Entscheidungen leben durch Verfahren. Das Grundgesetz und die Geschäftsordnungen unserer Verfassungsorgane bestimmen detailliert, wie die ablaufen. Abseits davon existieren aber auch ungeschriebene Regeln. Diese informellen Verfahren prägen den deutschen Politik betrieb seit Jahren.

Mittlerweile hat sich das jedoch verändert, insbeson dere im Bundestag: Sechs Fraktionen nehmen unter der Reichstagskuppel Platz, koalieren miteinander – und stel len informelle Absprachen teilweise lautstark infrage. Während in manchen Fällen neue Kompromisse gefun den werden, muss in anderen Fällen das Bundesverfas sungsgericht über geschriebene und ungeschriebene Ansprüche entscheiden.

Wie wählen die Gewählten?

Nach der Wahl ist vor den Wahlen: Direkt nach der Bundestagswahl beginnt in den Fraktionen ein erbitter ter Machtkampf um die Rollen der Vizepräsidenten des

Bundestags und die Vorsitze der Ausschüsse. Die Positio nen sind einflussreich und prestigeträchtig, denn neben den Fraktionsvorsitzenden sind sie diejenigen, die The men setzen und Gesetzgebungsverfahren entscheidend steuern können. Obgleich es bei diesen Wahlen um viel Gestaltungsmacht im Parlament geht, sind die Regeln dazu überwiegend ungeschrieben: Lange nominierten alle im Bundestag vertretenen Fraktionen einen eige nen Vizepräsidenten. Die anderen Fraktionen wählten die Kandidaten der anderen dann einfach mit. Ähnlich lief es bei den Ausschüssen. Die größte Fraktion wählte zuerst einen Ausschuss, dessen Vorsitzenden sie stellen wollte. Sodann wählte die zweitgrößte, dann die dritt größte, bis alle Ausschussvorsitze verteilt waren. Wenn die Fraktionen dann die Kandidaten vorschlugen, die sie an die Spitze des jeweiligen Ausschusses zu setzen gedachten, wurden diese üblicherweise bloß per Akkla mation bestätigt.

In Rechtstexten wird diese parlamentarische Praxis nur angedeutet. Art. 40 des Grundgesetzes kennt zwar das Amt des Stellvertreters des Bundestagspräsidenten, legt

VON ALEX SCHMIDTKE MITARBEIT: THILO KERHOFF
UNGESCHRIEBENE REGELN im politischen Betrieb teilen  Macht und Positionen unter den Parteien auf. Um  die AfD außen vor zu halten, werden immer mehr davon  verschriftlicht. Man sollte es damit aber nicht übertreiben.

aber nichts Näheres fest. Nach § 12 der Geschäftsordnung des Bundestages soll „die Regelung des Vorsitzes in den Ausschüssen […] im Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen“ vorgenommen werden. Trotz dieser schma len Regelung gab es so gut wie keine Probleme – bisher.

Informelle Verfahren unter Vorbehalt?

Mit dem Einzug der AfD in den Bundestag wurden diese informel len Übungen hinterfragt. Die übri gen Abgeordneten zweifelten an der Eignung und Verfassungstreue der Kandidaten, die die Rechtspopulisten aufstellten. Sie wollten den Vorschlägen daher nicht einfach folgen. So wurde seit dem Einzug der AfD 2017 keiner ihrer Kan didaten erfolgreich in das Amt des Vizepräsidenten gewählt. Dagegen zog die AfD-Fraktion vor das Bun desverfassungsgericht. Dieses entschied im März 2022, dass es keinen Automatismus auf eine Vizepräsident

schaft gibt, sondern stets der Vorbehalt der Wahl durch die Abgeordneten besteht.

Eine vergleichbare Diskussion zeichnet sich bei den Ausschussvorsitzen ab: Nach dem oben beschriebenen Verteilungsverfahren könnte die AfD in der aktuellen 20. Legislaturperiode den Vorsitz in drei Ausschüssen übernehmen: im Innenausschuss, im Gesundheitsaus schuss und im Ausschuss für Entwicklungszusammen arbeit. Entgegen der üblichen Bestätigung per Akklama tion entschieden sich die Abgeordne ten für eine Abstimmung über den Vorsitz in geheimer Wahl. Dabei fie len die Kandidaten der AfD allesamt durch. Auch damit befasst sich nun das Bundesverfassungsgericht. Einen Eilantrag auf Ein setzung der AfD-Kandidaten als Ausschussvorsitzende lehnten die Karlsruher Richter ab – die Hauptsache wird noch verhandelt.

In der laufenden Legislaturperiode wird noch ein anderes Besetzungsverfahren hochrelevant, dessen Ausgang das Land auf Jahre prägen wird: Mehr als die

„In Rechtstexten wird parlamentarische Praxis nur angedeutet.“

ABGEKLATSCHT

Auf der Straße wird die PFLEGE laut –kein Wunder, dass sie in der Gesellschaft gehört und beklatscht wird. Ihre Forderungen kriegt sie politisch trotzdem nur schwer durchgesetzt. Warum?

Mitarbeiter und Auszubildene in den Pflegeberufen protestieren auf einer Demonstration, um auf die teils katastrophalen Arbeitsbedingungen aufmerksam zu machen. Im Hintergrund das Hochaus der Charité.

Das Banner an der Fassade einer Pflegeeinrichtung in Berlin verdeutlicht den Personalmangel.

Ein besonders wichtiger Tag im Jahr ist für Alexander Friedrich-Warnke normalerweise der 12. Mai. Am „Tag der Pflegenden“ gehen Friedrich-Warnke und andere Pfleger und Schwestern auf die Straße. Weil das im vergangenen Jahr wegen der Coronabeschränkun gen nur begrenzt möglich war, gab es 2021 noch eine große Demo, und zwar am 29. September – drei Tage nach der Bundestagswahl. Friedrich-Warnke und seine Mitstreiter von „Walk of Care“ wollten schon zu Beginn der Koaliti onsverhandlungen Akzente für eine stärkere Pflege set zen. Sie halten auf Demos Plakate mit Aufschriften wie

„Wir retten Leben, wer rettet uns?“ oder „Pflegenotstand beenden“ in die Luft.

Ihre Anliegen bewerben sie auch bei Social Media, etwa auf ihrem Instagram-Kanal. Konkret lauten die Ziele des Pflegebündnisses damals wie heute: mehr Personal, eine bedarfsgerechte Finanzierung, angemessene Löhne, bes sere Arbeitsbedingungen, eine Fort- und Weiterbildungs ordnung und die Basis all dieser Forderungen: politische Mitbestimmung durch Menschen aller Gesundheitsbe rufe. Mit ihrem Protest ist die Gruppe schon bis ins Büro des ehemaligen Gesundheitsministers Jens Spahn (CDU)

65III/2022
politik & kommunik a tion 2020 I IV 2020 II 2021 I EINE INITIATIVE DES MIT UNTERSTÜTZUNG VON

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