Gemeinsam entwickeln

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Themenheft von Hochparterre, Mai 2022

Gemeinsam entwickeln

Drei Hektar Land, fünfzehn Parteien, ein Ziel: Wie die einfache Gesellschaft ‹ Altwiesen- / Dübendorfstrasse › zwölf Jahre an ihrer Zukunftsvision der Schwamendinger Gartenstadt feilte.

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Editorial

Inhalt

4 Schwamendinger Entwicklungsepos Elf Jahre Projektentwicklung im Überblick.

10 Die Gesellschafter Beteiligte erzählen von Erhofftem, Erwartetem und Erreichtem.

12 Bad Aibling und das Nagelhaus Boltshauser Architekten und Müller Illien Landschaftsarchitekten entwerfen einen starken Auftakt und wilde Stadtnatur.

20 Acht Punkte zum gemeinsamen Entwickeln Was Altwiesen uns über die eigentümerübergreifende Projekt­entwicklung lehren kann.

22 « Die Anforderungen wachsen » Hochbauvorsteher André Odermatt und Soziologin Christina Schumacher im Gespräch.

Unter einen Hut gebracht

Die Neubauwelle hat Schwamendingen längst erfasst. Der Grünteppich der Zürcher ‹ Gartenstadt › samt den locker darauf verstreuten Wohnzeilen verschwindet. Grosse Wohn­ überbauungen in offener Bauweise pflügen das Quartier baulich wie sozial um. Mittendrin liegt das Areal Altwiesen. Auch die 15 Eigentümerinnen und Eigentümer der früheren Siedlungseinheit wollten verdichten. Da ein vereintes Vor­ gehen neben mehr Ausnützung auch eine gemeinsame Erschliessungslösung und mehr städtebau­liche Qualität versprach, wagten sie 2010 das Experiment einer eigentü­ merübergreifenden Projektentwicklung. Elf Jahre, unzählige Planungsschleifen, Diskussio­nen und Kompromisse später erlangte der private Gestal­ tungsplan Altwiesen- / Dübendorfstrasse Rechtskraft. Acht Eigentümerinnen haben ihre Liegenschaften inzwischen verkauft, eine kam hinzu. Geblieben sind vor allem die Grossen. Statt der ursprünglich vorgesehenen sanften Transformation über viele Jahre steht dem Areal nun eine Erneuerung in drei Etappen bevor. Dennoch: Städtebau und kollektive Freiräume überzeugen, die Stadt erhält einen neuen Kindergarten und mehr preisgünstige Wohnungen, und die Eigentümer können sich über eine beträchtliche Wertsteigerung freuen. Ende gut, alles gut ? Dieses Heft zeichnet den langen, verworrenen Weg der Projektentwicklung nach und zieht Bilanz. Grundei­ gentümerinnen berichten über Erwartetes und Erreichtes. Raumplaner Men-Duri Gaudenz erklärt, wie die Planwerk­ stadt als Geschäftsführerin und Prozessgestalterin die teils grundverschiedenen Anliegen der Grundeigentüme­ rinnen mit den Qualitätsansprüchen der Stadt unter einen Hut brachte – und welche Planungsinstrumente sie dafür wählte. Landschaftsarchitektin Rita Illien und Architekt Roger Boltshauser erklären das Projekt und räumen mit dem Mythos von Schwamendingens Qualitäten auf. Im Ge­ spräch mit Rahel Marti ordnen Soziologin Christina Schu­ macher und Stadtrat André Odermatt Prozess und Projekt aus soziologischer Perspektive ein und ziehen Schlüsse für künftige Planungen. Fixfertige Rezepte für die eigentümerübergreifende Projektentwicklung kann das Heft nicht bieten. Immerhin kann sich aber, wer sich darin versuchen will, die drei Din­ ge, die man tun, und die fünf Dinge, die man haben sollte siehe Seite 20, über den Schreibtisch hängen. Deborah Fehlmann

Impressum Verlag Hochparterre AG Adressen Ausstellungsstrasse 25, CH-8005 Zürich, Telefon +41 44 444 28 88, www.hochparterre.ch, verlag@hochparterre.ch, redaktion@hochparterre.ch Verleger Köbi Gantenbein Geschäftsleitung Andres Herzog, Werner Huber, Agnes Schmid Verlagsleiterin Susanne von Arx Konzept und Redaktion Deborah Fehlmann Illustration Christina Baeriswyl, www.christinabaeriswyl.ch Fotografie Christian Senti, www.christiansenti.com Art Direction Antje Reineck Layout Miriam Bossard Produktion Marion Elmer Korrektorat Dominik Süess Lithografie Team media, Gurtnellen Druck Stämpfli AG, Bern Herausgeber Hochparterre in Zusammenarbeit mit Planwerkstadt Bestellen shop.hochparterre.ch, Fr. 15.—, € 12.—

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Endzeitstimmung auf dem Areal Altwiesen in Zürich-Schwamendingen: Die Siedlung aus den Fünfzigerjahren wird bald ersetzt. Themenheft von Hochparterre, Mai 2022 — Gemeinsam entwickeln — Inhalt

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Schwamendinger Entwicklungsepos Wie man 32 Parzellen gemeinsam mit 15 Parteien neu denkt, sie in acht Stücke aufteilt – und dabei alle glücklich macht. Eine Erzählung in vier Akten. Text: Deborah Fehlmann

Ausgangslage 2010: Albert Steiners Bebauungsplan aus den Fünfzigerjahren prägt die Bebauungsstruktur von Schwamendingen stark.

Prolog Nach den beiden Weltkriegen baute ein kühner Stadt­ baumeister in Zürich an einer gesunden, grünen Gross­ stadt. In Zukunft sollten 600 000 Zürcherinnen und Zür­ cher vor allem in locker gestreuten Zeilenbauten zwischen Wiesen und Bäumen leben. So hatte es Albert Steiner in den englischen ‹ new towns › gesehen, und in der gleichen Art zeichnete sein Amt fleissig Quartierbebauungs ­p läne. Deren Umsetzung verknüpfte Steiner mit staatli­chen Wohn­ bausubventionen. Wer mit Bundesgeldern bauen woll­te – damals vor allem Genossenschaften – , sollte dies nach sei­ nen Vorstellungen tun. So entstand in den Fünfzigerjahren auf einem trockengelegten Riedgebiet im Norden Zürichs auch die ‹ Gartenstadt Schwamendingen ›. Radiale Verkehrsachsen zielen auf das historische Dorfzentrum. Dazwischen verteilen sich Siedlungen mit meist dreigeschossigen Wohnzeilen in mehr oder weniger gestaltetem Grün. Damals wie heute bietet Schwamen­ din­gen auch Menschen mit kleinem Portemonnaie Wohn­ raum, doch der Erneuerungsdruck und die Ausnützungs­ reserven sind gross. Das zeigt sich zum Beispiel entlang der Dübendorfstrasse, der Hauptachse zwischen Bahn­ hof Stettbach und Schwamendinger Zentrum. Wo da noch kein grosser Neubau steht, ragen Baugespanne in den Himmel. Die Altbauten darunter wirken wie Puppenhäuser. Auf dem Areal Altwiesen, einem 30 000 Quadratme­ ter grossen Rechteck zwischen Dübendorf- und Altwiesen­ strasse, stehen noch keine Baugespanne, doch auch da kommt allmählich Endzeitstimmung auf. Bei vielen der dreissig Mehrfamilienhäuser bröckelt der Verputz, an den beiden Kindergartenpavillons wächst Moos, im Garten lie­ gen herrenlose Einkaufswagen und kaputte Fernsehgerä­ te. Immerhin: An der Ecke bei der Tramhaltestelle kann man sich die Haare schneiden und Motorräder flicken las­ sen oder Grabsteine kaufen. Grössere Investitionen liegen auf dem Areal schon länger zurück, denn die anfänglich 15 Grundeigentüme­ rinnen des Gevierts haben mehr als ein Jahrzehnt um sei­ 100 200 400 ne bauliche Ent­wicklung gerungen. Acht verkauften, eine Schwarzplan, Bestand, Mst. 1:10000 kam hinzu, sieben sind geblieben. Sie haben, zumindest ausBestand Zürcher Sicht, Pionier­arbeit in eigentümerübergrei­ fender Projektentwicklung geleistet. → N

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Dreigeschossige Wohnzeilen, Bäume und viel Abstandsgrün: Auf dem Areal Altwiesen sieht es aus wie vielerorts in Schwamendingen. Themenheft von Hochparterre, Mai 2022 — Gemeinsam entwickeln — Schwamendinger Entwicklungsepos

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Auf dem Areal verteilen sich heute 222 günstige Wohnungen auf 30 Häuser. Mit der Neubebauung wird sich die Nutzfläche mehr als verdoppeln.

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1. Akt: Die süsse Frucht der Verdichtung Paul Stocker freut sich, dass die erste Bauetappe naht. Hätte die Swiss Life als grösste Eigentümerin ihr Land im Rahmen einer Arealüberbauung erneuern können, wäre ein Teil der Fünfzigerjahrbauten wohl längst verschwun­ den. Als Projektleiter bei der Swiss Life gab Stocker dazu 2009 eine Machbarkeitsstudie in Auftrag. « Heute haben wir zwei bis drei Vollgeschosse. Mit einem Arealbonus hatten wir die Aussicht auf sieben », sagt er. « Doch unsere acht Parzellen waren stark zergliedert. Erschliessung und Parkierung liessen sich kaum lösen. » Der Immobilienrie­ se merkte, dass er die anderen Grundeigentümer braucht, um das Potenzial auszuschöpfen. Inzwischen ist Stocker pensioniert, aber noch immer Vorsitzender der ‹ Einfachen Gesellschaft Altwiesen- / Dü­ bendorfstrasse ›, die er 2010 mitbegründete und an de­ ren Erfolg er mit unerschütterlichem Optimismus glaubte. Die anderen Gesellschafter loben ihn als Motivator und einfühl­samen Zuhörer ; als denjenigen unter den Eigentü­ mern, der über die ganze Strecke den Karren zog. Das war nicht immer so. Als die Swiss Life den ande­ ren Eigentümern die Idee eines gemeinsamen Vorgehens erstmals präsentierte, liessen sich Immobilien­profis wie die CPV – die Pensionskasse von Coop – und die Wohnbau­ gesellschaft Habitat 8000 schnell überzeugen. Auch sie hatten Erneuerungsbedarf, und immerhin winkte ihnen eine Verdoppelung ihrer Nutzfläche. Einige Private aber fürchteten, die grossen Player könnten sie übervorteilen. « Natürlich argwöhnten einige, die Swiss Life wolle das ganze Areal aufkaufen. Stockers Zurückhaltung war in die­ sem Moment entscheidend », ist Men-Duri Gaudenz über­ zeugt. Der Raumplaner von der Planwerkstadt organisier­ te in Stockers Auftrag erste Informationsveranstaltungen. Nach dem zweiten Treffen war die einfache Gesellschaft mit sieben privaten und fünf institutionellen Mitgliedern gegründet. Mit ihrer Doppelrolle als Geschäftsführerin und Leiterin des Planungsteams übernahm die Planwerk­ stadt die Funktion der zentralen Drehscheibe und Pro­ zessgestalterin. Auch das Ziel der Gesellschaft stand be­ reits fest: gemeinsam eine qualitätsvolle Entwicklung des Areals ermöglichen, Nutzungsreserven ausschöpfen und die Erschliessung lösen. Wie der Weg dorthin aussehen würde, war indes noch völlig offen.

2. Akt: Die Krux mit dem Eigentum Felix Huber ist ein Anwalt, wie er im Buche steht. Alles an und um ihn wirkt kompetent und vertrauenswürdig ; von den weichen Ledersesseln im Besprechungszimmer über den makellosen Anzug bis zur gelassenen Sprache: « Das grösste Risiko bei dieser Projektentwicklung mit einer einfachen Gesellschaft war das Prinzip der Einstimmig­ keit. Wir wählten es, weil die geplanten Landgeschäfte einer öffentlichen Beurkundung bedurften und bis dahin alles offenblieb. Ein einziger Querulant hätte jederzeit al­ les zu Fall bringen können. » Tatsächlich begaben sich alle Gesellschafter, vom grossen Investor bis zum kleinen Pri­ vaten, in gegenseitige Abhängigkeit. Wer einen Entscheid nicht mittrug, konnte sein Land ohne Weiteres zurückzie­ hen und damit das ganze Vorhaben gefährden. Deshalb schwor der Baurechtsspezialist alle Beteiligten von Be­ ginn an auf Dialog, Kompromiss und Kooperation ein – und empfahl eine Rückfallebene: Scheiterte die einfache Ge­ sellschaft, sollten sich die erarbeiteten Grundlagen in ein amtliches Verfahren zur Baulanderschliessung – in Zürich Quartierplanverfahren genannt – überführen lassen. Dieses Szenario war durchaus realistisch, denn die Bedürfnisse lagen weit auseinander. Einige Liegenschaf­ ten waren gut unterhalten, andere hatten seit den Fünfzi­ gerjahren kaum einen Pinsel gesehen. Die Institutionellen wollten bald bauen, die Privaten hielten sich mehrheitlich zurück. Die meisten konnten sich eine Neuzuteilung ihres Grundstücks vorstellen, einzelne wollten an Ort und Stelle bleiben. Auch die vier Parteien, die der einfachen Gesell­ schaft nicht beigetreten waren, durften ihre Anliegen äus­ sern. Nebst drei Privaten war das die Stadt Zürich als Be­ sitzerin zweier Kindergärten. Aus diesen losen Fäden strickte die Planwerkstadt im Pingpong mit einem Kernteam aus Eigentümerinnen und Rechtsanwalt Huber ein Planungskonzept, das die kom­ plette Neubebauung des Areals in Etappen und über einen Zeithorizont von zehn bis zwanzig Jahren vorsah, aber nie­ manden zum Bauen zwang. Vielmehr würde künftig wie heute jeder sein Stück Land haben – nur eben mit mehr Ausnützung. Eine 15-mal-Win-win-Situation. Mitte 2012 war die Idee konkret: Basierend auf einem städtebaulichen Zielbild würde ein Richtprojekt städte­ bau­liche Qualität, Erschliessung und Etappierbarkeit nach­weisen. Anschliessend würden die baurechtlichen Belange des Areals in einen privaten Gestaltungsplan gegossen und mit einem privaten Landumlegungs- und Erschlies­sungsvertrag unterlegt. Dieser sollte sich an die Grundsätze von Quartierplänen anlehnen und im Falle des Scheiterns in ein amtliches Verfahren überführen lassen. Um den komplexen Prozess zu vereinfachen, schlug die Planwerkstadt einen sogenannt exekutiven Gestal­ tungsplan vor: Bewegen sich die Vorschriften im Rahmen dessen, was in einer Arealüberbauung zulässig ist, so darf die Regierung – hier der Zürcher Stadtrat – diesen ohne par­lamentarische Zustimmung festsetzen. Liefe alles glatt, könnte das Bauen 2017 beginnen. →

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3. Akt: Das Neuland im Planungsmeer « Als die Planung auf dem Areal begann, stand die Ver­ dichtungsdiskussion in der Stadt Zürich noch ziemlich am Anfang », sagt Simon Diggelmann, Projektleiter für Areal­ entwicklung und Planung beim Amt für Städtebau. « Das gewählte Vorgehen war für Zürich ein Novum. » Zwar hatte das Amt die Swiss Life von Anfang an er­ muntert, gemeinsam mit den anderen Eigentümerinnen zu planen. Sie empfahl ihr dafür aber das planerisch und ver­ fahrenstechnisch einfachere Instrument der Arealüber­ bauung. Der Haken daran: Die Arealbebauung wird im Rah­ men einer Baubewilligung begründet und lässt sich über höchstens zwei Jahre etappieren – für das Areal Altwiesen und seine Eigentümer kein brauchbarer Ansatz. Nach zähen Diskussionen willigte die Stadt ein, dem Vorhaben eine Chance zu geben, formulierte aber stren­ ge Bedingungen: Erst bei Vorliegen eines überzeugenden städtebaulichen Zielbildes würde sie für den Gestaltungs­ plan grünes Licht geben. Insbesondere sollte das Zielbild die hohen Qualitäten einer Arealbebauung erfüllen, die Wohn­qualitäten Schwamendingens neu interpretieren, dif­ferenzierte, öffentlich nutzbare Freiräume schaffen, sich sinnvoll etappieren lassen und die Erschliessung al­ ler Grundstücke im Perimeter nachweisen. Das städtische Baukollegium sollte über die Erfüllung dieser Qualitäts­ ansprüche wachen, da die Planwerkstadt anstelle eines quali­tätssichernden Konkurrenzverfahrens ein Workshop­ verfahren mit nur einem Planerteam vorschlug. Dies aus gutem Grund. Den zahlreichen Eigentümerinnen einen Jury­entscheid vor die Nase zu setzen, würde in einem De­ bakel enden, war die Planwerkstadt überzeugt. Erfolgver­ sprechender schien es, alle in den Entwurfsprozess einzu­ binden und gemeinsam an einer Lösung zu knobeln. Ab Januar 2014 – drei Jahre nach Projektstart – nahm die Projektentwicklung Altwiesen endlich auch räumliche Formen an. Mit Eigentümerinnen, Fachleuten aus Archi­ tektur und Landschaftsarchitektur sowie Vertreterinnen der Stadt entwarf und diskutierte das Planerteam aus Boltshauser Architekten und Müller Illien Landschafts­ architekten über drei Workshops hinweg städtebauliche Varianten. Unter der Moderation des Architekten Marc Angélil vertiefte und verwarf man Ideen, verschob Land­ anteile, lotete die angemessene Dichte aus. Das Resultat ist schnörkellos: Zehn lange Zeilenbauten stehen abwech­ selnd längs und senkrecht an den Arealrändern. Der Grün­ raum dazwischen teilt sich in vier ineinandergreifende Höfe. Das Plenum wollte die Zitrone nicht bis zum letzten Tropfen auspressen und einigte sich auf eine Ausnützung leicht unter dem erlaubten Maximum. Im September 2014 nahm das Projekt die entschei­ dende Hürde. Das Baukollegium befand sowohl den Städ­ tebau wie auch den Prozess als vorbildlich. Der Weg für den Gestaltungsplan war geebnet.

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4. Akt: Die heisse Schlacht am kalten Buffet Quartierpläne sind Felix Biasios Metier. Der Kultur­ ingenieur sitzt in der Geschäftsleitung von Gossweiler In­ genieure und ist das vorausschauende Gewissen, wenn es um die technische Umsetzung von städtebaulichen Ent­ würfen geht. Verfahrensfragen, Landumlegungen und Er­ schliessungsplanung beherrscht er aus dem Effeff. Doch bei der Planung für Altwiesen sei es anspruchsvoll gewe­ sen, all die verschiedenen Anliegen zu berücksichtigen und auch noch die Etappierung zu gewährleisten. « Dass wir bei der Verteilung des Bodens ans Limit kamen, sieht man den Parzellenformen an. Immerhin hat jeder Neubau wieder eigenen Boden unter dem Fundament. » Gossweiler Ingenieure und Rechtsanwalt Felix Huber schrieben den privaten Landumlegungs- und Erschlies­ sungsvertrag, während die Planwerkstadt das Richtpro­ jekt in einen Gestaltungsplan übersetzte. Der Baurecht­ ler schrieb die Vertragsurkunde, die Ingenieure lieferten die technische Dokumentation. Das Vertragswerk bildet die eigentliche Grundlage für den Gestaltungsplan, in­ dem es sämtliche privatrechtlichen Fragen zwischen den Eigentü­merinnen regelt. Wer kriegt wie viel Land ? Wer baut wann und wo ? Wer muss wen wie entschädigen ? Wer erhält welche Nutzungsrechte ? All das war kompliziert ge­ nug. Doch nun ging es um die Verteilung des Kuchens. Und so brach unter den Gesellschaftern das grosse Ringen aus. Als Auftakt verlangten jene mit Parzellen entlang der Dübendorfstrasse mehr Ausnützung für sich. Die jüngst revidierte Bau- und Zonenordnung definierte nämlich einen zwölf Meter breiten Streifen entlang der Hauptver­ kehrsachse als Gebiet mit erhöhter Ausnützung. Das städ­ tebauliche Projekt darum nochmals umzustossen, stand nicht zur Diskussion. Also musste man das Vorhandene umverteilen. Die Lösung lieferte die Planwerkstadt mit einem Vergleichsprojekt über die betroffenen Parzellen, aus dem sie einen Verteilschlüssel ableitete. Die Zusatz­ schleife kostete die Gemeinschaft ein halbes Jahr und die Grundeigentümer abseits der Dübendorfstrasse einen Teil ihres Kuchenstücks. Danach konnte es weitergehen. Die Diskussionen über Gestaltungsplan und Vertrag dauerten gut zwei Jahre. In der Regel ging es dabei fair zu, doch wenige Grundeigentümer nutzten die nötige Ein­ stimmigkeit aus, um Vorteile für sich herauszuschlagen. Dabei ging es nicht nur um Landverteilung, sondern auch um Vorauszahlungen für gemeinschaftliche Investitionen, die Einzelne nicht leisten wollten. Mehrmals beugte die Mehrheit sich Einzelinteressen, um die Einigkeit nicht zu gefährden. Später bilanzierten viele: Man wird erpressbar. Als sich die Einigung abzeichnete und das Baukolle­ gium Anfang 2018 seinen Segen zum Richtprojekt und zu den Prinzipien des Gestaltungsplans gab, ging ein letz­ ter Ruck durch die einfache Gesellschaft: Gleich vier Pri­ vate verkauften ihre Anteile, bis Ende 2021 folgten zwei weitere. Mit dem Verschwinden der Kleinen wuchsen die Grossen: Statt eines Drittels einer Liegenschaft baut die CPV nun einen kompletten Neubau. Auch aus den beiden Hälften der Habitat 8000 wurden zwei ganze Häuser. Und die Stiftung Einfach Wohnen kam als Eigentümerin hinzu. Die Flurbereinigung beeinflusste auch die Etappie­ rung. Anstelle einer sanften Transformation über viele Jahre folgen zwei grosse Etappen dicht aufeinander. Zu­ erst bauen Swiss Life, CPV und Habitat 8000 mit Bolts­ hauser Architekten sechs Häuser. Zeitgleich entsteht ein privates Wohn- und Geschäftshaus von hhplus Architek­ ten. Für die zweite Etappe veranstaltet die Stiftung Ein­ fach Wohnen auf ihrer und der Parzelle der Stadt Zürich einen Wettbewerb für zwei Wohnhäuser mit Kindergär­ ten. Einzig ein Haus in Besitz zweier Privater bleibt stehen.

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Eigentümerschaft S wiss Life Habitat 8000 CPV/CAP Pensionskasse Coop S tadt Zürich S tiftung Einfach Wohnen Pensionskasse ( anonym ) Firma ( anonym ) Private

Beteiligte des Workshop-Verfahrens Fachexperten Marc Angélil, Architektur und Städtebau (Moderation) Dieter Bachmann, Architektur und Städtebau André Schmid, Landschaftsarchitektur Julia Sulzer, Amt für Städtebau, Fachverantwortliche Architektur und Stadtraum Sigrun Rohde, Grün Stadt Zürich, Freiraumplanung Sachexperten alle Eigentümerinnen und Eigentümer

Epilog Ende 2021 begrüssen sich Paul Stocker, Simon Diggel­ mann und Men-Duri Gaudenz wie alte Freunde. Zufrieden blicken Eigentümer, Planer und Stadt auf das Erreichte. Diggelmann und Gaudenz sind aber enttäuscht, da nun vor allem grosse Bauträger das Areal in kurzer Zeit fast voll­ ständig umkrempeln – auch wegen der sozialen Struktu­ ren im Quartier. « Der Erfolg des Prozesses war, dass man all die verschiedenen Ansprüche erfüllte», sagt Diggel­ mann, « aber die Umsetzung schöpft das nicht aus. Der Ort hätte mehr Alt und Neu nebeneinander vertragen. » Die lange Planung ist ein Grund, warum viele bald bau­ en wollen. Ein anderer ist die veränderte Eigentümerstruk­ tur. Pensionskassen und Genossenschaften haben nun einmal ein grösseres Interesse an Investitionen als Priva­ te. Ging alles einfach viel zu lang ? « Länger als erwartet », sagt Stocker, « aber wir wollten den Weg ja gemeinsam ge­ hen. Die Zeit war nötig. » Nebst Zeit hat dieser Weg die Beteiligten auch viel Geld und Mühe gekostet. Nun, da viele auf der Zielgera­ de ausstiegen, kann man den enormen Aufwand hinterfra­ gen. Doch die nüchterne Bilanz sieht anders aus – Aus­ nützungspotenzial: praktisch ausgeschöpft. Städtebau und Freiraumqualität: locker erfüllt. Wertsteigerung: ver­ mutlich mehr, als sich viele erträumten. Stadtbaumeister Albert Steiner würde bei so viel Gemeinschaftssinn wohl staunen. Ironischerweise scheiterten seine hehren Zie­ le für Zürich schon nach wenigen Jahren am Schweizer Recht auf Privateigentum.

2010 Ausgangslage

2022 Altbestand mit neuen Eigentumsverhältnissen

2026 Nach Vollendung der ersten Etappe

Zukunft Endzustand

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Die Gesellschafter

Die Wohnbaugesellschaft « Von Beginn an glaubten wir an die Idee und wurden Teil der einfachen Gesellschaft. Mit so verschiedenen Grundeigentümern zu planen, ist wahnsinnig komplex – eine Her­ kules-Aufgabe ! Doch ich bin beeindruckt, wie viel Zeit und Herzblut alle Beteiligten über die Jahre in das Projekt gaben und wie weit man gemeinsam kommt. Ob es so ein­fa-­ cher war als über ein amtliches Verfahren ? Sicher ist man am Ende zufriedener, weil man die Entwicklung in den eigenen Händen hatte. » Philip Blum, Geschäftsführer Habitat 8000

Der Privatinvestor « Mit meinem Vater und meinem Bruder besitze ich ver­ schiedene Gastroliegenschaften in Zürich. Sie zu entwickeln, ist unsere Spezialität. Das Haus mit dem Res­ taurant Glattwies im Erdgeschoss und Wohnungen darüber übernahmen wir vor etwa zwanzig Jahren von der Brauerei Hürlimann und planten schon damals, zwei Geschosse aufzustocken. Dank der gemeinschaft­ lichen Planung kommen wir nun aber zu einem hoch­ wertigen Neubau. Dass wir, wie alle anderen Eigentüme­ rinnen, unsere Liegenschaft als Renditeobjekt halten, hat dem Planungsprozess sicher geholfen. So hatten alle genügend emotionale Distanz. »

Die Versicherung « Das Potenzial des Areals beschäftigte uns schon vor 2010. Die bauliche Qualität und die Wohnungsgrundrisse des Bestands aus den Fünfzigerjahren boten kaum Mög­ lichkeiten, die Ausnützungsreserven zu akti­ vieren. Nach einer Machbarkeitsstudie und ersten Gesprächen mit der Stadt regten wir ein gemeinsames Vorgehen an und gründeten mit den anderen Grundeigentü­ mern eine einfache Gesellschaft. Damals hätte ich nicht geglaubt, dass mich dieses Projekt zehn Jahre intensiv beschäftigen würde, bis zu meiner Pensionierung. Doch so ein Prozess braucht seine Zeit. Geduld ha­ ben und Geduld fordern, das war das Erfolgs­ rezept. » Paul Stocker, Projektleiter Swiss Life ( bis 2021 )

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Die Stiftung « 2018 gelang es uns, auf dem Areal Fuss zu fassen. Für uns eine interessante Option, denn so konnten wir in Verhandlungen mit der Immobilienbewirtschaftung der Stadt Zü-­ rich einsteigen, die hier zwei Kindergärten be­ treibt. Neben unserem eigenen Baufeld bebauen wir nun ihres im Baurecht. Die neu­ en Kindergärten im Erdgeschoss werden sie von uns mieten, darüber bieten wir Woh­ nungen an. Das Mietzinsniveau der Altbauten können wir nicht halten. Mit rund 1 600 Franken wird eine Vierzimmerwohnung aber immer noch preiswert sein. Unsere Stiftung will nämlich nicht nur ökologisch und sozial nachhaltige Leuchtturmprojekte bauen, sondern auch sehr günstigen Wohn­ raum schaffen. » Felix Bosshard, Stiftungsrat Stiftung Einfach Wohnen

Die Pensionskasse « Wir haben unsere Liegenschaft um das Jahr 2000 sa­ niert. Als die Swiss Life mit ihrer Idee auf uns zukam, gemeinsam zu planen, waren wir nicht unter Zeitdruck. Doch der Prozess dauerte länger als erwartet, und die Karten wurden neu gemischt. Wir erwarben die Liegen­ schaften zweier privater Eigentümer und bauen nun an einer anderen Stelle des Areals. Dahinter stecken lan­ ge Diskussionen und viel Fingerspitzengefühl. Es war spannend, die unterschiedlichen Interessen und das ver­ schiedene Know-how der Gesellschafter auszugleichen. Und es hat sich gelohnt: So viel Ausnützung hätten wir ohne gemeinsamen Gestaltungsplan nicht bekommen. » Danilo Zampieri, Leiter Immobilien CPV / CAP Pensionskasse Coop

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Bad Aibling und das Nagelhaus Statt zum Auftakt wurde die erste Etappe zum Grossprojekt. Es integriert den Klima­-Zeitgeist, collagiert Konstruktionsweisen und räumt mit dem Mythos der Gartenstadt auf. Text: Palle Petersen

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Grundriss Erdgeschoss mit Umgebung 1 / 2 / 5 Boltshauser Architekten / S wiss Life / Holzbau 3/ 7 Boltshauser Architekten / Habitat 8000 / Massivbau 4 hhplus / privat / Massivbau 6 Boltshauser Architekten / Coop Pensionskasse / Massivbau

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Seitdem sich Schwamendingen zum Verdichtungslabor Zürichs mausert, entwickelt sich eine zunehmend verklär­ te Sicht auf das Quartier. Schon das städtebauliche Leit­ bild von 2005 besingt den Grünteppich, die Durchlässig­ keit und den Baumbestand. Ein Wettbewerbsprogramm ums nächste wiederholt das Mantra des schönen Woh­ nens in der ‹ Gartenstadt ›. Woraufhin Grossvolumen in of­ fener Bauweise das Quartier umpflügen. « Mit der Gartenstadt von Ebenezer Howard hat Schwa­ mendingen wenig zu tun », schickt Landschaftsarchi­tek­ tin Rita Illien gleich vorweg. Tatsächlich träumte der bri­ tische Stadtplaner Howard 1898 von genossenschaftlichen Planstädten, sauber durch Grünstreifen getrennten Nut­ zungen, Mitbestimmung und lebenslangem Mietrecht. Der Überbauungsplan, den Stadtbaumeister Albert Steiner ein halbes Jahrhundert später für das einstige Arbeiterdorf Schwamendingen entwarf, ist eher Bebauungsmuster als Gesellschaftsutopie. Er legte die Basis für ein Wohnquar­ tier aus Siedlungen und Reihenhäusern, gebaut erst von Genossenschaften, dann von Privaten. Schmale Zeilen stehen auf grünen Wiesen mit locker verteilten Bäumen. Durchgrünt durchaus, spekulationsfrei weniger. Illien räumt nicht nur mit Begrifflichkeiten auf, son­ dern auch mit dem Mythos der Qualitäten Schwamendin­ gens: « Die Nachkriegsjahre waren arme Jahre, mit viel Arbeit und wenig Musse », sagt sie. Man habe schnell ge­ baut, schnell wachsende Bäume gepflanzt und später zu « Baumruinen » zerschnitten. Die Gemeinschaftsflächen seien heute verwaist, der Freiraum kaum zoniert und nutz­ bar. « Hübsche Wiesen », meint Illien, « aber niemand spielt oder grillt, sitzt herum oder gärtnert. » Für die dichte Wohnstadt von morgen ist solches Ab­ standsgrün zu wenig. Darum übernahmen Müller Illien Landschaftsarchitekten nur wenige Strukturmerk­male Schwamendingens – die frei pla­tzierten Bäume, das dich­ te Wegnetz, das fliessende Gelände ohne Mauern und dergleichen. Ansonsten ergänzten sie die Wiesen mit Schotter, Kraut- und Strauchschichten und zeichneten « Heckenzimmer » für Spielplätze und Feuerstellen, Gar­ tenbeete oder einen Hühnerstall. Das war im Jahr 2014, nach zwei Workshops mit damals 15 Eigentümerinnen. Vom Richtprojekt zum Gestaltungsplan Als das Projekt ins Rollen kam, entwarfen Boltshauser Architekten über ein Dutzend städtebauliche Varianten. Blockränder waren keine darunter, aber fast sämtliche Ansätze und Mischformen, die sich in den Bauvorhaben rundherum beobachten lassen – mächtige Zeilen und Käm­ me entlang der Strasse ( Graber Pulver und Zimmermann Sutter ), freistehende Türme ( Abraha Achermann ), dicke Klötze ( Enzmann Fischer ), verschränkte Winkel­körper ( Edelaar Mosayebi Inderbitzin ) oder geometrische Gross­ strukturen ( Knapkiewicz Fickert mit Miroslav Šik ). « Die Flexibilität der Eigentümer war zentral, die Etap­ pierbarkeit », blickt Roger Boltshauser zurück, « darum setzte sich ein Städtebau durch, der vom Bestand ausgeht und sich vor allem an der Bebauung im Norden orientiert. » Schlanke, sechsgeschossige Zeilenbauten mit Knick, mal senkrecht und mal quer zur Strasse, spannen Diagonal­ bezüge und Quartierwege auf. Unter zehn Häusern liegen drei Tiefgaragen mit insgesamt 244 Parkplätzen – das Mi­ Regelgrundriss exemplarisch, nimum der geltenden Bau). N Mst. 1:250und Zonenordnung ( BZO In seinen Grundzügen bildet der Gestaltungsplan das Richt­projekt ab und sichert dessen Qualitäten: die 0 Höfe 2.5 mit 5 geschwungener 12.5Durch­ ineinan­dergreifenden wegung und Nutzungsinseln, die klaren Vorzonen der Bau­ ten, ihre Schlankheit, ihre Knicke und ihre Abstufung in der Topografie, die von der Altwiesenstrasse Seite 18 →

Regelgeschoss Holzbau.

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Variante Massivbau

Laubengänge erschliessen die Wohnungen.

Kräftige Kopfbauten wenden sich von der Dübendorfstrasse ab.

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Balkongerüst Regelgeschosse Deckenplatten 15cm

Holzstützen Stahlunterzüge Holzunterzüge

20cm x 20cm x 600cm HEB 160 20cm x 20cm

- 1 und 3 OG mit Metallstiften in Stütze verschraubt - 2 und 4 OG seitlich an Stütze verschraubt

Konstruktionsaxonometrie Laubengang.

GSPublisherVersion 192.6.49.0

Lehmsteinwände und Betonunterzüge prägen die Wohnungen. Themenheft von Hochparterre, Mai 2022 — Gemeinsam entwickeln — Bad Aibling und das Nagelhaus

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Variante Holzbau

Keilförmige Treppenhäuser artikulieren den Gebäudeknick und überspielen den Höhensprung am Hang.

Das Holzskelett trägt Betonverbunddecken.

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Konstruktionsaxonometrie Laubengang.

Vor den Wohnungseingängen bilden die Laubengänge Vorzonen, dazwischen rücken sie von den Zimmern ab.

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→ bis zur Dübendorfstrasse fast sieben Meter ansteigt. Was man höchstens subtil bemerkt: Die BZO-Revision ab 2014 erklärte die Dübendorfstrasse zum « Gebiet mit er­ höhter Ausnützung in der ersten Bautiefe », was die Nutz­ fläche in einem 12-Meter-Streifen entlang der Strasse ver­ doppelte. « Wir wollten das aufnehmen, ohne die Strasse zuzumauern », sagt Roger Boltshauser, « deshalb rückten wir die Stirnseiten näher an den Parzellenrand, die Zwi­ schenräume wurden enger. Wir suchten ein Gleichgewicht zwischen dem offenen Siedlungsmuster und einem kraft­ vollen Auftritt zur Strasse. » Wie jeder andere lotet auch dieser Gestaltungsplan Pflichten und Freiheiten aus. Die Gemeinschaftsräume, die Spielbereiche und die Freizeitflächen in den Hecken­ zimmern sind quadratmeterscharf geregelt. Pflichtbauli­ nien sichern die strassenseitigen Stirnfassaden, enge Bau­felder die schlanken Zeilen. Natürlich sind Geschoss­ flächen und Bauhöhen fixiert. « Ansonsten ist das ein eher freiheitlicher Gestaltungsplan », findet Dieter Zum­ steg von der Planwerkstadt, die den Plan zeichnete und die Paragrafen schrieb. « Es gibt auch keine Architekturregeln zu Fensterproportionen, Materialisierung, Sockelbildung et cetera. Ausserdem wussten wir, dass das Baukollegium die erste Etappe begutachten würde, um das ‹ besonders gut  › zu gewährleisten, was das Planungs- und Baugesetz von Projekten mit Arealbonus verlangt. Darum konnten wir den Spielraum gross lassen. » Das Grossprojekt im Baukollegium Ebendiese Qualitätssicherung durch das Baukollegi­ um ist auch einer der Gründe, warum Boltshauser nun sechs Häuser auf einen Schlag baut. Allzu viele Köche wä­ ren bloss zum Risiko geworden. Boltshauser dagegen, der selbst im Baukollegium sitzt und in den Ausstand trat, ist ein Garant für die verlangte Qualität punkto Architektur und Städtebau. Ausserdem kannten sich Bauherrschaf­ ten und Architekt seit Jahren, ein Grossprojekt macht das Bauen und die Honorare günstiger, und mit der sinkenden Zahl der Eigentümerinnen wuchs das Interesse, Teil der ersten Etappe zu sein. Also plante man nach dem Gestal­ tungsplan gemeinsam weiter. Eine problematische Entwicklung ? « Aus Planersicht hätte ich liebend gern beobachtet, wie verschiedene Bü­ ros den Gestaltungsplan interpretieren », sagt Zum­steg, « aber das ist eine reine Kopfsache. Es ist keineswegs ge­ sagt, dass mehr Planer ein besseres Ganzes schaffen als wenige. » Roger Boltshauser selbst sieht die Sache locker: « Ein starker Auftakt ist wichtig, wie ein Stängel, an dem verschiedene Trauben hängen. Vielleicht hätten vier Bau­ ten auch genügt, aber nun sind es eben sechs, und der Stängel wird etwas kräftiger. » Tatsächlich interpretieren die Architekten das Kor­ sett des Gestaltungsplans überraschend. Sie rücken den Gebäudeknick in die Mitte der Bauten. Statt Zwei­spänner bilden turmartige Treppenhäuser an den Gelenk­stellen klare Adressen und erschliessen die Wohnungen über Lau­ bengänge. Auch auf der anderen Seite zeigt das Haus kei­ ne klare Kante, da verwischt eine Balkonschicht die harte Grenze zwischen Haus und Grün. Das vierte und fünfte Obergeschoss springen beidseits zurück, was die Häuser verfeinert und einen Bezug zu den flachen Nachbarn her­ stellt, denen die Schwamendinger Ersatzneubauwelle noch bevorsteht. Die Häuser an der Dübendorfstrasse variieren das typologische Muster: Da liegt der Knick azentrisch, wie in den Baufeldern des Gestaltungsplans vorgesehen. Die schmalen Schenkel formulieren Köpfe und drehen sich seitlich von der Strasse ab, zeigen sich dort geschlossener.

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1. Obergeschoss, Haus 6.

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Das Haus 6 ist ein Betonbau mit Photovoltaikfassaden.

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Das kommt einerseits dem Lärmschutz entgegen, schafft andererseits aber auch einen Dialog mit den Stirnseiten der senkrecht zur Strasse stehenden Zeilen. « Das Pro­ jekt zeigt, wie Qualität nicht nur unter Konkurrenz, son­ dern auch im Dialog entstehen kann », sagt Gian-­Marco Jenatsch, Leiter Architektur beim Amt für Städtebau und damit Geschäftsführer des Baukollegi­ums. Er erklärt die Verbesserungen nach der ersten Projektpräsentation im Mai 2021: In den Knicken führen die Wege nun durch die Häuser hindurch, verwebt sich die Erschliessung des Frei­ raums mit jener der Häuser. Die Stirnfassaden werden of­ fener, die Längsfassaden filigraner. An den Treppentür­ men wachsen Kletterpflanzen empor. Die Laubengänge rücken vor den Zimmern von den Fassaden ab, bekommen Sitznischen bei den Eingängen. Bei der zweiten Präsenta­ tion im November gab das Baukollegium grünes Licht. Jeder Bauherrin ihr Konstruktionsprinzip Boltshauser blättert durch die Präsentationsunterla­ gen. Prosaisch spricht er von « Vielfalt in der Einheit » und von « Bad Aibling in Schwamendingen ». Damit meint er drei Forschungshäuser des Münchner Architekten Flori­ an Nagler, die typologisch identisch, aber unterschied­ lich konstruiert sind. In Schwamendingen geht es freilich nicht um empirische Vergleiche, sondern um gestalteri­ sche Abwechslung und Strategien, um Bedürfnisse unter­ schiedlicher Bauherrschaften zu befriedigen. Nachhaltig wollten alle sein, mit flexiblen, kompakten Grundrissen, sparsamer Haustechnik und Photovoltaik-Gründach. Die Vielfalt nennt Boltshauser nach den Strategien der Nach­ haltigkeit klangvoll: Effizienz, Konsistenz und Suffizienz. Effizienz – das meint die Bauten der Swiss Life. Diese war offen für die Mehrkosten eines Holzelementbaus, ist ansonsten aber eher konventionell unterwegs, mit hohem Standard und Komfortlüftung. Konsistenz – das meint die Bauten von CPV, der Pensionskasse von Coop, die auf eine treibhausgasarme Konstruktion aus Lehmsteinwänden und Holzdecken setzt. Suffizienz – das meint die Bauten der Habitat 8000. « Diese spart gerne CO2, aber noch lie­ ber Geld für tiefe Mieten », sagt der Architekt, « es gibt da­ rum keine Lüftung, keinen Unterlagsboden und kaum Ver­ putz. Die Schotten könnten hier aber betoniert werden. » Und dann ist da das Haus eines privaten Eigentümers ganz im Südwesten. Es ist auch Teil der ersten Etappe, aber geplant von hhplus Architekten. Typologisch ist es ein Sonderfall. Der kräftige Kopfbau ist der Auftakt des Areals und knüpft nicht an die schlanken Zeilen im Nor­

den an, sondern an die Schule und das Schwimmbad im Süden sowie die Punktbauten im Westen. Über den Gewer­ beräumen an der Tramstation liegen Geschosswohnun­ gen, ansonsten geben geräumige Maiso­netten mit dop­ pelgeschossigen Wohnbereichen und luftigen Loggien Antwort auf Boltshausers Laubengänge. Konstruktiv han­ delt es sich um einen umnutzbaren Stützen-­Platten-Bau aus Beton mit einer Fassade aus Photovoltaik-Elementen. Die Stiftung Einfach Wohnen hat den Wettbewerb für ihre zwei Häuser schon ausgeschrieben. Die Vorprojekt­ pläne der ersten Etappe sind Teil der Unterlagen, und es liegt nahe, an die Strukturprinzipien anzuknüpfen. Zudem wünscht sie viel Photovoltaik, nicht nur auf dem Dach, auch an der Fassade. « Neben dem muralen Hof im Osten und dem hölzernen Hof in der Mitte könnte im Westen ein photo­ voltaischer Hof entstehen », sagt Patrizia Räbsamen von hhplus. Und am Ende auch ein wenig Vielfalt in der Auto­ renschaft. Zum Guten oder Schlechten. Wer weiss. Die grüne Verdichtung und das Nagelhaus Wie üblich verlangte das Baukollegium ein durchge­ hendes Freiraumkonzept im Rahmen der ersten Etappe. Nach der Präsentation im Mai 2021 wurden die Bäume mehr, Dächer und Vorplätze der Häuser grüner, die Durch­ we­gung zum dichten Netz aus Quartierwegen, die quer durch das Areal führen, und Binnenwegen, die sie verbin­ den. Bis zur Baueingabe im Sommer gibt es noch viel zu tun. Abfall, Beleuchtung, Sitzplätze und Veloparking wol­ len geplant sein. Die « Heckenzimmer » brauchen eine for­ male Idee, konkrete Orte und vor allem Nutzungen. Dane­ ben spricht Rita Illien von Biodiversität und Stadtnatur. « Unser Ziel sind wenig Bodenversiegelung, mehr Pflan­ zen, mehr Nischen für Vögel, Insekten, Kriechtiere und Nager », sagt sie. « Vielleicht spaziert dann sogar der Dachs durch die Siedlung. Wir nennen das grüne Verdichtung. » Und während alldem, während in wenigen Jahren neun von zehn Häusern entstehen und Wiesen wilder Stadtna­ tur weichen, bleibt ein Häuschen stehen. Die Mieter wun­ dern sich vielleicht, warum aus der einstigen Idee nichts wurde, das Geviert schrittweise zu entwickeln. Sie bekom­ men neue Nachbarn, die sich neue Wohnungen leisten können. Vielleicht wird sich die eine oder andere Passan­ tin über das ‹ Nagelhaus › wundern. Und vermutlich dauert es nicht lange, bis auch dieses verschwunden ist. Doch auch wenn die Umsetzung fast eine Tabula rasa ist: Ohne den langen Prozess würde die neue Struktur kaum so still an das erinnern, was dann längst vergangen ist.

Schema Landschaft Baumbestand neue Bäume Nutzungsinseln Erschliessung

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Acht Punkte zum gemeinsamen Entwickeln Was man haben sollte Eine Frucht am Baum Der Ausnützungsbonus ist die süsse Frucht am Baum der Projektentwicklung im zersplitterten Eigentum. Nur wer ein Stück davon in Aussicht hat, hilft bei der Ernte mit. Wer zusammen planen will, braucht zudem ein ge­meinsames Ziel. Es lohnt sich, etwas Zeit und Geld in grundsätzliche Abklärungen zu investieren: Welche zeitlichen, baulichen und finanziellen Interessen stehen im Raum ? Welche An­ sprüche widersprechen sich ? Sind die Partner in spe über­ haupt zum gemeinsamen Weg bereit ? Klarheit hilft bei der Wahl des Vorgehens und der Instrumente. Oder sie er­ leichtert den vorzeitigen Übungsabbruch.

Eine verlässliche Sparringspartnerin Die Gemeinde ist die wichtigste Partnerin. Sie ermöglicht Prozesse, sichert Qualitäten und hilft bei der Wahl geeig­ neter Planungsinstrumente. Dafür braucht sie Know-how, geeignete Strukturen und Ressourcen. Kleine, wenig in­ terdisziplinär aufgestellte Gemeinden können eine sol­ che Begleitung möglicherweise nicht stemmen. Sie sind gut beraten, sich das nötige Know-how einzukaufen. Dank kompetenten Planern und qualitätssichernden Fachkom­ missionen werden sie selbst letztlich zufriedener auf den Planungsprozess und das Resultat blicken.

Zeit und Geduld Die Immobilienentwicklerin ist mit Landumlegung, Städ­ tebaukonzepten und Ausnützungsziffern vertraut, die Er­ bengemeinschaft weniger. Die Pensionskasse investiert das Rentengeld Tausender, der Privateigentümerin ist ihr Haus die eigene Altersvorsorge. Trotz aller Unterschiede haben alle bei der Planung gleich lange Spiesse. Jedes An­ liegen verdient den gleichen Ernst, denn Unzufriedenheit ist fatal. Kurzum: Vertrauen schaffen, diskutieren, erklä­ ren, reflektieren und noch einmal diskutieren – all das kos­ tet viel Zeit und Geduld. Beides muss man bei so komple­ xen Prozessen aber ohnehin mitbringen, ob man nun auf freiwillige Kooperation oder auf ein amtliches Verfahren zur Baulanderschliessung setzt.

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Was man tun sollte Strukturen und Führung etablieren Beim Planungsbüro laufen alle Fäden zusammen. Es ge­ staltet den gesamten Prozess, berücksichtigt die Ansprü­ che der Eigentümerinnen genauso wie die der Behörden, ver­mittelt, zeigt Lösungswege auf und sichert Qualitäten. Am besten arbeitet das Planungsbüro Hand in Hand mit einer geschickten Führungsperson auf der Eigentümersei­ te. Zusammen integrieren sie alle Eigentümerinnen, moti­ vieren, vermitteln und schlichten, schmieden Kompromis­ se – und sichern damit die Einigkeit. Alle ins Boot holen Es ist gut möglich, dass nicht alle Eigentümerinnen von Beginn an für die Idee einer gemeinsamen Planung bren­ nen. Die Skeptikerinnen, die Desinteressierten und die Eigenbrötler sollte man nicht ausgrenzen, sondern ein­ beziehen. Wer alle informiert, hält Türen offen und baut Wider­stände ab. Ziemlich sicher wollen auch die Zögerer früher oder später mitreden und sich der Gemeinschaft anschliessen. Oder sie entscheiden sich zum Verkauf. Wer will schon allein auf seiner Parzelle sitzenbleiben, wäh­ rend rundherum ein neuer Stadtteil entsteht ? Unabhängigkeit schaffen Bedürfnisse und Zielvorstellungen können weit auseinan­ derklaffen. Darum ist der Zeithorizont wichtig: Wer gerade erst renoviert hat, will nicht gleich neu bauen. Wer sowie­ so sanieren muss, legt gerne bald los. Darum sichern gute Planungsinstrumente die gemeinsamen Ziele punkto Aus­ nützung und Qualität ebenso wie die Freiheiten der Einzel­ nen. Sie sollen selbst entscheiden, ob und wann, was und mit wem sie bauen. Kompromisse eingehen und fordern Das Schöne an der Gemeinschaft ist, dass alle am Ende mehr bekommen. Statt um jeden Quadratmeter und Fran­ ken erbittert zu streiten, lohnt sich der Blick auf die Bi­ lanz: Was habe ich jetzt und was kriege ich künftig ? In die­ sem Licht betrachtet, fallen viele Kompromisse leichter. Zwischenmenschliches kultivieren Missverständnisse, Vorbehalte und Zweifel sind vorpro­ grammiert. Planen ist menschlich. Ein gemeinsames Es­ sen nach der Arbeit oder ein Schwatz nach der Sitzung schaffen Verständnis und bauen Vertrauen auf. Im Ideal­ fall bleibt die Gruppe keine Ansammlung von Einzelkämp­ ferinnen, sondern wächst zum starken Verbund zusam­ men, der die Hürden auf dem Weg gemeinsam meistert.

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Christina Schumacher ( 55 ) Die Soziologin ist Professorin am Institut Architektur der Fachhochschule Nordwestschweiz, Schwerpunkt Architektur-, Wohn- und Siedlungssoziologie.

André Odermatt ( 62 ) Der Geograf ist seit 2010 Stadtrat und Vorsteher des Hochbaudepartements der Stadt Zürich.

« Die Anforderungen wachsen » In Zürich werden zahlreiche Areale baulich verdichtet. Welche Schlüsse die Planung Altwiesen dafür zulässt, diskutieren Soziologin Christina Schumacher und Stadtrat André Odermatt. Interview: Rahel Marti

Bei der Planung Altwiesen gelang es einer gemischten Eigentümerschaft, sich zu einem gemeinsamen Projekt durchzuringen. Was ist daran exemplarisch ? Christina Schumacher: Bemerkenswert ist, dass die hetero­ gene Gruppe aus Eigentümerinnen und Eigentümern bis zum Ende zusammenblieb und verhandelte. Es macht deut­ lich, dass Planung immer auch ein sozialer Prozess ist. Auch wenn sich die Gewichte in der Gruppe akzentuierten, bleibt das Projekt eine gemeinsame Lösung. André Odermatt: Ich möchte zwei Errungenschaften hervor­ heben. Erstens hat die Planung die Anliegen einer Vielzahl von Grundeigentümerinnen und Grundeigentümern nicht nur artikuliert, sondern auch unter einen Hut gebracht. Und zweitens konnten wir seitens Stadt zentrale Krite­ rien verbindlich einbringen, namentlich die sozialverträg­ liche Etappierung und den Erhalt der Gartenstadt-Identi­ tät. Beides setzt Massstäbe. Die Etappierung sichert hier ein spezielles Instrument: ein exekutiver Gestaltungsplan. Dazu genügt das Ja des Stadtrats. Ein Instrument mit Zukunft für vergleichbare Areale mit einer gemischten Eigentümerschaft ? André Odermatt: Es braucht eine fallweise Betrachtung: Die Planung Altwiesen weicht nicht von der Grundordnung ab, daher war dieses Instrument das richtige. Es ist durchaus zukunftsfähig, denn die Vorteile eines Gestaltungsplans – die planerische, bauliche Qualitätssicherung und die fest­ gelegten Etappen – sind gegenüber einem normalen Ge­ staltungsplan unverändert. Der Städtebau entstand in einem Workshop-Verfahren, das Baukollegium beurteilte das Projekt. Hätte ein offener, anonymer Wettbewerb die Anordnung überfordert ?

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Mit dem Workshop-Verfahren haben wir im Sinn einer Testplanung die Möglichkeiten ausgelotet und die Grundlage für die Planungsinstrumente gelegt – unter Einbezug der relevanten Stakeholder. Dieses Sich-­Finden war zentral und hat ein solides Fundament geschaffen. Nun, da der Gestaltungsplan und der private Landumle­ gungs- und Erschliessungsvertrag vorliegen, hätte man einen Architekturwettbewerb machen können. Das ist aber nur einer von verschiedenen Wegen, die Bauherr­ schaften offenstehen. In diesem Fall haben sich die Be­ teiligten für den Weg über das Baukollegium entschieden. Christina Schumacher: Natürlich überzeugt der offene Wett­ bewerb in vielerlei Hinsicht. Doch erleichterte hier das konkrete, personifizierte Gegenüber von Landschafts­ architektin und Architekt das Sich-Finden sicherlich. Ap­ ropos sozialer Prozess: Die Menschen, die früher auf dem Areal wohnten, kommen in den Planungsunterlagen und in diesem Heft kaum vor. Teilen Sie diese Einschätzung ? André Odermatt: Das ist mir auch aufgefallen. In den Stadt­ ratsbeschlüssen finden sich allerdings Fragen dazu, was mit den bisherigen Bewohnerinnen passiert. Was entschied der Stadtrat dazu ? André Odermatt: Seit zwei Jahren erarbeiten wir bei grösse­ ren Planungsvorhaben zusammen mit der Stadtentwick­ lung Zürich eine Sozialraumanalyse. Wir erheben Daten, um zu erkennen, wie sich die Bevölkerung vor Ort zusam­ mensetzt, sozioökonomisch und demografisch. Unser Ziel ist einzufordern und durchzusetzen, dass grössere Umoder Neubauten von Arealen möglichst sozialverträglich vor sich gehen. Das heisst zum Beispiel, dass die Bevölke­ rung nicht komplett ausgetauscht werden soll. André Odermatt:

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Hat man auf dem Areal Altwiesen eine solche Analyse auch durchgeführt ? André Odermatt: Nein, diese Planung hat noch vor der ver­ bindlichen Etablierung dieser Analysen stattgefunden. Aber mit der Stiftung Einfach Wohnen und mit der Ge­ sellschaft Habitat 8000 sind zwei Bauherrschaften betei­ ligt, die preisgünstige Wohnungen anbieten. Deren Zahl steigt im Vergleich zu heute. Das sorgt für den Erhalt einer gewissen sozialen Durchmischung. Gemäss kommunalem Richtplan werden bald zahlreiche Areale umgepflügt. Was sind die sozialen Folgen ? Christina Schumacher: Es braucht – analog zur Umweltver­ träglichkeitsprüfung – eine Sozialverträglichkeitsprüfung. André Odermatt: Das mag zwar gut klingen, aber uns fehlt die übergeordnete gesetzliche Grundlage dafür. Die So­ zialraumanalyse macht die Stadt in Eigenregie. So kom­ men wir mit Bauherren oder Eigentümerinnen in den Dia­ log, was viel bewirken kann. Gleichzeitig ist die Analyse aber kein offizieller Teil des Baubewilligungsverfahrens. Und von manchen Vorhaben erfahren wir erst spät, wenn wichtige Entscheide bereits gefällt worden sind. Christina Schumacher: Das Problem des späten Einbezugs hat die Stadt aber bei allen Reglementen – auch bei einer Umweltverträglichkeitsprüfung. André Odermatt: Diese ist ab einer gewissen Projektgrösse aber vorgeschrieben und damit Pflicht – eine Sozialver­ träglichkeitsprüfung nicht. Heute liegt es allein im Verant­ wortungsgefühl der Eigentümerschaft, sozial zu handeln. So stossend es ist, aber die Sozialpflichtigkeit des Eigen­ tums ist in der Schweiz nicht gegeben. Christina Schumacher: Dass die Stadt die Sozialverträglich­ keit thematisiert, ist gut und recht. Doch man muss sie auch verbindlich vorgeben und kontrollieren. André Odermatt: Bei privaten Bauherrschaften fehlen uns dafür schlicht die rechtlichen Mittel. Ich will da nieman­ dem etwas vormachen. Wir haben keine Grundlage dafür, um private Projekte, die sozial nicht genügen, zurückzu­ weisen. Es gilt das Recht, innerhalb der gültigen, demo­ kratisch legitimierten Bauordnung zu bauen. Für Verände­ rungen braucht es Anpassungen am Bodenrecht und am Mietrecht auf nationaler Ebene. Dort müssten wir die So­ zialpflichtigkeit installieren. Darüber müssen wir sicher weiter nachdenken und auch politisch auf den entspre­ chenden Ebenen aktiv werden. Christina Schumacher: Dass nachbarschaftliche Verhältnis­ se möglichst nicht gekappt werden, müsste auch im Inte­ resse der Stadt liegen, die einiges in den Aufbau sozialer Quartierstrukturen oder die Integration von Migrantinnen und Migranten investiert, etwa im Bereich Schule und Be­ treuung. Welche anderen Mittel hat und nutzt die Stadt, um eine durchmischte Entwicklung zu fördern und soziale Umwälzungen zu begrenzen ? André Odermatt: Da gibt es einige Wege. Etwa die erwähnte Etappierung: So können Mietende auf demselben Areal umziehen. Genossenschaften gehen oft so vor. Wir ermun­ tern die Bauträger auch zu Wohnungsbörsen im Quartier, unterstützen sie bei der Organisation und geben, wenn möglich, freie städtische Wohnungen in diese Börse – da sind wir aktuell in der Pilotphase. Welches Ziel setzen Sie sich persönlich als sozial­ demokratischer Bauvorsteher ? André Odermatt: Wohnen in Zürich soll für alle erschwing­ lich bleiben. Das ist meine Vision. Und diese ist näher bei Wien als bei London, Paris oder New York. Ist diese Vision auf dem Areal Altwiesen erfüllt ? André Odermatt: Mehr preisgünstige Wohnungen als zuvor, ein Kindergarten sowie ein geteilter, vielseitig nutzbarer Aussenraum: Ja, für mich ist das Projekt ein Vorbild.

Christina Schumacher: Unter den gegebenen Umständen würde ich auch sagen: Man hat das Bestmögliche heraus­ geholt. Um das Erreichte zu verstetigen, ist aber ein aus­ formulierter Leistungskatalog nötig, der für jede Projekt­ entwicklung gilt. Wie wird geplant und umgebaut, wer kann auf dem Areal wohnen, welche nachbarschaftlichen Quali­ täten bietet es ? Dazu braucht es messbare Kriterien. Aus meiner Sicht hat die Stadt da eine Bringschuld. André Odermatt: Da rennen Sie doch offene Türen ein. Die städtische Siedlung Werdwies in der Grünau etwa hat die Stadt evaluiert und festgestellt, dass sie für die erwünsch­ te Stabilität im Quartier sorgt. Und seit zwei Jahren ver­ pflichten wir uns wie gesagt intern zur Sozialraumanalyse mit der Stadtentwicklung. Braucht es für eine sozialere Planung und Architektur eine neue Generation ? Christina Schumacher: Es braucht, ob in der Ausbildung oder im professionellen Kontext, das Verständnis, dass inter­ disziplinäre Zusammenarbeit nicht additiv, sondern ko­ operativ funktioniert. Faktoren wie Sozialverträglichkeit und Klimaschutz müssen entwurfstreibend sein. Wir soll­ ten darauf achten, nicht aus Pflicht und Moral, sondern weil sie die Projekte besser machen. Geht die Stadtverwaltung nach dem Debakel mit der Überbauung Brunaupark selbst auch umsichtiger vor ? Dort hatte das Amt für Städtebau mehrere Jahre mit der Bauherrschaft Credit Suisse geplant, ohne die Zukunft der tausend Bewohnerinnen zu thematisieren. André Odermatt: Ich bezeichne diese Planung nicht als De­ bakel. Aber wir haben unsere Lehren daraus gezogen – eine ist das sozialräumliche Monitoring. Dieses geht aber auch auf die Einhausung der Autobahn in Schwamendin­ gen zurück und auf andere grosse private Erneuerungs­ projekte. Deren Massstäbe haben sich in den letzten Jah­ ren deutlich vergrössert. Was bedeutet dies für die voraussichtlich zahlreichen Arealentwicklungen der kommenden Jahre ? André Odermatt: Das sozialräumliche Monitoring wird zu einem festen Teil des Planungsprozederes. Ebenso wie das Netto-Null-Ziel. Die Anforderungen wachsen, und sie wachsen auch mit der Grösse eines Areals. Die Tendenz, dass institutionelle Bauherrschaften Parzellen aufkaufen, herrscht in der ganzen Stadt vor. Die Planung Altwiesen starteten zwar alle Eigen­ tümerinnen gemeinsam, aber letztlich blieben wenige grosse übrig. Welche Vorteile haben Projekte grös-­ serer Eigentümer – und welche Nachteile ? Christina Schumacher: Nach Lehrbuch müsste ich sagen: Eine kleinteilige Eigentumsstruktur ist die Grundlage einer vielfältigen Stadtentwicklung. Sie wirkt auch archi­ tektonischer Monotonie entgegen. Beim Areal Altwiesen sehe ich den Vorteil, den die Grösse der Beteiligten brach­ te, vor allem im Aussenraum. Er wird dank des gemein­ samen Vorgehens zusammenhängend, differenziert und hochwertig gestaltet. André Odermatt: Es muss ja nicht so sein, dass die Eigentü­ merinnen immer grösser werden – es gibt in Zürich auch Beispiele mit kleinen Strukturen. Aber die Situation von Besitzern kleiner Einheiten ist nicht immer einfach. Viele sind im Pensionsalter. Wenn es das eigene Projekt mit sich bringt, dass man plötzlich sechs Wohnungen statt drei be­ sitzt – traut man sich das zu ? Wagt man es, ein lukratives Kaufangebot auszuschlagen, oder denkt man dabei an die eigenen Erben ? Solche biografischen Fragen prägen eine Planung, und sie verschwinden nicht, wenn man das Pro­ zedere vereinheitlicht, etwa nach dem Vorbild Altwiesen. Jedes Verfahren wird anders sein, geprägt durch die jewei­ lige Eigentümerschaft.

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Gemeinsam entwickeln 2010 beschlossen 15 Grundeigentümerinnen, die bauliche Zukunft ihres Areals in ZürichSchwamendingen gemeinsam in die Hand zu nehmen. Elf Jahre später sind sie am Ziel. Ein Heft über die langen und verworrenen Wege der Projektentwicklung im zersplitterten Eigentum, über Erwartetes und Erreichtes, städtebauliche Qualitäten und kollektive Freiräume. Und ein gutes Beispiel, wie sich teils grundverschiedene Ansprüche von Eigentümerinnen mit Qualitätsansprüchen der öffentlichen Hand unter einen Hut bringen lassen. BOLTSHAUSER ARCH ITEKTEN

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Hochparterre X / 18 — Titel Artikel


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