Her mit der Vielfalt!

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Themenheft von Hochparterre, August 2024

Her mit der Vielfalt !

Landschaft und Biodiversität gehören zusammen. Was das für Planung und Gestaltung heisst, zeigen Beispiele aus Siedlung, Landwirtschaft und Wildnis.

Pilzmyzel auf Holz, Grüningen ZH, Januar 2024.
Foto Cover: Trichaptum abietinum ( Violetter Lederporling ) und Phlebia tremellosa ( Gallertfleischiger Fältling ), Grüningen ZH, Oktober 2022.

Inhalt

4 Langeweile darf nicht sein

Aufruf zu mehr Abwechslung in der Landschaft.

6 Der Siedlungsraum als Hort der Biodiversität

Viele Beispiele aus Stadt, Agglomeration und Dorf.

10 Wollgras und Elefantenfisch

Eine Wanderung am Schamserberg.

12 Vielfalt ist produktiv

Zwei Hofberichte und eine Studie

14 Warum Biodiversität wichtig ist Sieben Punkte.

Heftvernissage und Podium Biodiversität ist ein Gestaltungsthema. Geht es dabei nur darum, wo Asthaufen, Kiesflächen und Mauerritzen sind ? Muss man biodiversitätsgerechte Planung sehen ? Es geht um Form und Funktion, Natur und Kultur. Nach einer Einführung in das Thema durch Rahel Marti diskutieren Fachleute aus Landschaftsarchitektur und benachbarten Disziplinen unter der Leitung von Maarit Ströbele. Die Veranstaltung wird unterstützt von der Hamasil­Stiftung. Dienstag, 27. August , 18:30 Uhr, Kulturpark, Pfingstweidstrasse 16, Zürich www.hochparterre.ch / veranstaltungen

Themenfokus

Die Inhalte dieses Hefts erscheinen auch als Themenfokus auf der Website von Hochparterre: biodiversitaet.hochparterre.ch

Editorial

Gemeinsam vielfältige Natur gestalten

Am 22. September geht es an die Urne. Die Biodiversitätsinitiative will den Schutz unserer Lebensgrundlagen besser in der Verfassung verankern. Das Natur- und Heimatschutzgesetz weist hier aktuell eine Lücke auf – auch weil die Bedeutung der Biodiversität erst mit ihrem zunehmenden Verlust erkannt wurde. Das muss sich ändern.

Die Geschichte der Biodiversitätsinitiative nahm viele Wendungen. 2019 starteten die Unterschriftensammlungen für die Biodiversitäts- und Landschaftsinitiativen. Trotz der Corona-Pandemie kamen die Unterschriften bis 2020 zusammen, und Parlament und Bundesrat hatten sich also mit der Materie zu befassen. Zur Landschaftsinitiative gab es einen indirekten Gegenvorschlag, und sie wurde zurückgezogen. Nicht so bei der Initiative zur Biodiversität. Nach mehreren Runden scheiterte 2023 der indirekte Gegenvorschlag. Nun wird abgestimmt.

Biodiversität ist also Politik. Die Initiative verlangt die nötigen Flächen und finanziellen Mittel für den Erhalt der Lebensgrundlagen und nimmt Bund und Kantone endlich in die Pflicht. Sie schont Natur, abwechslungsreiche Landschaften und schöne Ortsbilder auch ausserhalb von Schutzgebieten. Biodiversität ist aber auch ein Gestaltungsthema. Die Prämisse dieses Hefts lautet: Die Natur muss vielfältig bleiben, sonst gefährden wir unsere Zukunft. Was auch immer in der kleinräumigen Schweiz geplant wird: Biodiversität gehört mitgedacht. Wie das konkret geht, zeigt das Heft anhand von vielen Projekten im Siedlungsraum, in der Landwirtschaft und in den Bergen, wo Tourismus und Energiegewinnung mit der Wildnis konkurrieren – o der mit ihr zusammenkommen ? Das Schlussbouquet bilden sieben Punkte zur Gestaltung – für eine lustvolle und abwechslungsreiche Baukultur, bei der auch mal Zeit für das Abwarten und einen Plausch mit dem pflanzenkundigen Abwart bleibt. Das Themenheft ist in Zusammenarbeit mit dem Bund Schweizer Landschaftsarchitektinnen und Landschaftsarchitekten BSLA entstanden. Maarit Ströbele

Die Fotos in diesem Heft Überall wuchert es in allen Farben und Formen. Alois Iten war schon als Kind fasziniert von der Welt der Pilze. Doch erst seit der Pensionierung findet er Zeit, sich intensiv damit zu beschäftigen. Er ist Mitglied in zwei Pilzvereinen und seit 2018 Pilzkontrolleur. Fast täglich im Wald unterwegs, dokumentiert er seine Funde fotografisch, vorzugsweise in ihrem natürlichen Habitat.

Impressum

Verlag Hochparterre AG Adressen Ausstellungsstrasse 25, CH-8005 Zürich, Telefon +41 44 444 28 88, www.hochparterre.ch, verlag@hochparterre.ch, redaktion@hochparterre.ch Geschäftsleitung Rahel Marti Redaktionsleitung Axel Simon Leitung Themenhefte Roderick Hönig Konzept und Redaktion Maarit Ströbele Fotografie Alois Iten Art Direction Antje Reineck Layout David Bühler Produktion Linda Malzacher Korrektorat Rieke Krüger Lithografie Team media, Gurtnellen Druck Stämpfli AG, Bern Herausgeber Hochparterre und Bund Schweizer Landschaftsarchitektinnen und Landschaftsarchitekten BSLA hochparterre.ch / biodiversitaet Themenheft bestellen ( Fr. 15.—, € 12.— ) und als E-Paper lesen

Langeweile darf nicht sein

Monotone Landschaften müssen wieder vielfältiger werden. Die Wissenschaft ruft dazu auf, den Verlust der Biodiversität aufzuhalten. Das heisst anpacken – und abwarten.

Die Landschaft ist weniger abwechslungsreich als früher. Das trifft, wie Klaus C. Ewald und Gregor Klaus vor bald 20 Jahren im Buch ‹ Die ausgewe chselte Landschaft › feststellten, auf den grossen Massstab zu. Vielerorts wurde es monotoner, überwucherte Ecken und spontanes Grün verschwanden. Und auch im Kleinen gibt es mehr Langeweile: Betrachtet man die Landschaft mit dem Elektronenmikroskop, wurde sie eintöniger. Der Grund: Gibt es weniger Orte mit vielen verschiedenen Tier- und Pflanzenarten, ist auch die genetische Vielfalt der Natur geringer. Biodiversitätsverlust bedeutet Monotoniegewinn.

Weltweit – und die Schweiz ist da keine Ausnahme –nimmt die Biodiversität seit der Industrialisierung ab siehe Grafik ‹ Global Living Planet Index ›. Das ist ein Problem, denn eine möglichst grosse Abwechslung ist die Grundlage des Lebens auf der Erde. Die Existenz vieler verschiedener Arten von Pflanzen, Tieren und anderen Organismen macht die Natur robuster. Das dient auch den Menschen, die ohne natürliche Ressourcen nicht sein können. Ökosysteme leisten vieles. Sie versorgen uns mit frischer Luft, Küh-

le, Feuchtigkeit, Nahrung. Die Menschen als grosse Naturbestimmer der heutigen Zeit müssen das Heft in die Hand nehmen und dazu beitragen, dass die natürliche Vielfalt nicht weiter abnimmt.

Was ist Biodiversität ?

Ursprünglich ein B egriff aus dem Naturschutz, bedeutete Biodiversität nicht viel mehr als biologische Vielfalt. Daraus entwickelte sich eine eigene Forschungsrichtung der Biologie. Im 18. Jahrhundert b egann man mit dem Zählen und Bestimmen der Arten, um Ordnung in das Chaos zu bringen. Man stellte fest, dass es Orte mit vielen und solche mit wenigen Arten gibt und dass diese Arten miteinander in Wechselbeziehungen stehen. Die Forschenden beobachteten, dass sich die Zusammensetzung und die Vielfalt der Arten dynamisch verändern, oftmals hin zu grösserer Monotonie und Langeweile. Seit den 1990erJahren wurden die Analysemethoden der Genetik immer ausgefeilter, günstiger und schneller. Das kam auch der Biodiversitätsforschung zugute: Plötzlich war es möglich, zu untersuchen, ob sich etwa Hirschpopulationen diesund jenseits einer Autobahn unterscheiden. Und man fand genetische Differenzen. Nicht nur bei Hirschen, sondern auch bei anderen Tieren.

Durch menschgemachte Infrastrukturen von Verkehrsschneisen bis Monokulturen ist die Landschaft heute in abgeschlossene Kammern zerschnitten. Das erschwert die genetische Durchmischung in der Natur. Nachdem man das entdeckt hatte, folgten rasch erste Hilfskrücken. Allenthalben wölbten sich plötzlich Wildübergänge über grosse Strassen, und Amphibientunnel unterquerten sie. Viele Siedlungsgebiete dagegen erwiesen sich als besonders biodivers, wie Studien etwa der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft seit den frühen 2000er-Jahren zeigen. Doch auch hier nimmt die Biodiversität ab. Überall kreucht und fleucht es weniger. Und die Schweiz hinkt bei den Schutzgebieten hinterher. Fast überall in Europa stehen mehr Prozent der Landesfläche unter Schutz als in der Schweiz siehe Grafik ‹ Anteil der geschützten Fläche in den Ländern Europas ›

Biodiversität wird politisch Landwirtschaft, Energiepolitik, der Bau von Verkehrsinfrastruktur, Siedlungsentwicklung: Das alles sind höchst politisch-strategische Angelegenheiten, auf lokaler wie auf nationaler Ebene. Biodiversität ist politisch, und das in mehreren Feldern der Politik zugleich. Auch international gibt Biodiversität seit dem Umweltgipfel der Uno in Rio de Janeiro 1992 zu reden. Sie wurde mit der Uno-Kon-

Text:
Maarit Ströbele

Luxemburg

Liechtenstein

Bulgarien

Slowenien

Polen

Kroatien

Zypern

Deutschland

Slowakei

Griechenland

Österreich

Malta

Norwegen

Spanien

Frankreich

Niederlande

Nordmazedonien

EU-Durchschnitt

Rumänien

Albanien

Portugal

Montenegro

Ungarn

Tschechien

Kosovo

Italien

Estland

Island

Lettland

Litauen

Schweden

Dänemark

Belgien

Irland

Finnland

Serbien

Schweiz

Bosnien-Herzegowina

vention über biologische Vielfalt vor 30 Jahren offiziell zum politischen Begriff. Das Ziel des Abkommens – der Erhalt der Biodiversität – hat seither an Brisanz gewonnen, denn die biologische Vielfalt hat weiter abgenommen. Und zwar nicht nur wegen Infrastrukturen und Siedlungsbau: Vor allem das Landwirtschaftsland ist weniger vielfältig als noch vor 30 Jahren.

Sampling und Sinfonie

Abwechslung in der Natur ist funktional, weil sie Ökosysteme robuster macht. Diese reagieren besser auf Hitze, grosse Feuchtigkeit oder Krankheitserreger, die einzelne Arten stark einschränken können. Die Vielfalt trägt dazu bei, dass die Lebensgrundlagen erhalten bleiben, und sie hat auch einen ästhetischen Reiz. Zwar entsteht Biodiversität mit der Zeit von selbst, wenn man der Natur ihren Lauf lässt, aber dazu braucht sie gute Bedingungen und Platz. In der dicht bebauten und komplex organisierten Schweiz ist das eine Planungs- und Gestaltungsaufgabe. 2019 hat der Bund Schweizer Landschaftsarchitektinnen und Landschaftsarchitekten in seinen ersten, immer noch aktuellen ‹ Standpunkten › festgehalten, wie das Gestalten mit einer vielfältigen Natur funktionieren soll. Heute zeigen konkrete Projekte und Forschung, wie es gehen könnte: von

Biodiversitäts-Monitorwerkzeugen bis zu Handbüchern zur Stadt- und Quartiergestaltung. Biodiversität ist robust, nützlich und schön – Vitruv im Unkraut gewissermassen. Angelehnt an Bachs verschlungenes Übereinanderstapeln von melodischen Motiven, ist das Gestalten mit Biodiversität die Kunst der Fuge. Heute würde man von gelungenem Sampling sprechen, dem Arrangieren zu etwas kongenial Neuem. Formal kann das ganz verschieden klingen beziehungsweise aussehen. Schlicht und durchdringend wie Minimal Music oder komplex wie eine Sinfonie oder verschachtelte Beats. Übersetzt in die Landschaftsarchitektur, geht es um das Spiel mit Arten und Lebensbedingungen, um das Improvisieren mit Biotopen. Konkret: gut gewählte Pflanzen, Zwischenräume, Ecken, Nischen schaffen. Biodiversität findet sich oft im Unaufgeräumten, im beiläufig Vergessenen. Das braucht Platz. Statt die Landschaft aufzuräumen, wie es in der Schweiz in den vergangenen rund 100 Jahren praktiziert worden ist, gilt es, Ordnung in der Gesetzgebung herzustellen und der Biodiversität den Raum zu geben, der ihr als Grundlage allen Lebens auf der Erde gebührt. Biodiversität bedeutet, ein wenig zurückzutreten und Fugen nicht abzudichten. Gestaltetes Abwarten also, damit das Wettrennen gegen den Verlust der Biodiversität gewonnen wird. ●

Anteil der geschützten Fläche in den Ländern Europas ( in Prozent der Gesamtlandesfläche )

Natura-2000- oder Emerald-Gebiet andere nationale Schutzgebiete E U-Ziel für 2030

Quelle: European Environment Agency 2015

Der Siedlungsraum als Hort der Biodiversität

Die natürliche Vielfalt im Siedlungsraum ist sehr hoch, doch auch hier nimmt sie ab. Beispiele aus Stadt, Agglomeration und Dorf zeigen, wie Biodiversität gestaltet werden kann.

Text:

Die Biodiversität im Siedlungsraum ist hoch, sehr hoch, und zwar schon seit Jahrzehnten. Sie ist höher als im Landwirtschaftsgebiet und höher als in jedem Naturschutzreservat. Das liegt nicht daran, dass der Mensch, der dieses Habitat für sich geschaffen hat, ein besonderes Augenmerk auf die Biodiversität gelegt hätte. Nein, Biodiversität im städtischen Umfeld ist Beifang.

Der Lebensraum Siedlungsgebiet ist für menschliche Bedürfnisse gestaltet. Ökonomie, Demografie, Wohlfahrt und Technologie sind die wichtigsten Treiber. Daraus ergeben sich unterschiedlichste Räume und Flächen: intensiv genutzte und vergessene, heisse und kühle, trockene und feuchte, mineralische und humusreiche, alte und neue, prätentiöse und banale, windige und geschützte, vernetzte und isolierte. Die Vielfalt der Räume ist der Grund für die Vielfalt der Habitate für Flora und Fauna, und daraus wiederum ergibt sich die hohe Biodiversität.

Ein neues Zuhause für eingewanderte Arten

Bauen ist also grundsätzlich biodiversitätsfördernd. Kommt dazu, dass passionierte Botaniker, Gärtnerinnen, Pflanzenzüchter und Landschaftsarchitektinnen seit Jahrhunderten neue Sorten und Varietäten in den Siedlungsraum bringen, sie kultivieren und einsetzen und so nicht nur Gärten und Pärke verschönern, Farben und Formen komponieren, sondern auch den regionalen Genp ool vergrössern. Habitate im urbanen Raum sind jung, so jung, dass sich – mit Ausnahme der kultivierten Zierpflanzen –keine eigene spezifische Flora und Fauna entwickeln konnte. Alle Arten sind aus anderen Lebensräumen in Wald und Flur eingewandert und haben im Siedlungsgebiet ein neues Zuhause gefunden. Der Siedlungsraum ist also grundsätzlich ein Ersatz- oder Sekundärlebensraum. Er bietet auch Arten Asyl, die aus meliorierten Intensivkulturlandschaften oder verbauten Gewässerräumen verdrängt werden. Gärten, Parkanlagen, Bäume, Brachflächen, Böschungen entlang von Strassen und Schienen, Weiher und Tümpel, begrünte Dächer und Fassaden bilden ein Mosaik von unterschiedlichsten Lebensräumen.

Doch die Gleichung ‹ Bautätigkeit fördern = Bio diversität fördern › geht nicht ganz auf. Die Ausdehnung des Siedlungsraums und der Bau immer neuer Infrastrukturen zerschneiden oder zerstören wertvolle Lebensräume in der

offenen Landschaft. Zudem verursacht Teil 1 des revidierten Raumplanungsgesetzes, das 2014 in Kraft getreten ist, Kollateralschäden: Die Tatsache, dass Baulücken gefüllt, Altes abgerissen und durch bis an den Parzellenrand Unterbautes ersetzt wird oder Industriebrachen bebaut werden, hat für die Biodiversität verhängnisvolle Konsequenzen.

Akut bedrohte Hotspots

Gut durchgrünte Wohnsiedlungen, Ruderalflächen, kleine Wiesen und Obstgärten, vergessene Hecken und Gehölze, alte Bäume und grosszügige Villengärten sind die Hotspots der urbanen Biodiversität. Doch sie ist akut bedroht durch die Goldgräberstimmung im städtischen Raum. Gegen Immobilienentwickler und institutionelle Anleger haben die urbanen Biodiversitäts-Hotspots ganz schlechte Karten. Bis heute hat die Stadt Zürich keine Handhabe, um bei Bauvorhaben biodiversitätsfördernde Massnahmen zu verlangen. Abhilfe soll die im April vom Kantonsrat genehmigte Revision des Planungs- und Baugesetzes betreffend eine ‹ klimaangepasste Siedlungsentwicklung › s chaffen. Ein neuer Paragraf fordert ausdrücklich qualitativ wertvolle Grünflächen. Massgebend dafür ist insbesondere auch der ökologische Ausgleich. Wichtige Aspekte für die Erhaltung der grünen Substanz im Siedlungsraum – etwa die Beschränkung der Unterbauung oder die Flexibilisierung der Grenzabstandsregelung – haben es leider nicht in das Gesetz geschafft. Das ist einer der Hauptgründe für den Verlust von grossen alten Bäumen im privaten Raum. Die fehlende Regelung macht auch viele Bestrebungen der öffentlichen Hand wieder zunichte. Genf will bis 2070 einen Kronendachanteil von 30 % in der Stadt err eichen ; heute b eträgt dieser 23 %. Dafür s ollen in den kommenden 15 Jahren 150 0 00 Bäume gepflanzt werden. Die Stadt Zürich hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2050 die Überdeckung des öffentlichen Raums mit Baumkronen von heute 17 % auf 25 % zu erhöhen. Ein gewaltiger Kraftakt angesichts der ungebremst hohen Verluste im privaten Raum, die ebenfalls kompensiert werden müssen.

Willkommenes Werkzeug

Grundlage aller kantonalen und kommunalen Bestrebungen, die Biodiversität im Siedlungsraum zu fördern, ist Artikel 18 b des Bundesgesetzes über den Natur- und Heimatschutz. Er verpflichtet die Kantone und Gemeinden, in intensiv genutzten Gebieten inner- und ausserhalb von Siedlungen für ökologischen Ausgleich zu sorgen. Mit

Peter Wullschleger

dem ‹ Aktionsplan Strategie Biodiversität Schweiz › hat der Bundesrat schon 2017 aufgezeigt, wie dieser Ausgleich angegangen werden soll. Ein Kernanliegen der Strategie ist der Auf- und Ausbau sowie der Unterhalt einer landesweiten ökologischen Infrastruktur. Diese stellt die Vernetzung ökologisch wertvoller Flächen sicher und bildet damit sowohl die räumliche als auch die funktionale Basis für den Erhalt und die Verbesserung der Biodiversität.

Eine sehr konkrete Massnahme sind die Musterbestimmungen zur Förderung von Biodiversität und Landschaftsqualität im Siedlungsgebiet, die das Bundesamt für Umwelt ( Bafu ) 2022 publiziert hat. Die Empfehlungen unterstützen Kantone und Gemeinden dabei, ihr Siedlungsgebiet naturnah und attraktiv zu gestalten und die dafür notwendigen Massnahmen verbindlich in ihren Rechtsund Planungsgrundlagen zu verankern. Ein willkommenes Werkzeug, denn in einem System, in dem der Siedlungsraum ein Raum für langfristige Kapitalanlagen ist, wäre es naiv, auf Motivation und Freiwilligkeit zu setzen.

Entscheidungsträger sensibilisieren

Die planerischen Voraussetzungen für die Förderung der Biodiversität sind also auf gutem Weg. Was noch aussteht, ist die Sicherung des Bestands von ökologisch wertvollen Strukturen im Siedlungsraum sowie die Verankerung der Biodiversitätsförderung im Normenwesen. Das neue SIA-Merkblatt 2066 ‹ Freiräume nachhaltig planen, bauen und pflegen › s oll 2025 publiziert werden. Es richtet sich an Behörden, Projektentwicklerinnen, private und institutionelle Bauherrschaften und Planer der massgeblichen Fachspezialisten. Die zuständigen Entscheidungsträger sollen für die Bedeutung von Freiräumen – auch für die Biodiversität – sensibilisiert werden. Das Merkblatt soll ihnen aufzeigen, wie damit verbundene Themen bei der Planung und Gestaltung einer hochwertigen Siedlungsentwicklung nach innen von Beginn an berücksichtigt werden können.

Freiräume von hoher ökologischer Qualität . Eine Auswahl.

Wohnungsbau

Sonnengarten Triemli, Zürich ( Mavo, 2011 ) 1 Siedlung Escherpark, Zürich ( Nipkow, 2015 ) Foto: Beat Nipkow Wohnüberbauung Moos, Cham ( Schmid, 2019 ) Wohnüberbauung Silbergrueb, Mönchaltorf ( Planikum, 2020 ) Parco Casarico, Sorengo ( De Molfetta Strode, 2020 ) Wohnüberbauung Erlenmatt Ost, Basel ( w + s, 2010 – 2020 ) 2 Wohnüberbauung Ghiringhelli, Bellinzona ( Officina del Paesaggio, 2021 ) Foto: René Dürr ‹ Pièce urbaine E › Plaines-du-Loup, Lausanne ( Approches, 2023 )

Quartier ( Planung, langfristige Begleitung, Pflege )

3 Campus des Cèdres, Lausanne ( Paysagestion, 1998 – 2018 ) Foto: Simon Bailly

Quartier Chapelle Lancy, Genf ( Paysagestion 2010 – 2023 )

Freiraum- und Naturschutzkonzept 3Land, Basel / Huningue / Weil am Rhein ( Hager Partner, 2018 )

Schulanlagen

Primarschulhaus mit Kindergarten Wilmatt, Therwil ( Ghiggi, 2018 ) 4 Primarschulhaus Krämeracker, Uster ( Ganz, 2019 ) Foto: Daniel Ganz

Verwaltung, Gewerbe

5 Credit Suisse Uetlihof 1, Zürich ( Stern und Partner, 1979 ) Foto: ASP 6 Uvek-Verwaltungsgebäude Pulverstrasse, Ittigen ( ORT AG für Landschaftsarchitektur, 2019 – 2021 ) Foto: Hannes Henz

Strassenraum

Route de Veyrier, Genf ( ADR, 2015 – 2021 )

Ephemer

Netzwerk urbaner Baumschulen, Genf ( Maren Kühn, 2022 )

Auch das vom Bafu mitgetragene Projekt ‹ BioValues › arbeitet an einer Methodik und einem Webtool, das Planerinnen und Bauherrschaften in der Planungsphase bei der Integration von Massnahmen zur Förderung der Biodiversität am Gebäude und im Freiraum unterstützen soll. Die Testphase wurde diesen Frühling abgeschlossen.

Weichen früh genug stellen

Siedlungsräume sind multifunktional und müssen unterschiedlichen Bedürfnissen und Ansprüchen gerecht werden. Dazu gehören auch soziale Funktionen oder ihr Beitrag zur Klimaanpassung. Biodiversität im Siedlungsraum will also in Entwicklungsprozesse integriert, geplant und gestaltet sein. Auf allen Ebenen braucht es darum Menschen, die bei sämtlichen Entscheiden, die die Entwicklung und die Gestaltung unseres Lebensraums betreffen, eine hohe Sensibilität für das Thema an den Tag legen. Solche Menschen gibt es, und die Praxis harrt deshalb glücklicherweise nicht gesetzlicher Grundlagen und technischer Normen. Bauträger entwickeln innovative Projekte. Fachleute planen, bauen und pflegen vielfältige Räume als Teil des Stadtgefüges, die an die hohe Dynamik der Entwicklung und die unterschiedlichsten Bedürfnisse angepasst sind, und sie tun das mit neuen Methoden und neuer Ästhetik. Dem Unterhalt von Freiräumen kommt eine entscheidende Bedeutung zu. Friedhöfe etwa sind Biodiversitäts-Hotspots und bis heute weitgehend vom Baudruck verschont geblieben. Durch eine angepasste Pflege kann ein erheblicher Mehrwert geschaffen werden: Heute werden rund 90 % der Verstorbenen eingeäschert, was viel weniger Platz braucht. Das spielt grosse Flächen frei, die zu artenreichen Wiesen aufgewertet werden können.

Biodiversitätsförderung beginnt aber nicht mit diesen Massnahmen, sie endet vielmehr damit. Bei Bauten und Grünanlagen werden die Weichen lange vorher gestellt: bei der kommunalen Biodiversitätspolitik. Bei der Abstimmung mit der Sozialpolitik. Bei der Anpassung des urbanen Raums an den Klimawandel. Beim Aufbau und der Stärkung der grünen Infrastruktur. Beim Wissen um ökologische Werte. Bei deren prioritärer Berücksichtigung in der Projektierung. Bei der Durchsetzung und der Kontrolle. Beim Fachwissen der Planenden und dessen Abrufung durch Behörden und Bauträger. Bei der fachgerechten Erstellung und Pflege. Wenn das alles abgehakt ist, kann man immer noch ein Bienenhotel aufstellen.

Beispiele gebauter Biodiversität

Gute Beispiele gibt es zuhauf, neue und ältere. Nach der Ölkrise 1973 stieg das Bewusstsein für die begrenzte Verfügbarkeit von fossiler Energie, ökologische Werte gewannen an Bedeutung. 1979 weihte die damalige Schweizerische Kreditanstalt den Verwaltungskomplex Uetlihof 1 am Siedlungsrand am Fuss des Uetlibergs ein. Die Freiraumgestaltung, geplant vom Landschaftsarchitekturbüro Stern und Partner, orientierte sich an der landschaftlichen Umgebung und erfolgte konsequent – was man später « naturnah » nannte. Auf dem Gelände und den Dachflächen entwickelte sich eine enorme Vielfalt an ökologisch hochwertigen Lebensräumen, die bis heute besteht: verschiedene Gehölzstrukturen, extensive Wiesentypen, Ruderalflächen, G ewässerlebensräume. Inklusive Uetlihof-Honig. Naturförderung ist auch gut für das Image. Seit 1997 zeichnet die Stiftung Natur & Wirts chaft Firmenareale und seit 2014 auch Freiräume von Wohnsiedlungen aus, bis heute insgesamt 540 an der Zahl. Ein aktuelles Beispiel ist die Erweiterung der Verwaltungsbauten des Eidgenössischen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation in Ittigen bei Bern. Das Ufer-

gebiet der nahen Worble wurde als grosszügiger naturnaher Raum gestaltet und die Auenvegetation bis an die Gebäude geführt. Wege und kleine Aufenthaltsbereiche unter Erlen, Weiden und Eschen nahe dem Wasser machen den Uferraum zugänglich und erlebbar.

Auch im Wohnungsbau ist die Kombination von Erlebbarkeit und Biodiversitätsförderung wichtig. Davon zeugen etwa die üppig begrünte Siedlung Escherpark in Zürich, die Wohnüberbauung Ghiringhelli in Bellinzona oder das ‹ Piè ce urbaine E › im Laus anner Neubauquartier Plaines- du-L oup. Aussenräume von Schulanlagen zeigen sich ebenfalls in neuer Ästhetik, wie sich am Beispiel des Primarschulhauses Krämeracker in Uster konstatieren lässt. Mit feuchten Riedflächen, kiesigen und trockenen Hügelkuppen und einer reichen Laubwaldvegetation nimmt die Gestaltung typische Landschaftselemente der Gegend auf. Die Naturflächen bieten den Kindern Erlebnisräume, um Flora und Fauna zu entdecken, und dienen gleichzeitig als ökologische Ausgleichsflächen.

Ein langer Atem ist gefragt

Je grösser der Massstab, desto grösser die Zeitho rizonte, in denen gedacht und geplant werden muss. Das Beispiel des Campus des Cèdres in Lausanne zeigt, dass eine langfristige, intensive Begleitung von Entwicklung und Pflege der Freiräume enorme Vorteile bringt. 20 Jahre hatte der Kanton Waadt das Büro Paysagestion damit beauftragt, den Campus nach den Grundlagen der differenzierten Pflege umzugestalten. Die zu Beginn festgelegten Ziele wurden nie aus den Augen verloren und konsequent umgesetzt: Förderung wasserdurchlässiger Flächen, sparsamere Pflege, Verwendung einheimischer Pflanzen, Umwandlung von Rasenflächen in Wiesen, Dachbegrünungen, Pflanzung von Obstgärten, Bau von Natursteinmauern, Anlegen von Feuchtgebieten und vieles mehr. So konnte dieses Stück Stadtlandschaft in einem dicht besiedelten Quartier mit hohem Baudruck als grüne Lunge erhalten werden. Ein Bewirtschaftungsplan für die Aussenanlagen leitet jeden Eingriff im Einklang mit der Natur und dem Standort. Auch kurzfristige und ephemere Gestaltungen bewirken viel: Sie können sensibilisieren, die Aufenthaltsqualität erhöhen und als Laboratorien für neue Ideen dienen. Bekannt sind Formate mit Ausstellungscharakter wie Lausanne Jardins, das heuer bereits zum siebten Mal stattfindet. Ein weiteres Beispiel kommt aus Genf: Im Rahmen seiner Baumstrategie hat der Kanton eine Machbarkeitsstudie zur Einrichtung eines Netzwerks partizipativer urbaner Baumschulen in Auftrag gegeben. Bisher wurden an drei Standorten temporäre Baumschulen realisiert. Am Collège et École de Commerce André-Chavanne wurden rund 250 Bäume, darunter 70 Obstbäume von Pro Specie Rara, gepflanzt. Mit diesen wurde 2022 in der Nähe der Schule ein Obstgarten angelegt. Gleichzeitig wurde ein Leitbild für die Renaturierung des Schulgebäudes erarbeitet, um die Biodiversität und die Aufenthaltsqualität zu erhöhen, die ökologische Infrastruktur zu stärken, aber auch um Wege zur Bekämpfung von Wärmeinseln aufzuzeigen. Lorbeeren, um sich darauf auszuruhen, gäbe es also reichlich. Doch von Best Practice zu General Practice, vom Engagement Einzelner zur Selbstverständlichkeit aller, vom Laboratorium zur Norm ist es noch ein weiter Weg. Eine der härteren Nüsse ist das ästhetische Empfinden der breiten Öffentlichkeit. Es zeigt sich unerwartet resistent, zum Beispiel in Einfamilienhausgegenden. Alles muss sauber sein, aseptisch, monoton. Doch das Unerwartete, das Wuchernde, das nur zu 99 % Kontrollierbare ist Teil der Biodiversitätsförderung. Ein Grund mehr, sie ins Zentrum zu rücken. ●

Rhizocarpon geographicum agg. ( Landkartenflechte ), Greina TI / GR, Juli 2017

Wollgras und Elefantenfisch

Berglandschaften sind eine Wunderkammer der Tiere und Pflanzen. Die Initiative für Biodiversität stärkt sie. Eine Ortsbesichtigung am Schamserberg im Kanton Graubünden.

Text: Köbi Gantenbein

Langrüsselschwein, Elefantenfisch und Doppelschweifwolf – an der Decke der Kirche St. Martin in Zillis haben Maler im Mittelalter eine prächtige Menagerie porträtiert. Wie sie drohen auch das Schneehuhn, die Sandbiene oder der Wasserpfeifer ausgerottet zu werden, wenn wir ihren Lebensräumen weiterhin mit unserem Wirtschaften zusetzen. Doch es ist keineswegs aller Tage Abend. Nach vier Stunden Aufstieg über Wiesen und durch Wäldchen sitze ich etwas getröstet für die Mittagsrast am Ufer des Libisees. Unterwegs über die 1000 Höhenmeter habe ich Borstgräser, Seggen, Skabiosen, Thymian, Salbei, Wundklee, Wollgras und viele weitere Blumen-, Moos-, Baum- und Pilzarten gesehen. Pflanzen auch, von denen ich keine Ahnung habe. Meisen, Spatzen, Rotschwänzchen, Bachstelzen, Feldlerchen und gar ein Lämmergeier hoch oben haben mich begrüsst. Eine Schlange ist vor mir geflohen, und auf eine Schnecke bin ich getrampelt. Rinder schauten mich an, Schafe, Kaninchen und Schweine. Kein Wolf. Dafür sah ich eines der selten gewordenen Braunkehlchen, und über meinem Zmittag am Libisee führten sieben Libellen ein Ballett auf.

Diese Artendichte hat nebst den wirtschaftlichen und sozialen Besonderheiten mit einer geografischen Eigenart von Berglandschaften zu tun. Die Gemeinde Muntogna da Schons, der Schamserberg, beginnt auf 800 Meter über Me er und geht hinauf bis auf den Piz Beverin auf fast 3000 Meter üb er Meer. Fettwiese und Autobahnbord im Talgrund, Magerwiesen, Hochmoore, Wälder und Lichtungen, Bäche, Alpweiden, Geröll und Geschiebe, Felsen, Schneefelder bis in den Sommer und das Seelein machen hier Landschaft. Und jedes dieser Biotope hat seine eigene Pflanzen- und Tiergesellschaft.

Landwirtschaft für und gegen die Vielfalt

Nach dem Zmittag zottle ich über die Bergwiesen dem Hang nach. Und erinnere mich, wie ich als Bubenknecht bei Öhi Hitsch auf Stels im Prättigau mit Sense, Einachsertraktörli, Re chen und Heutuch mit dafür sorgte, dass die Magerwiesen und Weiden Paradiese solcher Vielfalt sein können. In meiner Lebensspanne hat die Land -

wirtschaftspolitik das Bauern in den Alpen grundlegend verändert ; gewiss in vielem auch zum Guten. Dass es diese Vielfalt von Trespen-, Blaugras- und Borstgraswiesen und dem selten gewordenen Schwingrasen, über die ich nun trotte, überhaupt noch gibt, hat viel mit dem ausgeklügelten Geldfluss zu tun, mit dem Staat und Gesellschaft die Bauern für ihr pflegendes Tun bezahlen. Von den Subventionen stützt aber nur ein kleiner Teil die Biodiversität. Der grössere Teil heizt das Verschwinden der Arten an. Das betrifft vor allem die grossen Bauernbetriebe im Flach- und im Unterland, gilt aber auch im Gebirge. Die Biodiversitätsinitiative will die Aussichten der Tiere und Pflanzen verbessern, und sie wird im ihr folgenden Gesetz die Subventionsströme hoffentlich so lenken, dass sie die Artenvielfalt stärken, statt sie zu vernichten. Und die Initiative wird dafür sorgen, dass Tiere und Pflanzen genügend Raum haben. Wenn ich die Schönheit der Landschaft am Schamserberg sehe, wird das nicht nur zur Freude meines Gemüts geschehen, sondern auch zu jener der Bäuerinnen und Bauern – und freilich der Tiere und Pflanzen.

Tourismus gegen die Vielfalt

Über die Pfade und Meliorationsstrassen entlang des Schamserbergs stapfend, denke ich tröstlich im Konjunktiv. Hier könnten die Masten mehrerer Skilifte und Sesselbahnen stehen ; die Kupp en und Dellen wären planiert, der Libisee ausgebaut zum Speicher für das Wasser, das durch in die Erde vergrabene Leitungen zu den Lanzen und Rotoren der Schneekanonen flösse. Oben am Berg stünden Restaurants mit Terrassen, und unten wäre ein Parkplatz für 400 Autos ins Gelände gewuchtet. 1995 wollten die Tourismuspromotoren all das bauen, so wie sie in jenen Jahren zwischen dem Schamserberg und dem Rosenhorn im Berner Oberland, zwischen Samnaun und der Tête de Balme im Wallis 25 neue Bergbahnen planten. Auch wenn wirtschaftlicher Verstand und Widerstand der Naturschützer etliche dieser Vorhaben kippten, sind die Berglandschaften seither beträchtlich ausgebaut worden. Mehr als die Hälfte der Pisten wird mittlerweile künstlich beschneit, weite Flächen sind planiert. Tausende Parkplätze sind dazugekommen, und zu den Winter- drängen kräftig die Sommersportlerinnen. Auch wir Wanderer sind bald überall. Dass dieser Ausbau auf Kosten der Biodiversität geht, ist vielfach erforscht und laut beklagt. Die Bio -

diversitätsinitiative ist ein Werkzeug, um die Landnahme des Tourismus so zu steuern, dass – ähnlich wie beim Raumplanungsgesetz die Häuser – die Bergbahnen nur noch in den ihnen bereits gegebenen Terrains hinauf- und hinunterfahren sollen.

Kraftwerke gegen die Vielfalt

Am späten Nachmittag halte ich meine Füsse in eine Wasserfassung im Valtschielbach oberhalb von Wergenstein. Sie sammelt das Wasser und leitet es seit mehr als 60 Jahren vom Schamserberg in das Stromreich der Kraftwerke Hinterrhein. Es besteht aus Speicher-, Pump- und Laufkraftwerken, zwei Stauseen, zahllosen Bachfassungen, Kavernen und drei Zentralen. Strom aus Wasserkraft gilt als klimavernünftige Alternative zur Energie aus Erdgas und -öl, deren CO2-Last die Biodiversität weltweit tiefgreifend verändert hat und immer noch verändert. Das Regime des Stroms aus Wasserkraft – mit Fassungen, Speichern, Kanälen und Zentralen – verlangt allerdings erhebliche Eingriffe in die Gesellschaften der Tiere und Pflanzen. Weite Teile der Gewässer in den Alpen sind bereits verbaut und in Kraftwerksysteme eingebunden. Dennoch trumpfen die Kraftwerke weiter mächtig auf. Allein im Kanton Graubünden haben sie im ‹ Richtplan Energie › 40 neue Installationen für Staus een, Kanal- und Bachbauten eingetragen. Interessiert schauen sie auf die schmelzenden Gletscher im Hochgebirge. Statt der Pflanzen- und Tiergesellschaften, die auf den neuen Vorfeldern Biotope von seltener Schönheit bilden, sollen auch dort Stauseen entstehen. Die Biodiversitätsinitiative sagt: « Genug nun ! »

Nicht nur die Terrains der Bauern und der Tourismusleute sollen behütet werden. Auch die geplante enorme Landnahme der Wasserkraftwerke im Gebirge muss aufhören. Erquickt vom Wasser des Valtschielbachs zottle ich weiter über den Schamserberg. Er ist Teil des Naturparks Beverin, und wie in den anderen 19 Naturpärken der Schweiz wird auch hier die Biodiversität erforscht und behütet. Und da der Mensch liebt und schützt, was er weiss, sind die Pärke mit ihrem Angebot von Kursen, Exkursionen und Schriften Schulen für Naturkunde. Die Initiative für die Biodiversität wird die Pärke und ihre Aufgaben stärken. Im Dörflein Wergenstein angekommen, trinke ich einen Most im Restaurant Capricorns – ein für die Biodiversität guter Name, ist es doch vor einem Menschenleben schon gelungen, den in Graubünden seit 1640 ausgerotteten Steinbock, den Capricorn, wieder anzusiedeln. ●

Wanderung am Schamserberg

Die Wanderung von Zillis ( 944 Meter über Meer ) über Donath, Farden, Lohn und Nutschias hinauf zum Libisee ( 2001 Meter über Meer ) und dann entlang dem Schamserberg nach Wergenstein ( 1487 Meter über Meer ) dauert sieben Stunden . Wer abkürzen will, fährt mit dem Postauto nach Lohn. Im ‹ Capricorns › in Wergenstein lässt es sich gut essen und schlafen, sodass man am nächsten Tag über Dumagns und die Alp Tumpriv auf den Piz

Tarantschun steigen und dann hinunter auf den Glaspass zotteln kann. Für etwas Erleichterung sorgt ein Bus Alpin auf die Alp Tumpriv. Mit ihm ist man fünf, ohne ihn acht Stunden unterwegs. Wer aufmerksam ist, trifft Steinböcke, Schneehühner und Gämsen. Und es gibt viel Erlengestrüpp zu sehen, wo einst Wiesen waren. Wir lernen also: Landschaft und Biodiversität brauchen Pflege und die Arbeit der Bauern, sonst kommt die Erle und überwächst alle Vielfalt.

Wollgras spriesst in einem Teich auf dem Gebiet der Alp Anarosa im Schams. Foto: Samirah Hohl (Naturpark Beverin)

Vielfalt ist produktiv

Mehr Biodiversität, weniger Ertrag ? Das Angst-Argument der Gegenkampagne fällt angesichts langjähriger Erfahrungen von Bauernbetrieben und einer Studie in sich zusammen.

Für viele Menschen in der Landwirtschaft steht die Produktion von Lebensmitteln im Zentrum ihrer Arbeit. Sie bauen Kohlrabi, Rüebli und Kartoffeln an, mästen Poulets, melken Kühe und käsen – kurz: Sie produzieren Kalorien und ernähren die Menschheit. Da schreckt das Argument der Initiativ-Gegner auf: « 30 % Fläche für die Biodiversität weg ? Tschüss Schweizer Lebensmittelproduktion ! » Der Initiativtext nennt zwar keine Zahlen, doch die Gegner beziehen sich auf das internationale Ziel, bis 2030 30 % der Land- und Me eresflächen für die Biodiversität zu sichern. Darauf haben sich die teilnehmenden Staaten an der 15. Bio diversitätskonferenz im Dezember 2022 in Montreal geeinigt. Auch die Schweiz. Es gibt Bauern, die für solche Angstmacherei nur ein müdes Lächeln übrighaben. Hanspeter Hunkeler und Thomas Baumann leben knapp 30 Kilometer voneinander entfernt und kennen sich nicht, aber beide verstehen Biodiversität nicht als Alternative zur landwirtschaftlichen Produktion, sondern als deren Nebenwirkung.

Hofbericht 1:

Saisonal angepasste Milchwirtschaft

Als Hanspeter und Susanne Hunkeler die Ronmühle 1989 übernahmen, produzierte die Schweizer Landwirtschaft das Maximum, das der Markt abnehmen konnte. Eine alternative Zukunftsstrategie war gefragt. Hunkelers wollten die klassischen Produktionszweige des Hofs beibehalten und gleichzeitig mehr für Landschaft und Artenvielfalt tun, schon bevor es dafür Direktzahlungen gab. « Lands chaftsqualität und Artenvielfalt sind die einzigen landwirtschaftlichen Produkte, die man nicht importieren kann », sagt Hanspeter Hunkeler. Sie entschieden, wenig in die Milch- und Fleischproduktion zu investieren – also Vollweidehaltung, keine Aufzucht und wenig Mechanisie -

rung. Als sie sechs Hektar Ökowiesen pachten konnten, zeigte sich, dass der erste Schnitt dieser Wiesen für die konventionelle Milchproduktion zu mager war. Also stellten Hunkelers bei der Tierhaltung um: Fortan kalbten alle Kühe im Februar und im März. Während der Galtzeit benötigten sie mageres Futter, und dafür war das Heu der gepachteten Ökowiesen optimal. Die saisonal angepasste Milchwirtschaft senkte die Produktionskosten deutlich, während der Naturalertrag gleich blieb. Die Direktzahlungen für die Ökowiesen wiederum waren vertraglich für acht Jahre gesichert.

Wer in der Landwirtschaft auf Automation durch Mechanisierung setzt, steckt enorm viel Kapital in Ställe und Maschinen. Um die hohen Investitionen abbezahlen zu können, legt sich der Betrieb an die Kette der intensiven Produktion. Das blockiert betriebliche Anpassungen über Jahrzehnte. « Es gibt andere Wege », sagt Hanspeter Hunkeler: « B eobachten und sich in natürliche Kreisläufe einfügen. Sich das System der biologischen Vielfalt zunutze machen. » Das bedeute zwar ständiges Lernen. « Ab er nur mit diesem Systemwechsel werden wir die Klima- und die Biodiversitätskrise mildern », ist Hunkeler überzeugt.

Werden Tiere mit Kraftfutter versorgt, verschlingt das Kalorien, die direkt der menschlichen Ernährung dienen könnten. Zudem geht die Biodiversität auch wegen der hohen Tierbestände stark zurück, denn Futtermittel stammen aus Monokulturen, und die Überdüngung mit Ammoniak aus der Tierhaltung belastet Böden, Luft und Wasser. Hunkelers Kühe fressen Gras – keinen Mais, keinen Weizen, keine Kartoffeln. Das verhindert die Konkurrenz um Nahrungsmittel zwischen Mensch und Tier, und nichts muss zusätzlich hergestellt und hertransportiert werden. Biodiversitätsförderflächen ( BFF ) dürfen nur dreimal statt fünfmal jährlich gemäht werden. Das reduziert Arbeits- und Maschinenstunden, Strom- und Dieselkosten. Als Hunkelers im Rahmen des Arbeitskreises Weidemilch an Betriebsvergleichen teilnahmen, zeigte die Vollkostenrechnung, dass dieses Low-Input-System dasselbe Ein -

Gesamthaft nachhaltig Wie wirkt sich eine gesamtheitliche Betriebsberatung in den verschiedenen Dimensionen der Nachhaltigkeit aus ? Für die Untersuchung wurden 15 Betriebe ausgewertet. Die Grafik zeigt die erzielte Veränderung pro Nachhaltigkeitsaspekt. Quelle: Studie ‹ Gesamtbetriebliche Nachhaltigkeitsberatung ›, Bundesamt für Umwelt

Soziales:

Soziales:

Text: Rahel Marti

kommen erzielt wie teure Hochleistungsstrategien, teils gar ein höheres. « Tiefe Kosten und optimale statt maximale Erträge, dazu langfristige Verträge für die BFF – das ist finanziell attraktiv », sagt Hanspeter Hunkeler. Auch wenn die Erträge nicht spitzenmässig sind: « Ents cheidend ist, was unter dem Strich übrig bleibt. »

Hofbericht 2:

Gewinn für Kulturlandschaft und Bevölkerung

Suhr ist mit Aarau zusammengewachsen. Mitten in der dicht besiedelten Agglomeration zeigen die beiden Flanken eines Feldwegs, wie Biodiversität Landschaft gestaltet. Links breitet sich ein riesiges Weizenfeld aus, die Stängel stehen dicht an dicht und sind Ende Mai von einem satten, homogenen Dunkelgrün. In der Ferne glänzt ein metallisches Silo in der Sonne. Das Gelände wirkt fast wie eine Outdoorfabrik. Zur Rechten dagegen schweift der Blick über kleinere, von Hecken und Büschen strukturierte Felder. Da wächst erstes Gemüse, dort steht das Gras kurz, daneben hoch. Etwas weiter hinten springen drei Schweine um einen Tümpel herum.

Die Kulturlandschaft wirkt gewachsen und alt, wie auf einem hundertjährigen Ölgemälde. Dabei hat Thomas Baumann erst vor 35 Jahren damit begonnen, sie einzurichten.

« Am Anfang gab es Knatsch. Die Menschen störten sich an den Hecken und Tümpeln, und die Bauernkollegen meinten, wir hätten es wohl nicht nötig, den ganzen Acker zu bebauen. » Mittler weile geniesst die Bevölkerung die Gegend als Naherholungsgebiet. Die Feldwege sind offen, auch Trampelpfade sind sichtbar, und manchmal legt sich jemand unter einen Baum. « Zuerst hat mich das geärgert, weil ich mir für die Natur Mühe gab », sagt Baumann schmunzelnd. « Ab er ich habe begriffen, dass die Menschen diese Landschaft schätzen. Und Abfall lassen sie keinen liegen. »

Den Galegge-Hof bewirtschaftet eine Hofgemeinschaft: Thomas Baumann baut Getreide an, pflegt 490 Hochstammobstbäume, mäht die Ökowiesen darunter und hält ein paar Schafe sowie 20 Milchgeissen. Deren Milch sowie die von einem Partnerbetrieb mit 60 Ziegen zugekaufte Milch verkäst Susanne Klemenz zu Frischkäse, den sie ab Hof und auf Märkten verkauft. Anne lie s Keller baut auf einem halben Hektar Gemüse an, vermarktet es ab Hof und verbäckt das Mehl der Galegge in der hofeigenen Backstube. So bleibt die Wertschöpfung mehrheitlich im Betrieb. Stolze 70 % der 40 Hektar Land des GaleggeHofs sind BFF. Dafür gibt es Direktzahlungsverträge mit acht Jahren Laufzeit, was in Kombination mit tiefen Pro -

duktionskosten und hoher Wertschöpfung drei gute Einkommen ergibt. An den Ökowiesen verdient Baumann dreimal: « D en ersten Schnitt verkaufe ich Pferdehalterinnen, den zweiten und dritten fressen die Ziegen, deren Milch ich verkaufe, und obendrauf kommen die Direktzahlungen. » Produktion, Arbeitsplätze und Wertschöpfung könnte die Hofgemeinschaft bei Bedarf durch mehr Gemüseanbau steigern.

Schon vor mehr als 30 Jahren begann der Kanton Aargau, Gemeinden und Betriebe zu beraten: Das Programm ‹ Labiola – Landwirtschaft – Biodiversität – Landschaft › war ein Pionierprojekt, auf das der Bund später die BFF-Direktzahlungen aufbaute. Die Vielfalt der Pflanzen und Tiere habe sich deutlich erhöht, sagt Baumann, der auch im Gemeinderat von Suhr sitzt. « Die Förderung der Biodiversität im Suhrental wird als landschaftliche Qualität langsam sichtbar. Die Bevölkerung weiss das zu schätzen. »

Das Potenzial ist riesig

Auch Andreas Bosshard widerspricht der Angstmacherei rund um die Biodiversitätsinitiative. Der Agrarökologe konzipierte 2018 für das Bundesamt für Umwelt eine ‹ Gesamtbetriebliche Nachhaltigkeitsberatung › und testete diese auf 25 Betrieben in den Kantonen Bern, Glarus und Thurgau. Gemeinsam mit den Betriebsfamilien suchte er Synergien zwischen Ökologie, Wirtschaftlichkeit und Ertrag und skizzierte Massnahmen, um diese Synergien zu aktivieren. Laut seinen Schätzungen geht die Produktion nicht zurück, wenn die Betriebe die Massnahmen umsetzen, während das landwirtschaftliche Einkommen um rund 21 % und die Bio diversität um rund 25 % steigen. Die Bauern verifizierten diese Ergebnisse. « Ökonomie und Ökologie erwiesen sich nicht als Gegensätze, sondern zeigten grosses Synergiepotenzial », erklärt Bosshard zusammenfassend. Mit Blick auf die gesamte Schweizer Landwirtschaft folgert er: « Je der Betrieb kann in diese Richtung gehen. Das Potenzial ist riesig. » Intensive Landwirtschaft sieht zwar produktiv aus, aber auf 60 % der S chweizer Ackerflächen werden Futtermittel für Tiere statt Lebensmittel für Menschen angebaut. Dadurch geht ein hoher Prozentsatz der Kalorien verloren. Böden, Luft und Gewässer werden vergiftet, und das Klima wird belastet. Würde nur noch ein Drittel des heutigen Fleischbedarfs produziert und konsumiert, könnten deutlich mehr Kalorien angebaut werden, und auf den Produktionsflächen bliebe mehr als genug Platz für die Artenvielfalt. ●

Die Durchlauferhitzerin Nicht nur besorgte Bauern stecken hinter der gegnerischen Kampagne des Bauernverbands. Würden mehr Biodiversitätsförderflächen ( BFF ) ausgeschieden, geriete auch das Geschäftsmodell jener Konzerne und Unternehmen ins Wanken, die den Landwirtinnen Saatgut, Spritzmittel, Diesel, Traktoren, Melkroboter oder Stallbauelemente verkaufen. Von den vier Milliarden Franken an Staatsgeldern, die wir jährlich in die Landwirtschaft schütten, fliesst ein beträchtlicher Teil an diese private Ausrüstungsindustrie weiter. So gesehen ist die Landwirtschaft lediglich eine Durchlauferhitzerin.

Ronmühle, Schötz LU Milchwirtschaft, Wollschweinezucht, Pensionspferde, Getreide, Soja, Kichererbsen, Kräuter, Hochstammobst

Fläche: 24 Hektar, davon 35 % Bio diversitätsförderflächen

Biodiversität: 34 Brutvogelarten, 193 verschiedene Gefässpflanzen, 22 Schmetterlingsarten, 10 Heuschreckenarten

Galegge-Hof, Suhr AG Milchziegen, Schafe, Käse, Getreide, Hochstammobst Fläche: 40 Hektar, davon 70 % Biodiversitätsförderflächen

Biodiversität: nach Jahrzehnten zurückgekehrte Tierarten wie Neuntöter, Turmfalke, Goldammer, Gelbbauchunke, Kreuzkröte, Feldgrille, Schwalbenschwanz, Schachbrettfalter, Wiesel u. a ; Pflanzen: Klatschmohn, Kornblume, Kornrade, Wiesen salbei, Pyramidenorchis, Weinbergtulpe u. a.

Rund um den Galegge-Hof in Suhr ist die Biodiversität sichtbar und erlebbar. Foto: Thomas Baumann

Warum Biodiversität wichtig ist

2019 erschien der ‹ BSLA-Standpunkt Bio diversität ›. Was hat sich seither geändert, und was ist immer noch gleich wichtig ? Im Mai 2024 trafen sich die Umweltnaturwiss enschaftlerin Ursula Bollens ( Planikum ), die Landschaftsarchitektin Friederike Meinhardt ( Co -Präsidentin BSLA ) und der Landschaftsarchitekt Matthias Krebs ( Krebs und Herde ) zum Gespräch. Das Destillat dieser Runde: sieben Punkte, warum Biodiversität wichtig ist – für die planende Branche, für die Gesellschaft und überhaupt. Ist der Erhalt der Biodiversität durch die Initiative in der Verfassung verankert, erleichtert das die Umsetzung der sieben Punkte.

Biodiversität braucht Platz

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Übertreiben erwünscht

Kleinteilige und abwechslungsreiche Strukturen erfreuen nicht nur das Auge, sondern auch die Natur. Schaffen und erhalten wir sie, wo es sie schon gibt ! Es braucht S chatten und Sonne, grosse und kleine, nasse und trockene Flächen, viel Boden und wenig Unterkellerung von Freiflächen. Alte und neue Pflanzenarten haben in Zeiten der Klimakrise beide ihren Platz. Biologische Vielfalt ist robuster als Eintönigkeit, etwa bei Schädlingsbefall.

Mut zur Fuge

Viel wird gebaut oder auf dem Feld angebaut, dabei schwindet der Raum für spontane Naturentwicklung. Nicht nur im Siedlungsgebiet, sondern auch ausserhalb davon. Wird über Bauvorhaben entschieden, muss dem Rechnung getragen werden, sonst geht es der eigenen Lebensgrundlage an den Kragen. Das heisst: Ersatzpflicht, Geld aus dem Mehrwertausgleich fürs Grün und in komplexen Güterabwägungen eine Stimme für die Biodiversität.

Leistung kostet, muss aber nicht teuer sein

Die Natur tut viel für uns: frische Luft, sauberes Wasser, erquickende Kühlung. Das gibt es nicht zum Nulltarif, es braucht dafür Platz und Zuwendung, sowohl im Siedlungs- wie auch im Agrargebiet. Extensivierung muss aber nicht teuer sein. Sie bietet Spielraum für Einsparung durch reduzierte Pflege, widerstandsfähige Vegetation und besseres Wassermanagement. Und: Noch grössere Kosten entstehen, wenn wir der Natur keinen Platz lassen.

Biodiversität ist Baukultur

Ödnis ohne Natur ist keine Baukultur. Natürliche Prozesse gehören in die Gestaltung. Landschaftsarchitektinnen und Landschaftsarchitekten sind Anwältinnen und Anwälte der Biodiversität. Biodiversität ist nicht an bestimmte Bilder gebunden, sondern sie ist funktional und gehört zum Bauen. Es braucht also keine Biodiversitätsmöblierung, sondern eine selbstverständliche Integration in das Projekt als gestalterischer Akt. 1 2 3

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Es muss nicht immer alles perfekt aneinander angeschlossen sein. Ritzen, Fugen und Leerstellen machen den Unterschied und brauchen nicht viel Platz. Für eine kleine Nische der biologischen Vielfalt ist auch bei komplexen Anforderungen – etwa Feuerwehrzufahrten oder Barrierefreiheit – immer Platz. Schlingpflanzen finden ihre Nischen, Eidechsen ihren Weg.

Abwarten hilft

Radikales Aushalten ist gefragt ! Biodiversität ist nichts Festes. Fertig gebaut ist nicht fertig, die Natur braucht Zeit zum Wachsen und um sich Orte anzueignen. Dieses Bewusstsein gilt es zu stärken. Dazu gehört auch, alte Bäume stehen zu lassen und auch einmal bewusst etwas nicht zu tun.

Biodiversität braucht Praxis

Ist das Grün einmal da und kreucht und fleucht es, ist dem Sorge zu tragen. Wer für den Unterhalt von Grünanlagen sorgt, sollte Bescheid wissen über Pflanzen und ökologische Zusammenhänge. Das heisst: auch einmal weniger machen oder erst mähen, wenn die Wiese verblüht ist.

Text: Maarit Ströbele
Lenzites betulina ( Birkenblättling ), Grüningen ZH, Januar 2022.
Foto Umschlag: Sarcodon imbricatus ( Habichtspilz ), Grüningen ZH, August 2016

Her mit der Vielfalt !

Die Landschaft ist vielerorts langweiliger geworden. Dieser ästhetische Eindruck widerspiegelt sich in der biologischen Vielfalt. Weltweit –die Schweiz ist keine Ausnahme – nimmt die Biodiversität ab. Bei der notwendigen Umkehr dieser Entwicklung hin zu mehr Vielfalt spielen Planung und Gestaltung zentrale Rollen. Biodiversität ist Baukultur – im Siedlungsraum, in der Landwirtschaft und in der Wildnis der Berge, denn auch hier wird geplant und gebaut. Dieses Heft zeigt gute Beispiele. Sieben Punkte zu Gestaltung und Biodiversität runden es ab. Der Kontext des Hefts: Am 22. September stimmen die Schweizer Stimmberechtigten über die Biodiversitätsinitiative ab. Gut, wenn die biologische Vielfalt endlich ihren Platz in der Verfassung bekommt !

Mit freundlicher Unterstützung von:

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