Themenheft von Hochparterre, August 2024
Aufgeschlossen
Die Reformierte Kirche Zürich macht ihren grossen Immobilienschatz zukunftsfähig – ein Segen für Stadt und Gesellschaft.
Inhalt
4 Türen auf zum Kirchenschatz
Die Reformierte Kirche Zürich will ihre Liegenschaften für alle öffnen. Ein gewaltiges Vorhaben, das erste Früchte trägt.
1 2 Verwandte in Nachbarschaft
Die Kirche Affoltern ist um einen Neubau ergänzt worden, in den nun die Stiftung Sozialwerk Pfarrer Sieber eingezogen ist.
1 6 Wie der näher am Quartier
In Wipkingen entsteht das Haus der Diakonie. Es ist eine Reise zurück zu den Anfängen.
20 Mitten in der Gartenstadt
Schwamendingen transformiert sich und mit ihm die Kirche Saatlen.
26 Blick in die Werkstatt
Eine Schule, ein Rathaus und ein Lichtsaal – drei aussergewöhnliche Umnutzungsprojekte.
28 Auf dem Prüfstand
Was taugt die Immobilienstrategie der reformierten Kirche? Lob und Kritik von vier Fachpersonen.
30 Mit Velo und Schlüsselbund
Ein ganz normaler Arbeitstag – unterwegs mit dem Sigrist der Kirchengemeinde Unterstrass, Luzius Zurbuchen.
Editorial
Auf dass Leben einkehre
Auf ein Bad oder ein Mittagessen ins Kirchgemeindehaus ? Was heutzutage merkwürdig klingt, war vor 100 Jahren Alltag. In der Stadt Zürich, wo bis Mitte des 20. Jahrhunderts über 60 Prozent der Bevölkerung evangelisch-reformiert waren, übernahmen die reformierten Kirchgemeindehäuser in manchem Quartier die Funktion eines Volkshauses –und das auch für Anders- und Nichtgläubige.
Mit den Kirchgemeinden ist auch die Bedeutung ihrer Häuser für das gesellschaftliche Leben geschrumpft. Heute sind viele kirchliche Immobilien – dazu zählen nebst Kirchen und Kirchgemeindehäusern auch Wohnbauten und Grundstücke – unternutzt, obwohl Raum in der Stadt Zürich ein knappes Gut ist. Die Unterhalts- und Erneuerungskosten für die oftmals denkmalgeschützten Bauten belasten die Kirchgemeinde.
Was ist also zu tun mit dem Immobilienschatz ? Nach der Fusion von 32 Stadtzürcher Kirchgemeinden im Jahr 2019 leitete die neu entstandene Reformierte Kirchgemeinde Zürich die Entwicklung einer Immobilienstrategie in die Wege. Seit 2023 ist das ‹ L eitbild Immobilien › in Kraft. Die Ziele: Netto-Null bis 2040 und eine schwarze Finanz-Null bis 2035. Vor allem aber sollen kirchliche Liegenschaften über Orte der Stille und Andacht hinaus auch wieder zu dem werden, was sie einst waren: Orte des Lebens und Lernens, der Begegnung und des Austauschs, für die Gemeinschaft und die Gesellschaft.
Im ersten Teil stellt dieses Themenheft den Immobilienbestand der reformierten Kirche vor. Es erklärt, welche Ziele sich die reformierte Kirche mit ihrer Immobilienstrategie steckt und wie sie diese erreichen will. Im mittleren Teil des Hefts werden drei aktuelle Bauvorhaben rezensiert. Zum Schluss kommentieren vier Expertinnen und Experten die Immobilienstrategie, und ein Sigrist erzählt, wie die zunehmende Öffnung der kirchlichen Liegenschaften seine Aufgaben verändert. Doch ein Bild sagt bekanntlich mehr als tausend Worte: Am wohl eindrücklichsten zeigt sich das Potenzial des kirchlichen Immobilienschatzes auf der grossen Übersichtskarte auf der nächsten Seite. Deborah Fehlmann
Weitergedacht
Wohin führt die zunehmende Öffnung von Kirchenliegenschaften ? Inspiriert vom Immobilienportfolio der Reformierten Kirche Zürich und vor dem Hintergrund drängender gesellschaftlicher Herausforderungen wie Klimaerwärmung und Artensterben hat der Zürcher Illustrator Patric Sandri für dieses Heft fünf utopische Szenen entworfen.
Umschlag : Kirche Glaubten, Affoltern
S. 2 : Wasserkirche, Altstadt
S. 10 / 1 1 : Kirchgemeindehaus Friesenberg, Wiedikon
S. 24 / 25 : Predigerkirche, Altstadt
S. 31 : Kirche Suteracher, Altstetten
Impressum
Verlag Hochparterre AG Adressen Ausstellungsstrasse 25, CH-8005 Zürich, Telefon +41 44 444 28 88, www.hochparterre.ch, verlag @ hochparterre.ch, redaktion @ hochparterre.ch Geschäftsleitung Rahel Marti Redaktionleitung Axel Simon Leitung Themenhefte Roderick Hönig Konzept und Redaktion Deborah Fehlmann Illustration Patric Sandri, www.patricsandri.com Art Direction Antje Reineck Layout Jenny Jey Heinicke Produktion Nathalie Bursać Korrektorat Rieke Krüger Lithografie Team media, Gurtnellen Druck Stämpfli AG, Bern Herausgeber Hochparterre in Zusammenarbeit mit Reformierte Kirche Zürich hochparterre.ch / kirche Themenheft bestellen ( Fr 15.—, € 12.— ) und als E -Paper lesen
Schatz hinter offenen Türen
K irche
K irchgemeindehaus
P farrhaus Wohnhaus Wohnhaus mit Gewerbe B aurecht
Kirchenkreise inklusive Oberengstringen, aber ohne die Kirchgemeinden Hirzenbach und Witikon, die nicht fusioniert sind. n icht im Inventar oder unter Schutz Verwaltungsvermögen F inanzvermögen
Bauperiode:
bis 1800
1 801 – 1900 1 901 – 1940 1 941 – 1960
1 961 – 1980 1 981 – 2000 ab 2001
Nicht abgebildet sind Gebäude der Kategorie Sonstiges, zu der unter anderem ein Parkhaus zählt, zudem einige kleinere Bauten und Anlagen sowie die Gruppenferienhäuser in Meierskappel LU, Alosen-Oberägeri ZG und Magliaso TI.
Kirchen
1 Predigerkirche, 1240
2 Grossmünster, 1468
3 Wasserkirche, 1480
4 Niklauskirche, 1664
5 K irche Unterdorf, 1683
6 A lte Kirche Wollishofen, 1702
7 K irche Höngg, 1703
8 St. P eter, 1706
9 A lte Kirche Fluntern, 1762
10 B ethaus Wiedikon, 1791
11 Fraumünster, 1812
12 A lte Kirche Albisrieden, 1816
13 Alte Kirche St. Niklaus, 1826
14 Kirche Neumünster, 1838
15 Kirche Unterstrass, 1883
16 K irche Enge, 1893
17 Bühlkirche, 1896
18 Johanneskirche, 1898
19 St. J akob, 1900
20 Kreuzkirche, 1900
21 K irche Oerlikon, 1907
22 Kirche Wipkingen, 1909
23 Kirche Oberstrass, 1910
24 A lte Kirche Altstetten, 1910
25 G rosse Kirche Fluntern, 1920
26 Zwinglihaus, 1932
27 Pauluskirche, 1933
28 K irche Auf der Egg, 1935
29 N eue Kirche Altstetten, 1941
30 Markuskirche, 1947
31 Kirche Friesenberg, 1948
32 Matthäuskirche, 1950
33 N eue Kirche Albisrieden, 1951
34 K irche Balgrist, 1952
35 K irche Letten, 1955
36 Bullingerkirche, 1956
37 Thomaskirche, 1960
38 K irche Saatlen, 1963
39 Andreaskirche, 1964
40 K irche Leimbach, 1971
41 K irche Glaubten, 1972
42 Kirche Suteracher, 1982
43 Kirche Oberengstringen, 1984
Mehr zur Architektur siehe ‹ Visueller Spaziergang ›, Seite 8
Die grössten* Kirchgemeindehäuser
44 Kirchgemeindehaus Wipkingen, 32 622 m 3
45 Zwinglihaus, 24 075 m 3
46 Kirchgemeindehaus
St. Jakob, 17 700 m 3
47 Kirchgemeindehaus Paulus, 17 550 m 3
48 Kirchgemeindehaus Altstetten, 16 495 m 3
49 Kirchgemeindehaus Neumünster, 13 040 m 3
50 Kirchgemeindehaus Oberstrass, 12 160 m 3
51 Kirchgemeindehaus Enge, 11 9 80 m3
52 Kirchgemeindehaus Schwamendingen, 11 636 m 3
53 Kirchgemeindehaus Saatlen, 11 431 m 3
54 Helferei Grossmünster, 11 280 m 3
* A ngabe in Volumen, da Bruttogeschossflächen noch nicht vorliegen
Die sieben grössten Wohngebäude
55 Döltschihalde 4/6, 1998, 14 Wohnungen
56 Bahnhaldenstrasse 29, 2019, 19 Wohnungen
57 Kilchbergstrasse 19a, 1923, 3 Wohnungen
58 Hätzlergasse 30, 2002, 6 Wohnungen
59 Schimmelstrasse 8, 1938, 9 Wohnungen
60 Wiedingstrasse 14, 1913, 4 Wohnungen
61 Voltastrasse 58, 1969, 5 Wohnungen
Gebäudeversicherungswert zwischen 3,6 und 8,6 Mio. Franken
Die sieben teuersten Gebäude nach Gebäudeversicherungswert
11 Fraumünsterkirche, Fr. 52,6 Mio. 19 K irche St. Jakob, Fr 42,9 Mio. 16 Kirche Enge, Fr. 41,9 Mio. 20 K reuzkirche, Fr 33,7 Mio.
44 Kirchgemeindehaus Wipkingen, Fr. 32,9 Mio.
1 P redigerkirche, Fr 23,4 Mio.
46 Kirchgemeindehaus St. Jakob, Fr. 23,29 Mio.
Die Reformierte Kirche Zürich will die Öffentlichkeit stärker an ihrem Immobilienreichtum teilhaben lassen.
Diese Immobilienpolitik trägt erste Früchte.
Text:
Rahel Marti
Grafiken:
Hochparterre
« Für Ihren Workshop oder Ihr Hochzeitsfest, die Bandprobe oder den Yogakurs: Wir haben Platz für Sie. Mit unserem vielfältigen Angebot und Standorten in der ganzen Stadt bieten wir für jeden Anlass den passenden Raum. » So wirbt die reformierte Kirche der Stadt Zürich im Internet für ihre Liegenschaften. 220 Räume stehen zur Miete, vom stillen Kirchenschiff über den Festsaal bis zur gemütlichen Dachstube im Kirchgemeindehaus. Auch lauschige Innenhöfe und Gärten kann man stunden- oder tageweise buchen. So manches wirkt zwar ein wenig angestaubt, aber viele Gebäude und Orte überraschen mit ihrer architektonischen Prägnanz oder markanten Lage in der Stadt. Der Immobilienbestand der Reformierten Kirche Zürich zählt 43 Kir chen, 34 Kir chgemeindehäuser und 48 Pfarrwohnungen. Hinzu kommen weitere Liegenschaften mit 310 Wohnungen sowie 16 Grundstücke, die Dritte im Baurecht nutzen. Gewachsen ist dieser Bestand vor allem im 20. Jahrhundert, als zu den b estehenden 17 Kirchen ganze 26 neue hinzukamen und die meisten der Kirchgemeindehäuser entstanden. Nach dem Vorbild der Volkshäuser baute auch die Kirche für den eigenen wie für den gesellschaftlichen Bedarf. Im Kirchgemeindehaus Wipkingen etwa konnte man daher nicht nur christlichen Unterricht besuchen, sondern auch baden, lesen, essen und trinken – keinen Alkohol selbstverständlich.
1. Gebäudeversicherungswert nach Bauperiode Millionen Franken ( total Fr. 1 ,1 Mrd. ), Stand 2023
Dieser Immobilienschatz ist laut Gebäudeversicherung 1,1 Milliar den Franken wert. Der Marktwert liegt wohl deutlich höher. Dass die breite Öffentlichkeit seit 2022 zu diesem Schatz Zugang hat und das reichhaltige Raumangebot via Raumplattform unkompliziert mieten kann, ist eine von mehreren Massnahmen der Immobilienpolitik der Kirchgemeinde. Denn die Kirche hat ein Problem. Waren 1965 noch 60 Prozent der Zürcher Stadtbewohner reformiert, beträgt der Anteil der Reformierten heute nur noch 18 Pr ozent. Etliche Liegenschaften sind schlecht ausgelastet, obwohl viele an zentralen Lagen in den Quartieren situiert sind. Oder anders formuliert: Mitten in der boomenden Stadt Zürich liegt eine reformierte Brache.
Keine Immobilienspekulation
« Wir müss en handeln », sagt Katharina Kull-Benz. Sie ist im kantonalen Kirchenrat und zuständig für Finanzen und Infrastruktur bei der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich. « Mit der Zahl der Mitglieder sinken unsere Steuereinnahmen, das gilt auch für jene von juristischen Personen. » Als o müssen die Kirchgemeinden neue Geldquellen suchen. Auf den ersten Blick scheint es da verlockend, aus den zahlreichen Immobilien eine hohe Rendite herauszupressen.
Unter den Stadtzürcher Kirchgemeinden entbrannte darum vor gut zehn Jahren ein Streit: Die einen wollten geeignete Immobilien einträglich vermieten oder verkaufen, die anderen fanden es daneben, mit Boden und Liegenschaften Geld zu verdienen. Schliesslich konnte sich die
2. Anteil Gebäudeversicherungswert nach Nutzungstyp Prozent
Kirchen Kirchgemeindehäuser Pfarrhäuser
Wohnhäuser Wohnhäuser mit Gewerbe Sonstige
Hinweis: Die Summe der Gebäudeversicherungswerte schliesst das Grossmünster ( Eigentum Kanton Zürich ) und die Wasserkirche ( Eigentum Stadt Zürich ) nicht mit ein
gemeinnützige Sichtweise durchsetzen. Aus Perspektive der Landeskirche ist für Katharina Kull-Benz klar : « Niemand will eine Kirche als Immobilienspekulantin. Der Gebäudeschatz soll nicht verscherbelt werden. Aber die Kirchgemeinden sollen neue Nutzungen für jene Liegenschaften suchen, die sie für ihr kirchliches Angebot nicht mehr benötigen. »
In den ländlichen Gemeinden des Kantons ist dies einfacher gesagt als getan. Neue Nutzungen lassen sich nicht so rasch herzaubern, und wird ein Standort aufgegeben, hat dies Folgen für die Menschen – denn die nächste Kirche steht erst im Nachbardorf.
In der Stadt hingegen ist der Raum knapp und gefragt. Wird eine Kirche umgenutzt, so befindet sich im Umkreis von zehn Gehminuten meistens eine andere. Denn im 19. Jahrhundert war die reformierte Kirche mächtig genug, um in jedem neuen Quartier der wachsenden Stadt einen Standort zu gründen.
Die Stadt, ein Sonderfall
Die Institution Kirche in der Stadt hat sich in den vergangenen Jahren markant verändert. 2019 fusionierten 32 Kirchgemeinden und so entstand nicht nur die grösste reformierte Kirchgemeinde der Schweiz mit damals rund 75 0 00 Mitgliedern, sondern auch eine Kirchgemeinde mit einem stattlichen Immobilienbesitz.
« Das war eine von Grund auf neue Ausgangslage, die unser Interesse weckte », sagen Michael Hauser und Matthias Haag übereinstimmend. Ersterer ist Architekt und leitete das Amt für Städtebau in Winterthur. Heute ist er selbständiger Berater für Planungsverfahren und Bauprojekte. Seit Hauser 2018 in die Kirchenpflege, sprich die kirchliche Exekutive, gewählt wurde, steht er dem Geschäftsbereich Immobilien kirchenpolitisch vor. Auch Matthias Haag ist Architekt, ehemaliger Zürcher Kantonsbaumeister und leitet seit 2019 den Bereich Immobilien mit rund 20 Mitarb eitenden operativ. Im Auftrag der Kirchenpflege unterhalten und bewirtschaften die beiden die Liegenschaften, setzen Bauprojekte um und sorgen für Strategien, Finanzplanung und Datenmanagement.
Finanz- oder Verwaltungsvermögen ?
Laut der kantonalen Finanzverordnung für die reformierte Kirchgemeinde umfasst das kirchliche Verwaltungsvermögen total rund 250 Objekte wie Kirchen, Kirchgemeinde- und Pfarrhäuser. Ihr Wert wird abgeschrieben, um mit Blick auf die nächste Generation stille Reserven zu schaffen. Wohnungen, Gebäude und Baurechte, die dauerhaft an Dritte vermietet werden können, zählen hingegen zum Finanzvermögen. Das Finanzvermögen umfasst rund 100 Objekte. Diese werden nach den Vorgaben des kantonalen Gemeindeamtes periodisch bewertet. Über Umnutzungen und Verkäufe kann die Kirchenpflege entscheiden. Die meisten Gebäude werden bereits gemischt genutzt, und die Ertragschancen sind für beide Portfolios identisch, da es für die Mieterinnen keine Rolle spielt, ob ein Gebäude zum Verwaltungsoder Finanzvermögen gerechnet wird. Es trifft also nicht zu, dass das Verwaltungsvermögen nur dem kirchlichen Betrieb dient oder sich nur mit dem Finanzvermögen Geld verdienen lässt.
Im Dialog die Zukunft bestimmen Manche ihrer 43 Kirchen und 35 Kirchgemeindehäuser muss die reformierte Kirche sanieren, und sie will die Räume besser auslasten und mit Dritten teilen. Was bisher punktuell geschah, baut die Kirche nun zu einer Standortplanung mit langfristigem Horizont aus. Der Prozess startete im Sommer 2024. In der ersten Phase definieren die 10 Kirchenkreise ihre künftigen Schwerpunkte und Aufgaben, im nächsten Schritt sollen sie diesen Bedarf mit den vorhandenen Räumen abgleichen. Wird Platz frei, kann dieser vermietet werden.
Das Ziel, schreibt die Kirche, seien «attraktive Standorte in den Kirchenkreisen mit einem relevanten und breit gefächerten Angebot für Kirchenmitglieder und die Bevölkerung».
Auch die Zürcher Landeskirche will ein Konzept für die Um- und Neunutzung von Liegenschaften entwickeln, die nicht mehr kirchlich in Gebrauch sind. Denn während die Kirchgemeinden über Platz verfügen, fehlen in den Gemeinden häufig Schulräume, Beizen, Treffpunkte und Co-Working-Räume, manchmal auch die Post- oder die Einkaufsfiliale. Dieses Konzept soll nicht allein intern entstehen, sondern im Dialog – sowohl mit den Kirchgemeinden als auch mit der Bevölkerung, den politischen Gemeinden, Schulen, Vereinen, Unternehmen sowie auf strategischer Ebene mit kantonalen Direktionen wie der Baudirektion mit der Denkmalpflege, der Bildungsdirektion sowie der Direktion Justiz und Inneres.
Finanzvermögen Aufwand Finanzvermögen Ertrag
Verwaltungsvermögen Aufwand Verwaltungsvermögen Ertrag
Reformierte Kirche Zürich
Merksätze und Eckwerte
Das ‹ Leitbild Immobilien › entstand zwischen 2020 und 2022 im Rahmen einer internen Mitwirkung. Es beinhaltet fünf Leitsätze mit kurzen Ausführungen sowie Eckwerte mit konkreten Vorgaben für die soziale, ökologische und ökonomische Bewirtschaftung. Auch für die Vermietung von Wohnungen gibt es ein neues Reglement, das sich an der Kostenmiete nach dem Modell der Stadt Zürich orientiert. Alle Dokumente und die Geschäftsberichte sind öffentlich. Die fünf Leitsätze lauten:
1. Die Kirchen stiften Identität, bieten spirituelle Heimat und sind offen, 2. die öffentlichen Gebäude sind Begegnungsorte und stehen der Gemeinde und der Gesellschaft zur Verfügung, 3. die Schöpfung achten und die Umwelt schonen,
4. verantwortungsvoll mit den Immobilien haushalten,
5. die Zusammenarbeit innerhalb der Kirchgemeinde ist partnerschaftlich und professionell.
Visueller Spaziergang
Sieben Studierende des Masterstudiengangs Architektur an der ETH Zürich dokumentierten 2022 die Geschichte und die bauliche Entwicklung der reformierten Kirchen auf Stadtboden und entwarfen Ideen für die Innenräume. Professorin Silke Langenberg und Professor Adam Caruso begleiteten das Master-Thema, das den Titel ‹ Re-Form › trug. Die Broschüre ‹ Die reformierten Kirchen der Stadt Zürich › der Kirchgemeinde Zürich zeigt das zusammengetragene Material: Kirchengrundrisse sowie Fotoserien von Innenräumen, Fenstern, Altären oder Orgeln.
5. Entwicklung der Religionslandschaft Ständige Wohnbevölkerung ab 15 Jahren in Prozent
→ Nach dem Richtungsstreit und der Fusion war es Zeit für eine konsolidierte Immobilienstrategie. Hauser und Haag stiessen in der neuen Grossgemeinde mit den Organen Kirchenpflege, Kirchenkreise und Geschäftsstelle das ‹ L eitbild Immobilien › an, das in Workshops mit rund 20 Teilnehmenden entworfen und – fast Wort für Wort –ausformuliert wurde. Am Ende stimmte das Kirchenparlament dem Leitbild fast einstimmig zu.
Gegen kalte Kirchenbänke
Im Leitbild stehen fünf Merksätze zum Umgang mit dem Immobilienschatz. « Orte mit Anziehungskraft» erhalten und schaffen, lautet das Ziel siehe ‹ Merksätze und Eckwerte ›. Dazu kommen verbindliche Vorgaben wie Netto-Null bis 2040 und eine schwarze Finanz-Null bis 2035, also die selbsttragende Bewirtschaftung – aktuell fliessen pro Kirchensteuerfranken neun Rappen in den Unterhalt und die Bewirtschaftung der Immobilien. Auch künftig müssen kirchlich genutzte Häuser ihre Kosten nicht decken. Die jedoch von den Kirchenkreisen nicht mehr benötigten Räume sollen an Dritte vermietet werden, wobei öffentliche Nutzungen wie die Schule oder Quartiervereine Vorrang geniessen. Diese Vermietung soll einen « angemessenen Ertrag » bringen, um das kirchliche Leben zu finanzieren. « Lieb er selber genutzt als teuer vermietet », sagt Matthias Haag, oder andersherum: « weniger kalte Betten, weniger kalte Kirchenbänke ». Seine Arbeit vergleicht Haag nicht mit der einer Immobilienfirma, sondern mit einer Gemeinde: « Auch wir gehen partizipativ vor. Vielleicht sogar noch partizipativer », s chmunzelt er. Dabei kommt ihm wie auch Michael Hauser die Erfahrung in öffentlichen Ämtern zugute. « Wir arb eiten wirtschaftlich, aber wir berücksichtigen die Grundhaltung der Kirchgemeinde und die Zahlungsfähigkeit des Publikums », s o Haag. « Mich fesselt der kirchliche Immobilienbestand mit den baugeschichtlich reichen und architektonisch so verschiedenen Häusern, dazu die attraktiven Lagen », ergänzt Michael Hauser. « Mit dieser Substanz möchte ich arbeiten – sinnvolle Angebote für die Stadtgesellschaft schaffen und für die Kirche eine schwarze Null erwirtschaften. »
6. Religionslandschaft Stadt Zürich
Anzahl Personen
muslimische und aus dem Islam hervorgegangene Gemeinschaften andere Religionsgemeinschaften ohne Religionszugehörigkeit Religionszugehörigkeit unbekannt
Bevölkerung katholisch
römisch-katholisch evangelisch-reformiert andere christliche Glaubensgemeinschaften jüdische Glaubensgemeinschaften reformiert andere
Es gibt auch Widerstand
Auch wenn die neue Ausrichtung kirchendemokratisch beschlossen ist, teilen sie noch nicht alle. Wie eine Vernehmlassung des Leitbilds zeigte, befürworten « stille » Mitglieder in der Tendenz, dass Dritte kirchliche Räume mitnutzen. Manche der aktiven Mitglieder und manche Mitarbeitenden lehnen dies eher ab. Wird es dann konkret und steht die Umnutzung einzelner Kirchen und Liegenschaften zur Diskussion, dann kann es sinngemäss auch so klingen: « Not in my churchyard ». Denn da haben vielleicht Vorfahrinnen den Bau des Kirchturms finanziert, dort sind vorwiegend ältere Menschen aktiv, die sich mit dem Bisherigen identifizieren, und wieder anderswo werden Gruppen, die die Räume bisher zum Freundschaftspreis mieteten, nun mit allen gleichgestellt – Gründe für Ärger und Widerstand. Auch der Leitbildsatz « Die Kir chgemeinde achtet auf Genügsamkeit » dürfte no ch für Debatten sorgen, denn er zielt darauf ab, dass die Kirchenkreise ihre Büros zusammenlegen und in den Wohnungen und Pfarrwohnungen mehr Menschen leben. Im Kirchenkreis Fluntern beispielsweise scheiterten interne Anläufe für ein klares neues Nutzungskonzept – nun ist ein Dialogprozess im Gang. Kirchenmitglieder, Quartier- und Behördenvertreterinnen sowie unabhängige Gruppen wollen dabei herausfinden, wer die Nebenräume der Kirche, die 1920 nach Plänen des Architekten Karl Moser erstellt wurde, künftig füllen könnte.
Einmal eine reformierte Kirche, immer eine Kirche Ein Report zum ersten Betriebsjahr mit dem Leitbild zeigt, dass die Bemühungen auf Kurs sind. Die Zahl der kirchlichen und kulturellen Anlässe nahm leicht zu, ebenso die Auslastung durch Dritte – und auch die Einnahmen steigen leicht an. Zurzeit betreut der Bereich Immobilien rund 20 Bau-, Umbau- und Sanierungsvorhaben. Neben dem Projekt ‹ Haus der Diakonie › in Wipkingen siehe ‹ Blick in die Werkstatt ›, Seite 26 soll auch das palaisartige Kirchgemeindehaus Enge umgebaut werden. Das Ziel: eine vielseitigere Nutzung inklusive Restaurant. Im ehemaligen Pfarrhaus Unterstrass wurden nach der Fusion die Büros der Kirch-
gemeinde frei und machten einer grosszügigen Wohnung Platz, in der heute eine fünfköpfige Familie lebt. Unterhalb der Kreuzkirche in Hottingen wiederum entsteht ein Mehrfamilienhaus mit sechs Wohnungen, die die Kirche nach den Regeln der Kostenmiete anbieten wird, was im teuren Quartier bestimmt willkommen ist. Mit diesen und weiteren kommenden Projekten wird die neue Immobilienstrategie wirksam und sichtbar.
Ihr Gesellenstück haben Michael Hauser und Matthias Haag abgeliefert: das Rathaus-Pop-up in der Bullingerkirche siehe ‹ Blick in die Werkstatt ›, Seite 26. Der Kanton als Mieter baute die Kirche in ein Parlamentsgebäude um, wo nicht nur der Kantonsrat und der Zürcher Gemeinderat tagen, bis das historische Rathaus in der Altstadt 2027 saniert ist, sondern auch das Jugendparlament, das reformierte Parlament sowie die reformierte und die katholische Synode. So fand der Kanton rasch eine gute Ersatzlösung, während ein nicht mehr benötigter Kirchenraum wieder ausgelastet ist und mit einer Bruttomiete von über 500 0 00 Franken erst noch rentiert. Was danach mit dem Rathausprovisorium geschieht, wissen Hauser und Haag noch nicht – nur so viel: « Die Katholiken und Katholikinnen müssen ihre Kirchen entweihen – wir dagegen nicht. Die Bullingerkirche wird darum immer Kirche bleiben. » ●
Online-Raumplattform
Die Reformierte Kirche Zürich vermietet rund 220 Räume wie Säle, Sitzungszimmer, Band- und Werkräume sowie Kirchen. raum.reformiert-zuerich.ch
7. Reformierte Bevölkerung und Gebäudevolumen Anzahl Personen und Kubikmeter
8. Raumbelegung nach Nutzerinnen
pro Woche
Reformierte Bevölkerung Stadt Zürich Gebäudevolumen Sitzungszimmer
Kirchgemeinde Öffentliche, Vereine P rivate Firmen
Quelle: Reformierte Kirche Zürich
Die Kirche Glaubten von 1972 stammt von Esther und Rudolf Guyer. Foto: Baugeschichtliches Archiv, Hanspeter Dudli
Glaubten-Areal, 2024
Wehntalerstrasse / Riedenhaldenstrasse, Zürich
Bauherrschaft: Reformierte Kirche Zürich
Bauherrschaftsvertretung:
Pom + Consulting, Zürich
Hauptmieterin: Stiftung Sozialwerk Pfarrer Sieber, Zürich
Architektur und Generalplanung: Schneider Studer Primas, Zürich ; BGS & Partner, Rapperswil
Landschaftsarchitektur: Kolb, Zürich
Statik: Lorenz Kocher, Chur ( bis und mit Baueingabe ), Caprez Ingenieure, Zürich ( Ausführung )
Heizungs- und Lüftungsplanung: Waldhauser + Hermann, Münchenstein ( bis und mit Submission ), Eberle Engineering, Zürich ( Ausführung )
Auftragsart: Einstufiger, selektiver Studienauftrag, 2018
Baukredit: Fr 40,8 Mio.
Verwandte in Nachbarschaft
Der Neubau auf dem Glaubten-Areal ist eröffnet. Er ist das Resultat einer intensiven Zusammenarbeit zwischen der Kirchgemeinde und dem Sozialwerk Pfarrer Sieber.
Text:
Damaris Baumann
Fotos:
Andrea Helbling
Ab 2029 soll das Entwicklungsgebiet Zürich-Affoltern dank der verlängerten Tramlinie 11 noch besser an die Innenstadt angebunden sein. An der heutigen Bus- und zukünftigen Tramhaltestelle Glaubtenstrasse weist ein Schild den Weg zum neuen Standort der Stiftung Sozialwerk Pfarrer Sieber ( SWS ). Sie bietet suchtkranken und obdachlosen Menschen medizinische und soziale Unterstützung und hat im Juni das neue Pfarrer-Sieber-Huus auf dem Glaubten-Areal bezogen.
Die Reformierte Kirche als Bauherrin und die SWS als Hauptmieterin haben das Projekt Glaubten-Areal in enger Zusammenarbeit entwickelt. Der vierteilige Neubau von Schneider Studer Primas besetzt den vormals unbebauten Arealteil westlich des Kirchenzentrums Glaubten und fasst ein Fachspital, ein Pflegeheim, ein suchtakzeptierendes Wohnheim und Büros der SWS zusammen. Damit versammelt die Stiftung bis anhin über das Stadtgebiet verstreute Nutzungen unter einem Dach. Das neue Fachspital ist ein grosser Schritt. Zuvor war es in einem Wohnhaus im Stadtzentrum untergebracht. Die Spitalbetten passten weder durch die Zimmertüren noch in die Lifte – eine B elastung für Personal und Patientinnen. Das GlaubtenAreal bietet nun ein massgeschneidertes Raumangebot. Die übrigen, an der Wehntalerstrasse liegenden Büro- und Gewerberäume vermietet die Kirchgemeinde anderweitig. Bereits im Frühling ist im Erdgeschoss eine Karateschule eingezogen, weitere Mietparteien, unter anderem eine Kinderkrippe, werden folgen.
Inspiriert vom Bestand
Der Neubau ergänzt den inventarisierten Kirchenkomplex Glaubten von Esther und Rudolf Guyer aus dem Jahr 1972. Der höchste und markanteste Punkt ist der kubische Kirchturm. Hohe Mauern umschliessen einen Hof und halten das Ensemble zusammen. Niedrige Rundbögen unter dem Turm führen weg von der viel befahrenen Strasse und hinein in den kontemplativen, gepflästerten Hof. Er erschliesst die Kirche und das Gemeindezentrum. Um einen Brunnen im Boden gruppieren sich Findlinge.
Das neue Gebäude von Schneider Studer Primas ergänzt das historische Ensemble. Foto: Theodor Stalder →
Das neue Fachspital ist ein grosser Schritt.
Der Innenausbau des Fachspitals ist funktional, aber dennoch wohnlich.
Die Gebäudestruktur ist flexibel und liesse sich einfach zu einem Wohnhaus umnutzen.
Balkone vor den Zimmern machen lange Spitalaufenthalte angenehmer.
Erdgeschoss mit Umgebung
Riedenhaldenstrasse
Gewerbe
Nutzungsverteilung
Bestand
1 Hof Kirchenzentrum 2 Eingang Kirche
3 Eingang Kirchgemeindehaus Neubau
4 Spitalhof 5 Haupteingang Fachspital 6 Wohnhof
7 Haupteingang Wohnhaus
8 Haupteingang Gewerbe 9 Isolierzimmer 10 Speisesaal
Das Kirchgemeindezentrum ist um ein begrüntes Atrium herum organisiert. In Mimikry der Mauerkompositionen haben die Guyers den Kirchgemeindesaal von 1938 integriert. Erdig rötlicher Waschbeton und Holz prägen das ausdrucksstarke Ensemble. Das Werk steht am Übergang vom Brutalismus zum Regionalismus.
Wie der Bestand findet auch der Neubau über vorspringende Sockel und Staffelungen die zur Umgebung passenden Höhen und Dimensionen. Er ergänzt das Werk der Guyers mit Respekt und findet gleichzeitig seine eigene Sprache. Die vier unterschiedlich grossen und hohen Gebäudeteile bilden zwei laterale, mit Mauern geschlossene Höfe. Inspiriert vom Bestand, wollten Schneider Studer Primas das Fachspital und das Wohnheim über die Höfe erschliessen. Denn die Höfe lösen nicht nur Lärmprobleme, sagt Architektin Franziska Schneider, sie entschleunigen auch den Zutritt ins Gebäude. Aus betrieblichen Gründen war eine solche Erschliessung aber nur für das Wohnhaus möglich. Filtermauerwerk aus Kalksandstein gewährt punktuell Einblicke in den begrünten Wohnhof. Der intimere Spitalhof direkt hinter der Kirche ist den Patientinnen vorbehalten.
Flexibilität und Nachhaltigkeit
Schon das Gipsmodell aus dem Wettbewerbsprojekt habe das Potenzial des Entwurfs gezeigt, sagt die Architektin und Projektleiterin seitens der reformierten Kirche Silvia Beyer. Die städtebauliche Setzung und die belastbare Form hätten die Jury gleich überzeugt. Die vier verbundenen Gebäudeteile lassen sich sowohl einzeln bespielen als auch auf unterschiedliche Nutzungen anpassen. Die grösste Gebäudemasse, das viergeschossige Fachspital, liegt in der Parzellenmitte. Ein schlanker, dreigeschossiger Gewerberiegel auf Seiten der Wehntalerstrasse schützt die sensibleren Nutzungen vor Verkehrslärm. Die Haupterschliessung mit Spitaleingang, Garageneinfahrt und Anlieferung befindet sich an der ruhigeren Riedenhaldenstrasse. Hier liegt auch der mit sechs Geschossen höchste Gebäudeteil des Neubaus: das Wohnhaus mit dem Namen ‹ S chärme ›. Die Gebäudeteile der SWS sind nur für die Mitarbeitenden miteinander verbunden, Bewohnerinnen und Patienten werden getrennt. Auch der Gewerbebau an der Wehntalerstrasse ist eigenständig, doch seine Geschosse liessen sich mit dem Spitalbau verbinden. Die SWS wird die Räume langfristig nutzen. Dennoch sind der Flexibilität zuliebe nur die Gebäudekerne betoniert und die Zimmerwände nichttragend ausgebildet. Bei einem Mieterwechsel liesse sich der Bau gut in ein studentisches Wohnheim oder in ein Pflegeheim umwandeln. Dass mit wenigen Ausnahmen mechanisch gelüftet wird und die Räume knapp geschnitten sind, hat die Kosten reduziert. Da die Patienten und Bewohnerinnen kaum Besuch erhalten und keine Autos besitzen, genügt ein Tiefgaragengeschoss. « Es ist ein einfacher Bau », sagt Projektleiterin Silvia Beyer. Obwohl kosteneffizient geplant wurde, spielte die Nachhaltigkeit eine wichtige Rolle. Das Gebäude folgt den Grundsätzen der 2000-Watt-Gesellschaft und erreicht die Zielwerte des SIA-Effizienzpfads. Geheizt wird über Erdsonden, bei Belastungsspitzen hilft die Gasheizung des Kirchenzentrums. In Zukunft soll Letzteres ans Fernwärmenetz angeschlossen werden. Auf dem Dach steht eine grossflächige Photovoltaik-Anlage.
Massgeschneidert und angemessen
Das Sozialwerk Pfarrer Sieber mietet die Räume im Rohbau und finanziert den Innenausbau selbst. Ein Fachspital zu entwerfen, war für alle Beteiligten eine neue Aufgabe. Um sich ein Bild der Nutzungen und Abläufe zu ma-
Das Kirchenzentrum funktioniert unabhängig vom Neubau.
chen, verbrachten die Architektinnen einen Tag im alten Fachspital Sune-Egge im Kreis 5 und tauschten sich mit dem Personal aus. Für Architektin Franziska Schneider hat die Aufgabe eine besondere Bedeutung. In ihrer Studienzeit waren die offene Drogenszene und deren Auswirkungen in Zürich stark präsent. Sie empfand es auch darum als sinnstiftend, für Suchtbetroffene zu entwerfen. Die massgeschneiderte Architektur zeigt sich in der Detaillierung, im Raumprogramm und im wohnlichen Ausdruck der Räume. Damit keine Drogen versteckt werden können, müssen Ritzen oder Spalte verschlossen sein. Hohlkehlen und PU-Böden im Erdgeschoss des Fachspitals garantieren Sauberkeit. Zwei knappe Lichthöfe bringen Licht in die Gebäudetiefe, die grosszügige Erschliessung schafft Raum für Begegnungen. Der Raum der Stille kann dank Flügeltüren zu einem der Lichthöfe hin erweitert werden, sodass eine sakrale Stimmung entsteht. Im Restaurant ‹ Zum heitere Ernst › im Erdgeschoss werden die Patienten dreimal am Tag bekocht und ein gemütliches Raucherzimmer ist über ein Rundfenster visuell mit dem Speisesaal verbunden. In den Spitalzimmern schaffen gestrichene und geschlämmte Wände Atmosphäre. Die Türzargen und Bodenleisten aus Eichenholz sind robust und wohnlich. Private Balkone bieten Komfort für die Patientinnen, die im Schnitt drei Monate hierbleiben.
Willkommenes Miteinander An der Fassade geben zwei unterschiedliche Welleternit-Profile und ein Wellblech den Gebäudeteilen je ihren eigenen Charakter. Durchgehende Fensterformate binden das Ensemble zusammen. Farbakzente am Sockelgeschoss werden in den nächsten Monaten noch angebracht. Ausserdem ist an der Fassade ein bekanntes Balkon-Detail von Schneider Studer Primas wiederzuentdecken: Die roten Stahlstrukturen mit gespanntem Metallgeflecht gibt es auch in der Wohnsiedlung Zwicky Süd. Eröffnet wurde der Neubau auf dem Glaubten-Areal im Juni 2024. Das Kirchenzentrum funktioniert weiterhin unabhängig vom Neubau, aber es entsteht ein willkommenes Miteinander, wie die Institutionen sagen. Schliesslich war der Gründer und Namensgeber der Stiftung, Pfarrer Ernst Sieber, in der reformierten Kirchgemeinde Zürich bis zu seinem Tod 2018 eine wichtige Figur. Mit dem Einzug der SWS in eine kirchliche Liegenschaft schliesst sich somit auch ein Kreis. Die Einweihung mit Gottesdienst fand in der Kirche statt, da der Neubau über keinen Veranstaltungsraum verfügt. Die Aussenräume des bestehenden Ensembles wurden zeitgleich mit der Realisierung des Neubaus instand gesetzt. « Es war eine lange Reise bis zum Projekt, aber sie hat sich gelohnt », s o Silvia Beyer. Weitere ähnliche Kooperationen, vorzugsweise solche mit öffentlich-rechtlichen Institutionen und betrieblichen Synergien, kann sich die Kirchgemeinde gut vorstellen. Unbebaute Grundstücke in den Dimensionen wie in Affoltern besitzt sie noch mehrere. ●
Wieder näher
am Quartier
Text:
Damaris Baumann
Fotos:
Conen Sigl
Haus der Diakonie, 2027
Rosengartenstrasse 1 / 1a, Zürich
Bauherrschaft: Reformierte
Kirchgemeinde Zürich
Nutzung und Betrieb: Streetchurch, Zürich
Architektur und Generalplanung: Arge Conen Sigl und Vollenweider Baurealisation, Zürich
Statik: APT Ingenieure, Zürich
Elektroplanung: Enerpeak, Dübendorf
Gebäudetechnik:
Grünberg + Partner, Zürich
Bauphysik, Akustik: BWS, Winterthur
Auftragsart: Planerwahlverfahren, 2020
Gesamtkosten ( BKP 1 – 9 ): Fr 50,2 Mio
Baukosten ( BKP 2 ): Fr 24,4 Mio
Das Kirchgemeindezentrum Wipkingen öffnet sich und wird zum Haus der Diakonie. Damit schliesst sich der Kreis zur ursprünglichen Vision, die vor fast 100 Jahren entstand. Bei Bauvollendung 1932 war der Turm des reformierten Kirchgemeindehauses Wipkingen das erste Hochhaus und damit das höchste Gebäude in Zürich. Die Turmuhr war von den Fabriken auf dem Maag-Areal ennet der Limmat aus zu sehen. Die reformierte Kirche plante das Haus in den 1920er-Jahren, weil sie für das wachsende Quartier eine bessere soziale Infrastruktur schaffen wollte. Die öffentliche Hand und die Vereine waren ebenfalls in die Planung einbezogen. Und so fanden im grossen Saal im ersten Obergeschoss Anlässe von Kirche und Quartiervereinen statt, im alkoholfreien Restaurant mit Aussenterrasse traf sich die Bevölkerung. Im Untergeschoss hatte es Duschen und Wannenbäder, zur Strasse hin befanden sich Poststelle und Bank. Auch eine Mütterberatung, Werkstätten und das Kreisbüro waren im Kirchgemeindehaus untergebracht. In einem Annexbau befindet sich bis heute eine Kinderkrippe. Sie ersetzte eine der ersten Krippen der Stadt am selben Standort. Die Stadt subventionierte das Projekt und trat die Parzelle unter dem Verkaufswert ab. So bauten nicht nur die weltlichen, sondern auch die religiösen Sozialisten ein Volkshaus in der Stadt Zürich.
Der Entwurf für den modernen Bau mit Anklängen an den Heimatstil stammt von den Architekten Vogelsanger und Maurer. Ein Luftbild aus der Zeit kurz nach Fertigstellung zeigt das Kirchgemeindehaus mit einem von Bäumen gesäumten Vorplatz. Daneben schlängelt sich die Rosengartenstrasse zwischen Wohnhäusern und Gärten den Hang hinauf. Noch hat sie nichts mit der trennenden Transitachse von heute zu tun.
Knapp 100 Jahre später, an einem Nachmittag unter der Woche, wirkt das Gebäude leer. Zwischennutzer arbeiten in Büros, im Keller halten Migrationskirchen Gottesdienste ab. Der denkmalgeschützte Bau ist in die Jahre gekommen: Ein Gerüst über dem schmalen Trottoir an der Rosengartenstrasse schützt Fussgängerinnen vor herabfallendem Fassadenputz – es ist eine Überbrückungsmassnahme, bis dann anfangs 2025 die Arbeiten zur Gesamtinstandsetzung und zur Umnutzung des Gebäudes in das « Haus der Diakonie » b eginnen.
Eine neue Kaskadentreppe bindet die Nutzungen zusammen.
Das Projekt von Conen Sigl geht sensibel und zugleich pragmatisch mit dem Bestand um.
Pilzstützen prägen die Atmosphäre im Restaurant.
Die reformierte Kirche hat mehr Raum zur Verfügung, als sie braucht. « Das ist etw as traurig », s agt Nathalie Aeschbacher, Architektin und Projektleiterin seitens der reformierten Kirche. « Ums o schöner ist es, wenn wie in diesem Projekt die Nutzung und das Bauwerk so ideal zusammenpassen. » Auf der heruntergekommenen Terrasse vor dem Haus fühlt sich Aeschbacher an ihren Studienaufenthalt in Detroit erinnert: « D er Bau und die Aussenräume brauchen dringend eine Auffrischung.» Allerdings sind die Terrasse und das darunterliegende bunkerartige Postverteilzentrum nicht Teil des Projekts. Die Gebäudeteile aus den 1970er-Jahren gehören der Post, das Nutzungsrecht für die Terrasse liegt bei der Stadt. Deshalb wird es diesen Sommer wie schon letztes Jahr öffentliche Zwischennutzungen geben. Diese sollen den Ort und die Zukunftspläne der Öffentlichkeit zugänglich machen. Der Blick über die Stadt Richtung Alpenpanorama ist fantastisch.
Wohnen, geniessen, arbeiten
« Diakonie heisst Dienst am Menschen », sagt Philipp Nussbaumer, Gesamtprojektleiter des Hauses der Diakonie und Geschäftsleiter der Streetchurch. Als Einheit der reformierten Kirche wird die Streetchurch, deren Unterstützungs- und Beratungsangebote sich in erster Linie an junge Menschen richten, das Haus betreiben. Noch ist die Streetchurch im Kreis 4 eingemietet. In Wipkingen kann sie ihre vielfältigen Angebote an einem einzigen Standort weiterführen und um einen Gastronomiebetrieb erweitern. Die Veranstaltungsräume werden vermehrt auch Externen offenstehen. Trotz lärmiger Lage an der Rosengartenstrasse wird es dank Bestandesgarantie auf zwei Geschossen im Turm und im Westflügel Wohnungen geben. Sie sind mehrheitlich jungen Menschen vorbehalten, die ein begleitetes Wohnangebot oder eine befristete Unterkunft benötigen.
Das Haus der Diakonie will baulich und inhaltlich näher an das Quartier, die Stadt und die Menschen heranrücken. Es soll ein auf vielen Ebenen integrativer Ort sein, wo sich unterschiedliche Menschen treffen oder im CoWorking-Space arbeiten können. « Wenn die Familie aus dem Quartier, der junge Erwachsene aus dem Arbeitsprogramm und die urbane Velofahrerin hier in den Austausch kommen, ist schon viel gelungen », s o Nussbaumer.
Die Streetchurch evaluierte 2019 verschiedene Standorte und befand das Kirchgemeindehaus Wipkingen mit seiner öffentlichen und sozialen Geschichte als ideal. 2020 wurden über ein Planerwahlverfahren Architekturbüro und Projekt erkoren: Conen Sigl aus Zürich sind sowohl umbauerprobt als auch dialogbereit. In einer Variantenprüfung mit Workshops zu den Themen Gastronomie, Wohnen und Veranstaltungen wurde das Projekt justiert. Zudem konnte die Quartierbevölkerung an einer Informationsveranstaltung ihre Fragen einbringen. Brennendste Themen waren der schlechte Zustand der Terrasse, mögliche Raumnutzungen und das geplante Wohnangebot.
Optimiert zurück zum Anfang
Das Projekt von Conen Sigl geht sensibel und zugleich pragmatisch mit dem Bestand um. Zwei Drittel der 50 Millionen Franken Projektkosten sind für Instandsetzung und Ertüchtigung vorgesehen. Dazu gehören die energetische Sanierung, die Erdbebenertüchtigung und der Anschluss an den lokalen Fernwärmeverbund. Auf dem Walmdach soll Photovoltaik montiert werden.
Ein Fassaden-Mock-up prüft das Zusammenspiel von Fenster, Fensterbank, Dämmputz und Sockel. Im Originalzustand waren die Simse fassadenbündig eingelegt, was zu Bauschäden führte. Aus diesem Grund planen Conen
« Diakonie heisst Dienst am Menschen. »
Philipp Nussbaumer, Geschäftsleiter Streetchurch
Sigl die neuen Simse überstehend. « Wir müss en keine historischen Bauweisen reproduzieren, die zu Bauschäden führen », s agt Raoul Sigl. Von kleinen Optimierungen wie dieser abgesehen, ändert sich am äusseren Ausdruck wenig. Im Innern wird eine neue Kaskadentreppe die heute stark segmentierten Gebäudeteile verbinden und mehr Licht in die Eingangshalle bringen. Viele kleine Anpassungen und neue Lifte machen das Gebäude barrierefrei.
Das Gebäude war im Originalzustand viel bunter, als es sich heute zeigt. Die bestehenden bunten Mosaikböden in der Eingangshalle und im ersten Obergeschoss erinnern mit ihren überraschenden geometrischen Figuren an konkrete Kunst. Sie werden erhalten und sind Grundlage für die neue Farbgebung von Wänden und Möbeln.
Fragezeichen Aussenraum
Im Terrassengeschoss wird es wie früher ein alkoholfreies Café und neu einen Co-Working-Space geben. Markante Pilzstützen geben dem Café seinen Charakter. Die Tische kommen aus der hauseigenen Werkstatt: In Anlehnung an die Entwürfe zum Selberbauen des Designers Enzo Mari planen Conen Sigl eine Möbelserie, die die Streetchurch zusammen mit Teilnehmenden der Arbeitsintegration produzieren wird. Die Stühle und das ergänzende Mobiliar stammen mehrheitlich aus zweiter Hand.
Im Planerwahlverfahren schlugen Conen Sigl einen Quartiergarten auf der Terrasse vor. Dieser würde den Aussenraum beleben und das Zusammenwachsen mit dem Quartier fördern. Langfristig wünscht die Stadt eine Neugestaltung des Wipkingerplatzes. Was dort entstehen wird, liegt in der Hand der Post als Eigentümerin. Ihre Pläne für das Postverteilzentrum und die Terrasse sind nicht bekannt. Sicher ist indes, dass künftig das Kunstprojekt ‹ Ad Publicum › von Rico & Michael für eine grosse Aussenwirkung des Hauses der Diakonie sorgen wird. Das Künstlerduo wird alle Vornamen der Stadtzürcher Bevölkerung an den Turm projizieren – und ihn damit wortwörtlich zum Leuchtturm und Volkshaus machen. ●
KIRCHGEMEINDEHAUS WIPKINGEN
Gesamtinstandsetzung und Neunutzung in Haus der Diakonie
Nutzungsverteilung
1 Wohnen
2 Co-Working & K inderbetreuung
3 S aal & Foyer
4 Arbeitsintegration
5 Büro
6 Gastronomie
7 Halle für Veranstaltungen
KIRCHGEMEINDEHAUS WIPKINGEN
Gesamtinstandsetzung und Neunutzung in Haus der Diakonie
Mitwirkende Teams
– Arge Baumberger & Stegmeier und KilgaPopp, Zürich und Winterthur
– Atelier Scheidegger Keller, Zürich
– Esch Sintzel, Zürich
Beurteilungsgremium
– Annelies Hegnauer, Präsidentin Kirchenpflege ( Vorsitz )
– Michael Hauser, Mitglied Kirchenpflege, Ressortleitung Immobilien ( Moderation )
– Matthias Haag, Reformierte Kirche, Bereichsleitung Immobilien
– Bruno Krucker, Büro Krucker Architekten, Zürich
– Astrid Staufer, Staufer & Hasler Architekten, Frauenfeld
– André Schmid, Schmid Landschaftsarchitekten, Zürich
Reformierte Kirchgemeinde Zürich / Experten
– Michael Eidenb enz, Projektleiter
– Andreas Stoll, Kirchenkreis 12
– Christoph Sigrist , Präsident Zürcher Forum der Religionen
Verfahrensbegleitung
– Kontextplan, Zürich
Mitten in der Gartenstadt
Die Kirche Saatlen steht im Zentrum eines grossen Quartierumbaus. Damit das Gebäude öffentliche und sakrale Aufgaben erfüllen kann, soll es erweitert werden.
Text: Marion Elmer Visualisierungen: 36O36Ø
Als der Entscheid fällt, wirkt die Jury des Studienauftrags ‹ A gora Zürich-Nord › z ufrieden. « D as siegreiche Team nahm die Rückmeldung aus dem zweiten Workshop-Tag sehr ernst », s o Annelies Hegnauer, Präsidentin der Kirchenpflege. « Eine Ikone », s agt Architektin Astrid Staufer erfreut. « Eine fantastische Hinwendung zum Grünraum », sagt Landschaftsarchitekt André Schmid. Tatsächlich erfüllt das Projekt der Arge Baumberger & Stegmeier und KilgaPopp fast alle fünf Anforderungen, an die Michael Hauser, Architekt, immobilienverantwortlicher Kirchenpfleger und Moderator, zu Beginn des Jurytags erinnerte: fesselndes Nutzungskonzept, zeitgenössische Reflexion des Steinerplans, freundlicher nachbarschaftlicher Umgang, identitätsstiftendes Weiterbauen, Resilienz.
Doch worum geht es ? Der Zürcher Architekt Claude Paillard baute 1964, von skandinavischen Vorbildern inspiriert, die expressive Sichtbacksteinkirche Saatlen für die wachsende reformierte Kirchgemeinde Schwamendingen. Die Kirche steht an zentraler Stelle im Bebauungsplan, den der damalige Stadtbaumeister Albert Heinrich Steiner 1948 für das Quartier entworfen hatte. In Anlehnung an die Prinzipien der Gartenstadt sah der Steinerplan ein durchgrüntes Quartier mit vorwiegend zeilenförmigen Wohnsiedlungen vor. Und so wurde der Grossteil des Gebiets in den nachfolgenden Jahrzehnten überbaut.
Schwamendingen wächst
Nun wird das Dreispitz-Areal, in dem sich die Kirche befindet, in den kommenden Jahren umgepflügt, der Steinerplan wird überschrieben. Eine verdichtete Gartenstadt ersetzt die lockere Genossenschaftssiedlung, die neuen Bauten werden bis zu 25 Meter in die Höhe wachsen. Bis 2030 wird im Quartier Saatlen ein Bevölkerungszuwachs von rund 50 Pr ozent prognostiziert. Folgerichtig ist gegenüber der Kirche eines der stadtweit grössten Schulhäuser im Bau. Auch kirchenintern ist einiges im Umbruch. Mit der Fusion der reformierten Kirchgemeinden der Stadt Zürich 2019 veränderte sich das Profil der Kirche Saatlen. Nebst der bis anhin zentralen Kinder-
Das Haus mit dem
soll eines Tages auf dem Dreispitz-Areal in Schwamendingen stehen.
Das neue Gebäude soll verschiedenen Glaubensgemeinschaften offenstehen und beinhaltet auch Wohnungen.
Haus Agora
1 F estsaal / Markthalle
2 Wohnküche
3 Foyer
4 M editationsraum
5 C o-Working
6 K inderparadies
Erdgeschoss mit Umgebung
Das Quartier Agora Zürich-Nord Areal Dreispitz, Bebauung etappenweise bis 2035 Ersatzneubau Schulanlage Saatlen, 2027 Hallenbad Oerlikon, Abbruch und Neubau Sport- und Schwimmzentrum ab 2026 Einhausung Schwamendingen und Ueberlandpark, 2024 Geplante Grünzüge
Gegen Süden, zum neu entstehenden Saatlenpark hin, öffnet sich das Haus.
Entwurfswerkstatt und Dialog
Um die Herausforderungen der komplexen
Weiterentwicklung erkennen und diskutieren zu können, leistete sich die reformierte Kirche einen mehrjährigen
Prozess. 2018 beauftragte die Kirchgemeinde Saatlen Pool Architekten mit einer Potenzialstudie. Auch ein Mitwirkungsverfahren in der Kirchgemeinde wurde 2019 / 20 durchgeführt. 2023 / 24 folgte der Studienauftrag mit Dialog. Mittels Präqualifikation wurden drei Teams ausgewählt, die ihre Arbeit im Oktober 2023 aufnahmen. An zwei Tagen im Januar und März 2024 fanden Werkstattgespräche mit jedem Team statt. Nach den Workshops konnten sich Interessensgruppen und Religionsgemeinschaften im Mitwirkungsgefäss « Schulterblick » zu den Projekten äussern. Im Mai 2024 fand die Jurierung der Projekte statt.
und Familienarbeit sollte auch der interreligiöse Dialog gefördert und den Migrationskirchen eine Heimat geboten werden. So ist nun etwa die äthiopisch-orthodoxe Tewahedo-Kirche in Saatlen eingemietet. Auch finden interreligiöse Veranstaltungen mit der albanischen Moschee ‹ Haus des Friedens › und mit dem jüdis chen Theologen Richard Breslauer statt.
Um die Interreligiosität weiter zu kultivieren, fordert das Raumprogramm des Studienauftrags Räume für die sakrale Nutzung, das gemeinsame Feiern und eine Wohnküche. Auch Wohnungen für Kleinhaushalte und grössere Gemeinschaften sollen im Haus Platz finden.
Trotz dieser Anforderungen ist vieles noch ungewiss: Werden die Mitglieder der Kirchgemeinde die Umnutzung des ikonischen Bauwerks begrüssen ? Wird die Stadt Zürich eine allfällig nötige Anpassung des für den Quartierumbau verabschiedeten Gestaltungsplans gutheissen ? Und wenn ja: Werden sich Religionsgemeinschaften dauerhaft einmieten ? O der benötigt gar die Stadt mehr öffentliche Räume im Quartier ? D er Studienauftrag mit Dialog bot den nötigen Rahmen für eine Planung mit all diesen Unwägbarkeiten. Da sich die drei Teams diesen hohen Anforderungen bis zuletzt engagiert stellten und mit viel Herzblut an ihren Projekten feilten, konnten die Auftraggeberin und die Fachexperten aus drei qualitativ hochstehenden Projekten auswählen.
Das Kriterium der Wandlungsfähigkeit
Mit einer Art Tafelberg setzt das siegreiche Team eine markante Stadtskulptur. Sie überragt die künftigen Wohnbauten und unterstreicht damit ihre wichtige öffentliche Funktion im Quartier. Neue Schichten und Volumen, die sich im Westen und Süden in die Höhe stapeln, schreiben mit Abstufungen und Terrassierungen Paillards Konzept weiter. Auch der Kirchturm darf bleiben, neue höhere Gebäudeteile binden ihn aber ins grosse Ganze ein und relativieren seine Bedeutung.
Gegen Süden, zum neu entstehenden Saatlenpark hin, öffnet sich das Haus: mit raumhohen Fenstern und Türen im Erdgeschoss, mit Loggien, Terrassen und Erschliessungslauben in den oberen Etagen. Der Festsaal liegt prominent an der Ecke zwischen Strasse und Park: Religiöse Gemeinschaften können ihn für Feiern hinzumieten ; er lässt sich aber auch – der Projektname Agora wird hier wörtlich umgesetzt – als öffentliche Markthalle nutzen. Daneben befindet sich das Herzstück: die Wohnküche, die über einen hohen, seitlich belichteten Innenhof viel natürliches Licht erhält.
In die erste Etage, wo sich Sakral- und Gruppenräume sowie einige Kleinwohnungen befinden, gelangt man via interne Erschliessung vom Lichthof her oder über eine Aussentreppe, die öffentliche Stadtloggia und einen Laubengang. Eine separate Treppenanlage führt in die Wohngeschosse. Es wird auf kleinem Fuss gewohnt: in kleinzelligen Strukturen für ein bis zwei Personen oder gemeinschaftlich in einer Clusterwohnung. Statt Balkonen gibt es gemeinsam nutzbare Terrassen. Auf der Dachterrasse bietet der interreligiöse Turm Raum für Begegnung, Co-Working oder weitere Nutzungen.
Wann die Agora Zürich-Nord gebaut und von Leben erfüllt sein wird, ist noch unklar. Klar ist hingegen, dass sich das Projekt im Laufe seiner Weiterentwicklung verändern wird. Die Jury musste deshalb bei ihrem Entscheid insbesondere die Wandlungsfähigkeit eines Projekts im Blick haben. Überzeugt hat das Siegerprojekt nicht nur damit, sondern auch mit seiner markanten städtebaulichen Setzung, seiner klaren Hinwendung zum Park und dem durchdachten gemeinschaftlichen Wohnen. ●
Blick in die Werkstatt
Die Reformierte Kirche Zürich realisierte in den vergangenen Jahren nebst der Planung grosser Bauprojekte auch verschiedenen Um- und Zwischennutzungen und kooperierte dafür mit öffentlichen und privaten Partnerinnen. Diese Doppelseite stellt zwei realisierte und ein künftiges Projekt vor, die das Potenzial von Kirchenbauten im städtischen Kontext hervorheben.
1 Das Rathaus
Seit dem 14. Jahrhundert wird Zürcher Politik vornehmlich an der Limmat gemacht. 1698 baute die Stadtrepublik Zürich am Limmatquai mitten in der Altstadt das heutige Rathaus an die Stelle eines Vorgängerbaus. Bis in die jüngste Vergangenheit tagten der Kantons- und der städtische Gemeinderat hinter der üppig geschmückten Sandsteinfassade im holzvertäfelten Ratssaal. Seit Anfang 2023 tagen die Zürcher Räte statt in
der pittoresken Altstadt neu mitten im lebendigen Kreis 4. Die Bullingerkirche mit dem dazugehörigen Kirchgemeindehaus im früheren Arbeiterquartier Hard dient Kantons- und Gemeinderat während der Sanierung des Rathauses bis mindestens 2027 als Provisorium. Herzstück des temporären Rathauses ist der Kirchensaal vom Architekturbüro Gebrüder Pfister aus den 1950erJahren. Ernst Niklaus Fausch Architekten haben den luftigen Raum aus Sichtbackstein, Holz und Beton mit wenigen reversiblen Massnahmen zum Ratssaal gemacht. Der raumfüllende, kreisförmige Leuchter ist das prägende Element der Intervention. Seine Filzbespannung verbessert die Akustik im Saal. Das Material taucht als grossflächiger Absorber an der Stirnwand wieder auf und verbirgt die Orgel, die sich auf der Galerie befindet. In den Seitenflügeln – sie stammen von den Architekten Kündig & Oetiker und sind 30 Jahre älter als die Kirche – befinden sich nun eine Cafeteria, die Wandelhallen und die Besprechungszimmer. Im ehemaligen Pfarrhaus organisiert die reformierte Kirche weiterhin Gottesdienste und diverse Anlässe für das Quartier. Die temporäre Nutzung der Bullingerkirche als Rathaus freut
den Kanton genauso wie die Kirche. Letztere hat nun die vier kommenden Jahre Zeit, die Zukunft der unternutzten Liegenschaft zu planen.
Rathausprovisorium Bullingerkirche, 2023
Bullingerstrasse 4 / 4a / 10, Zürich
Bauherrschaft: Kanton Zürich, Baudirektion
Architektur: Ernst Niklaus Fausch Partner, Zürich
Auftragsart: Direktauftrag, 2021
2 Die Schule
Weit oben am Hang steht die Kirche Wipkingen in einem baumbestandenen Garten und überblickt Zürich. Der Bau von 1909 mit seinem schlanken, spitzen Kirchturm ist ein prägendes Bauwerk im Quartier – auch wenn hier seit 2019 keine Gottesdienste mehr stattfinden. 2020 zog der Verein Klimastreik als Zwischennutzer mit Gebrauchsleihvertrag ein. Die Schule Waidhalde mietet seit dem gleichen Jahr die Sakristei und das ehemalige Pfarrhaus. Weil die Schule trotz der zusätzlichen Flächen aus allen Nähten platzt, entschieden sich die Stadt Zürich und die reformierte Kirche 2022 zu einem mutigen Gemeinschaftsprojekt: Die Kirchgemeinde vermietet der Stadt den Sakralbau für mindestens 15 Jahre, damit sie
ihn als Schulraum nutzen kann. Die Stadt Zürich übernimmt die dafür notwendigen baulichen Eingriffe. Den Konzeptwettbewerb zur Umnutzung gewann das Basler Büro Vécsey Schmidt Architekt*innen. Das Konzept ist so klug wie simpel: Eine neue, gedämmte Zwischendecke aus Holz teilt den Kirchenraum auf der Höhe der Empore in zwei Ebenen. Beheizt wird nur das Erdgeschoss. Hier teilt ein Mehrzwecksaal im Zentrum den grossen Kirchensaal in überschaubare und gut proportionierte Räume. Darin finden eine Bibliothek, Aufenthalts- und Essbereiche Platz. Sichtbares Holz an Decken und Wänden vermittelt Geborgenheit. Im Kontrast dazu bleibt das Obergeschoss unbeheizt und der imposante, gewölbte Kirchenraum in seiner ganzen Grösse erlebbar. Er steht in den Sommermonaten und in der Übergangszeit als grosszügiger Saal ohne fes te s Raumprogramm zur Verfügung. Der Entwurf schlägt mehrere Fliegen mit einer Klappe: Er lässt den denkmalwürdigen Sakralbau praktisch unangetastet und die Eingriffe sind vollständig reversibel. Gleichzeitig werden die beheizten Räume dank der Zwischendecke auf das nötige Minimum reduziert. Vor allem aber verbindet der
Entwurf räumliche Atmosphäre mit einer guten Nutzbarkeit. Der Umbau soll 2025 beginnen, im darauffolgenden Jahr will die Schule einziehen.
Umnutzung Kirche Wipkingen, voraussichtliche Fertigstellung 2026
Wibichstrasse 43, Zürich
Bauherrschaft: Stadt Zürich
Architektur: Vécsey Schmidt Architekt*innen, Basel
Baumanagement: Anderegg Partner, Zürich
Auftragsart: Einstufiger Konzeptwettbewerb im selektiven Verfahren, 2022 / 23
3 D er Lichtsaal
Mit den 24 Metern Breite und 11,5 Metern Höhe würde das halbrunde Kirchenschiff der Kirche Auf der Egg in Wollishofen auch ein gutes Planetarium, Theater oder Auditorium hergeben.
Die Wandverkleidungen und die Kastendecke aus gebeiztem Tannenholz versprühen Festlichkeit, im grossen Saal schaffen die im Halbrund angeordneten Sitzbänke ein Gefühl von Intimität. Das Zürcher Architekturbüro Henauer & Witschi erstellte 1937 die dem Neuen Bauen verpflichtete Kirche mit Platz für 1000 Menschen – für eine Quartierkirche eine beachtliche Grösse. Längst
vermag die Kirchgemeinde den Saal nicht mehr zu füllen. Deshalb begann in den 2010er-Jahren die langwierige Suche nach einer Nachnutzung. Ideen dafür gab es viele. Umgesetzt wurde 2014 das Projekt ‹ K unstKlangKirche ›, das auch ein Orgelkompetenzzentrum beinhaltete. Doch das Vorhaben scheiterte nach drei Jahren aus finanziellen Gründen. Die Wende kam 2023 mit dem Künstlerkollektiv Projektil. Die auf digitale Kunst spezialisierte Gruppe zeigte 2019 erstmals eine immersive Lichtshow in der Citykirche St. Jakob. Auf der Suche nach einem Raum zum Entwickeln und Vorführen gelangte sie an die reformierte Kirchgemeinde – und diese hatte mit der Kirche Auf der Egg die passende Lösung parat. ‹ Pixel Zoo Ocean › hie ss die erste Show, die das Publikum im Winter 2023 / 24 in Unterwasserwelten eintauchen liess. Die Kirche bleibt weiterhin Kirche. Wenn die Lichtkünstlerinnen nicht gerade neue Fantasiewelten in den vielseitigen Saal zaubern, können ihn Dritte über die Raumplattform der Kirche mieten – auf Wunsch mit SteinwayKonzertflügel und Orgel. www.projektilart.com
Auf dem Prüfstand
Vier Fachpersonen für Immobilien- und Stadtentwicklung schätzen das Vorgehen der Reformierten Kirche Zürich ein und sagen, wo noch Verbesserungspotenzial liegt.
Aufgezeichnet von Viviane Ehrensberger
« Die aktuellen Projekte zeugen von Innovationsmut »
Das Immobilienleitbild zeugt von einer vertieften Auseinandersetzung mit dem Bestand sowie der eigenen Rolle und steckt hohe Ziele. Dass die ökologische und soziale Nachhaltigkeit zusammengedacht werden sollen, sticht besonders hervor. In Bezug auf die sozialen öffentlichen Nutzungen zeugen die aktuellen Projekte von Innovationsmut und Weiterentwicklung der eigenen Rolle. Besonders begrüssenswert sind die interreligiöse Öffnung und das Zusammenspannen mit sozialen Institutionen. Wichtig scheint mir dabei, dass Freiraum gelassen wird für selbstinitiierte, lokale und zivilgesellschaftliche Nutzungen. Bei den Wohnnutzungen ist eine klare Haltung gefragt: Die öffentlichen Nutzungen dürfen nicht mit den Wohnmieten finanziert werden. Dies wäre problematisch angesichts des kirchlichen Auftrags – denn günstiger Wohnraum ist die Basis jeder Existenzsicherung und gesellschaftlicher Teilhabe. Nebst der Ausrichtung des eigenen Bestands auf Kostenmiete könnte sich die reformierte Kirche mit anderen gemeinnützigen und kommerziellen Eigentümerschaften so koordinieren, dass in Verdichtungsquartieren keine Verdrängung passiert. Wenn sie sich öffentlich als Akteurin für die Schaffung von günstigem, qualitätsvollem Wohnraum einsetzen würde, hätte dies eine grosse gesellschaftliche Strahlkraft und würde dem Anspruch an soziale Verantwortung Glaubwürdigkeit verleihen. Antonia Steger ist Germanistin, Soziologin und Kulturanalystin und Teil des Kernteams von Urban Equipe. Der Verein aus Zürich setzt sich für die Demokratisierung der Stadtentwicklung und -gestaltung ein.
« Null Prozent Steuerfrankenanteil bis 2035 ist ambitioniert »
Das Portfolio der reformierten Kirchgemeinde Zürich ist sehr heterogen. Das bedingt, dass mit unterschiedlichen Strategien an die verschiedenen Liegenschaften herangegangen wird. Dennoch gibt es einige generelle Themen: Eine Besonderheit der Kirche ist zum Beispiel, dass sie in fast allen Quartieren an zentralen Lagen vertreten ist. Dort liegt grosses Potenzial für eine quartierspezifische strategische Ausrichtung. In Bezug auf die Ertragskraft ist das Portfolio hingegen eher weniger bedeutend, was insbesondere an den Betriebsliegenschaften liegt. Diese sind teilweise denkmalgeschützt und lassen sich nur beschränkt umnutzen. Bei den überzähligen Sakralbauten wären Verkäufe, etwa an private Stiftungen, ein geordneter Rückbau oder auch Brachen ein sinnvoller Weg, um Kosten zu sparen – und, wie in letzterem Fall, um zusätzlich Lebens- und Freiräume zu schaffen. Aus wirtschaftlicher Sicht sind die Kirchgemeindehäuser, Wohnliegenschaften und Baurechte interessanter, hier könnte eine Ertragssteigerung im Fokus stehen. Das Ziel, bis ins Jahr 2035 0 % Steuerfrankenanteil zu erreichen, halte ich dennoch für sehr ambitioniert. Dafür müssten die stillen Reserven im Portfolio freigesetzt werden, indem die Liegenschaften betriebswirtschaftlich optimiert werden. Das würde Massnahmen bedingen, die innerhalb der Kirchgemeinde kaum durchzusetzen wären. Stefan Meier, Architekt ETH und Partner bei Wüest Partner, ist Experte für die Entwicklung und Bewertung von Immobilien. Als Initiant von Publikationen, Studien und Fachveranstaltungen setzt er sich mit den komplexen Herausforderungen im Immobilienmarkt auseinander.
« Die Kirche ist eine willkommene
Kooperationspartnerin »
Die Bauten der reformierten Kirche sind über die ganze Stadt Zürich verteilt und bilden wichtige Treffpunkte für die Bevölkerung. Für Immobilien Stadt Zürich ist die reformierte Kirche eine wertvolle Kooperationspartnerin: Sie hat ein interessantes Raumangebot und die Stadt einen steigenden Raumbedarf. Seit 2019 findet darum zweimal im Jahr ein Austausch statt, um gemeinsam kleinere und grössere Projekte zu entwickeln. Die Kirche Wipkingen etwa wird als Pionierprojekt mit reversiblen Massnahmen für die Schule Waidhalde umgebaut. Der neue Singsaal wird ausserhalb der Schulzeiten der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Ein weiteres Beispiel ist das Theater am Hechtplatz: Während der Instandsetzung des Theaters wird für das Provisorium das Kirchgemeindehaus Neumünster in Zürich-Riesbach angemietet. Aber auch für kleinere Anliegen wie stundenweise stattfindende Mittagstische ist die reformierte Kirche eine willkommene Kooperationspartnerin. Diese gemeinschaftlichen Nutzungen passen gut zu den Werten der Kirche und haben zudem den Vorteil, dass bereits vorhandene Räumlichkeiten nicht leer stehen, sondern bestmöglich genutzt werden – was auch aus ökologischer Perspektive begrüssenswert ist. Mit ihrer Immobilienstrategie hat die reformierte Kirche einen Handlungsbedarf ausgemacht, den sie aktiv und professionell angegangen ist. Natürlich ist eine Kirche nicht mit einem leer stehenden Bürogebäude zu vergleichen – der Glaube spielt eine wichtige Rolle bei der Frage, welche Nutzungen zu einer Kirchgemeinde passen. Hier sehe ich Synergien auch mit anderen gemeinnützigen Institutionen als einen möglichen Weg in die Zukunft. Jennifer Dreyer hat Bauingenieur- und Betriebswirtschaftswissenschaften studiert und zu Public-private-Partnership doktoriert. Seit 2022 ist sie Direktorin von Immobilien Stadt Zürich.
« Die kirchlichen Bauten haben Potenzial für profane Nutzungen »
Kirchliche Bauten prägen das Stadtbild und wirken identitätsstiftend. Das gilt nicht nur für die bekannten Kirchen, sondern auch für Quartierkirchen mit ihren Plätzen und Grünräumen. Die im Immobilienleitbild der reformierten Kirchgemeinde Zürich beschriebene Absicht, ihren gebauten Raum nachhaltig zu nutzen, zu erweitern und für Quartierfunktionen zu öffnen, beurteile ich sehr positiv. Unklar bleibt für mich, inwiefern in den aktuellen Projekten konkrete Bedürfnisse von Quartierbewohnenden oder Quartiersakteurinnen abgeholt wurden und echte Partizipation stattgefunden hat. Ob die geplanten Angebote der Kirche genutzt werden, wird damit zusammenhängen, wie niederschwellig und kostengünstig sie sind, aber auch, wie stark eine christliche Prägung weiterhin im Vordergrund steht. Kooperationen mit nicht-kirchlichen Trägerschaften könnten attraktive Nutzungen hervorbringen, gerade bei einer Verdichtung mit ergänzenden Neubauten. Die kirchlichen Bestandesbauten haben räumliches Potenzial für profane Nutzungen, die in Neubauten nur aufwendig realisierbar wären. Anregende Beispiele finden sich in der Schweiz und international: beispielsweise die Nutzung als Boulderhalle, Skatepark, Brauerei, Restaurant, Schwimmbad, Bücherei oder Kindertagesstätte. Warum nicht in Zusammenarbeit mit einem innovativen gemeinnützigen Bauträger Synergien zum Wohnen suchen und gemeinschaftlich genutzte Räume und Infrastruktur für Bewohner und Quartier im kirchlichen Bestandsgebäude unterbringen ? Damit könnte die Kirche gemeinschaftsbasierte Wohnformen abseits von konventionellen Familien- oder Alterswohnungen ermöglichen und sich auch in der Wohnungsfrage stärker positionieren. Claudia Thiesen ist Architektin in Zürich und langjährige Expertin für die Entwicklung und Umsetzung von genossenschaftlichen Bauprojekten. Sie ist Mitinhaberin des Architekturbüros Thiesen & Wolf in Zürich ●
Unterwegs zwischen fünf Kirchen: Sigrist Luzius Zurbuchen.
Mit Velo und Schlüsselbund
Die Kirche vermietet ihre Räume für verschiedenste Anlässe. Das braucht Fingerspitzengefühl und Offenheit. Auf Tour mit Luzius Zurbuchen, Teamleiter Infrastruktur.
Auf dem weiten Kiesvorplatz der Pauluskirche im Quartier Unterstrass bauen Kinder mit Holzlatten eine begehbare Unterwasserwelt mit Schiff und riesigem Wal. Der Anlass ist ein Ferienprojekt, das die reformierte Kirche zusammen mit einem Gemeinschaftszentrum anbietet. Im Hort im Kirchgemeindehaus, wo während der Schulzeit Primarschulkinder Mittag essen, bereiten heute Mitglieder einer äthiopisch-orthodoxen Glaubensgemeinschaft ihr Osterfest vor, das am Tag darauf stattfinden wird. Die Gemeinschaft hat die ganze Kirche gemietet. Für einmal wird diese gut gefüllt sein.
Diese vielfältige Nutzung ist ganz im Sinne der neuen Immobilienstrategie der reformierten Kirche, die ihre Innen- und Aussenräume mehr beleben will. Luzius Zurbuchen kennt die Herausforderungen, die das mit sich bringt. Er ist seit zwölf Jahren Hauswart der Kirche Unterstrass und seit fünf Jahren Teamleiter Infrastruktur des Kirchenkreises sechs, zu dem die Pauluskirche und vier weitere Kirchen gehören.
Auf dem Vorplatz klärt Luzius Zurbuchen ab, ob sich die von den Kindern gebauten Objekte verschieben lassen, denn später soll hier ein Fest stattfinden. Sonst würde er die Festzelte eben anders aufstellen, erklärt er und sagt lachend: « Ich bin da unkompliziert. » Dann s chwingt er sich auf sein Velo, mit dem er seine Arbeit in den fünf Kirchen verbindet.
Ortswechsel: Die Kirche Unterstrass wurde 1884 erbaut, weil die wachsende Quartierbewohnerschaft einen grossen Raum benötigte. Seit Jahren finden hier am Samstag Gottesdienste von ghanaischen Adventisten statt, am Sonntagnachmittag mieten chinesische Christinnen die Kirche. Im angebauten Kirchenzentrum treffen sich Stockwerkeigentümer für ihre Versammlungen, eine englischsprachige Spielgruppe hat sich im Spielzimmer eingemietet, nebenan finden Religionsunterricht oder Chorproben statt. Und einen Stock weiter unten gibt es im grossen Festsaal Yoga, Firmenpräsentationen, politische
Podiumsdiskussionen und Hochzeiten. Das muss alles gut koordiniert sein, damit während der wöchentlichen Meditation in der Kirche kein Soundcheck im Festsaal stattfindet und im Keller nicht noch Bierkisten von der Geburtstagsparty am Vorabend rumstehen.
Wenn der Weihrauch zu fest weht
« Externe Vermietungen wirken sich massiv auf die Arbeit des Pfarrteams aus », s agt Zurbuchen. Das beginnt damit, dass Kirchen und die mit ihnen verbundenen Räumlichkeiten während einer Vermietung nicht zugänglich sind. So könne etwa der Pfarrer der Kirche Oberstrass in dieser Woche einem Gast seine Kirche nicht einfach so zeigen, da sie gerade für Klavieraufnahmen vermietet sei. Hinzu kommen kulturelle Unterschiede: Mit der äthiopisch-orthodoxen Gemeinde beispielsweise musste Zurbuchen nach der ersten Vermietung über die Nutzung von Weihrauch sprechen. Der Duft blieb wochenlang in der Kirche hängen und störte manche als fremdes Element in einer reformierten Kirche.
Was braucht es, damit sich kirchliche Angebote und externe Nutzungen kombinieren lassen ? « Offenheit und ein gutes Gespür für die unterschiedlichen Bedürfnisse », sagt Zurbuchen, für den die zusätzlichen Vermietungen schlicht mehr Koordinationsaufwand bedeuten. Er muss nicht nur Räume zeigen, Schlüssel übergeben, Material und allfälliges Zusatzpersonal organisieren, sondern auch überprüfen, ob geplante Veranstaltungen mit den Werten der Kirche im Einklang stehen. Punktuell muss er die Menschen im Quartier über Ungewohntes informieren: Wenn etwa eine Glaubensgemeinschaft 600 Per sonen zusammenbringt und ein grosses Feuer auf dem Vorplatz macht. Und bevor er diese Woche in der Kirche Oberstrass für die Tonaufnahmen die Glocken ausgeschaltet hat, hat er in einem angrenzenden Haus Infoflyer verteilt. Denn sonst kommt ein Anruf von einem Nachbarn, der verschlafen hat, weil um sieben Uhr die Glocke nicht läutete. ●
Aufgeschlossen
In den letzten Jahrzehnten sank die Mitgliederzahl der reformierten Kirche in der Stadt Zürich. Damit hat sich auch die Bedeutung ihrer Häuser für das gesellschaftliche Leben verändert. Manch eine kirchliche Immobilie wird heute kaum genutzt, obwohl der Raum in der Stadt knapp ist. Was ist also zu tun mit dem Immobilienschatz ? Nach der Fusion von 32 Kirchgemeinden 2019 steckte sich die neu entstandene Reformierte Kirche Zürich mit dem ‹ Leitbild Immobilien › finanziell und in Sachen Nachhaltigkeit ambitionierte Ziele. Vor allem aber sollen ihre Liegenschaften über ihr Dasein als Orte der Stille auch wieder zu Orten des Lebens, der Begegnung und des Austauschs, Orte für Gemeinschaft und Gesellschaft werden. Ein Porträt und eine Zwischenbilanz.
Sie lesen lieber auf Papier? Dieses Themenheft hier bestellen.
Lust auf mehr Architektur, Planung und Design? Hochparterre abonnieren!