Kunstmaschine im Sonntagskleid

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Themenheft von Hochparterre, Oktober 2021

Kunstmaschine im Sonntagskleid Offener Tresor, nobler Hightech, bescheidener Paukenschlag: Die Kunsthauserweiterung in Zürich balanciert Widersprüche.

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Steinerne Nische mit goldschimmernder Türe: Nicht protzig, aber selbstbewusst kündigt sich hier der Eintritt in eine besondere Welt an. Bildlegende unten

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Editorial

Das zürcherischste Kunsthaus

Inhalt

4 Die Kunstkathedrale der Zwinglistadt David Chipperfield Architects gelingt ein Gebäude, das zürcherischer kaum sein könnte.

14 Mit langem Atem und starken Nerven Zwanzig Jahre liegen zwischen der Idee und dem fertigen Neubau. Und der Verkehr am Heimplatz ist nicht verschwunden.

16 Sammeln, bewahren, ausstellen Im neuen Haus finden aktuelle Themen und alte Steckenpferde der Kuratorinnen und Kuratoren Platz.

20 Ein Museum mit vier Erweiterungen Die Geschichte beginnt vor 111 Jahren mit dem städtischen Museum und führt in die internationale Ausstellungswirklichkeit.

22 « Architektur machen heisst Verantwortung tragen » Das Gespräch mit dem britischen Architekt David Chipperfield über öffentliche Orte, Einpassung und ‹ Starbauten ›.

Die Kunsthauserweiterung von David Chipperfield Architects verbirgt hinter makellosen Oberflächen nicht nur kilometerlange Kabel, Leitungen und Kanäle, sondern auch Unmengen an Gerätschaften, Sicherheits- und Brandschutzvorrichtungen. So löst der Neubau einen Doppelwunsch des Museums: Da der Wille, das Klima für die kostbaren Kunstwerke bis hinters Komma zu regulieren, dort der Wunsch nach neutralen Ausstellungsräumen. Ein heutiges Museum muss solche Widersprüche ausbalancieren. Einerseits ist es ein abgeriegelter Kunsttresor, andererseits ein Bau für die Öffentlichkeit. Es soll eigenständig sein, sich dabei aber in seine Umgebung einfügen. Repräsentativ sein, aber nicht protzig. Bestenfalls zugleich zeitgeistig und zeitlos und heute natürlich auch ein ökologisches Pionierprojekt. Muss ein Haus an diesen Ansprüchen nicht scheitern ? Dem Erweiterungsbau sieht man diese Spannungen jedenfalls nicht an. Als mächtiger Kubus sitzt er gelassen am Heimplatz, umhüllt von Bändern und Lisenen aus Jurakalk und Beton. Die Welt dahinter ist nobel, beinahe klassisch und kontrolliert bis ins letzte Detail. Perfektion aus Marmor, Stein und Messing. « Ein Haus, das zürcherischer kaum sein könnte », schreibt Deborah Fehlmann in ihrer Architekturkritik. Ob die Zürcherinnen und Zürcher das imposante Foyer zwischen Platz und Garten bald auch als Passage und zum Mittagessen nutzen, wird sich zeigen. Dieses Heft stellt nicht nur das Kunsthaus vor, sondern auch die Geschichten dahinter und darin. Werner Huber blickt auf die zwanzigjährige Planung und erklärt, wieso der Verkehr zwischen dem Schauspielhaus und den Bauten des Kunsthauses verschwinden sollte. Benedikt Loderer rollt aus, wie das Ensemble seit 1910 wuchs. Meret Ernst besuchte die Kuratorinnen, die am Beispiel von ausgewählten Kunstwerken erzählen, wie sie die Sammlung neu in Szene setzen. Der Fotograf Tom Huber war dabei und auch in den Räumen und rund ums Haus unterwegs. Ist der Heimplatz nun so garstig, wie viele finden ? Ist das Haus so zürcherisch, wie die Architekturkritik meint ? Kommunikativer Kubus oder autistischer Klotz ? Angemessen elegant oder allzu edel ? Geht im Balanceakt die Aufregung verloren ? Findet man sich zurecht ? Wie wirkt die Kunst ? Lässt sich im Foyer ein Sandwich essen ? Das Heft bietet Hand, sich eine eigene Meinung zu bilden. Hoffentlich macht es ausserdem Lust auf einen Besuch des nun grössten Kunstmuseums des Landes. Denn Häuser und Künste muss man erleben.  Palle Petersen

Impressum Verlag Hochparterre AG  Adressen  Ausstellungsstrasse 25, CH-8005 Zürich, Telefon +41 44 444 28 88, www.hochparterre.ch, verlag @ hochparterre.ch, redaktion @ hochparterre.ch Verleger  Köbi Gantenbein  Geschäftsleitung  Lilia Glanzmann, Werner Huber, Agnes Schmid  Verlagsleiterin  Susanne von Arx  Konzept und Redaktion  Palle Petersen  Fotografie  Tom Huber, www.tom-huber.net  Art Direction und Layout  Antje Reineck  Produktion  René Hornung  Korrektorat Lorena Nipkow, Mirjam Läubli  Lithografie  Team media, Gurtnellen  Druck  Stämpfli AG, Bern Herausgeber  Hochparterre in Zusammenarbeit mit Einfache Gesellschaft Kunsthaus-Erweiterung Bestellen  shop.hochparterre.ch, Fr. 15.—, € 12.—

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Die Kunstkathedrale der Zwinglistadt Spektakuläre Räume, viel Technik und noch mehr Sichtbeton hinter einer traditionsbewussten Steinhülle: David Chipperfield Architects gelingt ein Gebäude, das zürcherischer kaum sein könnte. Text: Deborah Fehlmann

Ein ‹ Museum für das 21. Jahrhundert › – nicht weniger als das präsentierten die Zürcher Kunstgesellschaft, die Stiftung Zürcher Kunsthaus und der Stadtpräsident der Öffentlichkeit vor bald zwanzig Jahren. Sechs Jahre später nahm diese Vision die Form eines leuchtend hellen Steinkubus an, der dem Kunsthaus von Karl Moser ein Gegenüber und dem Heimplatz eine vierte Fassade geben sollte. David Chipperfield Architects, kurz DCA, hatten den Wettbewerb nicht mit Spektakel gewonnen, sondern indem sie auf Kontinuität setzten. Ihr Entwurf hat das Ensemble weitergestrickt, Mosers plastische Steinfassade und seinen kleinteiligen Grundriss von 1910 ebenso wie die gerillte Betonfassade und die weite Ausstellungshalle des PfisterBaus von 1958 zitiert. Chipperfield verankert damit den Neubau in seinen Kontext. Etwas von der Abstraktheit der damaligen Visualisierung haftet dem Kubus noch heute an. Gelassen steht er im Verkehr, rundherum von Lisenen aus gelbem Jurakalk überzogen. Allmählich verblasst die Erinnerung an die Bauzäune und Gerüste, die hier fünf Jahre lang standen. Fast vergessen ist auch die Kritik am Projekt, die meist auf seine imposante Grösse und manchmal auf die historisierende Architektur abzielte. Neue Massstäbe Stattdessen erwacht nun die Neugier auf den Chipperfield-Bau, der zwar einen pragmatischen Namen trägt, aber in mehrerer Hinsicht neue Massstäbe setzt. Erstens auf kulturpolitischer Ebene: Mit der Erweiterung verdoppelt das Kunsthaus seine Fläche nahezu und wird zum grössten Kunstmuseum der Schweiz. Damit rückt Zürich auch in der Liga international angesehener Kulturstädte nach vorne. Zweitens städtebaulich: Der Neubau ist ein Markstein auf dem Weg des Heimplatzes – heute bloss ein Verkehrsknoten – zu einem ‹ Tor der Künste ›. Der kantonale Masterplan fürs Hochschulgebiet Zürich Zentrum will, dass sich der Erweiterungsbau und der Garten dahinter mit weiteren öffentlichen Bauten und Freiräumen entlang der Rämistrasse zum städtebaulichen Rückgrat des Hochschulgebiets verbinden. Und drittens ökologisch: Als erster Museumsbau erfüllt die Kunsthauserweiterung die Zielvorgaben der 2000-Watt-Gesellschaft. Davon abgesehen bezieht ein ‹ Museum für das 21. Jahrhundert › unweigerlich Stellung zu zwei Fragen: Erstens, wo das Kunst-

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haus als Institution in der Gesellschaft steht und künftig stehen will. Zweitens, welches Bild Zürich als Kulturstadt nach aussen vermittelt. Die Architektur des Neubaus prägt diese Antworten entscheidend mit. Das Foyer: Auftakt und Angelpunkt Schon der Eingang ist ein Statement: eine schlichte, steinerne Nische mit einer goldschimmernden Türe. Nicht protzig, aber selbstbewusst kündigt sich hier der Übertritt in eine besondere Welt an. Laut Christoph Felger, leitender Architekt bei DCA Berlin, ist dies kein exklusiver, sondern ein offener Zugang: « Heutzutage sind Kunstmuseen ‹ community players ›, die mit Wechselausstellungen, Vorträgen und Vermittlungsprojekten nicht nur Touristen, sondern vor allem die lokale Bevölkerung ansprechen », sagt er, während der Verkehr lautlos vor den Fenstern des Foyers vorbeirollt. « Die Kunst ist wieder politischer, und Museen dienen als Orte gesellschaftlicher Verhandlung. » Das Doppelbedürfnis von Museum und Öffentlichkeit setzen Chipperfield Architects im Foyer um, das vorne an den Heimplatz und hinten an den Garten stösst. Die Halle trägt den Namen des Sammlers Walter Haefner und ist zugleich Ankunftsort, Erschliessung und Veranstaltungsraum. Während der Öffnungszeiten ist sie frei zugänglich und zumindest für die Schweiz von eindrücklicher Dimension. Unwillkürlich schweift der Blick vom kühlen, grau-weissen Marmorboden entlang perfekt geschalter Sichtbetonwände nach oben. Wuchtige Balkone und Brücken aus ebenso perfektem Sichtbeton sausen durch die Luft und erschliessen die Ausstellungsräume der Obergeschosse. Darüber fällt Tageslicht zwischen den Dachträgern ins Innere. Wie Schmuckstücke sitzen Handläufe aus gewachstem Messing, schwarze Deckenspots und Messingkonsolen mit schwarzer Beschriftung auf den rohen Flächen. Hinter der Empfangstheke führt ein Korridor in die Räume der Museumspädagogik. Ihr gegenüber erschliessen zwei kompakte Nischen nebst Aufzügen, Fluchttreppen und Garderoben auch den Festsaal für 600 Personen. In der Wandverkleidung aus vertikalen Messingstangen verschwinden Schallabsorber, technische Installationen, Feuerlöscher und selbst die messingbekleideten Türen. Eine planerische und handwerkliche Höchstleistung, vom Grossen bis ins Detail.

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Das Foyer: Marmorböden, Sichtbetonwände und wuchtige Luftbrücken bilden das spektakuläre Herz des Erweiterungsbaus.

Vorne und hinten, Platz und Garten Vom Foyer aus tauchen die Besucher ausserdem in die Passage ab, die unter dem Heimplatz zum Moser-Bau führt. Die mit Marmor und Messing ausgekleidete Unterquerung ist praktisch und angenehm. Trotzdem wäre ein verkehrsberuhigter Heimplatz die weitaus attraktivere Verbindung zwischen den Häusern. Im Zuge der neuen Platzgestaltung will die Stadt den Verkehr ab 2025 zumindest besser organisieren und die Fussgängerflächen mit Marmor belegen – die Architekten hätten ihn sich auch dort gewünscht, wo heute nur Strassen sind. Dennoch: Im Sommer werden auf dem Trottoir Tische stehen. Museumsshop und Bar flankieren den Eingangsbereich und sind auch von aussen zugänglich. So gelingt es trotz Verkehrsbelastung, das Haus und die Stadt zu verbinden. Im Foyer überwindet eine breite Kaskadentreppe die viereinhalb Meter Höhendifferenz zwischen Heimplatz und Garten. Ihre visuelle Fortsetzung findet sie in der Freitreppe der alten Kantonsschule. Obwohl der Freiraum um das Baudenkmal ganz anders gestaltet ist, entsteht eine eindrückliche Sichtachse mit dem Garten, den der Land-

schaftsarchitekt Peter Wirtz als ‹ Aussensalon › für das Museum entwarf: Dicke Buchenkissen in wolkigen Formen schützen vor dem Lärm der Stadt. Ein Teppich aus Rasen und heller Pflästerung bedeckt die freie Mitte. Betonkörper, entworfen von den Architekten, dienen als Bar. Die Übergänge vom Foyer zur Stadt sind auf beiden Seiten geglückt. Trotzdem ist noch schwer vorstellbar, dass Passantinnen das Foyer als Alternative zur Rämistrasse nutzen oder im Garten ihr Sandwich auspacken, wie es das Konzept vorschlägt. Ein Haus mit goldenen Türen und Marmorböden durchquert man schliesslich nicht beiläufig – man sucht es auf. Verborgen: Grenzen und Haustechnik Noch stärker als zwischen Aussen und Innen lösten die Architekten im Innenraum selbst Grenzen auf und schufen stattdessen Übergänge. Dank unkonventioneller Lösungen entfallen Raumabschlüsse im Publikumsbereich weitgehend, trotz hoher Anforderungen an Sicherheit und Raumklima. So versinkt das Sicherheitstor zwischen Erdund Obergeschossen tagsüber in einer Treppenstufe. →

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Als Lichtfilter leistet der Fassadenraster gute Dienste.

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In den gekammerten Räumen zur Rämistrasse und zum Heimplatz hin hängt vor allem kleinformatige Kunst.

→ Nur der Ticketkontrolleur am oberen Ende der Kaskadentreppe verrät den Übergang zwischen öffentlichem Foyer und Ausstellungsbereich. Brandschutzschotten und Fluchttüren verschwinden in den dicken Laibungen der offenen Durchgänge. Verborgen bleibt auch die Haustechnik: Im Beton eingelegte Wasserrohre temperieren die Struktur. Lüftungskanäle in den Hohlböden leiten stündlich bis zu 110 000 Kubikmeter Luft durch das Gebäude und halten das Klima für die empfindlichen Kunstwerke stabil. Nur aufmerksame Besucher erkennen die offenen Fugen zwischen Boden und Wand als Quellluftschlitze. Räumliche Zeitreise Was bleibt, ist noble Zurückhaltung: Die fast fünf Meter hohen Ausstellungssäle sind allesamt verschieden, aber durchwegs wohlproportioniert, aufgeräumt und beinahe wohnlich. Die Räume zonierend und fassend wechseln die langen Riemen des Eichenparketts ihre Laufrichtung. Die Wände sind weiss gestrichen, grau lackiertes Holz rahmt die Durchgänge. Im ersten Obergeschoss fällt Tageslicht durch raumhohe Fenster, im zweiten durch Oblichter. Das ist nicht nur angenehm, sondern spart auch Energie, weil weniger Kunstlicht nötig ist. Das Foyer teilt den Kubus in zwei unterschiedliche Raumwelten. Auf der einen Seite liegt je Geschoss ein langgezogener Saal zwischen zwei kleineren. Die weiten Flächen sind flexibel für Wechselausstellungen und für Werke ab 1960 aus der Sammlung bestimmt. Im ersten Obergeschoss schaffen Fenster einen Bezug zwischen Museum und Stadt. Mit ihren vollflächigen Tageslichtdecken präsentieren sich die darüberliegenden Räume als geschlossene ‹ White Cubes ›.

Auf der anderen Seite, zur Rämistrasse hin, schrumpfen die Säle zu klassisch proportionierten Kammern, die an Karl Mosers Grundriss von 1910 erinnern, aber miteinander verbunden sind. DCA wollten den Besucherinnen keinen festen Rundgang vorschreiben. Im ersten Obergeschoss zogen 80 Werke der klassischen Moderne aus der Sammlung Merzbacher ein. Hier zeigt sich die Qualität der befensterten Ausstellungsräume wie sonst nirgends: Das Tageslicht schafft wechselnde Stimmungen. Die Ausblicke nach allen Seiten sorgen für Orientierung in Raum und Zeit. Der Aussicht zuliebe wünschte man sich zwar die eine oder andere Auflockerung des engen Fassadenrasters. Doch als Lichtfilter tut er gute Dienste. Im Stockwerk darüber tauchen die Besucherinnen ins 19. Jahrhundert ein. Hier fällt Zenitallicht auf die vorwiegend impressionistischen Meisterwerke der Sammlung Bührle. Die kleinen Kabinette sind in sich gekehrt, Einblicke und Aussichten gibt es selten. Ein feiner Messingstreifen markiert einen türhohen Horizont. Darunter sind die Wände in verschiedenen Grautönen gestrichen, darüber rahmt Sichtbeton die Oblichter. Die Unterteilung kommt den kleinformatigen Werken entgegen und sichert ihre Sonderstellung im Haus. Vorbild mit Vorbehalten Wer am Ende des Besuchs, von Kunst- und Raumeindrücken beflügelt, über die Marmorstufen zurück ins luftige Foyer schwebt, ist von den kulturpolitischen Ambitionen des Kunsthauses überzeugt. Allerdings wird sich der eine oder die andere beim Anblick der eindrücklichen Mengen Sichtbetons erinnern, dass da noch etwas mit Nachhaltigkeit war. Ein ökologisches Pionierprojekt aus Beton ? Das wirft Fragen auf. →

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Situation

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Erweiterung Kunsthaus Zürich, 2021 Heimplatz, Zürich Auftragsart:  Wettbewerb, 2008 Bauherrschaft: Einfache Gesellschaft Kunsthaus-Erweiterung, Zürich Architektur:  David Chipperfield Architects, Berlin Projektmanagement Bauherrschaft:  Stadt Zürich, Amt für Hochbauten Baumanagement / Bauleitung:  b + p Baurealisation, Zürich Bauingenieur: Ingenieurgruppe Bauen, Karlsruhe, und dsp Ingenieure & Planer, Greifensee HLKKS-Planer:  Polke Ziege von Moos ( PZM ), Zürich Elektroplaner:  Hefti. Hess. ­ Martignoni, Zürich Bauphysik / Akustik:  Kopitsis Bauphysik, Wohlen Landschaftsarchitektur:  Wirtz International Landscape Architects, Schoten ( B ), und Kolb Landschaftsarchitektur, Zürich Fassadenplaner:  Emmer Pfenninger Partner, Münchenstein Baumeisterarbeiten: Marti Bauunternehmung, Zürich Fassade aus Natur- und Kunststein: Staudtcarrera, Zwingen Bodenbeläge Naturstein:  Lauster Steinbau, Chur Messingarbeiten: Baur Metallbau, Mettmenstetten Prognose Erstellungskosten inkl. MwSt. (BKP 1-9):  Fr. 198,55 Mio. (exkl. Altlast) Prognose Gebäudekosten inkl. MwSt. (BKP 2):  Fr. 145 Mio. Geschossfläche:  23 053 m²

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Längsschnitt durch Moser- und Chipperfield-Bau.

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A Garten B Heimplatz C Moser-Bau ( 1 910 ) D Pfister-Bau ( 1 958 ) 1 Anlieferung 2 Verwaltung 3 Museumspädagogik 4 Foyer 5 Festsaal 6 Shop 7 Bar 8 Variable Nutzung 9 Temporäre Ausstellungen 10 Sammlung Bührle 11 Hodler, Segantini 12 Léger, Matisse, Picasso 13 Impressionisten 14 Monet, Seerosen 15 Cy Twombly 16 Digitale Projekte 17 Dada 18 Sammlung Merzbacher 19 Video / Film 20 Sammlung Looser 21 Interventionsraum 22 Abstrakter Expressionismus 23 Gegenwartskunst

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1. Obergeschoss

Querschnitt

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Der Museumsshop mit seinen Vitrinen und Regalen ist eine aufwendige Schreinerarbeit.

→ « Im Rahmen der heutigen Netto-Null-Diskussion würde man den Beton kritischer betrachten als damals », sagt Thomas Kessler von der Fachstelle Nachhaltiges Bauen des städtischen Amts für Hochbauten. Als er vor 13 Jahren half, den Architekturwettbewerb vorzubereiten, standen noch nicht die Treibhausgase im Fokus der Nachhaltigkeitsdebatte, sondern die Reduktion von Primärenergie. Und auf diese zielt das Modell der 2000-Watt-Gesellschaft ab, die die Stadtzürcher Stimmberechtigten 2008 zum Ziel erklärten. « B eim Beton aber ist nicht die Primärenergie das Problem », erklärt Kessler, « sondern die schlechte CO2-Bilanz. » Dass über 90 Prozent Recyclingbeton verbaut wurden, ändert daran freilich wenig. Denn der Zement darin ist neu, und bei dessen Herstellung entstehen die Treibhausgase. Der Fokus hat sich seit 2008 verschoben, aber vernachlässigt hat man die Treibhausgase auch damals nicht. Seit Planungsbeginn galt das Ziel, gegenüber anderen zeitgenössischen Museumsbauten die Primärenergie um den Faktor 1,8 und die Treibhausgase um den Faktor 4,3 zu senken. Dank des kompakten Volumens, starker Dämmung und energieeffizientem Betrieb schien das zunächst in Reichweite. Dann zeigte die Überprüfung des Bauprojekts eine Überschreitung an. Nur dank CO2-reduzierten Zements, durchgängiger LED-Beleuchtung und Fotovoltaik auf dem Dach schafften die Planer noch die Punktlandung. Dennoch sei das Haus auch aus heutiger Sicht vorbildlich, sagt Thomas Kessler, und sieht in der Betonstruktur nicht nur Nachteile: « Das Primärenergieziel erreichten wir auch dank des Betons mit komfortabler Reserve. Dank seiner Masse ist das Gebäude thermisch träge und verbraucht sehr wenig Heiz- und Kühlenergie. Die Gesamtbilanz stimmt also, und das ist entscheidend. »

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Tatsächlich spielt die bauliche Masse eine wichtige Rolle im Haustechnikkonzept. In der Regel werden Museen vor allem über die Lüftung thermisch reguliert, was schnelles Reagieren erlaubt, aber energieintensiv ist. Im neuen Kunsthaus dagegen zirkuliert Wasser in dünnen Rohren durch fast alle Wände und Decken. Im Sommer leiten Erdsonden überschüssige Wärme in den Boden, im Winter wird damit geheizt. Dabei bleibt die Oberflächentemperatur der thermoaktiven Bauteile stets stabil zwischen 18 und 22 Grad. Ihre Masse federt äussere Temperaturschwankungen stark ab. In Kombination mit einer stark gedämmten Gebäudehülle und gutem Sonnenschutz liessen sich Innen- und Aussenraumklima praktisch entkoppeln. Im Normalbetrieb reguliert die kompakte Lüftung die Feuchte und den Luftaustausch. In Ausnahmesituationen, etwa bei einem grossen Besucherandrang, führt sie auch die eingebrachten Temperaturlasten ab. So gelingt es, die hohen Ansprüche der Kuratoren an ein konstantes Museumsraumklima zu erfüllen. Ein urzürcherisches Haus Die Konsequenz ist schlicht beeindruckend, mit der DCA nicht nur kilometerweise Kabel, Leitungen und Kanäle, sondern auch Unmengen an Gerätschaften, Sicherheits- und Brandschutzvorrichtungen hinter makellosen Oberflächen zum Verschwinden bringen. Eine Makellosigkeit, die sich aussen fortsetzt. Schon das Volumen, ein Kubus auf annähernd quadratischem Grundriss, könnte kaum klarer sein. Christoph Felger erklärt die städtebauliche Setzung: « D er Heimplatz ist stark befahren, und die umliegenden Gebäude haben eine starke Identität. Der Neubau als ruhender Körper gibt dem Ort ein stadträumliches Rückgrat. » →

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Das steinerne Netz aus Geschossbändern und Lisenen öffnet das Haus nur für frontale Blicke. Das Kunstwerk ‹ Sine Wave / Zig Zag ›, 2007 – 2009 (© Dan Graham) begrenzt den Garten.

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Detailschnitt Fassade M 1:50 1 Aussenwand (von aussen nach innen) – Platten, 12 cm, und Lisenen aus Liesberger Jurakalk, selbsttragend – S teinwolle hinterlüftet, 27 cm – S tahlbeton, 32 cm, thermisch aktiviert – Innenputz 2 Betondecke mit Hohlboden – Eichenparkett auf Unterkonstruktion – Hohlraum – Zuluftkanal, Luftaustritt über Wandfuge – S tahlbeton 30 cm, thermisch aktiviert 3 Fensterelement (von aussen nach innen) – Lisene, Fertigelement aus Betonwerkstein, 28 x 14 cm – Vertikal-Stoffstoren – Aluminiumfenster – I nnenliegendes Rollo mit lichtstreuendem Behang, von unten nach oben geführt – S tahlbetonstütze, 32 x 24 cm – Innenputz

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→ Die Fassade spinnt diesen Gedanken weiter: Ein feines, steinernes Netz aus Geschossbändern und gerundeten Lisenen hält den Baukörper zusammen, überspielt das vielfältige Raumprogramm und macht auch vor den Fenstern keinen Halt. Dadurch öffnet sich das Haus zwar für frontale Einblicke, zeigt sich aber von der Seite als homogener Steinquader. « Massiv, aber zart », sagt Felger, und nennt die Bodleian Library in Oxford ebenso als Referenz wie die Natursteinfassaden öffentlicher Zürcher Bauten und das Kunsthausensemble selbst. Ursprünglich wollte man für die zwölf Zentimeter starke, selbsttragende Fassade sogar den gleichen Bollinger Sandstein wie am Moser-Bau verwenden. Da es von diesem nicht genügend gab, kam der warme und lebendige Liesberger Jurakalk zum Einsatz. Diesen mischte man auch den vorfabrizierten Betonelementen um die Fenster und Türen bei, die sich kaum vom Naturstein unterscheiden. Auch hier imponieren planerischer Wille und handwerkliches Können. Trotzdem bleibt die Fassade abstrakt und in ihrer Makellosigkeit unnahbar. Sie passt zu einem Museum, das den hohen Zürcher Ansprüchen genügt – einer Hightechmaschine im Sonntagskleid, durchkomponiert und erlesen, bis hin zu den fein geschreinerten Eichenholzmöbeln und den Glaszylinderleuchten im Shop und in der Bar. Jedes Detail sitzt und verspricht Qualitätsbewusstsein und Dauerhaftigkeit. Falls hier überhaupt etwas fehlt, so ist es das Unerwartete, die Aufbruchstimmung, von der ein ‹ Museum des 21. Jahrhunderts › zeugen könnte. Doch damit haben DCA den Wettbewerb ja auch nicht gewonnen, sondern indem sie auf Kontinuität und Hochwertigkeit setzten – zwei urzürcherische Eigenschaften, die der lokalen Baukultur zwar nie einen besonders verwegenen Ruf einbrachten, sie aber mehr als einmal vor Schlimmerem verschonten.

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Heimplatz mit der Skulpur von Kader Attia (© 2021, ProLitteris, Zurich).

Gestaltungsanspruch bis zum Türdrücker.

Messing allerorts.

Der Garten im Rücken.

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Mit langem Atem und starken Nerven Zwanzig Jahre liegen zwischen der ersten Idee und dem fertigen Erweiterungsbau. Der Verkehr am Heimplatz ist derweil nicht verschwunden. Beides ist für Grossprojekte in der Innenstadt typisch. Text: Werner Huber

Zürich um das Jahr 2000. Nach drei Jahrzehnten Niedergang steigt die Einwohnerzahl wieder, und auch baulich steht ein Boom bevor: Im Westen eröffnet das Schauspielhaus den Schiffbau, das Landesmuseum veranstaltet einen Wettbewerb für seine Erweiterung, und am Hauptbahnhof röchelt die Gleisüberbauung Eurogate vor sich hin. Am See beginnt die Debatte über ein neues Kongresszentrum, das nie kommen wird. Zu dieser Zeit tritt auch Christoph Becker sein Amt als Kunsthausdirektor an. Die Erweiterung ist bereits in sein Pflichtenheft geschrieben, doch zuoberst steht dort die Sanierung der Altbauten, vorab des Moser-Baus von 1910. Aber ist dieser überhaupt noch zukunftstauglich, fragt man sich, da die Trends längst aus Zürichs Westen kommen ? Ohnehin ist die letzte Erweiterung über ein Vierteljahrhundert her, und die Platznot wächst mit der Sammlung. Immer mehr externe Lager treiben die Kosten für Betrieb, Versicherung und Transport in die Höhe. Aus einem Expertenhearing geht im Frühjahr 2001 die Idee hervor, am Heimplatz eine direkt mit dem Altbau verbundene Erweiterung zu projektieren. Eine erste Projektskizze rückt das Areal der Kantonsschule gleich gegenüber in den Fokus. Das deckt sich mit der Kulturpolitik von Stadt und Kanton sowie mit der Planung im Hochschulgebiet. Im Herbst 2002 folgt eine Studie mit Businessplan, Finanzierung und Kommunikationskonzept. Das Fundament ist gelegt. Chipperfield macht das Rennen 2005 macht der Stadtrat die Erweiterung zum Legislaturziel, zwei Jahre später sichert der Kanton dem Kunsthaus ein Baurecht für das Kantonsschulareal zu. Der Architekturwettbewerb kann beginnen. Aus über zweihundert Bewerbungen wählt die Jury zwanzig Architekturbüros aus. Im Herbst 2008 gewinnen David Chipper-

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field Architects ( D CA ) vor Gigon / Guyer, Max Dudler und Grazioli / Krischanitz. Sie alle bilden eine klare Front zum Heimplatz, was die Öffentlichkeit und die Architektenschaft kritisch stimmt. Manche sehen Chipperfields Projekt als « Klotz », andere bemängeln den schmalen Vorplatz und möchten das Gebäude nach hinten rücken. Während DCA den Entwurf überarbeiten, gründen die Stadt Zürich, die Zürcher Kunstgesellschaft und die Stiftung Zürcher Kunsthaus die Einfache Gesellschaft Kunsthaus-Erweiterung ( E GKE ) als Bauherrschaft. Das städtische Amt für Hochbauten übernimmt das Projektmanagement und bereitet den öffentlichen Gestaltungsplan vor. Parallel dazu gründet die Kunstgesellschaft eine Sammelstiftung. 75 Millionen Franken will sie für den Erweiterungsbau suchen. Am Ende spenden rund hundert Personen und Institutionen fast 88 Millionen. Das Kreuz mit dem Platz Als der Gestaltungsplan vorliegt, fordern viele der 45 Einwendungen, der Erweiterungsbau solle nach hinten rücken, um mehr Platz zu schaffen. Dieser Aspekt beschäftigt in der Folge auch die Baukommission unter dem Vorsitz von Wiebke Rösler Häfliger, Direktorin des städtischen Amts für Hochbauten. Schliesslich rückt der Bau um einige Meter vom Heimplatz ab. Dennoch bleibt die Platzgestaltung ein wunder Punkt: Als stark belasteter Verkehrsknoten kann er seine Funktion als öffentlicher Stadtraum kaum wahrnehmen. Im Wettbewerb hatten DCA darum vorgeschlagen, die diagonal über den Platz führende Strasse aufzuheben. Die Situation ist komplex, und Verkehrspolitik ist ein aufgeladenes Thema. Aus diesem Grund trennt man den Erweiterungsbau und das Platzprojekt, und die Stadt lädt im Frühjahr 2018 sechs Planungsteams zu einem Studienauftrag am Heimplatz ein. Ein grosser Wurf ist nicht zu

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Der Heimplatz: mehr Verkehrsknoten als Stadtraum.

erwarten, denn die Verkehrsleistung bleibt unangetastet. Der siegreiche Entwurf schlägt vor, den dreieckigen Mittelbereich mit Bäumen zu bepflanzen. Das wird den heutigen Zustand in gut fünf Jahren zwar verbessern – doch als kultureller Brennpunkt hätte der Heimplatz mehr verdient. Immerhin gelingt es Pippilotti Rists Licht- und Videoinstallation ‹ Tastende Lichter › über den unwirtlichen Platz hinweg, den Alt- mit dem Erweiterungsbau in Beziehung zu setzen. Sand im Getriebe Während es am Heimplatz zäh läuft, schreitet der Erweiterungsbau zügig voran. Im Sommer 2012 bewilligt der Gemeinderat den Gestaltungsplan und den städtischen Beitrag von 88 Millionen Franken. Im November sagt auch das Stimmvolk mit 53,9 Prozent Ja zur Vorlage, ein halbes Jahr später liegt die Baubewilligung vor. Mit einem Rekurs möchte die Luzerner Stiftung Archicultura den Abbruch der früheren Kantonsschulturnhallen verhindern. Dieser Versuch ist zwar zum Scheitern verurteilt, doch kostet die Verzögerung zwei Jahre Zeit – und Geld. Die Planungsteams stellen ihre Arbeit ein, und Personen wechseln, womit viel Wissen verloren geht. Eine letzte Kontroverse entzündet sich um den Bauplatz selbst. Weil orthodoxe Rabbis aus London und New York darunter einen historischen jüdischen Friedhof vermuten, demonstrieren sie medienwirksam gegen den

Neubau. Am Ende finden sich zwar einige Scherben aus der Zeit der Pfahlbauer, aber keine Friedhofsspuren. Am 8. November 2016 schliesslich legen die Stadt, das Kunsthaus und DCA den Grundstein des Erweiterungsbaus. Überholspuren gibt es nicht « Für mein Empfinden hat der ganze Prozess vom Konzept bis zum fertigen Bauwerk viel zu lange gedauert », schreibt Direktor Christoph Becker in der Publikation zum neuen Haus. Tatsächlich hat das Projekt ihn durch seine 20-jährige Amtszeit begleitet. Eine Ausnahme ? Mitnichten: Beim Landesmuseum vergingen 16 Jahre vom Wettbewerb zum Bezug. Die Europaallee und die Zollstrasse, die aus dem gescheiterten Eurogate-Projekt hervorgingen, sind erst gerade fertig geworden. Und nachdem die Abstimmungsvorlage für ein neues Kongresszentrum scheiterte, begannen die Umbau- und Sanierungsarbeiten, die bis zum Sommer 2021 dauerten. Aus dem Schiffbau ist längst ein alter Bekannter geworden, doch auf dem nahen Maag-Areal wurden die Wettbewerbsergebnisse für die Bebauung des letzten Teils erst vor Kurzem präsentiert. Für Grossprojekte in der Grossstadt braucht man offensichtlich nicht nur starke Nerven, sondern auch einen langen Atem. Umso grösser ist die Freude dann, wenn ein Projekt vollendet ist. Und was folgt danach ? Beim Kunsthaus, so hört man, dürfte bald die Sanierung des BührleSaals an der Reihe sein.

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Sammeln, bewahren, ausstellen Das neue Kunsthaus bietet den Kuratorinnen und Konservatoren mehr Raum. Darin finden aktuelle Themen und alte Steckenpferde Platz. Text: Meret Ernst

Noch liegen sie auf Tischen, die acht schrumpeligen Skulpturen von Tracey Rose’s mehrteiligem Werk ‹ A Dream Deferred ( Mandela Balls ) ›, und warten auf ihren Platz. Transportkisten stehen in der Ecke ; aus den Kartons wird eben Hannah Höchs kleine ‹ Dada-Mühle › sorgfältig aus dem Seidenpapier gewickelt und auf den Sockel gestellt. Gerhard Richters ‹ Acht Lernschwestern › hängen bereits so, als gäbe es keinen anderen Ort für das Frühwerk. – Die Sammlung zieht ein, und die Räume im ersten Stockwerk des Erweiterungsbaus füllen sich einer nach dem anderen. Es herrscht eine Stimmung wie im Theater, bevor der grosse Vorhang gezogen wird. Dabei haben sich die Kuratorinnen und Konservatoren bereits lange vor der etappenweisen Eröffnung mit dem Bau auseinandergesetzt. Genau gesagt seit zwanzig Jahren, meint der Direktor, der das Haus 2023 verlassen wird. Christoph Becker skizzierte kurz nach seinem Antritt im Jahr 2000 das erste Konzept des Erweiterungsbaus. Nun schreitet er durch die Räume und schildert das Glück des Bauherrn. Die Zusammenarbeit mit dem museumserfahrenen Architekten David Chipperfield und dessen Berliner Büro sei eng gewesen. Sie reichte bis zur Lackfarbe der Türen und bis zur Art, das Messing zu behandeln. Es galt tausend Dinge zu entscheiden. Wandabschlüsse, Fussböden, Türgriffe – für alles gab es eine Bemusterung. Der Direktor war dabei, als die Steine in der Halle verlegt wurden, und blickte dem Handwerker über die Schulter, der die Balustrade während vier Wochen rundschliff. Wichtiger noch  war das mit Chipperfield geteilte Verständnis, dass ein Museum nicht nur Raum für Kunst bietet, sondern auch als Institution in und mit der Öffentlichkeit entsteht. Beides prägt die architektonische Form. Die Beziehung zur Öffentlichkeit gewichtet Becker inzwischen stärker als die zur Kunst und bezieht sich dabei auf die Geschichte des Kunsthauses. Karl Moser setzte bereits 1910 architektonisch um, was der Kunstverein wünschte: einen Ort in der moderat aufstrebenden Stadt, an dem die Kunstsammlung, die erst noch beträchtlich wachsen musste, und die interessierten Bürgerinnen aufeinandertreffen sollten. Zur Kunstbetrachtung, zum gemeinsamen Austausch. Ausdruck fand dieser Wunsch etwa im grosszügigen Treppenhaus. Heute will das Museum das Publikum nicht länger kunsthistorisch erziehen, sondern kollektiven Austausch und Erfahrungen ermöglichen. Es geht also um Identifikation: diejenige der Stadt mit der Institution und umgekehrt ; des Publikums mit dem Haus und umgekehrt. Aus-

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druck davon ist die Öffnung des Erweiterungsbaus zur Stadt hin. Mit der öffentlichen Durchgangshalle, die kein Fluchtweg ist und deshalb bespielt werden kann, mit den Fenstern, die zwar Wandfläche verringern, aber den Werken das nötige Licht geben, den Blick auf die Stadt erlauben und von aussen das Publikum sichtbar machen. Und ja, der Bau ist ‹ instagrammable ›. Die Kuratorinnen loben derweil die gut proportionierten Räume, die bespielt und nicht überwunden werden müssen. Die Werke haben Luft, die Raumabfolgen sind variabel bespielbar und eröffnen mit dem Altbau eine differenzierte Programmierung der Ausstellungen. « Wir haben erhalten, was wir uns gewünscht haben », sagt der Direktor. Sammlung Emil Bührle Platz wird auch frei für über 170 Werke, die der Waffenindustrielle Emil Bührle gesammelt hatte. Seit 1960 werden sie von der gleichnamigen Stiftung verwaltet. Diese umfasst rund ein Drittel aller Werke, die Bührle zeitlebens akquiriert hatte. Die kunsthistorische Qualität der Sammlung, die nun als Dauerleihgabe ins Kunsthaus kommt, ist unbestritten. Doch die Entstehung der Sammlung ist höchst umstritten. Bührle war ein skrupelloser Waffenfabrikant, der seine unternehmerischen und sammlungsbezogenen Tätigkeiten eng verflechten konnte. Daran lässt die von der Stadt Zürich in Auftrag gegebene Studie ‹ Kriegsgeschäfte, Kapital und Kunsthaus › des Historikers Matthieu Leimgruber keinen Zweifel. Eine Petition forderte im Januar 2021 erneut, dass ein Dokumentationsort zur Sammlung Bührle unabhängig erarbeitet und errichtet werde. Das Kunsthaus hat sich bereits im Abstimmungskampf 2012 verpflichtet, die Geschichte dieser Sammlung zu dokumentieren, behält sich aber die Einrichtung als Teil eines kuratorischen Konzepts vor. Platz findet sie nun im zweiten Obergeschoss des Erweiterungsbaus, in einem Raum von rund 90 Quadratmetern. Ausserdem gibt es einen Audioguide, der auch Fälle von Raubkunst und Restitution herausgreift und die Dokumentation in die Ausstellung hinein verlängert. Auch Führungen und ein online zugängliches Digitorial sind vorgesehen. Denn allen Beteiligten ist klar: Dem Kunstgenuss allein darf und kann diese Sammlung nicht überlassen werden.

Literaturhinweis: Das kontaminierte Museum. Das Kunsthaus Zürich und die Sammlung Bührle. Erich Keller. Rotpunktverlag, Zürich, Fr. 26.—

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Cathérine Hug, Kuratorin Hannah Höch ( 1898 – 1978 ), ‹Die Dada-Mühle ›, um 1920. © 2021 ProLitteris, Zurich

Philippe Büttner, Sammlungskonservator Jan Asselijn ( 1610 – 1652 ), ‹ Hafenszene mit Galeerensklaven ›, um 1652

« Das Schöne hat eine düstere Schicht. » « Dada ist mein Steckenpferd. » « Das Kunsthaus ist bekannt für seine umfangreiche Sammlung dadaistischer Kunst. Als kritisch denkende Ausstellungskuratorin für moderne Kunst greife ich gerne darauf zurück. Denn Dada hinterfragte Autorschaft, Medien und Machtstrukturen, arbeitete prozessorientiert und kollektiv, kurz: Dada erweiterte den Kunstbegriff radikal. Nun erhält Dada im Erweiterungsbau einen zentralen Raum. Als Kabinett ist er zwar klein, aber man kommt nicht darum herum. Dada nutzte schon immer das kleine Format, das Ephemere, die Collage, die Zeitung, das prekäre Material, die Infiltration. Im neuen Kabinett können wir 30 bis 40 Exponate zeigen – eine ganze Ausstellung auf wenigen Quadratmetern ! In einem Prozess des Editierens werden wir alle vier Monate alternierend monografische Präsentationen zeigen und Themen wie Tanz, Geld, Schmerz, Krieg, Gender, Politik oder Rausch aufnehmen. Dabei gehen wir Partnerschaften mit dem Cabaret Voltaire ein, binden die aktuelle Szene ein. Die dadaistische Idee, dass die Kunst aus der Institution ausbricht und den Alltag erfasst, ist gerade in einer Transformationszeit wie der unseren hochaktuell. Wir pflegen Verlustängste, verteidigen unsere persönlichen Vorteile, sollten aber auch ernsthaft an das Gemeinwohl und neue Lebensentwürfe denken – Corona oder auch der Klimawandel fordern uns heraus. Die Dadaisten haben sich getraut, neue Wege zu beschreiten. Sie empfehlen uns, weniger Angst zu haben, auszuprobieren und aus der Dynamik Neues entstehen zu lassen. Eine Kultureinrichtung wie das Kunsthaus kann signalisieren, dass dieser Mut wertvoll ist. »

« Im Kunsthaus war das Bild lange unverfänglich mit ‹ Rundbau am Meer mit Orientalen › betitelt. Als ich es genauer anschaute, entdeckte ich die Fusskette bei dem jungen Schwarzen Mann im gelben Mantel und das Fusseisen an den Beinen des beim Brunnen stehenden Mannes. Jan Asselijn, der holländische Künstler französischer Herkunft, malte südliche Landschaften, die oft reales Erleben mit Details kombinieren, die er aus der eigenen Fantasie oder aus anderen Werken schöpfte. Solche Gemälde waren gefragt. Das exzellent gemalte Bild ist von heiterer, lichter Stimmung. Umso überraschender kommt die brutale und menschenverachtende Versklavung zum Vorschein. In der Literatur wird das Bild als Darstellung von Galeerensklaven geführt. Gerade in den Niederlanden wird Sklaverei als Bildthema neu erforscht. Dabei müssen wir auch den Begriff von Hollands ‹ Goldenem Zeitalter › hinterfragen. Wie Asselijn über Sklaverei dachte, wissen wir allerdings nicht. Wollte er das Bild exotisieren, die heitere Stimmung brechen ? Er orchestriert die Entdeckung des Bildthemas sehr sorgfältig. Aber was heute skandalisiert, war damals selbstverständlich. Es war auf schreckliche Weise real. Ein Wandtext weist nun auf das Thema hin. Daneben hängen Seestücke, Stillleben und das Gemälde zweier Jaguare, um die Präsenz des Exotischen in jener Zeit sichtbar zu machen. Die Marinebilder nehmen auf, was im zeitlich befristeten ‹ Interventionsraum › nebenan angesprochen ist, den Mirjam Varadinis mit zwei aktuellen Werken von Anna Boghiguian und Kader Attia kuratiert hat: Geschichten von Flucht und dem Erbe des Kolonialismus. Diese Nachbarschaft wirft ein neues Licht auf die alte Kunst. Eine Sammlungspublikation wird diese beiden Räume kommentieren, die wir gemeinsam konzipiert haben. Dabei gilt: Künstlerinnen und Künstler lehren uns zu sehen. Sie geben den Aussagen in ihren Werken eine visuelle Form. Diese muss gut sein, Empörung allein reicht nicht. » →

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Christoph Becker, Direktor Gerhard Richter ( * 1932 ), ‹ Acht Lernschwestern ›, 1966. © 2021 Gerhard Richter

Mirjam Varadinis, Kuratorin Tracey Rose ( * 1974 ), ‹ A Dream Deferred ( Mandela Balls ) ›, 2013. © Tracey Rose

« Das Werk gibt der Kunst des Globalen Südens eine starke Stimme. »

« Man schenkt nicht dem Direktor ein Bild, sondern der Institution. »

« Im neuen Kunsthaus bieten wir bisher zu wenig repräsentierten narrativen Raum. Dazu gehört der Umgang mit dem kolonialen Erbe und die Genderdebatte. Das Werk der südafrikanischen Künstlerin Tracey Rose verbindet beides. Sie nimmt eine Metapher aus dem gleichnamigen Gedicht des afroamerikanischen Dichters Langston Hughes auf. Er fragt darin, ob ein aufgeschobener Traum genauso vertrockne wie eine Traube in der Sonne. Rose gestaltet Skulpturen, die wie vertrocknete Weintrauben aussehen – oder eben wie männliche Hoden, wie es der zweite Teil des Titels andeutet. Sie spielt damit auf das Erbe von Nelson Mandela an. In unserer Sammlung macht das Werk den nötigen Bewusstseinswandel sowohl in der Ankaufspolitik als auch in der Präsentation der Sammlung sichtbar. Es gibt der Kunst des Globalen Südens eine starke Stimme. Wichtig ist es, diese Positionen nicht isoliert zu zeigen, sondern sie mit dem Bestand zu verknüpfen. So verwendet die Künstlerin, wie etwa Dieter Roth, von dem das Kunsthaus zentrale Werke besitzt, Schokolade. Indem Rose aber explizit belgische Schokolade nimmt, verweist sie auf die koloniale Ausbeutung Afrikas. Im selben prominent im Erweiterungsbau angesiedelten Raum zeigen wir auch die US-Amerikanerin Judith Bernstein, die als Künstlerin lange nicht anerkannt war und in ihrem Werk mit dem Phallus als Symbol für männlich geprägte Machtstrukturen arbeitet. Von der schwedischen Künstlerin Nathalie Djurberg ist ein Stop-Motion-Video zu sehen, in dem ein Frauenkörper, der in der Kunstgeschichte oft als Objekt der Begierde inszeniert wurde, von Maden und Würmern zerfressen wird. Ja, in diesem Raum werden Genderstereotypen hinterfragt. Und das ist eine globale Aufgabe. »

« D er Sammlung fehlte ein zentraler Baustein, ein museales Hauptwerk von Gerhard Richter. Keine leicht zu füllende Lücke. Seine Werke sind gefragt, teuer und rar. In Zürich befinden sich einige seiner Gemälde in Privatbesitz. Das bedeutendste ist ‹ Acht Lernschwestern ›. Wir pflegten das Gespräch mit dem Sammlerpaar Hans B. Wyss und Brigitte Wyss-Sponagel. Kurz vor Eröffnung des Erweiterungsbaus entschieden sie sich, die Serie dem Verein Kunstfreunde Zürich zu schenken. Dieser bereichert seit 110 Jahren unsere Sammlung durch gezielte Erwerbungen. Die Dauerleihgabe gründete auf unserer Annäherung an das Werk Richters mit der Schau zu dessen Landschaften, auf unserem persönlichen Kontakt zum Künstler, der kein solches Frühwerk mehr besitzt, und auf dem langjährigen intensiven Austausch des Sammlerpaars mit Richter. Sicher gehört dazu auch die Chance, dass wir die ‹ Acht Lernschwestern › nun im Erweiterungsbau zeigen. Das Werk nimmt einen Serienmord an acht jungen Krankenschwestern in der Nähe von Chicago auf. Über den Fall wurde weltweit berichtet ; Passfotos der Opfer illustrierten Zeitungsartikel. Richter nahm diese gerasterten, kleinformatigen Abbildungen als Vorlage und malte sie in Porträtgrösse ab. So entsteht die Unschärfe, die sich wie ein Filter über die Gesichter legt. Dadurch verlieren die Porträts ihre physiognomische Präzision, werden archetypisch. Als Serie verweist das Werk auch auf Methoden der Pop-Art, wie sie etwa Andy Warhols ‹ Silver Car Crash ( D ouble Disaster ) › nutzte, das im selben Raum hängt. Die Porträts haben etwas Beunruhigendes, und sie haben trotz Patina nichts von ihrer Ausstrahlung und Dichte verloren. Dieses Werk passt einfach perfekt in diesen Raum. »

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Sandra Gianfreda, Kuratorin Henri Matisse ( 1869 – 1954 ), ‹ Nu de dos IV › 1908 – 1930 . © Succession H. Matisse / 2021, ProLitteris, Zurich

Jonas Beyer, Kurator Paul Cézanne ( 1839 – 1906 ), ‹ Etude d’arbre. Le grand Pin ›, um 1890

« Der konzeptionelle Ansatz bei Henri Matisse’ Rückenakten fasziniert mich stets aufs Neue. » « S eine bunten, leicht wirkenden ‹ papiers découpés › schmücken Kalender, Teetassen oder Spielkarten, die in Museumsshops weltweit verkauft werden. Dem breiten Publikum ist dieser Teil von Henri Matisse’ Werk wohlbekannt. Matisse arbeitete aber nicht nur mit Farbe. Er schuf Meilensteine der modernen Skulptur, darunter die Werkreihe von vier Bronzereliefs ‹ Nu de dos I – IV ›. Sie gelangte nach der Ausstellung 1959 in die hiesige Sammlung, mit der das Kunsthaus Matisse erstmals als Bildhauer vorstellte. Die Reliefs werden als Teil der Sammlung neu in vier Wandnischen im Moserbau präsentiert, die wie geschaffen dafür sind. Denn nun lesen wir die Folge nicht als Serie, sondern so, wie sie Matisse geschaffen hat: als eigenständige Werke, die ihn über Jahrzehnte hinweg von einer naturalistischen Auffassung in die radikale Stilisierung führten. Diesen Prozess legt er offen, indem er die Gültigkeit der einzelnen Stufen betont – so wie die Zustände einer Druckgrafik. Das hat er übrigens auch in der Malerei so gehalten. Damit bearbeitete er als einer der ersten Maler und Bildhauer ein Thema, das erst nach 1945 die Kunst bewegen sollte: die Ästhetik, die im künstlerischen Prozess selbst liegt. Genau das macht die fortwährende Aktualität seines Werks aus. »

« Das Licht scheint zwischen den Blättern förmlich zu vibrieren. » « C ézannes Aquarell hat in unserem Bestand zweifellos ikonischen Charakter. Besonders fasziniert mich das Spannungsverhältnis zwischen der geradezu tektonischen Wiedergabe von Baumstamm und Ästen und der Leichtigkeit des Blattwerks. Das Licht scheint darin förmlich zu vibrieren. Hinzu kommt die meisterhafte und wohlkalkulierte Aufteilung in bemalte und unberührte Flächen. Ein eingefrorener Moment also, dem die Würde des Zeitlosen innewohnt. Anders gesagt: Cézanne scheint einer Art Bauplan zu folgen und vermittelt dennoch Frische und Unbefangenheit in der Naturauffassung. Was wir von ihm heute lernen können ? Anzuerkennen, dass auch der flüchtig­ste Augenblick das Potenzial dazu hat, strukturelle Zusammenhänge im Gesamtaufbau unserer Welt zu offenbaren. Wir müssen auf viele äussere Bedingungen Rücksicht nehmen, sobald wir unsere Schätze präsentieren. Die Grafische Sammlung ist deshalb eine Art Schatzkiste, die ihre Reichtümer eher selten zeigt. Sie erlaubt intime Begegnungen, wenn man die Zeichnungen ganz aus der Nähe und ungestört betrachten darf. Zudem bieten diese Rückschlüsse auf die Werkgenese von Gemälden und machen dadurch Entstehungsprozesse anschaulich. Die Sammlung darf und soll wachsen. Durch eigene Ankäufe, aber auch durch Dauerleihgaben oder Geschenke – wir erhalten sie auch deshalb, weil die Werke hier nach höchsten konservatorischen Standards betreut werden. Stets muss man sich fragen: Will man Lücken füllen oder Stärken betonen ? Ich tendiere zu Letzterem und sähe daher etwa ein weiteres Pastell von Degas als Gewinn. »

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Ein Museum mit vier Erweiterungen Die Geschichte des Kunsthauskonglomerats beginnt vor 111 Jahren mit dem städtischen Museum und endet mit dem Anschlussbauwerk an die internationale Museumswirklichkeit. Text: Benedikt Loderer, Pläne: Werner Huber

1. Obergeschoss

1910: Der Moser-Bau

1925: Die Moser-Erweiterung

1958: Der Pfister-Bau

Am 17. April wird das Kunsthaus feierlich eingeweiht. Neben der Universität ist es das zweite Hauptwerk des Architekten und ETH-Professors Karl Moser in der Stadt Zürich. Der Sammlungsflügel, ein steinerner Block mit geschlossener Fassade und Eingang, bildet die Hauptachse. Der Ausstellungsflügel daneben, mit sanft geschwungenen Aussenwänden, ist zweitrangig. Die Haupttreppe liegt nicht als Prunkstiege am Ende des Foyers, sondern seitlich des Eingangs. Zürich baut republikanisch und protzt nicht. Die Stadt hat damals 190 000 Einwohner.

Kaum fertig, plant Moser seine Erweiterung. Er setzt hinter dem Sammlungsflügel die Bibliothek an, begleitet von zwei Seitenlichtsälen. Ein tortenstückförmiges Gelenk überwindet die Höhendifferenz und verbindet den Anbau mit der Villa Landolt. Aus dem Wohnhaus wird ein Stück Museum. Im Ausstellungsflügel entsteht ein langer Vortragssaal. Die Pyramide des Glasdachs setzt den fernwirkenden Akzent. Nüchternes Prunkstück ist der heroisch moderne Lesesaal der Bibliothek, den spätere Umbauten verdrängen. Architekturkritiker Sigfried Giedion meinte, er sei « das Beste, was ( … ) wir einem Fremden zeigen können ». Andere sagten: « Unheimelig, einfach, kühl, hygienisch wie ein Krankenhaus ». Der Anbau verdoppelt die Kunsthausfläche. Zürich hat nun 209 000 Einwohner.

Georg Bührle zahlt alles. Der Waffenfabrikant und damals reichste Mann der Schweiz legt 1941 zwei Millionen Franken auf den Tisch und ermöglicht so die zweite Erweiterung. Er wird später noch weitere zwei Millionen nachschiessen. Den Wettbewerb von 1944 gewinnen die Gebrüder Otto und Werner Pfister. Sie setzen einen grossen Kunstbehälter auf Pilotis neben den Moser-Bau, einen grossen stützenfreien Saal mit Oberlicht, den man beliebig unterteilen kann. Neu- und Altbau verbindet ein Zwischenstück, das einen Kunsthof bildet. Im Erdgeschoss liegen der Vortragssaal und ein Restaurant. Die Altstadthäuser, die dem Pfister-Bau im Weg stehen, werden bedenkenlos abgerissen. Zürich zählt jetzt 431 000 Einwohner.

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Zwei Bücher zur Baugeschichte: –D as Zürcher Kunsthaus. Ein Muse­umsbau von Karl Moser. Ulrike JehleSchulte Strathaus. Birkhäuser Verlag, Basel Boston Stuttgart 1982 – Die Baugeschichte des Kunsthaus Zürich. Benedikt Loderer. Einfache Gesellschaft KunsthausErweiterung, Zürcher Kunstgesellschaft / Kunsthaus Zürich und Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich 2020

1976: Der Müller-Bau

2021: Der Chipperfield-Bau

Im Mai 1970 gewinnt Erwin Müller den Wettbewerb zur dritten Erweiterung. Nicht neben, sondern hinter das Kunsthaus stellt er drei versetzte Kuben in den Hang. Sie ducken sich, sind von der Strasse aus kaum zu sehen. Die Bäume, die dort stehen, werden geschont, die Villa Landolt aber wird abgerissen. Müllers Erweiterung ist eine Schnittlösung. Die Aus­ stellungsräume verteilen sich auf drei Ge­schosse, die wie ausgezogene Schubladen zu­rückspringen. « Fliessender Raum », sagen die Architekten. Die Museumsleute schütteln den Kopf und bauen Zwischenwände ein. Die Beleuchtung, vor allem die künstliche, ist eine aufdringliche Inszenierung. Man zieht vor ihrem optischen Gewicht den Kopf ein. Zürich schrumpft auf 383 000 Einwohner.

Die vierte Erweiterung ist das Anschlussbauwerk des Kunsthauses an die inter­ nationale Museumswirklichkeit. Man blickt nicht länger nach Basel oder Genf, sondern nach München, Lyon, Mailand, Paris und New York. Das Kunsthaus will international wahrgenommen werden. Es geht um Städtekonkurrenz und Kaufkraftströme. Kultur gehört zu den weichen Faktoren im Städtewettbewerb. Zürich zählt heute mehr als 434 000 Einwohner.

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« Architektur machen heisst Verantwortung tragen » Der britische Architekt David Chipperfield baut Museen weltweit. Ein Gespräch über die Öffentlichkeit einer Museumshalle und warum es bei aller Einpassung manchmal ein ‹ Stargebäude › braucht. Interview: Axel Simon

Der Chipperfield-Bau ist grösser als die drei älteren Kunsthausgebäude zusammen. Ist es wirklich eine Erweiterung, oder ist es das neue Hauptgebäude ? David Chipperfield  Die anderen Gebäude etablierten das Museum, und wir bauten darauf auf. Es ist also eine Erweiterung. Aber, richtig, es ist ziemlich gross. Wir mussten den Massstab sehr sorgfältig bedenken: Steht das neue Gebäude in Konkurrenz zum Bestand oder nimmt es eine komplementäre Position ein ? Wäre es kleiner als der Moser-Bau, würde es seine Mutter oder seinen Vater nicht herausfordern. Wir wollten die älteren Gebäudegenerationen aber auch nicht kleinmachen. Am Neubau finden sich einige Elemente der Altbauten wieder: der Moser-Stein, die Pfister-Pilaster, der Müller-Sichtbeton. Welchen der drei Mütter- und Väterbauten mögen Sie am liebsten ? Nun, der Moser-Bau ist sicher das Gebäude, das die Identität des Museums bestimmt. Der Pfister-Bau mag in einigen Punkten kein überzeugendes Gebäude sein, aber über die Jahre habe ich eine seltsame Zuneigung zu ihm entwickelt. Der Müller-Bau, die Erweiterung an der Rückseite, ist vielleicht die am wenigsten erfolgreiche. In Ihrer Videobotschaft zur Eröffnung sagten Sie: « Es ist ein Museum für alle, und es sieht auch so aus. » Bitte helfen Sie mir: Ich sehe ein recht monumentales, nobles Gebäude mit einer goldenen Eingangstür. Eher Tempel als offenes Haus. Die Haupthalle ist ein offener Raum, auch wenn wir Windfänge an den Eingängen anbringen mussten. Man kann sie ohne Ticket betreten, vom Platz oder vom Garten her. Das macht das Haus nicht völlig offen, bringt aber eine öffentliche Dimension hinein, wie bei einer Bibliothek oder Bahnhofshalle. Können Sie sich Teenager vorstellen, wie sie auf der Haupttreppe sitzen und Pizza essen ? Wie öffentlich ist der Raum wirklich ? Ich glaube, die Halle vermittelt zwischen der Eigentümerin und den Menschen, die das Gebäude in Besitz nehmen. Sie ist nicht so öffentlich wie ein Bahnhof. Aber auch sie ist der Start einer Reise: Man verlässt den öffentlichen Raum und betritt die Räume eines Museums. Es ist eine Transformation, von aussen nach innen, von einer dynamischen in eine geschlossene, isolierte Welt. Ein Museum ist eine Institution der Konzentration. Die meisten unserer Unterhaltungsangebote beruhen auf Ablenkung, ein Museum aber ist ein Ort, an dem du bei dir selbst sein kannst. Das sollten wir nicht verlieren.

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In der Halle findet also eine Transformation statt ? Ja, hier transformiert sich der wirklich öffentliche Raum in diesen musealen Schutzraum, dieses Refugium. Die Halle ist ein Sprungbrett, eine Brücke und weniger ein Ort, um Pizza zu essen. Und sie ist ein Raum der Orientierung. Ich mag Museen, die mir beim Eintreten eine Ahnung ihrer Dimension vermitteln und mir sagen, wo ich mich gerade in ihnen befinde. Welchen Charakter hat das Gebäude ? Zuerst ist es ein städtebauliches Volumen, das aus dem Heimplatz einen Platz macht. In meinen Augen ist es eine erfolgreiche städtebauliche Ergänzung, auch wenn es anfangs Bedenken gab. Programmatisch ist das Gebäude um den dramatischen Raum der Halle herum organisiert. Architektonisch ist es konservativ. Auch in diesem Punkt gab es Bedenken, vor allem bei meinen Schweizer Kollegen. Manche fragten sich, warum es nicht aufregender sei. Nennen Sie bitte Namen ! Schon gut. Solche Fragen müssen gestellt werden. Wir wollten, dass das Gebäude sich einpasst, städtebaulich und institutionell. Zusammen mit den älteren Museumsbauten bildet es ein Ensemble. Es muss seiner Verantwortung gerecht werden. Manchmal liest man, es sei ein Schweizer Gebäude. Ist es das ? Nun, es steht in der Schweiz. Ob es schweizerisch im Geiste ist ? Ich hoffe, es ist keine Karikatur. Aber natürlich: Der Kontext ist, sowohl physisch als auch gesellschaftlich, Teil jedes Entwurfs. Ich glaube, unsere Arbeit in Berlin ist recht deutsch. Über unser Museum in Mexico City heisst es, es sei ein grossartiges mexikanisches Gebäude. Ich bin sehr froh über solche Beobachtungen – wenn sie denn stimmen. Wichtig ist: Fühlt sich das Gebäude so an, als sollte es dort sein, wo es steht ? 2008 haben Sie den Wettbewerb gewonnen. Im selben Jahr scheiterte Rafael Moneos Projekt eines neuen Kongresszentrums am Zürichsee. Einer der Gründe war, dass sein Projekt die Zürcher Architekten nicht überzeugen konnte und sie sich für den Erhalt des historischen Gebäudes einsetzten. Hat Sie das während der Arbeit am Kunsthaus beschäftigt ? Ich glaube, es waren andere Themen. Es war komplex. Aber wenn du in Zürich an einem Wettbewerb teilnimmst, bist du dir bewusst, dass es Einsprachen geben wird. Ich glaube zutiefst an das demokratische System in der Schweiz. In unserem angelsächsischen Umfeld sind wir enorm neidisch darauf. Wir sollten mehr auf die Menschen hören.

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Chipperfield selbst bezeichnet die Erweiterung als konservativ: « Manche Schweizer Kollegen fragten, warum das Gebäude nicht aufregender sei. »

Aber klar: Wenn du jedem zuhörst, darfst du nicht überrascht sein, wenn manche sagen, sie mögen dein Gebäude nicht. Das macht grosse Projekte schwieriger umsetzbar. Aber ich glaube nicht, dass das schlecht ist. Wie viele Museen haben Sie bisher gebaut ? Keine Ahnung. Vielleicht 15 oder 20 ? Ich habe nachgezählt, es sind 25. Und jedes davon sieht anders aus. Ist es schwieriger, solch verschiedene Charaktere zu entwerfen oder bei einer ‹ signature › zu bleiben wie einige Ihrer Kollegen ? Es ist schwieriger, wenn du in Margate, Kent, mit einem Budget von nur 18 Millionen Pfund ein Museum für zeitgenössische Kunst bauen sollst, in einer armen Gegend, direkt am Meer. Du fragst dich: Was können wir vom Ort aufnehmen ? Aber das macht es interessant. Museen sind perfekte Aufgaben für einen Architekten. Pur. Du setzt dich mit Licht, Raum und der Bewegung darin auseinander. Du fragst dich: Was passt zur Sammlung ? Was zum Ort ? Ich bin stolz darauf, dass Künstler und Kuratorinnen unsere Museen lieben. Wie hat sich die Bauaufgabe Museum verändert ? In den letzten 30 Jahren gab es einen enormen Zuwachs an neuen Museen. Das hat viel mit dem sogenannten Bilbao-Effekt zu tun. Politiker und Museumsleute realisierten in den 1990er-Jahren, dass Architektur das Profil einer Stadt aufwerten kann. Plötzlich hatten wir eine weitere Aufgabe: nicht mehr nur Raum zu schaffen, sondern auch mehr Menschen in eine Stadt zu holen. Das ist eine seltsame Verantwortung für einen Architekten. Wir sind zu Marken geworden. Aber wie hilft das der Stadt ? Es gibt Bau-

aufgaben, bei denen es tatsächlich mehr Marke braucht und weniger Einfügen. Aber auch wenn das Gebäude nun Chipperfield-Bau heisst, ist es für viele Menschen unwichtig, wer es gebaut hat. Die einzige Frage, die man stellen sollte, ist: Bist du froh, dass es da ist ? Und zwar sollte man sie nicht sechs Wochen nach der Eröffnung stellen, sondern ein Jahr später. In Berlin haben Sie zwei berühmte Museen saniert, das Neue Museum und die Neue Nationalgalerie. Sie haben das bescheiden, fast selbstlos getan. Das Kunsthaus Zürich ist ein selbstbewusster Neubau. Was macht mehr Spass ? Ich weiss nicht, ob bescheiden das richtige Wort ist. Es war eine Herkulesaufgabe, Mies van der Rohe zu restaurieren. Kann das Spass machen ? Klar, es ist kreativer, ein neues Kunsthaus zu entwerfen als den Geniestreich eines anderen Architekten zu reparieren. Ich verstehe, wenn manche Kollegen das nicht interessiert. Aber Architektur machen heisst Verantwortung tragen. Dinge pfleglich zu behandeln und wertzuschätzen ist wichtig. Wir müssen eine neue Ära einläuten. Heisst das, die Zukunft liegt in Umbau und Umnutzung statt im Neubau ? Der Schutz des Bestehenden und die Entwicklung von Neuem sind heute gleichberechtigte Teile unserer professionellen Verantwortung. Ich bin Modernist. Ich glaube an den Fortschritt. Ich glaube an Entwicklung und daran, neue Dinge zu machen. Aber gleichzeitig sehe ich nicht ein, warum das Wertschätzen des Vergangenen nicht dazugehören kann. Warum sollte ein moderner Literat Shakespeare nicht schätzen ?

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Kunstmaschine im Sonntagskleid Stadtbaustein, Repräsentationsobjekt, Kunstbunker, Ökopionier, öffentlicher Ort – selbst ein Raumerlebnis sollte die Kunsthauserweiterung in Zürich sein. David Chipperfield Architects verpacken alle diese Ansprüche in einem leuchtend hellen Kubus aus Jurakalk und Beton. Dahinter liegt eine räumlich reiche Innenwelt aus Marmor und Messing, Holz und Farbe, die eine gewaltige Haustechnikmaschinerie hinter makellosen Oberflächen verbirgt. Ein Heft über ein Projekt, das zürcherischer kaum sein könnte, über zwanzig Jahre Planung, die Geschichte des Ensembles und darüber, was die Kuratorinnen im nun grössten Kunstmuseum der Schweiz vorhaben. www.kunsthaus.ch stadt-zuerich.ch / kunsthaus-erweiterung

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Themenheft von Hochparterre, Oktober 2021

Kunstmaschine im Sonntagskleid Offener Tresor, nobler Hightech, bescheidener Paukenschlag: Die Kunsthauserweiterung in Zürich balanciert Widersprüche.

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