Rotes Holz und blauer Saal

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Themenheft von Hochparterre, Mai 2020

Rotes Holz und blauer Saal

Hergiswald bei Luzern ist ein geschĂźtzter Pilgerort. Mit Seidendamast und dem Holz der Douglasie schreibt sein Gasthaus diese Geschichte fort.

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Der Pilatus im Rücken, Kriens vor der Tür, der Vierwaldstättersee dahinter, die Alpen in der Ferne.

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Editorial

Inhalt

Der Hybrid am Pilgerort

4 Vom Betonbunker zum zweiten Wallfahrtsort Der steinige Weg von der barocken Wallfahrtskirche zum neuen Gasthaus.

10 « Ein bisschen aufräumen » Der Landschaftsarchitekt und seine Frösche.

12 « Etwas Leiden gehört dazu » Der Architekt und seine Orte.

14 Das blaue Raumwunder Das Zusammenkommen von Bildern und Bauweisen, Seide und Holz.

22 « Dunkelheit stiftet Ruhe » Der Künstler und seine Decke.

24 « Die Zeit tickt für den Holzbau » Der Holzbauer und seine Douglasie.

26 Hundert Douglasien und eine Handvoll Zimmerleute Der Bauprozess vom Rundstamm über das Werk zum Haus.

3 0 « Der Neustart ist geglückt » Das Pächtertrio und seine Stube.

Einem Ort wie Hergiswald bei Luzern muss man sich behut­ sam nähern, seine Geschichte lesen. Sie beginnt vor mehr als 500 Jahren mit einem Bethäuschen für den Eremiten Johann Wagner. Schrittweise entsteht daraus eine Marien­ kapelle mit eindrücklichem Bilderhimmel, später kommen eine herrschaftliche Kaplanei und ein einfaches Gasthaus für Pilger dazu. Als die Albert Koechlin Stiftung das En­sem­ ble um die Jahrtausendwende übernimmt, sind die Bauten renovationsbedürftig. Vier Jahre später feiert sie die Sanie­ rung der Wallfahrtskirche zur Zufriedenheit aller. Die Geschichte des neuen Gasthauses ist kurvenrei­ cher: In einem Architekturwettbewerb hatte sich zunächst ein fünf­eckiger Betonbau durchgesetzt, der aber bald am vehementen Widerstand regionaler Baukultur- und Natur­ schützer scheiterte. Für einen neuen Anlauf beauftragte die Stiftung den Bündner Architekten Gion A. Caminada direkt. Wie baut man einen Ort weiter ? « Dafür gibt es kein Rezept », ist er überzeugt. Er setzte sich mit allen Betei­ ligten an einen langen Tisch, hörte zu, diskutierte und machte Notizen. Erst danach zeichnete er ein hölzernes Gasthaus, das sich über den Mauern seines Vorgänger­ baus in die Höhe reckt und verschiedene Bauweisen und Raumstimmungen vereint. Aus­sen fällt das rötliche Holz der Douglasie auf und wie der geschlossene Strickbau über den gros­sen Fenstern des Ständerbaus sitzt. Innen überraschen das helle Holz der Weisstanne in den Gäste­ zimmern und die blaue Kassettendecke des Festsaals, der dank zweier Fachwerkträger keine Stützen braucht. Drei Essays erläutern die Architektur des Gasthauses, seine hybride Kon­struk­ti­on sowie die Geschichte des En­ sem­bles und das Engagement der Albert Koechlin Stif­ tung für dessen sinnvolle Weiterentwicklung. Begleitend erzählen die Menschen dahinter von ihrem Werk und dem Ort: Der Landschaftsarchitekt spricht über alte Wege und neue Sicht­achsen, Trockenmauern und Geburtshelfer­ kröten. Der Architekt erklärt, was lokales Bauen für ihn heisst und wie der Förster ihn auf die Douglasie brachte. Der Holzbauer lässt seine Geschichte Revue passieren, vom Zimmermannshandwerk zum voll automatisierten Ma­ schinenpark. Der Künstler berichtet, wie die Handmotive entstanden, die die Decke des Saals zieren, und wie sei­ ne Frau diese für das Weben in tiefblauem Seidendamast übersetzte. Das Pächtertrio erzählt vom happigen, aber gelungenen Neuanfang und dem kulinarischen Spagat zwischen Chateaubriand und einfachen Pilgermenüs. Das Fotografenpaar Kuster Frey trug eine Bilderstre­ cke aus der Umgebung und dem Innern des Gasthauses zu diesem Heft bei. Franca Pedrazzetti fotografierte die Beteiligten vor Ort.  Palle Petersen

Impressum Verlag  Hochparterre AG  Adressen  Ausstellungsstrasse 25, CH - 8005 Zürich, Telefon + 41 44 444 28 88, www.hochparterre.ch, verlag @ hochparterre.ch, redaktion @ hochparterre.ch Verleger  Köbi Gantenbein  Geschäftsleitung  Lilia Glanzmann, Werner Huber, Agnes Schmid  Verlagsleiterin  Susanne von Arx  Konzept und Redaktion  Palle Petersen  Fotografie Umgebung und Gebäude  Kuster Frey, www.kusterfrey.ch  Fotografie Porträts  Franca Pedrazzetti, www.pedrazzetti.ch  Art Direction  Antje Reineck  Layout  Juliane Wollensack  Produktion  Linda Malzacher  Korrektorat  Dominik Süess, Lorena Nipkow  Lithografie  Team media, Gurtnellen  Druck  Stämpfli AG, Bern Herausgeber  Hochparterre in Zusammenarbeit mit der Albert Koechlin Stiftung, Luzern Bestellen  shop.hochparterre.ch, Fr. 15.—, € 12.—

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Vom Betonbunker zum zweiten Wallfahrtsort Die Marienkapelle ist saniert. Die Pläne für das Gasthaus aber stiessen auf grossen Widerstand. Im zweiten Anlauf hörte der Architekt genau zu und schuf einen passenden Holzbau. Text: Karin Salm

Das Postauto bringt uns über die schmale und kurvenreiche Stras­s e im Waldtobel nach Hergiswald hinauf. Wir freuen uns über die Fahrkünste des Chauffeurs und staunen beim Aussteigen: Die Wallfahrtskirche, die als eines der wichtigsten frühbarocken Bauwerke der Innerschweiz gilt, liegt versteckt und unscheinbar zuunterst in der Senke der Waldlichtung. Verwundert reiben wir uns die Augen. Was ist hier wohl schiefgelaufen ? Warum stehlen die prächtige Kaplanei und der Profanbau, das neue Gasthaus, dem sakralen Prunkstück die Show ? Rasch gehen wir am Gasthaus vorbei, der Architekt mag uns das verzeihen, hinunter zur Kirchentür, treten ein und sind erst einmal sprachlos. Der grandiose Bilderhimmel, die abenteuerlich ineinander geschachtelten Kapellen, bei denen die Loretokapelle die Hauptrolle spielt. Wir nehmen Dieter Bitterlis Kunstführer zur Hand und erfahren, dass man früher zu Fuss auf steilen Pilgerpfaden zu diesem Marienheiligtum gelangte. Entweder nahm man den Trittliweg und kam bei der talseitigen Treppe direkt vor der Kirche an, oder man erklomm den noch immer begehbaren Prügelweg und trat auf der Hinterseite des Gasthauses aus dem Wald. Diese Variante beglückte die Pilger mit einer raffinierten Inszenierung: die Wallfahrtskirche inmitten von grünen, modulierten Bergmatten, dahinter die schroffe Nordseite des Pilatus. Wir lernen: Wer heute in Hergiswald mit Postauto oder Privatwagen über die 1895 angelegte Strasse anfährt, kommt also eigentlich falsch an. Wer den Ort in seiner ursprünglichen Art erleben möchte, muss den steilen Prügelweg durch den Wald hinaufwandern und dann aus dem Dunkel heraustreten. Und wir verstehen auch: Die Kirche ist die Keimzelle dieses Ortes. Wegen ihr ist im terrassierten Gelände ein besonderes Ensemble einschliesslich der Profanbauten entstanden.

rienkapelle. Ihr Äusseres mit dem steilen Walmdach ist schlicht, das Innere beeindruckt mit barockem, verspieltem Prunk aus Figuren und einem bunten Bilderhimmel. Weil der Pfarrer irgendwo wohnen musste, baute man weiter oben am Hang eine herrschaftliche Kaplanei mit Seitenlauben, dazu für die hungrigen und durstigen Pilger ein Gasthaus am oberen Waldrand. Später kam eine mächtige Stallscheune hinzu. Dass Pater Ludwig von Wyl Mitte des 17. Jahrhunderts die Idee eines ‹ S acro Monte › mit insgesamt fünfzehn zusätzlichen Kapellen und kolossalen Treppenanlagen wälzte, sei nur nebenbei erwähnt: Erfolglos weibelte er beim Luzerner Rat für sein Projekt. Obwohl das spektakuläre Projekt nie realisiert wurde, ist das Hergiswalder Ensemble heute ein Objekt von nationaler Bedeutung und im Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz ( ISOS ) als Spezialfall aufgeführt. Wer hier etwas verändern will, steht unter besonderer Beobachtung. Das hat die Albert Koechlin Stiftung ( AKS ) siehe Seite 7 erfahren. Sie ist für die Kirche, das Gasthaus und die Scheune verantwortlich, seit sie 2002 mit der Kapellenstiftung Hergiswald einen Baurechtsvertrag für sechzig Jahre unterschrieben hat. Um die Jahrtausendwende war die Kirchgemeinde auf Geldsuche, um die unansehnlich gewordene Kirche zu renovieren. « Die AKS hat Hergiswald als Kraftort erkannt. Statt nur Geld zu spenden, wollten wir Verantwortung übernehmen », schildert die heutige AKS-Geschäftsführerin Marianne Schnarwiler die damalige Situation. 2006 wurde die sorgfältige Sanierung der Kirche gefeiert.

« Jesses nei ! »: ein Betonbunker Auch das Gasthaus habe eine Sanierung dringend nötig, fand die Stiftung und schrieb einen Architekturwettbewerb aus. 2009 kam die Jury zum Schluss, dass ein zweistöckiger, fünf­eckiger Betonbau mit Flachdach und gros­ser Terrasse etwas oberhalb des alten Gasthauses die beste Lösung sei. Das löste eine Welle der Empörung aus. « Jesses nei ! Was passiert denn da ? », entfuhr es Kathrin Graber. Die damalige CVP-Einwohnerrätin startete mit einem überparteilichen Komitee eine Petition gegen diese Bethäuschen, Marienkapelle und ‹ Sacro Monte › Die Geschichte begann 1501, als vornehme Gönner « Bergstation », gegen den « Betonbunker » und für den « Eraus der Stadt Luzern dem Eremiten Johann Wagner ein halt eines intakten Ortsbildes ». In Rekordzeit waren mehr Bethäuschen samt Altar errichten liessen. Aus der Ere- als 2500 Unterschriften beisammen. Im Komitee mit damitenkapelle auf der Waldlichtung entstand schrittweise bei waren unter anderen der Kunsthistoriker Dieter Bitterli und dank der Luzerner Patrizierfamilie von Wyl die Ma- und der Krienser Restaurator Heinz Schwarz. →

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Die Wallfahrtskirche in Hergiswald ist eines der wichtigsten frühbarocken Bauwerke der Innerschweiz.

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Der kassettierte Bilderhimmel der Hauptkirche überwölbt die Kapelle mit dem Loretoheiligtum.

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Situation Hergiswald 1 Prügelweg 2 Gasthaus mit Pilgerstube 3 Sigristenhaus 4 Scheune 5 Wallfahrtskirche 6 Kaplaneibach 7 Kaplanei 8 K lause von Johann Wagner

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Peter Becker, Präsident der Stiftung Pro Hergiswald, und Marianne Schnarwiler, Geschäftsführerin der AKS. Caminada stellt Fragen, will wissen, was den Anwesenden Hergiswald bedeutet, welche Änderungen möglich sind. Allerlei notiert er in sein schwarzes Büchlein. Drei Monate später skizziert der Architekt seine Ideen: Auf den Grundmauern des alten Gasthauses soll ein neues Gebäude mit Gästezimmern und Pilgerraum entstehen. Weitere Gesprächsrunden finden statt: mit verschiedenen Vertretern des Petitionskomitees, des Heimatschutzes, des Landschaftsschutzverbands Vierwaldstättersee, der Denkmalpflege und der Gemeinde. Caminada entwirft, hört zu und justiert seine Pläne, denen der Stiftungsrat der AKS zustimmt. Die ENHK reist aus Bern an, studiert Hergiswald und Caminadas Entwürfe und kommt zum Schluss, dass Abbruch und Neubau des Gasthauses gesamthaft nur eine leichte Beeinträchtigung des Ortsbildes darstellen. Einem Neubau steht nichts mehr im Wege. Danach geht es schnell und ohne Einsprachen voran: Im März 2017 liegt die Baubewilligung vor, im Herbst beginnt der Abbruch, im November steht der Baukran, im Sommer darauf ist der Blockbau fertig, Anfang Februar 2019 nimmt das Pächtertrio die Schlüssel in Empfang. Für den Krienser Restaurator Heinz Schwarz bleibt der Abbruch des alten Gasthauses ein Verlust: « S eit wann ist eine Kopie besser als das Original ? » Die ehemalige Der Neustart gelingt Zwei Jahre später geht der Stiftungsrat über die Bü- Einwohnerrätin und Kritikerin Kathrin Graber dagegen cher und wählt einen neuen Weg. Anstelle eines erneuten ist zufrieden: « D er Widerstand hat sich gelohnt. » EbenWettbewerbs engagiert die Stiftung direkt den Bündner so Peter Becker: « Das ganze Ensemble erstrahlt in neuem Architekten Gion A. Caminada. Er weiss, wie man mit Holz Glanz. Nun haben wir zwei Wallfahrtsorte: die Kirche und baut und das traditionelle Handwerk in eine zeitgemässe das Gasthaus. » Archicultura findet, das Projekt habe « die Sprache überträgt, zudem ist er erprobt im Umgang mit regional- und orts­t ypi­sche Bauweise gut berücksichtigt ». verfahrenen Bauaufgaben. An einem schönen Tag im Au- Und Urs Steiger, Präsident des Landschaftsschutzvergust 2014 sitzt eine bunt zusammengewürfelte Gruppe bands Vierwaldstättersee, richtet aus, man treffe sich für an einem langen Tisch vor dem Gasthaus, darunter die die nächste Generalversammlung in Hergiswald. « Das ist Neubaukritiker Kathrin Graber und Dieter Bitterli sowie doch ein Statement, dass wir zufrieden sind ! »  → Auf Empfehlung des Architekten Gerold Kunz entliess die Gemeinde das Gasthaus trotz Protesten aus dem kommunalen Inventar. In seinem denkmalpflegerischen Gutachten war Kunz zur Erkenntnis gekommen, dass das Gasthaus als einziges Gebäude in Hergiswald verschiedenste Um- und Ausbauten erlebt hatte und diese die Gebäudesubstanz stark reduzierten. Das Ortsbild aber habe keinen Schaden genommen. Kunz folgerte, dass mit einem Neubau ein gleichwertiger Ersatz erstellt werden könne. Heute sagt Kunz: « Die Situation war angespannt, Freundschaften drohten in die Brüche zu gehen. » Schliesslich erteilte der Gemeinderat die Baubewilligung. Prompt reichten der Landschaftsschutzverband Vierwaldstättersee und die Stiftung für Orts- und Landschaftsbildpflege Archicultura Einsprache ein. Mit einem Umweg über das Bundesgericht hiess das Verwaltungsgericht die Beschwerde gut und hob die Baubewilligung im Sommer 2011 auf: Das Bauvorhaben müsse durch die Eidgenössische Natur- und Heimatschutzkommission ( ENHK ) beurteilt werden. Logisch, denn Hergiswald ist im ISOS aufgeführt, und der Neubau liegt in der Landwirtschaftszone, also aus­ser­halb der Bauzone. Die baurechtlichen Rahmenbedingungen waren und sind entsprechend diffizil. Ende August 2011 legte die AKS das Neubauprojekt auf Eis.

Albert Koechlin Stiftung Seit 1997 verfolgt die ­Stiftung einen klar formulierten Zweck: das Gemeinwohl von Mensch und Lebensraum in der Innerschweiz. Sie unterstützt Projekte in den Bereichen Soziales, Bildung, Kultur, Wirtschaft und Umwelt. Zurzeit sind es 290 Projekte, etwa ein Viertel basiert auf eigenen Initiativen. Mit neun Mitarbeitenden und einer Lernenden koordiniert die Luzerner Geschäftsstelle ein jährliches Projektbudget von rund zehn Millionen Franken. Das Stiftungskapital stammt aus dem Erbe des Unternehmers Rudolf ­Albert Koechlin ( 1859 – 1927 ), der in der Bank-, Elektround Pharma­industrie tätig gewesen war.

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Das Hergiswalder Ensemble ist national bedeutend und umfasst Gast- und Sigristenhaus, Wallfahrtskirche, Scheune und Kaplanei von links nach rechts.

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Der Landschaftsarchitekt und seine Frösche

« Ein bisschen aufräumen » Wallfahrtsort, Kulturlandschaft, Geburtshelferkröten: Der Luzerner Landschaftsarchitekt Markus Bieri musste in Hergiswald auf Verschiedenes Rücksicht nehmen. Für mich war schnell klar, dass wir diesen Ort, der über die Jahrhunderte so viele Veränderungen erfahren hat, nicht neu erfinden müssen. Es ging nicht darum, den al­ ten Wallfahrtsort zusätzlich aufzuladen, eine markante Handschrift zu hinterlassen oder etwas zu rekonstruieren. Die Idee war eher, ein bisschen aufzuräumen, den Ort zu klären und zu schärfen. Darum ist es vermutlich bezeich­ nend, dass Gion A. Caminada und ich zuerst einmal nur darüber sprachen, was uns hier stört. Und das ausgerech­ net an diesem sagenhaften Ort mit der Barockkirche, dem Pilatus und der fantastischen Aussicht ! Die Kirche und die Kaplanei sind klar gefasste Orte. Das Gasthaus und die Scheune aber lese ich als Bestand­ teile der offenen Kulturlandschaft. Daraus folgten zwei Eingriffe: Zum einen haben wir die Pflanzen, wie wir sie aus Gärten um Einfamilienhäuser kennen, radikal ent­ fernt. Thujahecken, Scheinzypressen, Forsythien – das alles musste weg. Stattdessen haben wir einheimische, ortstypische Pflanzen verwendet. Zum anderen haben wir den dominanten Parkplatz verschoben. Vorher lag er so zentral, dass die vielen Autos die Sicht auf die Kirche versperrten. Nun befindet er sich hinter der Scheune am Hang, sodass der Blick auf die Kirche frei ist. Es gibt am alten Ort noch einzelne Parkmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung, ansonsten wächst dort jetzt eine Wie­ se. In Absprache mit der Landwirtin, die das Land bewirt­ schaftet, haben wir auch ein paar Obstbäume gesetzt. Leider mussten wir zwischen Gasthaus und Kirche zwei gros­se Fichten fällen, weil sie von einem Pilz befal­ len waren. Als Ersatz haben wir eine Douglasie und eine Föhre gepflanzt, zwei pilzresistente Nadelbäume, die auch in den umliegenden Wäldern anzutreffen sind. Die neuen

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Bäume und die beiden alten Föhren vor dem Gasthaus er­ innern da­ran, dass es nördlich des Gasthauses einst einen kleinen Park mit Nadelbäumen und Wasserbecken gab. Reste dieses Bas­sins haben wir gefunden und in Anleh­ nung da­ran ein neues gebaut. Ein schmaler Kiesweg verbin­ det Wasserbecken und Gasthaus. Damit haben wir den al­ ten Pilgerweg aktiviert: Bevor ab 1895 die Fahr­stras­se nach Hergiswald führte, mussten alle über den steilen Wald­ pfad hinauflaufen. Jetzt haben diejenigen Besucher, die zu Fuss aufsteigen, wieder den ursprünglichen, inszenierten Blick auf die Kirche in der Waldsenke und den Pilatus. Vielleicht wundern Sie sich über die Kieshäufchen am Rand des Wasserbeckens ? Das sind Ein- und Ausstiegshil­ fen für Geburtshelferkröten. Hier, zwischen Scheune und Waldrand, befindet sich nämlich ein wichtiges Amphibien­ schutzgebiet. Den vorhandenen Löschteich nutzen die ‹ Glögglifrösche ›, wie die Kröten auch genannt werden, als Laichplatz. Die alten Trockenmauern, die ihnen als Rück­ zugsort dienen, mussten wir extrem vorsichtig sanieren. Ein Amphibienspezialist hat quasi jeden Stein kon­trol­liert, bevor er entfernt und wieder platziert wurde. Bei den Tro­ ckenmauern, die wir vor dem Gasthaus gebaut haben, ha­ ben wir Steine einer eingestürzten Kellermauer mit neuen Steinen kombiniert. Wir haben lange herumprobiert, um ein stimmiges Erscheinungsbild zu erhalten. Besonders freut mich der Belag vor dem Gasthaus mit den über­gros­sen, mit Kreuzfugen diagonal verlegten Pflastersteinen. Es ist ein Privileg, dass wir in der langen Hergiswalder Geschichte ein Kapitel mitschreiben durf­ ten. Ich weiss: Diese Geschichte geht weiter. Gleichzeitig hoffe ich aber auch, dass der Ort schlicht bleibt und nicht allzu sehr aufgehübscht wird.  Aufgezeichnet: Karin Salm

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Markus Bieri ( * 1967 ) führt in Luzern das Büro Freiraumarchitektur. Bevor er Landschaftsarchitektur an der Hochschule für Technik in Rapperswil studierte, sammelte er praktische Erfahrungen im Garten- und Landschaftsbau.

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Der Architekt und seine Orte

« Etwas Leiden gehört dazu » Gion A. Caminada sucht beim Bauen die Nähe zu den Menschen und Dingen. Dass dabei auch Reibung entsteht, ist für ihn eine Voraussetzung für ein gelungenes Bauwerk. Im Zusammenhang mit lokalem Bauen spricht man mich oft auf meine Heimat Vrin im Bündner Val Lumnezia an. Wo ich verwurzelt bin, spielt für meinen Begriff des Loka­ len aber keine Rolle. Mich interessieren die Beziehungen zu den am Bau beteiligten Menschen und die Nähe zu den Dingen am Ort. Das kann überall sein, sei es in der Stadt Zürich oder eben hier in Hergiswald. Bauen ist immer Wei­ terbauen, ein Eingriff in das Hier und Jetzt. In Vrin faszi­ niert es mich, an der Kontinuität eines Ortes mitzuwirken. Andernorts tut gerade ein Bruch gut. Wie baut man einen Ort ? Dafür gibt es kein Rezept. Die Kirche, das Gasthaus und der Weg – diese drei Elemente und ihre Beziehung zueinander machen Hergis­ wald aus. Wir wollten das innere Leben des Ortes stärken. Der erste wichtige Entscheid war, das neue Gasthaus an der Stelle des alten zu errichten ; direkt am Pilgerweg und in ausgewogener Distanz zur Kirche. Der zweite Grundent­ scheid war der Erhalt des gemauerten Kellers. Er ist eine Erinnerung und zeigt unsere Wertschätzung für das alte Gasthaus und seine Erbauer. Ein Vorgängerprojekt sah weiter oben am Hang ein Restaurant in Form eines fünf­eckigen Betonbaus vor. Es gab Widerstand von Menschen aus der Gegend, von guten Leuten, die den Ort schätzen und seinen Verlust fürchte­ ten. Wir setzten uns mit ihnen an einen Tisch und fragten, was ihnen wichtig sei. Sich annähern, Vertrauen gewinnen und die Menschen überzeugen – das ist der Anfang eines Projekts und das, was ich am liebsten tue.

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Erst später dachten wir über den eigentlichen Bau nach. Er steht frei und braucht darum eine starke Präsenz. Nach Vor­ gaben des Ortsbildschutzes sollte er dem früheren Strick­ bau « wesensgleich » sein. Das lässt vieles offen, aber es stand für uns fest, dass wir mit Holz bauen wollten. Für die privateren Räume in den oberen Geschossen schien uns die geschlossene Strickbauweise angemessen, nicht aber in den öffentlichen Bereichen mit Res­t au­rant und Saal. Zudem würde sich ein Strickbau über vier Geschosse zu stark setzen. Wir suchten also nach einer Bauweise für den unteren Teil und nach einem geeigneten Kon­struk­tions­ holz. Bei einem Waldspaziergang brachte uns der Schwy­ zer Kantonsförster Theo Weber auf die Douglasie. Sie ist witterungsbeständig und eignet sich darum für aus­sen und innen. Aus ihren kräftigen Stämmen lassen sich massive Profile für Stützen und Balken sägen. Und ihr Farbton ist rötlich – wunderschön. Mit regionaler Douglasie bauten wir nicht nur die Trag­kon­struk­ti­on und die Fassade, sondern auch Böden und Einbaumöbel in den Zimmern. Die Anschlüsse zwischen dem alten Mauerwerk, dem neuen Beton und den beiden Holzbausystemen waren an­ spruchsvoll. Ein Haus mit einer einzigen Bauweise kann atmosphärisch stark wirken, ist planerisch und finanziell aber oft ein Kraft­akt. Ein durchdachter Hybridbau kann vergleichsweise vorteilhaft sein. Ob man sich an kon­struk­ ti­ven Problemen reibt oder an zwischenmenschlichen Fra­ gen – etwas Leiden gehört zu jedem Projekt, sonst entsteht wenig Sinnvolles.  Aufgezeichnet: Deborah Fehlmann

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Gion A. Caminada ( * 1957 ) ist Architekt in Vrin und Professor für Architektur und Entwurf an der ETH Zürich.

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Das blaue Raumwunder Von der intimen Pilgerstube über die Seidendamastdecke im Festsaal bis zur kraftvollen Holzkammer: Das Gasthaus überrascht mit unterschiedlichen Raumstimmungen. Text: Deborah Fehlmann

Früher kamen die Pilger über den steilen Prügelweg nach Hergiswald. Heute reisen die Besucher meist mit Auto oder Bus an und überblicken das Ensemble von der erhöhten Stras­se her. Den Auftakt macht die Kaplanei, hang­ab­wärts ragt das Kirchendach auf, und seit letztem Frühling leuch­ tet am entfernten Ende der Gebäudegruppe das rötliche Douglasienholz des neuen Gasthauses. Es steht auf dem steinernen Untergeschoss seines Vorgängers. Talseitig sind die alten Mauern sichtbar, hangaufwärts versinken sie im Terrain. Der Holzbau darüber hat drei Vollgeschos­ se und ein Giebeldach. Die unteren beiden Geschosse sind grosszügig verglast: Hier befinden sich die öffentli­ chen Räume, das Res­t au­rant und der Saal. Säge­rohe Holz­ schalung verkleidet die niedrigen Brüstungsbänder. Mas­ sive Holzstützen geben den Takt der dahinterliegenden Fenster vor. Nach unten greifen die Stützen über das Kel­ lergeschoss, sie stehen auf einem niedrigen Betonsockel. Über ihnen sitzt ein Strickbau mit Lochfenstern und tie­ fen Log­gien. Er beherbergt die vier Gästezimmer, zuoberst eine Suite und die Wirtewohnung. Einkehr und Aussicht Gion A. Caminada steht in der Januarsonne und be­ gutachtet das Haus. Beidseits des Giebels durchstossen die Eckverbände der Innenwände die Fassade, im unteren Teil nur um zwei Handbreit. Unter dem Dach wachsen sie zu Wandflügeln von gut einem Meter an und fassen ein gros­ses Giebelfenster. Zugleich tragen sie die hölzernen Zugstangen der Dachkonstruktion und die Sparren des Vor­dachs. « Statisch ist das ein Überschuss, mehr, als es zum Tragen braucht », erklärt der Architekt, der schon oft mit dieser Bauweise experimentiert hat. « Aber dieses Mehr erzeugt eine Wechselwirkung zwischen den Elemen­ ten, die dem Strickbau seinen Ausdruck verleihen. » Wer

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denkt, der behäbigen Strickbauweise lasse sich keine Ex­ pressivität entlocken, wird hier eines Besseren belehrt. Hangabwärts, wo der Prügelweg den Wald verlässt, geht das konstruktive Spiel weiter. Mit schweren Mauern aus Sichtbeton, die bis unter den Strickbau reichen, empfängt das Gasthaus die Wanderer. Samt Kellergeschoss wächst es auf eine imposante Höhe an und wirkt mit seinen we­ nigen Öffnungen beinahe wehrhaft. Auch die Kirche sieht aus dieser Perspektive eindrücklich aus. Auf dem Hügel im Hintergrund thront die Kaplanei. An der Ecke sitzt ein grosses Fenster aussenbündig in der Fassade. Die Pilgerstube dahinter steht auch weltli­ chen Gästen offen, die Ruhe suchen. Durch eine schlichte Tür treten sie ein in eine Atmosphäre stiller Geborgenheit. Grobkörniger Lehmputz dämpft die Geräusche und mit seiner erdig roten Farbe auch das Licht. Den Boden bede­ cken Stirnholzklötze aus dem Holz der Douglasie. Die Ein­ richtung ist auf das Wesentliche beschränkt: Zur Verpfle­ gung setzt man sich an einen langen Holztisch, wer Ruhe sucht, lässt sich auf der Wandbank gegenüber dem Fens­ ter nieder. « Die Stube ist eine Station für Pilger entlang ihres Wegs », sagt Caminada. « In der Regel sind solche Räume introvertiert. Wir haben den Bezug zur Umgebung gesucht. Das Fenster mit Blick in den Wald soll eine Ver­ bindung zwischen Mensch und Natur ermöglichen – ein Jenseits von Natur und Kultur. » Der Ort der Einkehr wirkt im massiven Sockelge­ schoss direkt am Pilgerweg selbstverständlich, ist es mit Blick auf die weiteren Nutzungen des Gasthauses aber mitnichten. Hätten die Architekten dem Res­t au­rant hang­ ab­wärts eine Sonnenterrasse vorgelagert – angesichts des eindrücklichen Panoramas keine abwegige Idee –, wäre die Besinnlichkeit dahin gewesen. Doch sie platzierten die Terrasse hang­aufwärts, was zwei Vorteile mit sich bringt: Erstens lag das Terrain hier bereits auf der Höhe des Res­ tau­rants, womit sich eine aufwendige Terrassenkonstruk­ tion erübrigte. Zweitens hat das sandsteinbedeckte Ge­ ländeplateau davor nun den Zweck eines Ankunfts- und →

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Über den Grundmauern seines Vorgängers reckt sich das Gasthaus in die Höhe. Der Strickbau der Wohngeschosse sitzt über den verglasten Geschossen für Restaurant und Veranstaltungssaal.

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Gasthaus Hergiswald, 2019 Hergiswald, Obernau LU Auftrag: Direktauftrag, 2015 Bauherrschaft:  Albert Koechlin Stiftung, Luzern Architektur:  Gion A. Caminada, Vrin Projektleitung:  Jan Berni Bauleitung:  Schärli Architekten, Luzern Baustatik: Conzett Bronzini Partner, Chur Umgebung: Freiraumarchitektur, Luzern HLKS:  Zurfluh Lottenbach, Luzern Elektroplanung:  Gernet, Schwarzenberg Holzbau:  Tschopp, Hochdorf Baumeister:  Estermann, Geuensee Schreiner:  Vogel Design, Ruswil Saaldecke:  Christian Kathriner und Susanne Hissen, Luzern Baukosten:  keine Angaben Geschossfläche:  1361 m2 Untergeschoss 1 Technikraum 2 Pilgerstube 3 Keller 4 Weinkeller 5 Personal

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Erdgeschoss

Erdgeschoss 6 Küche 7 Kaminraum 8 Terrasse 9 Eingang 10 Lobby 11 Restaurant 1. Obergeschoss 12 Veranda 13 Foyer 14 O ffice 15 Saal 2. Obergeschoss 16 Büro 17 Zimmer 1 18 Zimmer 2 19 Zimmer 3 20 Zimmer 4

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Dachgeschoss 21 Küche 22 Wohnen 23 Schlafen 24 Zimmer 25 Suite

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Untergeschoss

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Kraftvolle Holzkammer: Zwei Dreiecksfachwerke rahmen die Treppe im Zimmergeschoss und überspannen den stützenfreien Saal darunter.

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Weisstanne sorgt in den Gästezimmern für eine helle Raumstimmung.

Farbige Kacheln kontrastieren die Schnörkellosigkeit.

→ Durchgangsortes, der auch an regnerischen Tagen und im Winter nicht verlassen wirkt. Zum Wald hin fasst ihn ein eingeschossiger Sichtbetonanbau. Die gedeckte Veranda darüber dient dem Saal im ersten Stock als Aussenraum. Bilder für jeden Raum Ein kleines Vordach vereint Haupteingang und Ser­ vicetür, die wohl schon so mancher Gast verwechselt hat. Kreidepfeile schaffen fürs Erste Klarheit. Durch den Ein­ gangsbereich mit Garderobe geht Caminada zielstrebig in die Lobby. « Anfangs wollte ich die Mitte komplett frei halten », erinnert er sich. « D och letztlich haben wir das Gegenteil gemacht. Gerade hier kommt jetzt alles zu­ sammen. » Der kompakte Raum erschliesst nicht nur das Res­tau­rant, das ihn L-förmig umgibt, sondern auch die Küche. Der Lift und die Treppe ins Untergeschoss liegen versteckt in einer Ecke. Die Haupttreppe dagegen führt zwischen zwei wuchtigen Holzstützen prominent nach oben. Platten aus lokalem Sandstein verkleiden ihre Tritte und den Boden der Lobby, weis­ser Kalkputz bedeckt die Umfassungsmauern der Treppen. Während das Innenleben des Hauses im Kern kon­ zentriert ist, öffnet sich das Res­t au­rant in die Umgebung. Seine schma­len Flügel erstrecken sich über die Süd- und die Ostfassade. Entlang der Fenster sind die Tische auf­ gereiht. Massive Stützen und Balken aus Douglasie bilden das sichtbare Tragwerk. Am Boden liegen, wie in der Pil­ gerstube, Stirnholzklötze. Die tiefen Fensterbrüstungen dienen als Sitznischen und fassen den Raum. Der Rest ist Aussicht – auf die Kirche und den Wald, aber auch ins Tal und auf die fernen Berge. Beim Kaffee erzählt Caminada vom Entwerfen: « Für jeden Raum haben wir ein Bild gesucht, das seiner Nut­ zung entspricht. Das Res­t au­rant richtet sich nach aus­sen. Jeder Gast möchte am Fenster sitzen, also haben wir ei­ nen Raum entworfen, in dem es nur Fensterplätze gibt. » Obwohl der Saal darüber die gleichen Fenster hat, sieht Caminada ihn genau umgekehrt: « Hier kommt eine Gesell­

schaft zusammen, oftmals zum Feiern. Der Fokus liegt auf dem Zentrum. Der Raum sollte deshalb einzigartig sein, eine von aus­sen unerwartete Überraschung bieten. » Die­ sen Anspruch löste der Künstler Christian Kathriner mit einer dunkelblauen Decke aus Holz und Seidendamast ein, die in sechseckigen Kassetten eine Vielzahl von Hände­ paaren zeigt. Je nach Licht­einfall treten die eingewobenen Motive hervor oder verschwinden. Die Decke überspannt den Saal wie ein Baldachin und integriert zwei schwere, mit dunkelblauer Ölfarbe gestrichene Deckenträger, dank derer der Raum ohne Stützen auskommt. Passend zur ed­ len Decke hat der Festsaal als Einziger im Haus Böden und Fensterbänke aus Nussbaumholz. Holzkammern im Dachgeschoss Vom Foyer des Saals führt eine unscheinbare Trep­ pe in den Gästebereich hinauf. Über einen dämmrigen Vorraum – ganz in Holz – taucht man unmittelbar in die private Sphäre des Hauses ein. Er ist gerade gross genug für vier Zimmertüren, Treppe und Lift. Hier wird klar, wie der stützenfreie Saal statisch funktioniert: Ein Hängewerk aus Vollholz trägt die Lasten der Saaldecke und des Strick­ baus darüber auf vier gros­se Holzpfeiler ab, von denen je zwei an der südlichen Giebelfassade und in der Lobby sichtbar sind. Zwischen den mächtigen Fachwerken führt die Treppe ins Dachgeschoss. « Eine kraftvolle Holzkam­ mer », sagt Caminada begeistert. Nach dem schummrigen Auftakt überrascht die Hel­ ligkeit der Zimmer. Auch hier dominiert Holz. Allerdings sind die Wände mit Weisstanne verkleidet, die sich deut­ lich von den dunkleren Böden und Strickbauwänden aus Douglasie abhebt. Die Decken sind naturweiss verputzt. Drei Fenster, in den Eckzimmern fünf, lassen Tageslicht herein und geben den Blick auf die Landschaft frei. Die Gäste nächtigen in schlichtem Komfort: ein Bett, ein Schreibtisch, ein Lesesessel, hölzerne Einbauschränke. All die Schnörkellosigkeit kontrastierend leuchten die Ka­ cheln im Bad in bunten Farben.

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Der blaue Saal ist das Herz des Gasthauses. Die Kassettendecke erweist jener der Wallfahrtskirche ihre Reverenz. Die seidenen Handmotive erscheinen und verschwinden mit dem Licht.

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Der Künstler und seine Decke

« Dunkelheit stiftet Ruhe » Der Künstler Christian Kathriner liebt Räume und Textiles. Für den Festsaal gestaltete er eine seidenbespannte Kassettendecke, die sich im Licht verändert. Am Anfang spielte ich mit dem Gedanken einer völlig schwarzen Decke. Aber das wäre zu extrem gewesen. Jetzt ist sie blau. Wobei das Blau auch ein Grün ist – so wie bei den Innerschweizer Bergseen, in denen sich der Himmel und der Wald spiegeln. Auf jeden Fall musste die Decke dunkel sein. Dunkelheit stiftet Ruhe und Innerlichkeit, während das Helle von aus­sen in den Raum kommt. Ich habe mir vorgestellt, wie das Tageslicht als Streiflicht in den Raum fliesst, sodass die Bilder der Kassettendecke nach und nach aufscheinen, aber auch verdämmern. Die seidenbespannte Decke besteht aus 76 sechseckigen Kassetten. Es war eine ziemliche Rechnerei, diese Hexagone zu verteilen. Im Zentrum jeder Wabe ist ein Bild meiner Hände zu sehen. Sie führen symmetrische Gebärden vor. Die Symmetrie ist eine elementare Bildform, die auch in der Heraldik auftaucht. Und der Festsaal selbst ist symmetrisch. Ich habe mit meinen Händen alle erdenklichen Gesten und Positionen durchgespielt. Am Ende hatten wir rund 6000 Varianten fotografiert – und damit bei der Entscheidung die Qual der Wahl. Das Motiv der Hände spricht zum einen vom Begreifen, vom Verstehen. Zum anderen verweist es auf das elementare Handwerk. Die traditionelle Zimmermannskunst ist im Neubau denn auch zentral. Die Bilder haben keinen konkreten, festgeschriebenen Sinn, sondern sollen immer wieder zur Entschlüsselung locken.

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Meine Frau Susanne Hissen ist Textildesignerin. Sie hat die 76 Händepaare der Fotos in Jacquardbindungen übersetzt, um sie als Seidendamast zu weben. Dieser Transfer macht sie zur Mitautorin des Werks. Damast ist eine raffinierte antike Webtechnik, bei der Figur und Grund im Wechselspiel des Lichts hervortreten. Zudem ist Seide ein fantastisches Material, sie wirkt geschmeidig und hart zugleich. Auf Seidendamast entwickelt das Licht eine tolle Wirkung. Die bespannte Kassettendecke lebt förmlich. Wenn Sie die Decke anschauen, eines der Bilder betrachten und dann einen Schritt machen, verdämmert dieses langsam. Den Stoff fertigte eine Seidenweberei in Como. Die Wände des Festsaals liessen wir mit Ölfarbe streichen, denn diese verhält sich optisch wie der Damast. Das Blau der Decke und die 76 Kassettenbilder erinnern Sie an den Bilderhimmel in der benachbarten Wallfahrtskirche ? Die Verwandtschaft ist offenkundig, aber der Architekt Gion A. Caminada und ich wollten nie direkt und vordergründig damit argumentieren. Die Festsaaldecke ist ein eigenständiger Bestandteil des Neubaus und gleichzeitig ein Echo der so prägenden Decke der Kirche. Das Projekt haben wir immer wieder als ‹ Baldachin › bezeichnet. Mit der Kirche und dem Ort habe ich mich schon vorher intensiv beschäftigt: 2009 habe ich dort im Rahmen der Ausstellung ‹ Transit 09 › eine gros­se, raumgreifende textile Installation geschaffen.  Aufgezeichnet: Karin Salm

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Christian Kathriner ( * 1974 ) ist bildender Künstler nahe Luzern. Für seine Ausstellungen und Arbeiten, die sich oft mit architektonischen Situationen beschäftigen, erhielt er Preise und Residenzen. An der Kunstakademie Düsseldorf studierte er Malerei, Philosophie und Kunstgeschichte.

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Der Holzbauer und seine Douglasie

« Die Zeit tickt für den Holzbau » Als Ivan Tschopp Zimmermann wurde, war der Holzbau noch ein Handwerk. Heute leitet er einen Betrieb mit 100 Angestellten und einer 58 Meter langen robotischen Anlage. Es ist natürlich Zufall, aber ich bin genauso alt wie meine Holzbaufirma. 1972 gründeten meine Eltern sie oben im Dorf, in einer gemieteten Halle und mit einem Mitarbeiter. Als Kind spielte ich oft in der Bude mit Klötzchen. In den späten Achtzigern machte ich eine Zimmermannslehre im Betrieb. Wir hatten zwar damals schon die erste Abbundanlage, doch musste man noch jedes Bauteil einzeln programmieren. Wir haben auch noch viel von Hand abgebunden. ‹ Abbinden ›, das Wort kommt übrigens daher, dass die Zimmerleute zum An­reis­s en und Zuschneiden der Kon­struk­tions­hölzer früher die wahren Längen auf dem Reissboden abschnürten. Als ich Mitte der Neunziger, nach Anstellungen in der West- und in der Innerschweiz, wieder in den Familienbetrieb eintrat, kam bald die erste voll automatisierte Brettstapelanlage. Das war eine spannende Zeit. Während ich erst Polier und Zimmermeister, dann Bereichsleiter Holzbau und schliesslich Geschäftsführer wurde, bauten wir die Marke Bresta auf. Das ist unser Massivholzsystem ohne Leim oder Metallverbindungen. Die Grund­idee stammt von einem Lausanner Professor und besteht darin, Seitenbretter zu verbinden, die sozusagen als Nebenprodukt entstehen, wenn man Balken sägt. Anfangs wurden die Bretter auf der Baustelle zu grösseren Bauteilen zusammengenagelt. Mein Vater sagte: « Kann man das denn nicht dübeln ? Ich bin doch keine Nagelfabrik. » Er kontaktierte den Holzbauingenieur Pirmin Jung, der in jungen Jahren bei uns eine Zimmermannslehre gemacht hatte. Gemeinsam entwickelten sie die Verbindung mit Buchendübeln. Seit ein paar Jahren produzieren wir mit diesem System auch Akustikdecken, wobei sich Holzlamellen und mit Holznägeln aufgenagelte Holzfaserschichten abwechseln. Die Abdeckung besteht oft aus Schafwolle. Was Nutzung, Grösse und Komplexität angeht, ist das Gasthaus Hergiswald aussergewöhnlich. Mir gefallen seine stolze Präsenz und das Douglasienholz. Die Decken in den Obergeschossen sind aus Bresta-Elementen im Verbund mit Beton gebaut. Aus­s er­dem gibt es Rahmenbauteile und sichtbare Balkenlagen sowie den Strickbau, der Neu-

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land für uns war. Unterstützt von einem Holzbauer aus Graubünden haben wir viel gelernt über Setzmasse und die Finessen des Stricks. Ob wir wohl bald die Gelegenheit erhalten, das erworbene Wissen erneut anzuwenden ? Der Holzbau wird immer industrieller. Seit die Brandschutznormen 2005 änderten, kann man nicht mehr nur Ein- und Zweifamilienhäuser bauen, sondern auch mehrgeschossig und mit sichtbarem Konstruktionsholz. Das wird zunehmen, denn die Zeit tickt für den heimischen, nachwachsenden Baustoff. Die Verdichtung an vielen Orten, die Aufstockungen nahelegt, spielt uns Holzbauern ebenfalls in die Hände. Parallel dazu haben sich die Holzwerkstoffe enorm entwickelt. Die Kranbahnträger unserer neuen Produktionshalle beispielsweise bestehen aus Baubuche. Mit dieser ist man punkto Spannweiten und Dimensionen schon fast beim Stahl. In der Halle steht eine Multifunktionsbrücke von Technowood, einem KMU, wie wir eines sind, aus dem Toggenburg. Die Anlage ist 58 Meter lang und vier Meter breit. Wir benutzen sie vor allem für den Elementbau und um Freiformen zu fräsen. Sie hat fünf Achsen und wechselt eigenständig die Werkzeugköpfe zum Sägen, Fräsen, Bohren und Klammern. Ob mir die Digitalisierung des Bauens Sorgen bereitet ? Im Gegenteil: Die Arbeit mit einem digitalen Zwilling ist dem vorfabrizierten Elementbau weitaus näher als anderen Bauweisen. Ohnehin bin ich kein Nostalgiker. Seit jeher hat Technik mich fasziniert, und es war sehr in­te­ res­sant, in den letzten Jahren die Anlagen und Abläufe für die neue Werkhalle zu planen. Auch im Betrieb machen wir vorwärts, erfassen unsere Stunden per Smart­phone und planen die Auslastung der Mitarbeiter und der Fahrzeuge digital. Sicherlich wird die Arbeit von Zimmerleuten immer maschineller. Vermutlich wird der Elementbau, der im Betrieb heute ähnlich stark ist wie der konventionelle Holzbau, zunehmen. Doch ein Drittel unseres Umsatzes machen wir mit Umbauten und Innenausbauten. Das wird sich kaum ändern, und da bleibt der Zimmermann ein Handwerker – mit der Bohrmaschine in der Hand und dem Hammer am Gurt.  Aufgezeichnet: Palle Petersen

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Ivan Tschopp ( * 1972 ) ist Inhaber und Geschäftsführer von Tschopp Holzbau in Hochdorf bei Luzern. Der gelernte Zimmermeister errichtet mit seinem Team vor allem Landwirtschafts- und Wohnbauten in der Region, bietet aber auch Gesamtleistungen, Innenausbauten und Umbauten an.

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Hundert Douglasien und eine Handvoll Zimmerleute Kompakte Kammern und ein geräumiger Saal, geborgene Zimmer und ein Restaurant mit Weitblick – das alles bringt der hybride Holzbau unter einen Hut. Text: Palle Petersen

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Während die Stämme in der Sägerei erst an der Luft und dann in der beheizten Kammer trockneten, entwickelte Gion A. Caminada mit den Ingenieuren von Conzett Bronzini Partner und dem Holzbauer Tschopp die Kon­struk­ti­on. Konstruktiv betrachtet ist das neue Gasthaus Hergiswald Im März kamen die gesägten und gehobelten Stämme ins kein Filet, eher eine Minestrone: Über dem Ständer- und Werk in Hochdorf, und die Produktion der Elemente beRahmenbau der unteren drei Geschosse sitzt ein doppel- gann. Insgesamt 180 ausgedämmte Decken-, Wand- und stöckiger Strickbau. Neben konventionellen Beton- und Dach­elemente und 46 Voll­holz­decken­elemente mussten Balkendecken gibt es Vollholzdecken, die im Verbund den Weg ‹ just in time › auf die Baustelle finden, denn der mit Beton tragen. Das Dach besteht aus gros­s en Tafel­ Lagerplatz in Hergiswald war knapp. Elf Fuhren brachte der elementen. Als wäre das nicht genug, stülpt sich das Gast- Lastwagen, kleinere Bauteile für Wandverkleidungen und haus über die Fundationsmauern seines Vorgängerbaus dergleichen nahmen die Zimmerleute auf Anhängern mit. und einen neuen Seitentrakt aus Beton. Was kompliziert klingt, ist pragmatisch. Keiner der Wie ein Brückenbauer gedacht Beteiligten suchte das Experiment. Vielmehr entwickelAls der Holzbau im Mai 2018 begann, war der Zeitte sich die Hybridkonstruktion aus räumlichen Ideen und druck keineswegs vorbei: « D er Baumeister war zwei WoBedingungen des Ortes. Holz war als Material gesetzt, da chen verspätet, das mussten wir aufholen », erzählt Binder. der Kanton für den Abriss des alten Gasthauses einen we- Mit einer Handvoll Zimmerleuten errichtete er in nur zehn sensgleichen Ersatz forderte. « Alles Weitere ergab sich Wochen den Holzbau über der betonierten Untergeschossaus dem Gebrauch », sagt Gion A. Caminada. Der Architekt decke. Als Erstes stellten sie die inneren Ständer des Erdund sein Team hatten sich bei den Gästezimmern und der geschosses auf die Grundmauern des alten Gasthauses Wirtewohnung in den obersten Geschossen rasch für die und platzierten darauf die Balkendecke in elf Elementen. Geborgenheit einer gestrickten Lochfassade entschieden. Dann kamen die aus den gröss­t en Stämmen gesägten AusDie Geschosse darunter sollten viel Tageslicht erhalten. senständer, die sich über drei Geschosse erstrecken und « Wir versuchten es zuerst mit einem geschindelten Rah- auf dem betonierten Sockelkranz vor den alten Mauern menbau, doch dieser harmonierte nicht mit dem Strick stehen. « Die alten Grundmauern sind unglaublich schön, darüber », sagt Caminada. « S o kamen wir auf die Idee des hätten das Gewicht aber nicht allein tragen können », erStänderbaus, auf dem der Strick sitzt wie ein Nest. » klärt Caminada die Idee des Überstülpens. Heute lasten die Decken auf den inneren Ständern, und der Strickbau 400 Kubikmeter Rundholz und 180 Elemente liegt auf den äusseren. Im Brandfall kann jede Tragschicht « Im November 2017 war ich voll im Seich », erinnert die Lasten der anderen auffangen. Auf die wiederum geschosshohen Ständer des ersten sich Michael Binder. Als der Zimmermann für die Offerte Leitdetails zeichnete und Berechnungen anstellte, war Obergeschosses folgten Deckenelemente aus verdübelten das Holz noch im Wald. Der Architekt wollte Douglasie Holzbrettern. Wie sämtliches nicht sichtbare Holz – etwa verwenden, ein beständiges Holz mit markanten Jahrrin- für Dachsparren, Lukarnen und nicht tragende Wände gen und rötlichem Farbton. Die Bauherrin wünschte regio­ in Rahmenbauweise – sind sie aus Fichte gefertigt, denn nales Holz. Was bei Fichte kein Problem gewesen wäre – diese ist nur halb so teuer wie die Douglasie. Als Nächsvom gemeinen Konstruktionsholz gibt es jedes denkbare tes platzierten die Zimmerleute die beiden gros­sen Drei­ Profil trocken an Lager –, führte bei der Douglasie zu Zeit- ecks­fach­werke. Sie rahmen die Treppe zwischen den druck. So bestellte Binder, noch bevor die letzten Fragen Zimmergeschossen und überspannen den Saal im ersten geklärt waren, 400 Kubikmeter Rundholz aus den Wäldern Obergeschoss über die Quer­achse. Er ist das Herz des von Meggen, Reinach, Wolhusen und Zofingen – rund hun- Gasthauses. Aus Seidendamast gewobene Handmotive dert Baumstämme, jeder 25 bis 40 Meter lang. zieren die sechseckigen Felder der Kassettendecke. →

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Das Restaurant- und das Saalgeschoss sind im Ständerbau konstruiert, darüber sitzt der Strickbau der Zimmergeschosse.

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Konstruktionsschnitt 1 : 30

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G

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F Wandaufbau W 1 Wohnung / Zimmer – Strickkonstruktion Douglasie, 12 cm – Mineralwolle / Lattung, 24 cm – Dampfbremse Installationslattung, 4 cm – Holzverkleidung Weisstanne, 2,2 cm G Wandaufbau Saal / Restaurant – Sockel: Holzschalung Douglasie / Simse mit Kupferabdeckungen, 3 cm – Hinterlüftungslattung, 6 cm / 17 cm – Windpapier – Dreischichtplatte, 3 cm – Mineralwolle / Lattung, 26 cm – Dampfbremse – Dreischichtplatte, 3 cm – lnstallationslattung / Radiator, 15 cm – Innenverkleidung Douglasie / Nussbaum, 3 cm 1 Kupfertropfkante 2 Deckenfries 3 Installationsschicht in Kreuzlattung ausisoliert, Mineralfaserflocken 4 Lüftungskanäle 5 äussere Holzstütze und Schalung, beide Douglasie 6 Akustikabsorber, Ausfälzung in Balken 7 Kupferabdeckung Fenstersims 8 P erimeterdämmung Foamglas im westlichen Sockelbereich

D Bodenaufbau Saal – Parkett Nussbaum, 1,5 cm – OSB-Platte, 2,2 cm – Kreuzlattung / Installation, 8,3 cm – Pavapor-Platte, 2 cm Holz-Beton-Verbundkonstruktion: – Beton, 14 cm – Dreischichtplatte, 3 cm – Holzträger, 20 cm – dazwischen Wolle ( schallabsorbierend ), 4 cm – Stoff auf Holzrost gespannt, 2 cm E Bodenaufbau Restaurant – Stirnholzparkett Douglasie, 3 cm – Dreischichtplatte, 2,7 cm – Kreuzlattung, 6,3 cm – Dämmung Foamglas, in Heissbitumen aufgeklebt, 15 cm ( nur im Bereich des Altbaus ) – Betonplatte, 25 cm

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B Bodenaufbau Wohnung – Riemenboden Douglasie, 2,7 cm – Kreuzlattung / Installation, 7 cm – Pavapor-Platte, 2 cm Holz-Beton-Verbundkonstruktion: – Beton, 8 cm – Brettstapel, 16 cm – lnstallationslattung, 4 cm – Gipsplatte Farbe, 1,5 cm C Bodenaufbau Zimmer – Riemenboden Douglasie, 2,7 cm – Kreuzlattung / Installation, 7 cm – Pavapor-Platte, 2  cm Holz-Beton-Verbundkonstruktion: – Beton, 10 cm – Brettstapel, 16 cm – Mineralwolle, 10 cm – Installationsraum, 30 cm – Gipsdecke abgehängt ( schallabsorbierend ), 3 cm – Mineralwolle, 5 cm – Seidendamast auf Holz gespannt, 3 cm

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A Dachaufbau – Kupfereindeckung – Holzschalung, beim Vordach Douglasie, ansonsten Fichte / Tanne, 3 cm – Sparrenlage Douglasie, 12 cm ( 12 × 14 cm, Abstand 60 cm ) – Unterdachbahn – Holzfaserplatte druckfest, 4 cm – Zellulosedämmung / Konstruktion, 24 cm ( Balken 12 × 24 cm, Abstand 60 cm ) – Dampfbremse – OSB-Platte, 3 cm – Installationslattung mit Wohnungsdecke abgehängt, 4 cm – Holzverkleidung Weisstanne gestrichen / lasiert, 3 cm

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Die Innenständer und Balken des Restaurants tragen eine konventionelle Balkendecke.

Weisstanne verkleidet die Strickwände der Gästezimmer.

Die konstruktive Krux bestand freilich nicht im Strick an sich, sondern in dessen Zusammenkommen mit steifen Bauteilen. Mehrere Details sorgen dafür, dass diese unbeschadet bleiben: In den nicht tragenden Rahmenwänden wird die Dämmung aus Mineralwolle zusammengedrückt. In den Storenkästen über den Fenstern, oberhalb der Türrahmen und bei sämtlichen Leitungskästen sind Luftreserven eingeplant. « Knautschzonen », sagt Binder verschmitzt und erklärt, dass sich auch die gesamte Zimmerdecke absenkt. Neugierig nimmt er den Zollstock aus Knautschzonen im schwindenden Strickbaunest der Hosentasche und lehnt sich aus dem Fenster. Beim Der Strickbau war in der Innerschweiz stets seltener Einbau hatte er mit Bleistift zwei Striche nebeneinander als in den Bergkantonen und ist heute in der Region prak- gemacht. Seither sind anderthalb Jahre vergangen, nun tisch verschwunden. In Vrin im Val Lumnezia und auch an- liegen sie kaum einen Zentimeter auseinander. Der Zimdernorts hat Gion A. Caminada ihn in beharrlicher Arbeit mermann ist zufrieden: « Das gibt keine Probleme. » in die Gegenwart übersetzt – als zweischalige Kon­struk­ ti­on mit dazwischenliegender Dämmschicht. Dieses WisSituative Geschmackssache sen brachte er mit nach Hergiswald. Ausserdem stand ein Sobald der Strick stand, kamen die Dachelemente. Bündner Holzbauer den Luzerner Zimmerleuten zur Seite – Vier bis fünf Sparren breit und mitsamt Zellulosedämerst beratend, dann beim Abbinden und schliesslich beim mung zwischen Holzfaser- und OSB-Platten waren diese Aufrichten des Stricks. « Dabei haben wir viel gelernt », sagt mit knapp einer Tonne Gewicht die schwersten Elemente. Michael Binder, « vor allem darüber, wie sich die starken An einem einzigen Tag fügten die Zimmerleute die Dach­ Setzungen im massiven Holzbau konstruktiv bewältigen elemen­te zusammen und beendeten damit auch das bis lassen. » Die 20 Zentimeter hohen Balken kamen nicht nur dahin tägliche Abdecken der Baustelle gegen Regen. Nun musste der Baumeister ein letztes Mal an die Armit Nut, Kamm und Eckfräsung auf die Baustelle, sondern auch mit 15 Prozent Feuchte. Weil das Holz diese nach dem beit. Um nicht zu viel Gewicht auf einmal einzubringen, Einbau über fünf bis zehn Jahre abgibt, verliert es an Mas- goss er die Betonschichten im Abstand von zwei Wochen. se. Die Ingenieure und Holzbauer kalkulierten mit zwei Sie wirken im Verbund mit den Vollholzdecken und sorgen Prozent Volumenverlust, was vom Boden des zweiten Ober- für die nötige Masse zur Trittschalldämmung. Damit war geschosses bis zum First ganze 16 Zentimeter ausmacht. der Rohbau fertig. Für die Holzbauer galt es lediglich noch, Während sich der Seitentrakt und der Liftkern aus Be- in den Zimmern die helle Wandverkleidung aus Weisstanton sowie die unteren Geschosse im Ständerbau kaum ver- ne anzuschrauben. ändern, ist das gestrickte Nest darüber stets in Bewegung. « Das noch vor der Werkplanung bestellte Rundholz In Abhängigkeit davon, ob die Balken im beheizten Innen- reichte fast perfekt », sagt Binder heute. Einzig bei der Terraum oder an der Fassade liegen – und dort je nach Him- rasse zum Hang hin mussten die aus Douglasie geplanten melsrichtung anders –, schwindet das Holz unterschied- Ständer zu Beton werden, weil solch kräftige Balken nicht lich stark. Werden die gestrickten Geschosse also mit den mehr zu sägen waren. In der vielfältigen HybridkonstrukJahren schief ? Binder nickt: « Allerdings sprechen wir hier tion stört das wohl nur jene, die das Gasthaus ohnehin zu von Unterschieden im Millimeterbereich über die gesamte komplex oder situativ finden. Beim Bauen ist es letztlich Gebäudelänge. » Eine Prise Imperfektion – im digital vor- wie im Leben und in der Küche: Manche perfektionieren fabrizierten Präzisionsbau fast eine schöne Vorstellung. das Filet, andere essen lieber Minestrone.  → Edles Nussbaumholz verkleidet den Boden, die Fensterbänke und die darunter montierten Heizkörper. Vor allem aber braucht der Saal trotz seiner Grösse von über zwölf mal knapp neun Metern keine einzige Stütze. « Die Ingenieure haben hier wie Brückenbauer gedacht », meint Caminada. In der Tat: Der Saal ist nicht nur ein Blickfang, sondern auch ein gelungenes Beispiel dafür, wie Kunst und Bau zusammenkommen. Im kompakten Raumgefüge des Gasthauses sorgt er für wohltuende räumliche Weite.

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Das Pächtertrio und seine Stube

« Der Neustart ist geglückt » Im Februar 2019 bekamen Thomas Häfliger, Erich Peterer und Nadja Schauber die Schlüssel für ihr Gasthaus. Der Beginn war happig, nun fühlen sich die Gäste wohl. Hergiswald ist ein besonderer Ort, er strahlt Ruhe aus. Das spüren wir vor allem, wenn wir uns nach einem hektischen Arbeitstag auf die Terrasse setzen und aus der Stille die Rufe der Glögglifrösche erklingen. Wir beobachten auch, dass unsere Gäste sich Zeit nehmen. Wer im Gasthaus zu Mittag isst, kommt oft früh, bleibt bis in den Nachmittag und geniesst mehrere Gänge mit Dessert. Viele Gäste bestellen eine Flasche Wein. Das ist bemerkenswert. Und für uns ein gutes Zeichen: Die Gäste fühlen sich wohl. Mit der Albert Koechlin Stiftung haben wir einen Pachtvertrag auf zehn Jahre unterschrieben, mit der Option auf fünf weitere. Das ist eine ideale Zeitspanne, um das Gasthaus in der Zentralschweizer Gastroszene zu etablieren. Wir legen Wert auf eine gehobene Küche mit frischen Produkten, am liebsten aus der Region. Flam­bier­tes Rindsfilet und Chateaubriand sind unsere Hausspezialitäten. Weil oft Pilger einkehren, die auf das Geld schauen, bieten wir mittags drei günstigere Pilgermenüs an, mit Fleisch, Fisch oder vegetarisch. Die Fischmenüs sind sehr beliebt. Ohnehin geht es uns nicht darum, mit Punkten zu überzeugen, sondern mit Qualität und Gastlichkeit. Das bedeutet für uns etwa, dass wir die Gäste bereits wahrnehmen, wenn sie vor dem Haus ankommen, dass wir sie willkommen heis­sen und in ein kleines Gespräch verwickeln. Der Anfang war happig – ein kompletter Neustart in einem neu gebauten Gasthaus. Obwohl wir viel Erfahrung in der Gas­t ro­no­mie haben, hatten wir vor dem Start manchmal fast Panik. Es rumorte zünftig in unseren Köpfen. Doch nun können wir sagen: Der Neustart ist geglückt.

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Das begann schon bei der Eröffnung am 1. April 2019. An diesem ‹ Tag der offenen Tür › kamen rund 1200 Personen. Die Mehrheit unserer Gäste stammt aus der Schweiz, Besucher aus dem asiatischen Raum hatten wir bisher kaum. Viele Gäste kommen regelmässig, immer wieder mit anderen Freunden, denen sie diesen Ort zeigen möchten. Nicht selten sind wir auf einen Monat ausgebucht – und das, obwohl wir bisher kaum Werbung gemacht haben. Dass so viel über den Neubau mit dem gros­sen Festsaal mit der besonderen Kassettendecke geschrieben wurde, war offenbar die allerbeste Werbung. Dass man hier auch übernachten kann, müssen wir noch bekannter machen. Bei der Post haben wir einen Antrag für bessere Busverbindungen gestellt. Das letzte Postauto fährt bereits um kurz vor halb sieben. Das ist für die Gäste ungünstig und für unsere drei Lernenden unmöglich. Die Aufgaben sind klar aufgeteilt: Thomas ist für die Küche und die Dekoration zuständig, Nadja für den Service, das Hotel und die Administration, Erich kümmert sich um die Finanzen. Zu zweit wäre der anspruchsvolle Betrieb mit Res­t au­rant, Banketten und Gästezimmern nicht zu stemmen. Anfangs legten wir uns so ins Zeug, dass wir lernen mussten, nicht alles selbst zu machen, sondern auch verantwortungsvolle Aufgaben an die Mitarbeitenden zu delegieren. Es ist wichtig, dass der Betrieb vom Team getragen wird. Wir wollen nicht, dass man « zu Thomas » kommt, weil man ihn hier in der Region kennt. Unser Gasthaus soll ein eigener Ort werden. Die Leute sollen sagen: « Wir gehen ins Hergiswald. »  Aufgezeichnet: Karin Salm

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Nadja Schauber ( * 1993 ), Thomas Häfliger ( * 1966 ) und Erich Peterer ( * 1959 ) sind die Pächter des Gasthauses. Schauber arbeitete in diversen Hotels, Häfliger führte lange das Restaurant Obernau in Kriens LU, Peterer ist gelernter Kürschner und Modefachmann.

Themenheft von Hochparterre, Mai 2020 —  Rotes Holz und blauer Saal — « Der Neustart ist geglückt »

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Rotes Holz und blauer Saal Die Wallfahrtskirche in Hergiswald gilt als eine der wichtigsten frühbarocken Bauten der Innerschweiz. 2002 übernahm die Albert Koechlin Stiftung das Ensemble und sanierte den Sakralbau samt eindrücklichem Bilderhimmel. Der anschliessende Weg war kurvenreich und führte von einem Restaurantprojekt aus Beton zu einem Gasthaus aus Holz, errichtet auf den Grundmau­ern des Vorgängerbaus. Es kombiniert Ständer- und Strickbauweise, Balken- und Vollholzdecken, Douglasien- und Fichtenholz. Die hybride Kon­struk­ti­on schafft geborgene Kammern, ein Res­t au­rant mit viel Tageslicht und einen Saal mit einer Decke aus Seidendamast. Dieses Heft stellt das Ensemble, das Bauwerk und die Menschen dahinter vor.  www.gasthaushergiswald.ch

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