Helios Media GmbH | ISSN 1610-5060 | Ausgabe 05/11 | September 2011 | 7,20 Euro
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Desorientiert Die FDP verharrt im Umfragetief – helfen soll die POLITIK 14 Neuorganisation der Parteizentrale
Politisiert In den Bundesministerien verliert das Ideal des POLITIK 22 preußischen Beamten an Bedeutung
Kampf ums Internet Die Lobby der Netzbürger formiert sich
Inhalt
politik&kommunikation 5/11 – September 2011
14 Desorientiert
22 Politisiert
26 Organisiert
Die FDP verharrt im Umfragetief – trotz des Wechsels an der Parteispitze. Die Neuorganisation der Parteizentrale soll helfen, die Liberalen zu alter Schlagkraft zurückzuführen.
Lange Zeit galten Beamte als loyal und unpolitisch. Doch hat der Typ des preußischen Beamten mittlerweile ausgedient. Die Ministerialbürokratie politisiert sich zunehmend.
Die Internet-Lobby organisiert sich – mit Kampagnenplattformen wie der „Digitalen Gesellschaft“. Doch Teile der Community setzen lieber auf die „Weisheit der Vielen“.
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38 Zurück auf den Platz Andrea Fischer will zurück in die Politik – als Bezirksbürgermeisterin 40 Wahltriumph eines Tabaklobbyisten p&k Historie – Teil 4: Die Reichstagswahl 1881 von Marco Althaus
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Meldungen Fragen Sie Dr. Merkel, Millionen für Wowereit
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12 Nach Berlin ziehen? Pro und Kontra von Petra Merkel und Norbert Röttgen 14 Die Vertrauensfrage FDP-Chef Philipp Rösler will das Thomas-Dehler-Haus umbauen 18 Verpasste Chancen Wie das Auswärtige Amt Deutschlands Ruf verspielt von Anna Schwan 22 Ausgedient Das Ideal des preußischen Beamten verliert an Bedeutung ������ �������
26 Kämpfe, Nerd! Die Netz-Lobby organisiert sich – das ruft Kritik in der Community hervor 32 Das Gesetz des Monats Update zur Novelle des Telekommunikationsgesetzes von Danielle Herrmann ��������
34 Kompakt 36 In Wowis Welt p&k hat mit den Machern der Berliner SPD-Kampagne gesprochen 2
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42 Kompakt 44 Grüne auf dem Vormarsch In den Industrienationen gewinnt die grüne Bewegung an Bedeutung von Aljoscha Kertesz 46 „Sieg der Freiheit“ Frederick Kempe im p&k-Interview über Mauerbau und Schuldenkrise ������
48 Kompakt 50 Kaleidoskop der Macht Der Fotograf Platon Antoniou hat die Lenker der Welt porträtiert 54 Bücher und TV ������
60 Die Karrierekurve Peer Steinbrück 62 Mein Lieblings… p&k befragt Bundestagsabgeordnete nach dem, was ihnen lieb ist 64 Personen und Karriere Neue Sprecher für Bundesregierung, Lucas leitet Politikabteilung im AA 68 Ossis Welt Das Politikbilderbuch 70 Gala Die wichtigsten Events 76 Politikkalender Die Top-Termine im September 77 Porträt in Zahlen Michael Vassiliadis ��������
Redaktionstagebuch Liebling des Monats Freiheit und Teilhabe Essay von p&k-Chefredakteur Sebastian Lange 78 Letzte Seite 3 5 6
56 Verzwickte Kampagnen Fünf Regeln, die Verbänden den Weg zum Kampagnenerfolg ebnen von Christian H. Schuster und Miriam Melanie Köhler 58 Rhetorik
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Fotos: www.marco-urban.de; www.wikipedia.org; www.marco-urban.de / Grafik: Marcel Franke
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Liebling des Monats: Christian Ude Man kann der bayerischen SPD einiges vorwerfen, aber nicht, dass sie auf den harten Oppositionsbänken verlernt hätte zu träumen. Bei 19 Prozent steht die Partei derzeit in den Umfragen – und diskutiert über einen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten. Grund für die rote Euphorie im schwarzen Freistaat: Christian Ude. Der
Münchner Oberbürgermeister darf 2014 nicht noch einmal fürs Rathaus kandidieren, da die Altersgrenze bei 65 Jahren liegt. Für das Maximilianeum reichts jedoch ollaweil. Und weil Ude eine Kandidatur nicht ausschließt, sprießen die Träume der bayerischen Sozen in den blau-weißen Himmel. Ude ist ein Garant für gute Wahlergeb-
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nisse. Zumindest in München, wo er – 63 Jahre alt – gefühlt ebenso lange regiert. In Bayern hingegen regiert beinahe wirklich so lange – 54 Jahre – die CSU. Vielleicht ist damit bald Schluss, wenn der „Sonnenkönig von Schwabing“ die SPD in Höhen von über 20 Prozent führt. Und vielleicht könnte der leidenschaftliche Hobby-Klein-
künstler dann endlich beweisen, dass er nicht nur der beste Kabarettist unter den Politikern, sondern auch der beste Politiker unter den Kabarettisten ist. Wie auch immer die Wahl 2013 ausgeht: Allein wegen der Phantasie und Euphorie, die Ude in seiner arg gebeutelten Partei entfacht, ist er unser Liebling des Monats.
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Kompakt Ko mp akt
Im Bundestag muss die Regierung regelmäßig Fragen beantworten – die der Volksvertreter T R ANS PARENZ
Fragen Sie Dr. Merkel diese Möglichkeit bislang aber zu selten, nämlich nur rund 1600 Mal pro Jahr. Auf der Seite „Frag den Staat“ können Bürger nun Fragen stellen, die dann an sämtliche Bundesbehörden weitergeleitet werden. Der Nutzer schildert per Web-Formular sein Anliegen, die offizielle Antwort ist dann auf der Webseite zu lesen. Elf Organisationen unterstützen das Portal, unter
W HI ST L EB LOW ER
WIS SEN SCH AFT
Kündigungsschutz
Google lässt forschen
Sogenannte Whistleblower müssen in Deutschland künftig weniger Angst vor Kündigungen haben. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied jetzt, dass deutsche Gerichte bisher zu restriktiv zugunsten von Unternehmen geurteilt haben. Konkret ging es um eine Altenpflegerin, die 2004 ihren Arbeitgeber wegen schwerer Mängel in der Pflege anzeigte. Das Bundesarbeits- und später das Verfassungsgericht erklärten die daraufhin ausgesprochene Kündigung durch das Altenheim für rechtmäßig. Zu Unrecht, so der EGMR: So hätten die Richter nicht ausreichend gewürdigt, dass an dem Whistleblowing öffentliches Interesse bestehen könne.
Der Internetriese Google finanziert ein in Räumen der Berliner Humboldt-Universität eingerichtetes „Institut für Internet und Gesellschaft“. Nach eigenen Angaben gibt Google für das Forschungsprojekt 4,5 Millionen Euro aus, an dem außerdem die Universität der Künste, Sabine Frank das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und das Hans-Bredow-Institut in Hamburg beteiligt sind. Mit dem Institut sollen „Wissenschaftler und Akteure aus allen Sparten der Gesellschaft“ zusammengebracht werden, „um Fragen in den Bereichen Internet-Innovation und Regulierung, Informations- und Medienrecht
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anderem der Deutsche Journalistenverband, Transparency International und das Open Data Network. Das Informationsprivileg für Journalisten will die Initiative indes nicht komplett au�eben. So können sie Anfragen nicht-öffentlich stellen, die Antworten werden erst mit Zeitverzögerung öffentlich gemacht. fragdenstaat.de
sowie Fragen des Verfassungsrechts im Internet zu erörtern und zu erforschen“, so die Selbstbeschreibung. Bei der Präsentation des Projekts im Juli betonten die Leiter der beteiligten Forschungseinrichtungen, dass das Institut inhaltlich vollkommen unabhängig von Google arbeite. Der Konzern verstärkt unterdessen seine Lobby-Bemühungen in Deutschland. So richtet er im kommenden Jahr eine Stelle für „Jugendschutz und Medienkompetenz“ ein. Leiten soll sie Sabine Frank, die bislang die Geschäfte der Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter (FSM) führt. www.internetundgesellschaft.de pol it ik & kommunikation | September 2011
Fotos: www.marco-urban.de; Privat
Das Bündnis Open Knowledge Foundation will für mehr Transparenz in der Politik sorgen und hat dafür am 1. August eine Internetseite gestartet, die es Bürgern erleichtern soll, Fragen an die Bundesregierung zu richten. Das ist zwar schon möglich, seit 2006 das Informationsfreiheitsgesetz in Kraft getreten ist – nach Ansicht der Initiatoren nutzen die Bürger
N E T Z A KT I V I ST E N
UNTERSUCHUNGSHAFT
Grünes Internet
Ciftlik frei
In der Internetgemeinde haben die Grünen die meisten Anhänger. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Studie des Allensbach-Instituts im Auftrag des IT-Dienstleisters Infosys. Demnach fühlen sich unter den Bürgern, die sich als „Netzaktivisten“ sehen und sich an politischen Diskussionen im Internet beteiligen, 37 Prozent den Grünen am nächsten. CDU und CSU kommen auf 25 Prozent, die SPD auf 24 Prozent. Insgesamt zehn Prozent der Bevölkerung gehören schätzungsweise zu den in der Studie als „Poli-
tical Net Activists“ bezeichneten politisch besonders interessierten Usern, die vor allem aus höheren Bildungs- und Einkommensschichten stammen sowie überdurchschnittlich jung und männlich sind. Für die Autoren der Studie sind die geringen Barrieren im Netz und die Möglichkeit, sich leicht engagieren zu können, die wichtigsten Gründe dafür, dass die politische Online-Partizipation so reizvoll geworden ist – und sich die Anzahl der Net Activists in den kommenden Jahren noch erhöhen wird.
SOZIALE MEDIEN
Kanzlerin vor Piraten Die Kommunikation von Behörden, Politikern und NGOs im Netz wird jetzt überwacht – zu Benchmarking-Zwecken. Die Webseite Pluragraph zeigt, wie viele Follower diese haben. In der Kategorie Politik liegt derzeit die Piratenpartei weit vorne, was die Zahl der Follower angeht – noch mehr Follower hat allerdings Bundeskanzlerin Angela Merkel. pluragraph.de
Hinter Merkel her? Die Piratenpartei in Aktion
Der ehemalige Bürgerschafts-Abgeordnete und Nachwuchsstar der Hamburger SPD Bülent Ciftlik wurde im Juli Bülent Ciftlik aus der Untersuchungshaft entlassen. Ciftlik droht zwar weiterhin eine Gefängnisstrafe, doch das Hamburger Oberlandesgericht entschied, dass nach dreieinhalb Monaten Untersuchungshaft die Verhältnismäßigkeit nicht mehr gegeben sei. Das zuständige Gericht habe die Bearbeitungszeit der Anklage um eine Woche überzogen. Ciftlik muss sich demnächst vor dem Landgericht Hamburg unter anderem wegen Körperverletzung, Nötigung und Urkundenfälschung verantworten. Er soll beispielsweise Helfer beauftragt haben, Briefwahlanträge für die Bürgerschaftswahl 2008 zu fälschen. Bereits im vorigen Jahr hatte das Amtsgericht den 39Jährigen in einem anderen Verfahren schuldig gesprochen, eine Scheinehe vermittelt zu haben. Dagegen haben sowohl Ciftlik als auch die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt.
Fotos: Privat; Stefan Berkner; Privat(3); www.marco-urban.de; Privat(2); www.marco-urban.de
TENEXPER P T IP
Rösler beharrt auf Steuersenkungen: Kann die Partei mit dem Thema noch bei den Bürgern punkten?
Wolfgang Ismayr (Uni Dresden)
Ulrich Sarcinelli (Uni KoblenzLandau)
Ulrich von Alemann (Uni Düsseldorf)
Karl-Rudolf Korte (Uni DuisburgEssen)
Wichard Woyke (Uni Münster)
Peter Lösche (Uni Göttingen)
Schuldenkrise in der EU: Zeigt Merkel genug Führungsstärke?
Günther Jauch vor ARD-Debüt: Kann der populäre Moderator das Interesse an politischen Themen wieder steigern? Aufregung um Geißlers „totalen Krieg“: Hat er die Grenzen des Erlaubten überschritten? Kurs-Debatte in der Union: Fehlt eine wegweisende Rede der Vorsitzenden?
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Kompakt
T R A N S PA R E N Z
WAHLKAMPF
PR-Rat mahnt
Millionen für Wowereit
P O L I T IK E R S P R AC H E
Zu kompliziert
1,7
Das kostet der Berliner Wahlkampf
(±0 %)
Angaben in Millonen €; in Klammern: Veränderung zu 2006
1,1
(+100 %)
1
(+40 %)
0,7
(−10 %)
0,35 (±0 %)
SPD
Grüne CDU
Linke FDP
Quelle: Medienberichte, Parteiangaben
Im Berliner Wahlkampf führen die Roten und die Grünen – jedenfalls, soweit es die Ausgaben für die Kampagnen anbelangt. p&k erfragte die Wahlkampfkosten in den Parteizentralen: Die SPD investiert am meisten, nämlich 1,7 Millionen Euro. Es folgen die Grünen, die 1,1 Millionen Euro ausgeben. Die CDU kann auf einen Wahlkampf-Etat von einer Million Euro zurückgreifen. Sowohl Grüne als auch CDU haben ihre Wahlkampfausgaben im Vergleich zur vorigen Wahl deutlich erhöht, die Linke gibt als einzige Partei weniger aus. Die Abgeordnetenhauswahl findet am 18. September statt, die Bürger entscheiden außerdem über neue Bezirksverordnete. In den meisten Umfragen lag bei Redaktionsschluss von p&k (22. August) die SPD vorne, gefolgt von CDU und Grünen, die etwa gleichauf lagen.
LOBBYISTEN
Paradies für Interessenvertreter Deutschland, Frankreich und Polen sind die Staaten mit der geringsten Regulierungsdichte in Sachen Lobbyismus. Zu diesem Schluss kommt die Initiative Regulate Lobbying. Die von Wissenschaftlern aus Dublin gestartete Initiative hat ihre Arbeit gerade begonnen und will künftig regelmäßig ermitteln, wie streng
die Regeln für Lobbyisten in ausgewählten Ländern und Institutionen sind. Am strengsten sind danach derzeit die USA. Das deutsche politische System wird von den Forschern als „lowly regulated“ angesehen, aber auch die EU-Kommission fällt in diese Kategorie. www.regulatelobbying.com
Schüler bevorzugen einfache Politsprache
GESUNDHEITSMINISTERIUM
Jugendliche verstehen Politiker oft nicht. Zu diesem Ergebnis kommt die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in der Studie „Sprichst du Politik?“. Komplizierte Politikersprache sei ein Grund für mangelndes Engagement der Jüngeren, heißt es. Fast 60 Prozent der 30.000 Befragten gaben an, dass Politiker eine „abgehobene Sprache“ benutzen, die Mehrheit erklärte zugleich aber auch, dass sie sich gerne politisch beteiligen würde. Die FES empfiehlt Politikern nun, auf eine „einfache und verständliche“ Sprache zu achten.
Das Bundesgesundheitsums gedrängt werden solministerium will nach len, beruhten auf internen einem Bericht der „Berliner Arbeitspapieren, die generell nicht kommentiert Zeitung“ Pharmalobbyisten aussperren – zumindest aus würden. Nach dem Bericht den Arbeitsgruppen, die das der Zeitung zeigten sich Ministerium beraten. MinisPharmalobbyisten empört ter Daniel Bahr (FDP) plane über den Vorstoß. Sicherheit für Patienten gebe es einen entsprechenden Vorstoß, hieß es. Ein Ministerinur bei Beteiligung der Minister Daniel Bahr umssprecher gegenüber p&k: Industrie, zitiert das Blatt Medienberichte, nach denen Lobbyisten einen Sprecher des Verbands der Pharaus den Beratergremien des Ministeri- mazeutischen Industrie.
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Pharmalobby außen vor?
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Fotos: www.marco-urban.de
Der Deutsche Rat für Public Relations hat eine Mahnung gegen die Agentur Bohnen Kallmorgen & Partner (BKP) und die von ihr gegründete Non-Toxic Solar Alliance (NTSA) ausgesprochen. Zugrunde lag eine Beschwerde von Lobbycontrol. Ausschlaggebend war laut Rat „fehlende Transparenz“ bei der Außendarstellung der NTSA. Diese stellte sich als Initiative von Industrie, Wissenschaft und Bürgern im Bereich Erneuerbare Energien dar. Dabei sei aber nicht ausreichend deutlich gemacht worden, dass allein BKP Initiator und Finanzier gewesen sei. „Wir haben eine politische Initiative selbständig angestoßen und lediglich einige Zeit nicht explizit darauf hingewiesen, dass die Finanzierung von unserer Firma übernommen wurde. Dies war der Tatsache geschuldet, dass Zusagen aus der Industrie nicht eingehalten wurden und dies schwer zu kommunizieren war“, sagte Jan-Friedrich Kallmorgen zu p&k. Er sei über die Mahnung „verwundert“, da BKP die meisten Vorwürfe von Lobbycontrol „entkräftet“ hätte.
Kompakt
Foto: www.paulschirnhofer.de
Aufgedeckt: Ausgebrannt und leer Prominenz schmückt jedenfalls, dass Grass jeden Wahlkampf, nie auf einer Blechtrommel gespielt hat, jedenjeder weiß das, und falls nicht bei SPD-Parfast jeder kennt teitagen. Was uns direkt die Kehrseite der Medaille. Man muss zu einem anderen SPDeinfach nur auf die Unterstützer bringt: Roland Kaiser kündigte Kombinationen Sky jüngst an, dass er gerne DuMont und FDP oder CDU und Heiner für seine Partei, die SPD, singen würde, „wenn Lauterbach verweisen, um zu verdeutlimich der künftige Kanzchen, dass diese Liailerkandidat darum bitson eine unheilvolle tet“. Es sind keine leeren sein kann, schlimmsDrohungen, das weiß tenfalls ein Imageman bei der SPD. Bereits Nicht Grass: Roland Kaiser gau für beide Sei2005 warb Roland Kaiser ten. Der SPD erging in aller Öffentlichkeit für einen SPD-Kanzler. Zeit also, im Willyes da bisher ganz gut, sie konnte sich bei ihren Kanzlerwahlkämpfen seit Brandt-Haus schon mal an einer Playlist zu basteln, vielsagende Kaiser-Titel 1715 auf die Hilfe des rüstigen Autoren Günter Grass verlassen. Grass ist gibt‘s genügend, nur ein paar seien aufgeführt: „Schach-Matt“, „Wohin gehst vor allem berühmt wegen seiner Pfeife du?“, „Ich glaub’, es geht schon wieder und unnachahmlichen Walross-Imitationen, zudem hat er für den Film los“ oder „Ausgebrannt und leer“. Oder sollte man es vielleicht doch noch mal „Die Blechtrommel“ mal einen Oscar mit Günter Grass versuchen? gewonnen. Oder so ähnlich. Fest steht
REDENSCHREIBER
Ausbildung nötig Der Verband der Redenschreiber deutscher Sprache (VRdS) distanziert sich vom Ghostwriting. Es gehöre nicht zum Arbeitsfeld von Redenschreibern, Doktorarbeiten zur Erlangung akademischer Titel zu verfassen, sagte Verbandspräsident Vazrik Bazil. Der VRdS fordert außerdem eine verbindliche Ausbildung von Redenschreibern. NEUER STUDIENGANG
Digitaler Staat Die Hertie School of Governance ruft den bundesweit ersten Lehrstuhl zur digitalen Erneuerung von Staat und Verwaltung ins Leben. Die von der Agentur Init geförderte Stiftungsprofessur soll die Erfolgsmöglichkeiten von E-Governance erforschen und international vergleichen.
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s auf dem Besuchen Sie un skongress. Kommunikation 2011 Berlin, 15. – 16.09.
Politik
Nach Berlin ziehen? Vor 20 Jahren beschloss der Bundestag den Umzug von Parlament und Bundesregierung nach Berlin. Doch noch heute haben sechs Ministerien ihren Hauptsitz in Bonn. Kritiker fordern seit langem, die Regierung komplett in die Hauptstadt zu verlegen. Ist es an der Zeit, das BONN-BERLIN-GESETZ zu revidieren?
Pro
Kontra
VON PETRA MERKEL
V O N N O R B E R T R ÖTT G E N
achen wir uns nichts vor: Über kurz oder lang wird es nur einen Regierungssitz geben, dann werden sich alle Bundesministerien in Berlin konzentrieren. Der „Rutschbahneffekt“ ist da und nicht mehr aufzuhalten. Die Zahl der Arbeitsplätze in den Berliner Ministerien steigt, die in Bonn nimmt ab. Die Frage ist nun: Lassen wir es einfach so weiterlaufen oder wird gemeinsam mit Bonn überlegt, wie ein Umzug bestmöglich auch für Bonn und die Region gestaltet werden kann? Schon bei der Diskussion, ob der Regierungssitz in Berlin oder in Bonn sein sollte, waren die Argumente zu hören, die sich jetzt wiederholen: Die Existenz der Region stehe auf dem Spiel, der Bund sei der größte Arbeitgeber, ein Wegzug nicht zu kompensieren. Und wie sieht es 2011 aus? Bonn, die Bundesstadt, blüht – und das ist auch gut so! Telekom und Deutsche Post tun das Ihre. Bonn wächst so stark wie keine andere Stadt in Nordrhein-Westfalen. Natürlich sollte der Bund den Strukturwandel bei einem Komplettumzug weiter unterstützen. Das hat er auch bislang getan. Viele Institutionen, die vom Bund finanziert werden, haben ihren Sitz in Bonn. Das sind schon jetzt rund 17.000 Arbeitsplätze. Bonn ist und bleibt ein wichtiger Teil der deutschen Geschichte. Die Demokratie hat hier nach dem Zweiten Weltkrieg Wurzeln geschlagen und ein Staatssystem verankert, auf das wir stolz sein können. Deshalb hat Bonn eine verlässliche, langfristige Perspektive verdient. Diese Perspektive bedeutet nicht, am Berlin-Bonn-Gesetz festzuhalten. Die Geschichte geht weiter und wichtig ist, dass effektiv und effizient gearbeitet werden kann. Bis zu 8 Millionen Euro kosten die Reisen zwischen Bonn und Berlin jährlich. Wie viel Effizienz bleibt bei den rund 600 km auf der Strecke? 20 Jahre nach der Deutschen Einheit ist die Zeit reif für eine Änderung des Berlin-Bonn-Gesetzes. Wir sollten gemeinsam den Umzug der Ministerien in die Hauptstadt Berlin planen – und einen guten und fairen Ausgleich für die Bundesstadt Bonn finden!
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E
ine faire Aufgabenteilung zwischen Bonn und Berlin war die Grundlage für die historische Umzugsentscheidung des Deutschen Bundestags und ist damit fester Bestandteil dieses Beschlusses. Vor diesem Hintergrund ist die Einhaltung des Bonn-Berlin-Gesetzes keine regionale oder gar kommunale Angelegenheit. Es handelt sich vielmehr um eine Frage nationaler Verantwortung und Verlässlichkeit. Politik muss berechenbar sein. Das Bonn-Berlin-Gesetz ist weder mit einem „Verfallsdatum“ ausgestattet noch als „Übergangslösung“ angelegt. Der Deutsche Bundestag hat mit seiner Entscheidung im Jahr 1991 ein Bekenntnis gegen einen neuen Zentralismus abgelegt und aus guten Gründen entschieden, dass Deutschland künftig zwei bundespolitische Zentren haben soll, nämlich Berlin und Bonn. Als Sitz des Deutschen Bundestags und der Bundesregierung hat Bonn unser Land über Jahrzehnte hinweg geprägt. Die „Bonner Jahre“ waren gute Jahre für Deutschland. Mit dem BonnBerlin-Gesetz ist auch die Entscheidung verbunden, diese Zeit nicht zu beenden, sondern Bonn für die Zukunft eine besondere Aufgabe als „Bundesstadt“ zu übertragen – als Standort von Ministerien, als Zentrum wichtiger Politikbereiche und – nicht zuletzt – als Sitz der Vereinten Nationen sowie weiterer internationaler Einrichtungen. Im Übrigen hat sich die Aufgabenteilung zwischen Berlin und Bonn längst eingespielt und funktioniert reibungslos. Ein vollständiger Umzug wäre mit erheblichen Kosten verbunden, die in keinem Verhältnis zu den laufenden Kosten stehen, die durch die beiden Dienstsitze der Ministerien verursacht werden. Es gibt also keinen Anlass, die Beschlüsse des Jahres 1991 in Frage zu stellen. Der Deutsche Bundestag hatte damals gute Gründe für seine Entscheidung. Diese gelten unverändert. Ich werde mich deshalb weiterhin mit voller Überzeugung für das Bonn-Berlin-Gesetz einsetzen.
Petra Merkel (SPD)
Norbert Röttgen (CDU)
ist Vorsitzende des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestags. Sie gehört dem Parlament seit 2002 an. Dort vertritt die 63-Jährige den Wahlkreis Berlin-Charlottenburg-Wilmersdorf. Zuvor war Merkel von 1989 bis 2001 Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses.
ist Bundesumweltminister und Vorsitzender der CDU Nordrhein-Westfalen. Seit vergangenem Jahr ist der 46-Jährige zudem stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU. Röttgen ist Jurist und gehört seit 1994 dem Deutschen Bundestag an.
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Fotos: www.marco-urban.de
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Sparkassen-Finanzgruppe
Wann ist ein Geldinstitut gut für Deutschland? Wenn nicht nur seine Kunden von ihm protieren. Sondern alle.
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Sparkassen fördern Bildung in allen Regionen Deutschlands. Im Rahmen ihres sozialen Engagements ermöglichen sie Bildungsangebote für alle Teile der Bevölkerung. Sparkassen fördern gemeinnützige Vorhaben im Bildungs- und Sozialbereich mit jährlich über 156 Mio. Euro, denn Wissen ist der wichtigste Schlüssel zur gesellschaftlichen Teilhabe. Das ist gut für die Menschen und gut für Deutschland. www.gut-fuer-deutschland.de
Sparkassen. Gut für Deutschland.
Politik
Die Vertrauensfrage VON JOHANNES A LT M E Y E R
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nde Juni ist die Welt der umfragegeplagten FDP für ein paar Stunden in Ordnung. Im Thomas-Dehler-Haus, der Bundesgeschäftsstelle in der Berliner Reinhardtstraße, hat Generalsekretär Christian Lindner zur Diskussionsreihe „Liberaler Salon“ geladen. Thema diesmal: „Medien, Macht und Meinungsbildung“. Kurz nach sechs sind alle Stühle im Atrium des Dehler-Hauses besetzt. Die 10
Zuschauer blicken auf eine kleine Bühne, auf der Lindner mit dem „Spiegel“-Autor Jan Fleischhauer, dem „Zeit“-Journalisten Bernd Ulrich und dem Medienwissenschaftler Hans Matthias Kepplinger diskutiert. Der FDP-Politiker ist an diesem Abend gut aufgelegt: Schlagfertig moderiert er die Gesprächsrunde und hat sichtlich Freude daran, sich mit den Gästen über die kuriosen Gepflogenheiten der Hauptstadtjournalisten auszutauschen: Diese schrieben eine Partei mal runter,
mal wieder hoch – damit müsse er leben, meint Lindner und gibt sich gelassen. Für den Generalsekretär und die Organisatoren in der FDP-Zentrale ist es eine gelungene Veranstaltung. Kein Wunder, dass auch Bundesgeschäftsführerin Gabriele Renatus an diesem Abend meist lächelt und entspannt mit den Gästen plauscht. Doch der Schein des Glücks trügt: Im Dehler-Haus tun sich noch immer tiefe Gräben auf. Die Bundesgeschäftsführerin gilt als Vertraute des ehepol it ik & kommunikation | September 2011
Foto: www.marco-urban.de
Seit knapp 100 Tagen ist Philipp Rösler FDP-Chef. Viele Liberale fragen sich noch immer, welche Ziele der neue Vorsitzende hat und kritisieren die Kommunikation der Parteizentrale. Rösler will das THOMAS-DEHLER-HAUS umbauen – und kämpft dort gegen Strukturen, die sein Amtsvorgänger Guido Westerwelle aufgebaut hat.
Das Thomas-Dehler-Haus: Der neue FDP-Chef Philipp Rösler holt erste eigene Vertrauensleute in die Parteizentrale
maligen Parteichefs Guido Westerwelle und symbolisiert für die neue Parteiführung vor allem eines: die alte FDP. Dazu kommt, dass viele Liberale Renatus mitverantwortlich für die schlechte Außendarstellung der Partei machen. Sie hoffen, dass FDP-Chef Philipp Rösler endgültig mit dem „System Westerwelle“ bricht. Rösler weiß, dass er handeln muss und plant nun, das Dehler-Haus umzubauen. Es hat lange gedauert, bis sich Rösler zu diesem Schritt durchringen konnte, für viele FDP-Funktionäre zu lange. Die ersten 100 Tage des neuen FDP-Chefs sind mittlerweile vorbei, und die Partei liegt in vielen Umfragen immer noch unter der Fünf-Prozent-Marke. Doch warum hat die bis zur Bundestagswahl 2009 überpol it ik & kommunikation | September 2011
aus kampagnenfähige Parteizentrale ihre Schlagkraft verloren? „Das Dehler-Haus konnte den personellen Aderlass, den es nach der Wahl verkraften musste, nicht kompensieren“, sagte einer, der als Pressesprecher eines FDP-Landesverbands selbst jahrelang mit der Bundesgeschäftsstelle zu tun hatte. Vor allem der Weggang von Renatus’ Vorgänger Hans-Jürgen Beerfeltz habe die Parteizentrale nachhaltig geschwächt. Beerfeltz, der nach der Bundestagswahl als Staatssekretär ins Bundesentwicklungsministerium (BMZ) gewechselt ist, galt als politischer und inhaltlich versierter Bundesgeschäftsführer. Ein ehemaliger Mitarbeiter von Beerfeltz sagt: „Er hat viel Wert darauf gelegt, den Austausch mit Multiplikatoren zu suchen. Auf diese Weise konnte er früh für FDP-Themen werben.“ Auch habe der heute 60-Jährige eng mit dem ehemaligen Parteichef Guido Westerwelle zusammengearbeitet. Beerfeltz habe sich durch die Fähigkeit ausgezeichnet, organisatorische Probleme zu antizipieren – und zu lösen, bevor sie der Partei schaden konnten. Kommunikationsgeschick nach außen und Nähe zum Parteichef: Diese beiden Eigenschaften sprechen Kritiker Gabriele Renatus ab. Dabei denken viele Liberale, dass die Bundesgeschäftsführerin durchaus Fähigkeiten habe, mit denen sie der Partei weiterhelfen kann – „nur eben nicht in der ersten Reihe“, wie eine FDP-Frau sagt, die Renatus lange kennt. So hat Renatus für Westerwelle seit 2004 als Leiterin der Abteilung „Organisation und Finanzen“ Parteitage vorbereitet. Im Gespräch mit FDPInsidern fallen zwar Beschreibungen wie „zuverlässig und genau“, aber auch „blind für das Politische“. Dazu wird Renatus in Berlin ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis im Umgang mit Journalisten nachgesagt. Das muss in der oft hysterischen „Berliner Republik“ kein Nachteil sein, doch die Chance, auf Themen der Partei hinzuzweisen und damit Kampagnen den Weg zu bereiten, lässt sie ungenutzt. Und dennoch laufen bei der gebürtigen Brandenburgerin im Dehler-Haus noch immer alle Fäden zusammen: Sie ist Bundesgeschäftsführerin, Organisations- und Finanzchefin sowie Büroleiterin von Rösler. Der FDP-Vorsitzende, der in Berlin bislang über keine eigene Machtbasis verfügt, will das ändern. Mitte August erklärte Rösler den Mitarbeitern der Parteizentrale, wie das zukünftige Orga-
nigramm aussehen soll. Aus Niedersaschen holt der Parteichef zwei Vertraute nach Berlin. Mignon Fuchs, Landesgeschäftsführerin der niedersächsischen FDP, soll Renatus als Leiterin der Abteilung Organisation und Finanzen ablösen. Mareike Goldmann , die neue Büroleiterin des Parteichefs, hatte Rösler bereits während seiner Zeit als Landtagsabgeordneter in Hannover als Persönliche Referentin unterstützt. Die dritte Personalie berührt Renatus’ Zuständigkeitsfeld nicht, ist aber für die programmatische Erneuerung der Partei essenziell: Auf den seit mehreren Monaten vakanten Posten des Abteilungsleiters für politische Planung rückt der derzeitige Stellvertreter Christopher Gohl.
Nebulöse Kommunikation Rösler macht ernst mit dem Umbau der Bundesgeschäftsstelle – und dem Umbau der ganzen FDP. Seit Mitte August ist klar, dass der Parteichef den stellvertretenden Regierungssprecher Christoph Steegmans durch den Sprecher der FDP-Europaabgeordneten Silvana KochMehrin, Georg Streiter, ersetzen wird. Steegmans gilt wie Renatus als Teil des „Westerwelle-Netzwerks“. Der Außenminister hatte ihn 2009 aus der Pressestelle der Bundestagsfraktion ins Bundespresseamt (BPA) geschickt. Mit dem Wechsel an die FDP-Spitze bekam Rösler jedoch die Möglichkeit, den Schlüsselposten im BPA mit einem eigenen Vertrauten zu besetzen. Die Suche nach einem neuen Vize-Regierungssprecher verlief für den Wirtschaftsminister unglücklich. Bereits Anfang August berichtete die „Süddeutsche Zeitung“ über Röslers Vorhaben, Steegmans auszutauschen. Dieser konnte sich auf Fragen von Journalisten aber nicht dazu äußern. Doch nicht nur bei dieser Personalie war die Kommunikationsstrategie der Liberalen nebulös: Im Mai hat die FDP – fast unbemerkt von der Öffentlichkeit – ihren Internetauftritt komplett überarbeitet. Die Webseite sieht nun eleganter aus, sie ist in einem ruhigeren Blau gehalten und verzichtet fast vollständig auf das oft aufdringliche FDP-Gelb. Mit einer neuen „Bekenner-Kampagne“ wirbt die Partei online um neue Mitglieder und fragt: „Warum sind Sie der FDP beigetreten?“ Die Liberalen setzen in der Krise auf die Basis – doch bekommt diese davon nicht 11
Politik
Gerhart Baum Wolfgang Gerhardt
kritisierten Westerwelles Politikstil; wollten Rösler als neuen FDPChef
Hans-Dietrich Genscher
Bundestag
Bundespresseamt
misstraut Röslers neuem Politikstil; hat als Fraktionschef viel Macht
musste Amt der Fraktionschefin aufgeben; starker Rückhalt in der SüdFDP
die drei FDP-Granden unterstützen Rösler bei der Erneuerung der Partei
Patrick Döring
Birgit Homburger
neuer FDPSchatzmeister; kommt wie Rösler aus Niedersachsen
Georg Streiter
Sachsen Streiter soll die FDPErfolge in der Koalition besser verkaufen
Justizministerium Schnarrenberger steht für das wieder wichtige Thema Bürgerrechte
Auswärtiges Amt hat Westerwelle als FDP-Chef abgelöst; Pieper hält zu Westerwelle
Sabine LeutheusserSchnarrenberger Rösler und Lindner wollen die FDP programmatisch erneuern
Röslers neue FDP
Thomas-Dehler-Haus
Gabriele Renatus
Christian Lindner
Holger Zastrow
Zastrow ist einer von drei Vize-Parteichefs; vertritt die neuen Bundesländer
Rösler, NRW-FDPChef Bahr und Linder sind das Machtzentrum der FDP
Cornelia Pieper
Guido Westerwelle engster Berater von Rösler; koordiniert für ihn die Regierungsarbeit
Niebel, Beerfeltz und Renatus gehören zum WesterwelleNetzwerk
Stefan Kapferer
Bundeswirtschaftsministerium
Lindner will die FDPZentrale neu aufstellen; Renatus‘ Stuhl wackelt Dirk Niebel
Daniel Bahr
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Bundesministerium für Gesundheit
Hans-Jürgen Beerfeltz
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
pol it ik & kommunikation | September 2011
Foto: www.marco-urban.de (2); Manfred Wegener; www.marco-urban.de (3); Privat; www.marco-urban.de (5); Privat; www.marco-urban.de; Privat; www.marco-urban.de
Rainer Brüderle
Streiter löst im BPA den WesterwelleVertrauten Steegmans ab
viel mit. Eine Pressemitteilung zur neuen Webseite? Fehlanzeige. Die Zurückhaltung mag daran liegen, dass die Inhalte immer noch dieselben sind. So können die Nutzer sich auch weiterhin das Plakatmotiv mit dem alten Westerwelle-Mantra „Steuern senken – Abgaben runter“ herunterladen. Gleich neben dem Youtube-Video von Parteichef Rösler, in dem er die geplanten Steuerentlastungen verteidigt. In dem Film spricht Rösler von „Entlastungsvolumina“ und gibt als Ziel vor, das „Wachstum zu verstetigen“. Nach dem von Christian Lindner ausgerufenen „mitfühlenden Liberalismus“ klingt das nicht. Trotzdem setzt die FDP darauf, dass Rösler, Lindner und auch Gesundheitsminister Daniel Bahr die Partei inhaltlich neu aufstellen. „Es geht darum, Vertrauen zurückzugewinnen“, sagt Wolfgang Gerhardt, ehemaliger FDP- und Bundestagsfraktionschef. Einfach werde das jedoch nicht. „Das Vertrauen kann eine Partei schnell verlieren, es zurückzugewinnen, ist mühsam.“ Für die neue Parteiführung komme es jetzt darauf an, „zu dem zu stehen, was sie sagt und es vor allem durchzusetzen“. Auch Gerhardt, seit 2006 Vorsitzender der parteinahen Friedrich-Naumann-Stiftung, führt die schlechten Umfragewerte zum Teil auf den Umbau der Bundesgeschäftsstelle zurück, wo er nach Beerfeltz‘ Wechsel ins BMZ „Kommunikationsschwächen“ gesehen habe.
Foto: www.marco-urban.de; Privat; www.marco-urban.de
Neues Personal, neue Struktur Zuletzt zeigte sich das im Wahlkampf zum Berliner Abgeordnetenhaus. So soll Parteichef Rösler verärgert gewesen sein, als er erfuhr, dass die Berliner FDP im Wahlkampf auf ein Plakat setzt, auf dem zu lesen ist: „Ist die FDP eine Arbeiterpartei oder die Partei der Besserverdiener? Wir möchten, dass man mit Arbeit besser verdient als ohne.“ Für Rösler ist das die falsche Strategie. Im Dehler-Haus wird Renatus für das Plakat verantwortlich gemacht – jedoch nicht Gabriele, sondern Christian, der Ex-Mann der Bundesgeschäftsführerin. Er ist Beauftragter für die Koordination der Wahlkämpfe im Bund und in den Ländern. Westerwelle baute auf diese Verbindung, für Rösler muss sie aus einer Zeit stammen, die er möglichst schnell überwinden will. „Die neue FDP-Führung sollte das Wort ‚Steuersenkungen’ am besten gar pol it ik & kommunikation | September 2011
FDP-Chef Philipp Rösler und Guido Westerwelle während des Parteitags in Rostock (Foto oben), Bundesgeschäftsführerin Gabriele Renatus und Generalsekretär Christian Lindner
nicht mehr in den Mund nehmen“, sagt Fritz Goergen, der das Innenleben der Liberalen aus eigener Erfahrung kennt. Anfang der 80er Jahre war er unter dem damaligen Parteichef Hans-Dietrich Genscher Bundesgeschäftsführer, im Anschluss wechselte er zur Naumann-Stiftung. „Mit den Steuersenkungsplänen setzt die Partei immer wieder auf ein Thema, das in der Öffentlichkeit längst negativ besetzt ist“, sagt der heutige Kommunikationsberater. Die Finanzkrise hätte die Deutschen verunsichert: Diese wüssten, dass es jetzt darauf ankomme, den Schuldenberg abzubauen und nicht durch neue Steuergeschenke zu erhöhen. Es sei daher ein Fehler, dass sich die Bundesregierung Anfang Juli auf Steuersenkungen ab 2013 verständigt habe. „In einer Zeit, in der eine Schuldenkrise auf die nächste folgt, kann die FDP damit nicht punkten. Die Öffentlichkeitsarbeit des Dehler-Hauses versagt komplett.“ Goergen zögert nicht, wenn es darum geht, die Schwächen der Liberalen aufzuzeigen – was viele Partei-Funktionäre ihm übelnehmen: „Ausgerechnet Goergen“, sagt einer zu der Kritik des Miterfinders der „Strategie 18“. Goergen gilt im Dehler-Haus als Persona non grata, trieb er doch vor zehn Jahren als Berater den jungen Parteichef Westerwelle zu krawalligen Kampagnen. Viele Liberale hoffen, dass das neue FDP-Grundsatzprogramm, an dem Generalsekretär Lindner seit Juli vergan-
genen Jahres arbeitet, der Partei neuen Schwung verleiht. Im Oktober soll ein erster Entwurf stehen, im April kommenden Jahres wird FDP auf ihrem Parteitag das Programm endgültig verabschieden. Aus dem Dehler-Haus ist zu hören, dass die Arbeiten am Programm zwar schon länger dauerten als geplant, dass aber bereits der erste Entwurf zeigen werde, dass es die Liberalen ernst meinen mit der thematischen Öffnung. Es überrascht also nicht, dass sich Rösler Christopher Gohl als neuen Abteilungsleiter für politische Planung ausgesucht hat. Dieser gilt als kluger Denker, der sich auf dem Gebiet der Bürgerbeteiligung einen Namen gemacht hat. Vor allem General Lindner dürfte sich über den neuen Abteilungsleiter freuen: Gohl gilt als dessen „intellektueller Sparringspartner“, der wichtige Strategiepapiere bereits im Vorfeld zu sehen bekommt. Mit neuem Personal und neuer Struktur will Rösler mit einer gestärkten Parteizentrale aus der parlamentarischen Sommerpause kommen. Ob er die Gräben im Dehler-Haus damit überwinden kann, ist fraglich. Einer, der mit den Abläufen innerhalb der FDP vertraut ist, sagt: „Es hängt einiges davon ab, ob die Partei im September den Einzug ins Berliner Abgeordnetenhaus schafft.“ Gelinge ihr das nicht, verlange die Basis ein Opfer. „Gabriele Renatus sollte sich nicht auf die Loyalität der Parteiführung verlassen.“ 13
Public Affairs
Kämpfe, Nerd!
VON SEBASTIA N L A N G E
W
enn die „Tagesthemen“ oder das „Heute-Journal“ über Netzthemen berichten, dann sieht der Zuschauer immer öfter einen freundlich lächelnden Mittdreißiger mit Brille, der ihnen erklärt, was Internetsperren sind, oder was Wikileaks eigentlich macht. Der Mann, den die Fernsehredakteure wahlweise als „Blogger“ oder „Internetaktivisten“ bezeichnen, heißt Markus Beckedahl und ist inzwischen bei Journalisten ein gefragter Experte. Beckedahl ist Autor des Blogs netzpolitik.org und weiß, wovon er spricht – vor allem aber kann er sich ausdrücken, und das unterscheidet ihn vom gemeinen Nerd. Netzpolitik war bis vor drei Jahren selten ein Thema für die MainstreamMedien, doch seit der Zensursula-Kampagne gegen Netzsperren und dem Ach-
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tungserfolg der Piratenpartei bei der Bundestagswahl sehen die Redaktionen, wie wichtig diese Themen für die Gesellschaft geworden sind.
„Campact“ als Vorbild Der so häufig interviewte Beckedahl befasst sich seit Jahren mit Netz-Themen, er ist Mitveranstalter der jährlichen BloggerKonferenz „Republica“ – und inzwischen ist er zum politischen Aktivisten geworden. Im April gründete er mit Gleichgesinnten den Verein „Digitale Gesellschaft“ (Digiges), der sich als Bürgerrechtsorganisation versteht und sich für eine „offene und freie digitale Gesellschaft“ einsetzt, so die Selbstbeschreibung. Auf der Agenda stehen der Kampf gegen Netzsperren, gegen Vorratsdatenspeicherung und für Netzneutralität. Ein Vorbild nehmen die Aktivisten sich an den Strategien
von „Campact“, der schlagkräftigen Kampagnenplattform, die onlinegestützt zum Beispiel gegen Panzerexporte und gegen Atomkraft kämpft. In persona anzutreffen ist der Netzaktivist an seinem Arbeitsplatz bei der von ihm mitgegründeten Agentur Newthinking, die in klassischen Hinterho�üros in Prenzlauer Berg arbeitet. Beckedahl spricht so, wie er im Fernsehen spricht: bedächtig, meist verbindlich lächelnd. „Netzpolitische Kampagnen waren bisher eher reaktiv und von Nerds für Nerds gemacht“, sagt er. „Das Problem ist, dass die Netzgemeinde heute gegen Internetsperren kämpft und morgen, wenn ein neues Computerspiel auf den Markt kommt, den Kampf erstmal wieder einstellt“, sagt er. Die neue Kampagnenplattform soll die Aufmerksamkeit nun kontinuierlich hoch halten und so medienwirksam sein, dass auch die auflagen- und pol it ik & kommunikation | September 2011
Grafik: Marcel Franke
Mit Kampagnenplattformen wie der „Digitalen Gesellschaft“ organisiert sich die LOBBY DER NETZGEMEINDE. Doch setzen Teile der Community lieber auf die „Weisheit der Vielen“ – oder auf den langen Marsch durch die Institutionen.
quotenstarken Medien sie wahrnehmen. Nach der TV-Präsenz ihres Vordenkers zu schließen, ist das bereits gelungen. Doch hat die Community die Eigenart, Menschen, die ihrer Meinung nach zu hoch fliegen, schnell wieder herunterzuzerren. Statt sich womöglich zu freuen, dass ihre Themen auf stärkere Resonanz stoßen, gingen einige Kommentatoren die „Digitale Gesellschaft“ erst einmal frontal an. So ergoss sich Kritik in einer Vielzahl von Twitter-Nachrichten über den Verein, und ein Blogger verirrte sich zu der Äußerung, Beckedahl sehe sich als „Kaiser des Internets“, die Digiges sei gar ein „faschistischer Kreis“. „Shitstorm“ nennt die Netzgemeinde so etwas. Sachlicher, aber immer noch deutlich stellte der Blogger Robin Meyer-Lucht auf Carta.info die Legitimation der Digiges in Frage: Er warf ihr ein „anmaßendes und politisch naives Öffentlichkeits- und Vertretungskonstpol it ik & kommunikation | September 2011
rukt“ vor. Der Verein „inszeniere sich als Sprachrohr“, und das mediale Establishment ginge ihm prompt „auf den Leim“. Hatten die Kampagnenmacher womöglich unterschätzt, wie sehr die Community sich als Basis-Bewegung versteht und sich im Besitz der „Weisheit der Vielen“ wähnt? Dass „die Vielen“ sich wie ein Fischschwarm organisieren und der Politik auch ohne Lobbyisten zeigen könnten, was eine Harke ist? Die Kampagne gegen das von der damaligen Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen initiierte Sperren von Kinderpornografie-Seiten muss dafür häufig als Beispiel herhalten. „Der Glaube an die reine Lehre der Schwarmintelligenz ist falsch“, meint Beckedahl. Internetprojekte, die sich das Wissen der Masse zunutze machen, seien nie reine Basisbewegungen: „Erfolgreiche Open-Source-Projekte organisieren Strukturen, so läuft es auch bei Wikipe-
dia, wo es zwei-, dreihundert Autoren mit besonderen Rechten gibt.“ Tatsächlich sehen Kampagnenprofis bei Parteien und Verbänden den Vorteil des Online-Campaignings vor allem darin, viele Mitstreiter zum Mitmachen zu befähigen, neudeutsch: zu „enablen“. Im Juli hat die Digiges denn eine erste konkrete Kampagne gestartet: für Netzneutralität, also die Gleichbehandlung der Daten aller Internetnutzer durch die Provider. Eine Stiftung hat dafür 9500 Euro gespendet.
Piraten schlagen den Takt Die „Digitale Gesellschaft“ ist jedoch nicht die einzige und nicht die erste Organisation, die sich Netz-Themen auf die Fahnen geschrieben hat. Einen unschätzbaren Dienst hat der Internetgemeinde eine noch junge Partei erwiesen: die Piraten. Als diese 2009 auf der Anti-Zensur15
sula-Welle segelten, zur Bundestagswahl antraten und aus dem Stand zwei Prozent der Stimmen erhielten, war das Erschrecken der etablierten Politiker groß. Plötzlich drohte jemand, ihnen bei jungen Wählern und im großstädtischen Milieu das Wasser abzugraben. „Die Sensibilität für Netzpolitik hat bei den Parteien stark zugenommen, seit die Piraten auf den Plan getreten sind“, sagt der Politik-Professor Christoph Bieber, der den Blog „Internet und Politik“ schreibt. „Auch mit nur zwei Prozent der Stimmen können sie durchaus Taktgeber sein.“ Inzwischen haben sich Vereinigungen wie die Arbeitskreise Netzpolitik der SPD und der CDU oder der „CSU-Netzrat“ gegründet – für den die stellvertretende CSU-Generalsekretärin Dorothee Bär vollmundig eine „Vorreiterrolle“ in der Netzpolitik proklamiert hat.
Viele „Digitale Gesellschaften“
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Die Piraten wollen endlich in ein Parlament einziehen – wahlkämpfen können sie jedenfalls (oben). Die Internetenquete des Bundestags (unten, mit Gästen) befasst sich mit Kernthemen der Piraten.
nahende Abgeordnetenhauswahl in Berlin blicken die Piraten jedenfalls verhalten optimistisch: Hier holten sie bei der Bundestagswahl ihr bestes Zweitstimmenergebnis, immerhin 3,4 Prozent. Was aber ist nun der richtige Weg für die Freunde des freien Internets: der lange Marsch durch die Institutionen oder die schlagkräftige Nichtregierungsorganisation (NGO)? „Wir brauchen beides“, sagt Piratenkäpitän Nerz. „Wir sehen eine NGO wie die Digiges nicht als Konkurrenz zu unserer Partei.“ Und auch Christoph Bieber meint: „Es ist zu begrüßen, wenn netzpolitische Themen es überhaupt auf die Agenda schaffen. Eigentlich brauchen wir viele ,Digitale Gesellschaften’.“ Mit organisierten Akteuren könne die Politik etwas anfangen, weil diese sich den Anschein von Legitimität geben würden – ob dieser berechtigt sei oder nicht. Wenn ein Branchenverband eine Studie veröffentliche, würden Fachpolitiker sich schon wegen des ihnen bekannten Absenders mit dem Inhalt befassen. Auch CCC-Sprecherin Kurz findet es gut, dass die Macher der „Digitalen Gesellschaft“ ihr Projekt professionell auf-
ziehen. Es sei wichtig, auf Augenhöhe mit Branchenverbänden wie dem Bitkom zu kommen. „In der Internetenquete schütten die uns aufgrund ihrer personellen Ressourcen mit Papieren zu.“
„Schmierenkomödie“ Vielleicht ist die Netzgemeinde schon auf dem Weg zu den „vielen ,Digitalen Gesellschaften’“, die Christoph Bieber vorschweben. So haben im August die Macher der Internet-Tagung „Politcamp“ den Politcamp e.V. gegründet, der ebenfalls netzpolitische Themen vorantreiben soll. Dass auch Markus Beckedahl mit der „Republica“ eine große Netz-Tagung veranstaltet, sticht als Parallele ins Auge. Der Unterschied zur ,Digitalen Gesellschaft’ allerdings ist die politische Enthaltsamkeit, die sich die Politcamp-Vereinsmitglieder auferlegen: „Wir möchten vor allem den Austausch über Netzpolitik voranbringen“, sagt Valentin Tomaschek, der Geschäftsführer des neuen Vereins. Dieser sei aber gerade nicht als Kampagnenplattform gedacht, und so heißt es denn auch in der Selbstbeschreibung: pol it ik & kommunikation | September 2011
Fotos: www.marco-urban.de; Deutscher Bundestag/ Lichtblick/ Achim Melde
„Die Parteien wanzen sich an die Netzpolitik ran“, resümiert Constanze Kurz die Entwicklung. Kurz ist Sprecherin der Hackervereinigung Chaos Computer Club (CCC), die ebenfalls für mehr digitale Freiheiten eintritt. Kurz kann aus der Nähe beobachten, wie die Politiker sich netzpolitisch positionieren: Die Linkenfraktion im Bundestag berief sie in die voriges Jahr vom Bundestag eingesetzte „Enquete-Kommission Internet und Digitale Gesellschaft“. Diese soll die Auswirkungen des Internets auf Politik und Gesellschaft untersuchen und ist mit Abgeordneten, Wissenschaftlern und NetzExperten besetzt. Neben Kurz gehört dem Gremium auch Beckedahl an, zudem Vertreter von Wirtschaftsverbänden, wie der Bitkom-Hauptgeschäftsführer Bernhard Rohleder. Die Piratenpartei aber konnte seit der Bundestagswahl nur noch wenig von sich reden machen, auch ist ihr der Einzug in ein Länderparlament noch nicht geglückt. „Die Medien interessieren sich kaum für außerparlamentarische Parteien“, sagt Sebastian Nerz, der seit Mai Vorsitzender der Partei ist. Trotzdem glaubt er fest an die Existenzberechtigung einer Partei wie seiner: „Es gibt in den etablierten Parteien niemanden, der wirklich konsequent unsere Themen vertritt“, meint Nerz. Bei den Abgeordneten fänden vorrangig die Verbände der Kommunikationswirtschaft Gehör. Auf die
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Public Affairs
„Der Politcamp e.V. wird keine konkreten Handlungsempfehlungen oder Positionen erarbeiten.“ Bei der Mitgliedervielfalt dürfte das auch schwierig sein: Ihm gehören Bundestagsabgeordnete aller Fraktionen an. Diese und alle anderen Mitglieder stellt der Verein mit großen Fotos auf seiner Webseite vor. Womöglich hat das Politcamp von den Querelen beim Start der Digiges gelernt: Denn nicht nur der Beckedahl unterstellte Anspruch, für alle Internetnutzer zu sprechen, rief Kritik hervor. Die Kritiker mahnten auch mehr Transparenz an, weil die Digiges zwar die Gründungsmitglieder öffentlich machte, nicht aber die gesamte Mitgliederliste. Schnell kam der Verdacht auf, es handele sich um ein den Grünen nahestehendes Projekt – schließlich engagierten sich nicht nur Beckedahl, sondern auch einige der Mitgründer wie dessen Agenturkollege Andreas Gebhard oder Benjamin von der Ahé früher bei der Grünen Jugend. Der CDU-Abgeordnete und Netzpolitiker Peter Tauber argwöhnt: „Wer hinter dem BDI, Greenpeace oder Attac steht, wissen wir, doch bei der Digiges ist das nicht der Fall.“ Für Politiker sei es wichtig, Ansprechpartner aus der Zivilgesellschaft zu haben, meint Tauber – nur
Markus Beckedahl und Constanze Kurz gehören als Sachverständige der Internetenquete des Bundestags an.
müsse in Sachen Transparenz für diese das Gleiche gelten wie für Wirtschaftsverbände. Der Politiker lobt den parteiübergeifenden Ansatz des Politcamp-Vereins – und ist dort selbst Mitglied geworden. Ob die Gemeinsamkeiten zwischen Netzaktivisten und denen, die im Parlament Politik mit all den dazugehörenden Kompromissen betreiben, am Ende groß genug sind, muss sich noch zeigen. Wie
fremd beide Seiten sich zuweilen noch sind, zeigte sich jedenfalls bei der letzten Sitzung der Internet-Enquete vor der Sommerpause: Diese endete im Streit, weil die Mehrheit – die Vertreter der Koalition – eine Vertagung auf September durchsetzte und so eine drohende Abstimmungsniederlage beim strittigen Thema Netzneutralität verhinderte. Weil ein von der Koalition berufener Sachverständiger fehlte, hatte das Oppositionslager sich zuvor schon bei einigen Abstimmungen durchgesetzt. Nun wollte das Regierungslager die Blamage vermeiden, mit der Enquete eine Empfehlung pro Netzneutralität abzugeben. Eine solche stände nämlich im Gegensatz zum offiziellen Kurs der Regierungs-Fraktionen. Also Vertagung. Nicht nur die Oppositionspolitiker in der Runde waren sauer, auch einige der Sachverständigen. „Eine Schmierenkomödie“ war die Sitzung für Markus Beckedahl – vielleicht aber war sie auch eine Lektion darin, was geschieht, wenn Parlamentarier alle Register der VerfahrensTricks ziehen. „Jeder spielt das Spiel auf seine Weise und nach seinen Regeln“, sagt Christoph Bieber. Doch immerhin ist festzustellen: Das Spiel ist eröffnet.
Die Aktivisten In Deutschland engagieren sich mehrere Organisationen für digitale Bürgerrechte und ein unzensiertes Internet. Die wichtigsten Player im Überblick.
Der Parteiname „Piraten“ spielt auf die bei der Musikindustrie übliche Bezeichnung von Urheberrechtsverstößen als „Piraterie“ an. In mehreren Ländern gibt es Piratenparteien, die erste gründete sich 2006 in Schweden, die deutsche folgte noch im selben Jahr. Die Piraten sehen sich als Bürgerrechtspartei, sie wenden sich gegen Vorratsdatenspeicherung, Internetzensur und fordern ein liberaleres Urheberrecht. Das Durchschnittsalter der Mitglieder beträgt in Deutschland 29 Jahre – der Bundesvorsitzende Sebastian Nerz ist 28. Bei der Bundestagswahl 2009 gelang mit einem Ergebnis von zwei Prozent der Zweitstimmen ein Achtungserfolg. www.piratenpartei.de
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Digitale Gesellschaft
Der im April dieses Jahres gegründete Verein versteht sich als Kampagnenplattform nach Vorbild von Organisationen wie Campact. Die „Digitale Gesellschaft“ tritt ein für ein nutzerfreundliches Urheberrecht, für Netzneutralität, den Zugang zu staatlichen Daten und Lobbytransparenz. Die Gründer entstammen dem Umfeld des Blogs netzpolitik.org und sind zum Großteil ehemalige Aktive der Grünen Jugend. Bekanntestes Gründungsmitglied ist Markus Beckedahl, der häufig als Experte in Medien interviewt wird. http://digitalegesellschaft.de/
Chaos Computer Club
Der Chaos Computer Club (CCC) ist ein 1981 in den Räumen der „taz“ gegründeter Verein, in dem sich Hacker zusammengeschlossen haben – also von Computerexperten, die in IT-Netze eindringen, um Sicherheitslücken auszutesten. Der CCC setzt sich ebenfalls für freien Zugang zu staatlichen Informationen ein und kämpft gegen Internetzensur und Vorratsdatenspeicherung. Der Club ist dezentral in lokalen Gruppen organisiert und lehnt eine „Top-Down“-Struktur ab. Darin unterscheidet sich der CCC von der „Digitalen Gesellschaft“, die sich zugunsten besserer Kampagnenfähigkeit nicht als Basisorganisation aufstellt. http://www.ccc.de/
Politcamp
Die Initiatoren der seit 2009 jährlich veranstalteten Tagung „Politcamp“ haben im August einen Verein gegründet, der die netzpolitische Diskussion voranbringen soll. Der Verein, dem auch Politiker aller im Bundestag vertretenen Parteien angehören, will keine politischen Ziele verfolgen, sondern nur netzpolitischen Themen Aufmerksamkeit verschaffen und die Diskussion fördern. http://politcamp.org/
Open Data Network
Das Open Data Network wurde 2009 in Berlin als Verein gegründet. Vorsitzender ist der Berliner IT-Berater Daniel Dietrich, als Vize fungiert: Markus Beckedahl. Der Verein hat sich dem „Open Government“ verschrieben, setzt sich also für eine stärkere Teilhabe der Bürger an staatlichen Daten und Informationen sowie für mehr Transparenz ein. http://opendata-network.org
Fotos: www.marco-urban.de
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pol it ik & kommunikation | September 2011
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Zurück auf den Platz ANDREA FISCHER möchte Bezirksbürgermeisterin von BerlinMitte werden. Die Wahl im September ist das politische Comeback der früheren Bundesgesundheitsministerin – nach neun Jahren Pause von öffentlichen Ämtern. VON FLORIAN R E N N E B E R G
B
eim Gang durch Berlin-Mitte, vorbei am Auswärtigen Amt, in Richtung des Hausvogteiplatzes bleibt Andrea Fischer immer wieder stehen und schaut auf die bunten, eng aneinandergereihten Townhouses, die hier das Stadtbild prägen. Das teuerste Appartement in einem der mehrgeschossigen Neubauten soll kürzlich für 15.000 Euro den Besitzer gewechselt haben – pro Quadratmeter. Fischer ist unschlüssig, ob ihr die Architektur gefällt. So oder so: Bald könnte sie für diese Gegend verantwortlich sein. Andrea Fischer, ehemalige Bundesministerin und Bundestagsabgeordnete, kandidiert als Bürgermeisterkandidatin der Grünen in Berlin-Mitte. Der Bezirk zeichnet sich durch zahlreiche Kontraste aus: neu und alt, Ost und West, reich und arm. Wie eng all das zuweilen beieinander liegt, lässt sich am Hausvogteiplatz in etwa erahnen. Von den Holzbänken am Springbrunnen – die Townhouses im Rücken, der mondäne Gendarmenmarkt nur wenige Meter entfernt – kann man die bis zu 25-geschossigen DDR-Bauten der Leipziger Straße sehen. Dort hat Fischer einen Eindruck davon bekommen, was bis zur Wahl – und vielleicht auch danach – auf sie zukommt. Auf einer ihrer ersten Wahlveranstaltungen beschwerten sich die Mieter darüber, dass der rotrote Senat Müllschlucker in Hochhäusern nur noch unter strengen Umweltauflagen erlaubt. Die Kollegin von der Linken habe unter dem Eindruck erboster Wähler angekündigt, die Änderung der Bau20
ordnung noch einmal auf den Prüfstand zu stellen, erzählt Fischer und lacht teils amüsiert, teils verächtlich. Und sie? „Ich habe gesagt, dass ich mich mit den Details noch nicht beschäftigt habe.“ In diesen Momenten klingt die 51Jährige wie eine politische Quereinsteigerin, die sich den Regeln des Wahlkampfs widersetzt. Und in gewisser Weise ist sie das. In den vergangenen neun Jahren hat sie vieles gemacht, aber keine Politik. Seit 2006 arbeitet sie als Beraterin für die Gesundheitswirtschaft – erst als Partnerin bei der Kommunikationsagentur Pleon, seit 2009 selbständig. Wenn Journalisten Fischers Tätigkeit beschreiben, nennen sie sie üblicherweise Pharma-Lobbyistin. Es gibt in Deutschland angenehmere Berufsbezeichnungen. Fischer nimmt es so hin: „Aufregen müsste ich mich nur, wenn ich ein schlechtes Gewissen hätte.“ Sie selbst sagt, sie vermittle zwischen Pharmaindustrie und Öffentlichkeit. Sollte sie nicht Bezirksbürgermeisterin werden, will sie das weiterhin tun. Ihr Mandat für die Bezirksverordnetenversammlung will sie in jedem Fall annehmen. Die Rückkehr in die Politik – noch dazu in die Kommunalpolitik – stößt bei vielen Menschen auf Unverständnis. Deren Argument: Wenn man – wie Fischer – mit 38 Jahren Bundesministerin gewesen sei, gebe es keine Steigerung mehr. Für Fischer ist gerade das ein Argument für ihr Engagement. „Ich habe keine Idee von Aufstieg mehr“, sagt sie und lacht: „Das entspannt ungemein.“ Fischer, die Bundesministerin. Als die Grünen 1998 erstmals in die Bundesregie-
rung einzogen, war sie – neben Joschka Fischer und Jürgen Trittin – eine von drei grünen Ministern. Bis sie 2001 wegen des BSE-Skandals von ihrem Amt zurücktrat. Seitdem lebt sie mit dem Ruf der gescheiterten Ministerin. Fischer nimmt es gelassen: „Angesichts der Tatsache, dass das Amt auf vier Jahre angelegt war, bin ich gescheitert.“ Ein Jahr später war ihre politische Karriere abrupt beendet. Bei der Listenaufstellung des Berliner Landesverbands zur Bundestagswahl 2002 erlitt sie eine „demütigende Niederlage“, wie sie selbst einräumt. Seitdem war politisch nichts von ihr zu hören. „Ich bin damals vom Platz gestellt worden“, sagt Fischer, „es gehört sich nicht, vom Spielfeldrand aus zu kommentieren.“ Hat sie nach dieser Enttäuschung darüber nachgedacht, die Grünen zu verlassen? Andrea Fischer wirkt plötzlich sehr ernst und nimmt sich Zeit für eine Antwort. „Nein, ich habe nicht vergessen, dass ich eine Grüne bin“, sagt sie nach einer Weile. Die CDU habe ihr einmal angeboten, für den Bundestag zu kandidieren. Sie hat es nicht getan, weil sie die Frage nach dem Warum nicht hätte beantworten können. Jetzt will sie zurück auf den Platz. Dort warten – statt Energiewende und Eurokrise – Automatencasinos, Schulpolitik und Müllschlucker. „Müllschlucker sind für mich mittlerweile ein Symbol für Kommunalpolitik geworden“, sagt Fischer und lacht ihr lautes Fischer-Lachen, „solche Themen treiben die Leute um.“ Fischer selbst treibt etwas anderes um. Ihr Thema ist die Integration. Das ist – zumal in Berlin – nicht sonderlich originell, aber man nimmt ihr das Anliegen ab. Ob sie damit ihre Wähler erreicht? Die potenziellen Grünen-Wähler sind vor allem junge, gut ausgebildete Menschen mit entsprechendem Gehalt. Es sind nicht diejenigen, die von den Integrationsbemühungen der Bezirksbürgermeisterin Fischer profitieren würden. Die gibt sich optimistisch: „Es gibt viele Berührungspunkte zwischen Grünen und Liberalen. Der Unterschied ist, dass Grüne wissen, dass es nicht nur um ihre Freiheit geht.“ Sollte Fischer die Wahl gewinnen, wird sie Verständnis brauchen. Die Kassen sind leer und die Spielräume eng. „Na und, Geld ausgeben kann jeder“, entgegnet Fischer. „Es mag sein, dass ich morgens aufwache und mich ärgere, zu wenig entscheiden zu können. Umso mehr ist Phantasie gefragt“, sagt sie – und lacht. pol it ik & kommunikation | September 2011
Foto: Matthias Uhrlandt
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Szene
Elder Statesman mit Zukunft
1974 Steinbrück beginnt seine Karriere in Bonn. Mit Stationen im Bau- und im Forschungsministerium, später im Kanzleramt. Zwischendurch, 1981, gibt es einen kurzen Ausflug an die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin.
1990 Peer Steinbrück wird Staatssekretär. Er beweist, dass er sich in viele Politikfelder einarbeiten kann. Erst ist er im schleswig-holsteinischen Umweltministeriumtätig, kurze Zeit später dann im Wirtschaftsressort.
1947 wird Peer Steinbrück in Hamburg geboren, 1968 macht er Abitur und tritt wenig später in die SPD ein. Von 1970 bis 1974 studiert Steinbrück in Kiel Volkswirtschaft und Sozialwissenschaft.
1986 1983 In der SPD-Bundestagsfraktion, ab 1985 dann im Umweltministerium von NRW, ist Steinbrück zuständig für Umweltschutzfragen.
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Steinbrück rückt an die Seite eines späteren Bundespräsidenten – er leitet das Büro von NRW-Ministerpräsident Johannes Rau.
pol it ik & kommunikation | September 2011
Fotos: www.marco-urban.de; www.flickr.com; www.wikimedia.com; www.marco-urban.com; Uli Hamacher; www.marco-uraban.de; Archiv; www.marco-urban.de
PEER STEINBRÜCK bekleidet kein hohes politisches Amt, gilt vielen aber als potenzieller Bundeskanzler. Obwohl er Bundestagsabgeordneter ist, hat Steinbrück inzwischen das Image eines Elder Statesman mit der nötigen inneren Distanz zum aufgeregten Polit-Betrieb. Der Küstenmensch gilt als souverän und hartnäckig – seine KARRIEREKURVE zeigt, dass der Eindruck nicht ganz unberechtigt ist.
SUPERWICHTIG
2008 Die Finanzkrise. An der Seite von Kanzlerin Merkel profiliert sich der Volkswirt als besonnener Krisen-Manager und wird gefühlter Vize-Kanzler. Er erhält den „Politikaward“ als Politiker des Jahres.
2002
SEHR WICHTIG
Steinbrück wird Ministerpräsident. Sein Vorgänger Wolfgang Clement (damals noch SPD) ging als „Superminister“ in die rot-grüne Bundesregierung.
Wenige Monate später gibt der Mann den Phoenix, und zwar infolge der Bundestagswahl: In der Großen Koalition braucht die SPD regierungserfahrene Experten, Steinbrück zieht als Minister ins Bundesfinanzministerium ein.
ZIEMLICH WICHTIG
2005 2011 Im Bundestag fällt Steinbrück nicht so sehr auf, die Medien nennen nun aber immer öfter seinen Namen: Er gilt als potenzieller Kanzlerkandidat.
WICHTIG
1993 Steinbrück hastet von Ministerium zu Ministerium. Zunächst wird er Wirtschaftsminister in Schleswig-Holstein. 1998 geht er wieder nach NRW, leitet dort zunächst das Wirtschafts-, ab 2000 dann das Finanzressort.
2009
Es folgt ein herber Absturz. Bei der Wahl in NRW erhält die SPD einen so geringen Stimmenanteil wie seit 1954 nicht mehr. Steinbrück verliert sein Amt.
EIN BISSCHEN WICHTIG
2005
Nach dem Ende der Koalition arrangiert er sich mit seiner Rolle als einfacher Abgeordneter, schreibt ein Buch und hält Reden – oft allerdings außerhalb des Bundestags.
UNWICHTIG
pol it ik & kommunikation | September 2011
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