Der Anfang einer Geschichte

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Themenheft von Hochparterre, August 2021

Der Anfang einer Geschichte Die CEVA verknüpft die Bahnlinien in der Region Genf zum S-Bahn-System Léman Express. Die neue Infrastruktur wird die Stadtregion in den nächsten Jahrzehnten massgeblich prägen.

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Das westliche Ende der neuen Bahnstrecke CEVA: der Bahnhof Annemasse.

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Editorial

Inhalt

4 Gemeinsame Ziele Ein Gespräch mit der Planerin und eine Stimme aus der Politik.

8 Lichtarchitektur im Untergrund Die fünf Bahnhöfe der neuen Bahnlinie CEVA.

16 Der Léman Express auf einen Blick Das neue S-Bahn-System im Plan von Stadt und Region Genf.

18 Projektparade Bauten und Projekte entlang dem Léman Express.

24 Der fernen Welt nah, der nahen Welt fern Die komplexe Geschichte der Grenzregion Genf.

28 Projektbeschleuniger Der Einfluss des Léman Express auf den Immobilienmarkt.

30 Vom Rösslitram zum Léman Express Zum Ursprung des Genfer S-Bahn-Systems.

Gut Ding will Weile haben

1912 schlossen der Bund und der Kanton Genf einen Vertrag über den Bau einer Bahnlinie zwischen den Bahnhöfen Cornavin und Eaux-Vives ab. Diese sollte das schweizerische und das französische Eisenbahnnetz im Südosten Genfs miteinander verbinden. Schon drei Jahre zuvor hatten Frankreich und die Schweiz ein entsprechendes Abkommen abgeschlossen. Dennoch dauerte es länger als ein Jahrhundert, bis die Strecke Cornavin – Eaux-Vives – Annemasse ( CEVA ) im Dezember 2019 eröffnet werden konnte. Für die Autostadt Genf ist das ein Meilenstein in der Entwicklung des öffentlichen Verkehrs. Nachdem der Kanton in den letzten zwanzig Jahren das Tramnetz auch grenzüberschreitend ausgebaut hat, schliesst die CEVA auf einer übergeordneten Ebene eine Lücke, die die verschiedenen Bahnlinien zu einem Netz verflechtet: dem Léman Express. So heisst das Genfer S-Bahn-System, das vom waadtländischen Coppet via Genf über die französische Grenze bis nach Annecy, Evian-les-Bains, Bellegarde und Saint-Gervais-les-Bains reicht – und bis nach Lausanne ausstrahlt. Vor gut dreissig Jahren hat die Zürcher S-Bahn ihren Betrieb aufgenommen. Die Auswirkungen auf die Stadtund Siedlungsentwicklung und auf den Verkehr sind beeindruckend. Genf steht nun am Anfang dieser Geschichte. In zwanzig, dreissig Jahren werden sich auch les Genevoises und les Genevois die Augen reiben, wie der Léman Express ihr Lebensumfeld verändert und geprägt hat. Dieses Heft besucht die neue Bahnlinie und ihre eindrücklichen Bahnhöfe, es zeichnet die Geschichte nach, und es stellt erste Bauten und Projekte vor, die eine direkte Folge der CEVA sind. Der Bürgermeister von Annemasse, Christian Dupessey, ordnet die S-Bahn politisch ein, die Genfer Kantonsplanerin Ariane Widmer beleuchtet die planerischen Aspekte. Ein Beitrag befasst sich mit den Auswirkungen auf den Immobilienmarkt beidseits der Grenze, ein weiterer thematisiert das Verhältnis von Genf zu seinem Umland. Die Fotografin Sandra Pointet aus Carouge setzte die Bahn und ihr Umfeld mit einprägsamen Bildern in Szene. Werner Huber, Hervé Froidevaux, Julien Thiney

Impressum Verlag Hochparterre AG Adressen Ausstellungsstrasse 25, CH - 8005 Zürich, Telefon + 41 44 444 28 88, www.hochparterre.ch, verlag @ hochparterre.ch, redaktion @ hochparterre.ch Verleger Köbi Gantenbein Geschäftsleitung Andres Herzog, Werner Huber, Agnes Schmid Verlagsleiterin Susanne von Arx Konzept und Redaktion Werner Huber Fotografie Sandra Pointet, www.localf11.ch Art Direction Antje Reineck Layout Juliane Wollensack Produktion Linda Malzacher Korrektorat Dominik Süess, Lorena Nipkow Übersetzung Irene Bisang und Weiss Traductions Genossenschaft Lithografie Team media, Gurtnellen Druck Stämpfli AG, Bern Herausgeber Hochparterre in Zusammenarbeit mit Wüest Partner Bestellen shop.hochparterre.ch, Fr. 15.—, € 12.—

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Gemeinsame Ziele Die Kantonsplanerin Ariane Widmer im Gespräch über die Auswirkungen des Léman Express auf die Region, arbeitsbedingte Mobilität und die Viertelstundenstadt. Interview: Hervé Froidevaux, Julien Thiney

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Als Meilenstein der Verkehrsinfrastruktur wird der Léman Express auch die Landkarte von Stadt und Region Genf prägen. Ariane Widmer erläutert, welche planerischen Überlegungen die Entwicklung lenken sollen. Der Léman Express ist seit mehr als einem Jahr in Betrieb. Sind Sie zufrieden mit diesem Projekt, dem eine strukturierende Bedeutung für die Region zukommt ? Ariane Widmer: Der Léman Express ist zunächst ohne jeden Zweifel ein symbolischer Erfolg. Nach hundert Jahren des Nachdenkens und Verhandelns und trotz der anfänglichen Schwierigkeiten liegt die grösste Errungenschaft dieses Projekts in der Zusammenarbeit. Das nunmehr realisierte Projekt ist das erste Glied in einem Netzwerk, das sich noch weiter entwickeln und Grenzen überschreiten muss, um neue Möglichkeiten einer nachhaltigen Mobilität zu bieten, die der städtischen Organisation des Grossraums Genf entsprechen. Aus raumplanerischer Sicht wurde die Bahnstrecke zwar in bereits bebauten Gebieten realisiert. Sie hat aber auch die Entwicklung vieler städtebaulicher Projekte rund um die neuen Bahnhöfe ( Praille-AcaciasVernets, Eaux-Vives, Chêne-Bourg ) ermöglicht und verschiedene Akteure rund um gemeinsame Projekte und Strategien zusammengebracht. Ein Projekt wie der Tour Opale – das neue städtebauliche Wahrzeichen von ChêneBourg – wurde erst dank der Planung dieser neuen Verkehrslinie überhaupt vorstellbar. Der Léman Express ist also ein einzigartiger Katalysator – und die Veränderung ist noch nicht abgeschlossen. Seine Wirkung reicht zudem über den Perimeter der Bahnhöfe hinaus. Er ist Teil eines eigentlichen Raumprojekts und wurde innerhalb eines globalen Systems konzipiert. Gefährdet die eingeschränkte Mobilität im Zusammenhang mit Covid-19 die Herausbildung dieser neuen Zentralitäten rund um die Bahnhöfe ? Die Situation, die wir seit einem Jahr erleben, dürfte einen Einfluss haben auf die Art und Weise, wie wir uns zukünftig bewegen und wie wir die Stadt und ihre Quartiere gestalten. In der Schweiz könnten gewisse Randregionen wieder lebendiger werden, und das ist positiv. Bezüglich

der Mobilität glaube ich aber, dass die Auswirkungen geringer sein werden, als man sich das jetzt vorstellt. Die positiven Erfahrungen mit dem Homeoffice haben ihre Grenzen, und viele warten ungeduldig darauf, wieder ein aktiveres soziales Leben führen zu können – auch auf der beruflichen Ebene. Arbeitsbedingte Mobilität wird es immer geben ; sie dürfte aber flexibler und weniger tageszeitabhängig werden. Das Modell der Stadt und der Zentralitäten bleibt deshalb das kohärenteste. Es bewahrt das Kollektive und ist für den Umgang mit den aktuellen Fragen der Nachhaltigkeit nach wie vor am besten geeignet. Zudem können diese Entwicklungen nicht nur die räumliche Verteilung der Bevölkerung beeinflussen, sondern

« Die Zahl der Bäume wurde zulasten der Parkplätze erhöht. » Ariane Widmer

vor allem auch eine Rückkehr zur Viertelstundenstadt ermöglichen: einer Stadt mit gemischten Quartieren, die kurze Wege begünstigen. Die Siedlungsentwicklung nach innen bleibt die massgebende Strategie, die sowohl in der Schweiz als auch in Frankreich gesetzlich verankert ist. Die Stadt wird ihre Lehren aus dieser Krise ziehen und Strategien entwickeln – nicht nur für neue Gestaltungen, sondern auch in der Art und Weise, wie in der Stadt gelebt wird. Die Arbeitswelt wird neue Aspekte wie etwa Flexibilität einbeziehen müssen. In der jetzigen Zeit bietet sich auch die Chance, Ziele, die schon lange in unseren Planungsinstrumenten festgelegt sind, rascher in die Praxis umzusetzen, etwa die sanfte Mobilität. Heute geht es darum, echte Fortschritte bei der Verbesserung der Lebenswelt der städtischen Bevölkerung zu erzielen. Mehr denn je müssen wir Orte der Ruhe und der Entspannung schaffen. Wir müssen dafür sorgen, dass es in der Stadt auch weiterhin qualitativ hochwertige öffentliche Räume gibt, in denen Geselligkeit und Solidarität gelebt wird, um den Auswirkungen des Rückzugs und der Isolation durch die Pandemie entgegenzuwirken.

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In den neuen Zentralitäten rund um die Haltestellen des Léman Express ist der Boden zu einem grossen Teil versiegelt. Was würde man mit Blick auf die ökologischen Herausforderungen heute vielleicht anders machen ? Bei den Schnittstellenprojekten des Léman Express wurde diese Problematik im Rahmen des Möglichen bereits berücksichtigt, und im Lauf des gesamten Prozesses wurden Verbesserungen umgesetzt. So wurden beispielsweise der Umfang der freien Flächen und die Zahl der Bäume zulasten der geplanten Flächen für Parkplätze erhöht. Allgemein ist die Bodenversiegelung jedoch darauf zurückzuführen, dass Orte auf den Deckenplatten der Bahninfrastruktur liegen. Die Robustheit der Materialien entspricht der hohen Beanspruchung und den Anforderungen an die Wartung. Wir sollten aber etwas Geduld haben und die weiteren Gestaltungen abwarten. Bislang wurden nur die Gebiete rund um die neuen Bauten in Betrieb genommen. Die öffentlichen Räume werden sich noch weiter ausdehnen, mehr Platz für Freiflächen bieten und sich mit der umliegenden Stadt verbinden. Wie etwa in Lancy-Bachet, wo der obere Platz komplett begrünt ist, oder in Chêne-Bourg mit den ‹ Jardins de la Tour ›. Letztlich erhält die ‹ Stadt › zwanzig Hektar neue öffentliche Räume und 400 neu gepflanzte Bäume. Geben wir ihnen etwas Zeit zum Wachsen, genau wie dem Quartierleben. Der Léman Express ist Teil eines S-Bahn-Netzes. Welche Beziehung unterhält er zu Lausanne ? Historisch betrachtet hat Lausanne, wie auch andere Gemeinden am Ufer des Genfersees, auf seinem Gebiet Nord- Süd-Verbindungen zwischen See, Weinbergen, Stadt, Wäldern und Weiden geschaffen. Dazu gehört auch die Linie M 2. Die Ost-West-Dynamik ist neuer – eine lebendige, pulsierende Bewegung, die dem Genfersee folgt und dem Gebiet seinen Stempel aufdrückt. Der Léman Express trägt dazu bei. Er wirkt sehr strukturierend für das Lausanner Territorium und dient auch als Nahverkehrsmittel. Die neue Haltestelle Prilly-Malley liegt in einem Gebiet mit einem hohen Verdichtungspotenzial. In der Regel führen neue oder umgebaute Haltestellen zu einer Aufwertungs- und Verdichtungsdynamik in ihrer Umgebung. Hinzu kommt, dass die grössten Expansionsgebiete der Agglomeration Lausanne im Westen liegen. Der Léman Express verbessert aber auch die Anbindung von Lausanne

an andere Gebiete, vor allem an Genf und die grenzüberschreitenden Städte. Man kann problemlos in Lausanne wohnen und in Genf ins Theater gehen. Vom Bahnhof Lausanne aus gesehen wurde die Calvin-Stadt früher als Endbahnhof wahrgenommen. Heute ist sie zu einem wichtigen Knotenpunkt zwischen der Genferseeregion und dem Mittelmeer geworden – zu einem Tor, das den Reisehorizont erweitert. Mit dem Léman Express können neue Gebiete in der Genferseeregion erfahren und erlebt werden. Die Auswirkungen des Léman Express auf das Territorium werden oft unter dem Gesichtspunkt des Wohnens diskutiert. Wie sieht es mit der Planung der geschäftlichen Aktivitäten aus ? Bei der Entwicklung von Quartieren rund um Bahnhöfe werden die geschäftlichen Aktivitäten ebenfalls berücksichtigt. Die städtebaulichen Projekte sind nach dem Prinzip der Nutzungsmischung konzipiert und umfassen Büroflächen, Läden und Dienstleistungen. Im Rahmen des Léman Express wurde die Planung der geschäftlichen Aktivitäten je nach Situation thematisiert, wobei die gemischte Nutzung stets massgebend war, um kurze Wege zu fördern und die Notwendigkeit von Reisen zu reduzieren. Für ein reges Leben und Treiben auf lokaler Ebene

« Es braucht Vielfalt in der städtebaulichen Programmierung. » Ariane Widmer

braucht es diese Vielfalt in der städtebaulichen Programmierung. Aus Sicht der nachhaltigen Stadt dürfen keine monofunktionalen Nutzungen mehr geplant werden. Das gilt nicht nur für Wohnquartiere, sondern soweit möglich auch für Gewerbegebiete und auf jeden Fall für Büros. Ein wunderbares Beispiel ist der Genfer Stadtteil Eaux-Vives: ein dichtes Quartier, ein echtes Mischnutzungszentrum, in dem jede Aktivität und jede Betätigung von der Dynamik der anderen profitiert. Diese Art von Lebensraum, der von seinen Bewohnern und Nutzerinnen geschätzt wird, müssen wir reproduzieren können.

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Ariane Widmer Die Architektin und Stadtplanerin ist seit 2019 Genfer Kantonsplanerin. Zuvor leitete sie die Geschäftsstelle des Schéma directeur de l’Ouest lausannois. Sie war Chefdesignerin der Expo.02 und hat mehrere Publikationen zu aktuellen Fragen der Stadt- und Raumentwicklung verfasst. Unter anderem ist sie Mitglied des Vorstands des SIA und des Stiftungsrats der Stiftung Baukultur Schweiz.

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Ein Fussgängertunnel verbindet den Bahnhof Genève-Champel direkt mit dem Genfer Universitätsspital HUG.

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Annemasse Die Stadtgemeinde Annemasse liegt im französischen Département HauteSavoie und ist Teil der Region AuvergneRhône-Alpes. An der Grenze zur Schweiz gelegen gehört Annemasse zur grenzübergreifenden Agglomeration Grand Genève ( Grossraum Genf ). Heute wohnen rund 36 000 Annemassiennes und Annemassiens in der Gemeinde ; in der ganzen Stadtregion, die die französischen Gemeinden der Agglomeration Genf umfasst, sind es gut 310 000. Das Wachstum von Annemasse ist eng mit der Eisenbahn verbunden. Die Eröffnung der Linie Bellegarde – Evian 1880 und die

Linien nach Annecy und Saint-Gervaisles-Bains brachten die ersten Industriebetriebe in den Ort. Bis zum Zweiten Weltkrieg stieg die Einwohnerzahl von 1500 auf rund 8000. Ein weiterer Entwicklungsschub setzte in den 1950er-Jahren ein – zur Jahrtausendwende lebten rund 28 000 Menschen in Annemasse. Ab 2006 stieg die Kurve wieder steiler an. Zwischen 1921 und 1959 war Annemasse mit der Linie 12 an das Genfer Tramnetz angeschlossen. Die 2019 fertiggestellte Linie 17 nahm diese Tradition wieder auf. Die CEVA macht den Bahnhof Annemasse zum zweitwichtigsten im Grossraum Genf.

Eine Stimme aus der Politik Mit einer Bevölkerung von einer Million Menschen und mehr als 500 000 Arbeitsplätzen ist der Grossraum Genf einer der dynamischsten Ballungsräume Europas. Hier wird Urbanität im Alltag gelebt, und es gibt eine Vielzahl von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen gegenseitigen Abhängigkeiten. Eine enge Kooperation und Diskussionen, die über geografische und institutionelle Grenzen hinausgehen, sind entscheidend bei der Suche nach kon-

damit ein Grundgerüst für den Aufbau eines Netzes von ergänzenden öffentlichen Verkehrsmitteln. Dazu gehören Buslinien und das sich im Ausbau befindende grenzüberschreitende Tramnetz ( mit der Linie Genf – Annemasse, der Linie nach Saint-Julien-en-Genevois, deren Bau begonnen hat, und der Aussicht auf eine Verbindung zwischen Grand- Saconnex und Ferney-Voltaire ), aber auch Formen der aktiven Mobilität wie das Fuss- und Velowegnetz ‹ voies vertes ›, Velo stationen, Geovelo und Carsharing. Mehrere Projekte in der Agglomeration Genevois français wurden wegen ihrer grenzüberschreitenden Bedeutung von der Eidgenossenschaft mitfinanziert. Diese revolutionäre Entwicklung der Mobilität im Grossraum Genf hat zu tiefgreifenden urbanen Veränderungen geführt, die es möglich gemacht haben, den öffentlichen Raum neu zu überdenken, eine Stadt der kurzen Wege zu fördern, die Natur in der Stadt zu unterstützen und die Zentren attraktiver zu Christian Dupessey gestalten. Die Metamorphose des Bahnhofsquartiers und des Stadtzentrums von Annemasse, aber auch der Wankreten Lösungen für die Anliegen der Bevölkerung. Die lo- del des einstigen Arbeiterviertels Perrier oder der Gebiete kalen Volksvertreterinnen und -vertreter und die franzö- entlang der Avenue de Genève sind der beste Beweis dafür. sisch-schweizerischen Partner arbeiten im Rahmen des Agglomerationsprogramms Frankreich-Waadt- Genf seit fast 15 Jahren zusammen. Zu ihren gemeinsamen Zielen gehören die Entwicklung von Massnahmen und Dienstleistungen im Mobilitätsbereich ebenso wie die Koordination von Siedlungsentwicklung und Umwelt, um die Lebensqualität im ganzen Gebiet zu verbessern. Christian Dupessey Die Mobilitätsströme widerspiegeln die multipolare Struktur des Grossraums Genf, in dem gelebt, konsumiert und gearbeitet wird. In diesem Einzugsgebiet, in dem täg- Ein gutes Jahr nach seiner Inbetriebnahme und trotz der lich mehr als drei Millionen Menschen unterwegs sind – Gesundheitskrise und der eingeschränkten Mobilität im darunter 635 000 Pendlerinnen und Pendler, die jeden Tag Zusammenhang mit dem vermehrten Homeoffice fällt die die Grenze zum Kanton passieren –, kommt der nachhal- Bilanz des Léman Express positiv aus: Das neue Streckentigen Mobilität eine prioritäre Bedeutung zu. Der Léman netz, auf dem 2020 – dem Jahr der Pandemie – pro Tag Express ist eine starke und unverzichtbare Antwort auf durchschnittlich 31 200 Passagiere unterwegs waren, findie Alltags- und Freizeitmobilität. Heute genügt ein ein- det bei der Bevölkerung grossen Anklang. Das ursprüngziges Ticket, um von Annemasse, Valserhône, Genf oder liche Ziel waren 45 000 Passagiere pro Tag . Die HerausCoppet für einen Tag nach Annecy, Chamonix oder Evian forderungen des ökologischen Wandels zwingen uns dazu, zu fahren. Der Léman Express strukturiert unser Territo- die Mobilität im Alltag völlig neu zu gestalten. Der Léman rium. Er verbindet 45 Bahnhöfe zwischen den wichtigs- Express, der öffentliche Verkehr und die aktiven Mobiliten Zentren in Frankreich und der Schweiz und schafft tätsformen sind ausgezeichnete Mittel dazu.

« Der ökologische Wandel zwingt uns, die Mobilität im Alltag neu zu gestalten. »

« Im Grossraum Genf genügt heute ein einziges Ticket. »

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Christian Dupessey Der Bürgermeister von Annemasse ist Präsident des Pôle métropolitain du Genevois français.

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CEVA, 2012 – 2019 Genève-Cornavin – Eaux-Vives – Annemasse Bauherrschaft: Kanton Genf ; SBB Architektur Bahnhöfe: Ateliers Jean Nouvel, Paris, mit Éric Maria Architectes Associés, Genf Bauingenieure Bahnhöfe: Ingphi Concepteurs d’ouvrages d’art, Lausanne Auftragsart: Wettbewerb auf Einladung mit sechs Büros, 2004 Gesamtkosten CEVA: Fr. 1,57 Mrd. ( für 14 Kilometer auf Genfer Boden ) Finanzierung: knapp 56 % Bund, gut 44 % Kanton Genf

Genève-Champel: ein grosszügiger, leicht geschwungener, lichtdurchfluteter Raum tief unter der Stadt.

Lichtarchitektur im Untergrund Das Gestaltungskonzept von Jean Nouvel und Éric Maria gibt den fünf Bahnhöfen der Genfer S-Bahn-Linie CEVA – Herzstück des Léman Express – eine architektonische Linie. Text: Werner Huber

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Genève-Champel: Der Stadtraum über dem Bahnhof soll zu einem Eichenwald zuwachsen. Themenheft von Hochparterre, August 2021 — Der Anfang einer Geschichte — Lichtarchitektur im Untergrund

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Genève-Eaux-Vives: Die Tramhaltestelle liegt direkt beim Zugang zum Bahnhof. Im Hintergrund ragt das neue Stadttheater – la Nouvelle Comédie – empor.

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Genève-Eaux-Vives: Die ‹ briques de verre › sorgen für Licht und Reflexionen. Foto: Werner Huber

Wie ein grosses, leicht verzogenes S legt sich die Bahnlinie Cornavin – Eaux-Vives – Annemasse ( CEVA ) um die Stadt Genf. Entsprechend der politischen Kleinräumigkeit des Kantons streift die Eisenbahn das Gebiet von vier Städten und Gemeinden – Genf, Lancy, Carouge und Chêne-Bourg – und endet in Annemasse im französischen Département Haute-Savoie. Hätte man die Bahnlinie – wie ursprünglich geplant – schon vor gut hundert Jahren realisiert, wäre sie in fast unbebautes Gebiet zu liegen gekommen. Heute jedoch führt das Trassee durch die dicht besiedelte Genfer Agglomeration. Deshalb musste man die Strecke und vier der fünf neuen Bahnhöfe weitgehend unter die Erde verlegen. Das Gleiche fünfmal anders In ihrer Lage in der Stadt und im Terrain unterscheiden sich die fünf neuen Bahnhöfe grundlegend. LancyPont-Rouge liegt an einem bereits in den 1940er-Jahren erstellten Streckenabschnitt unter offenem Himmel auf einem Damm. Die Passagiere erreichen den Mittelperron mit zwei Gleisen durch eine Unterführung. Lancy-Bachet, mit mittigen Gleisen und seitlichen Perrons, liegt am Tunnelportal, das gleichzeitig Kreuzungspunkt mit der Autobahn A 1 ist. Am einen Ende des Bahnhofs verbinden offene Treppen und Lifte die Bahn mit den umliegenden Quartieren, am anderen Ende dient ein Zwischengeschoss mit Aufgängen ins Quartier und zum Tramknotenpunkt als Verteilebene. Der dritte Bahnhof – Genève-Champel – befindet sich auf Genfer Stadtboden mitten im gehobenen Champel-Quartier und in der Nähe des Universitätsspitals. Die beiden Seitenperrons liegen 25 Meter unter der Stadtoberfläche, so tief wie bei keinem anderen der Bahnhöfe. In einer grossen Öffnung führen Treppen, Rolltreppen und Lifte über mehrere Ebenen nach unten. Ein langer, mit Rollbändern ausgestatteter Tunnel verbindet den Bahnhof mit dem Spital. Genève-Eaux-Vives ist so etwas wie der Hauptbahnhof der CEVA. Hier lag, zu ebener Erde,

seit 1888 der provisorische Endbahnhof der Linie Annemasse – Genf: Il n’y a que le provisoire qui dure ! Der neue Bahnhof befindet sich noch immer an der gleichen Stelle, jedoch zwei Geschosse tiefer. In einer früheren Phase war er viergleisig mit zwei Mittelperrons geplant, realisiert wurde schliesslich nur ein Perron mit zwei Gleisen. Darüber erstreckt sich auf der ganzen Länge ein erst teilweise ausgebautes Ladengeschoss, das sich zum Vorplatz und zur Tramhaltestelle hin öffnet. Der fünfte neue Bahnhof – Chêne-Bourg – ist ebenfalls unterirdisch angelegt, jedoch in geringer Tiefe. Die Treppen und Lifte führen direkt von den beiden Seitenperrons ans Licht. Linienarchitektur Obwohl unterirdische Bahnhöfe auch in der Schweiz kein Novum mehr sind und wir solche Anlagen im Ausland von Paris bis Moskau und von New York bis Tokio mit grosser Selbstverständlichkeit nutzen, gibt es immer noch Vorbehalte gegen das Gehen untertags. Umso wichtiger ist die Gestaltung dieser öffentlichen Räume. Es gibt zwei Ansätze: Entweder ist jede Station individuell gestaltet oder alle Stationen einer Linie oder gar eines Netzes folgen den gleichen Prinzipien. Das bekannteste Beispiel für den ersten Ansatz sind die Stationen der Moskauer Metro, insbesondere die als ‹ Paläste für das Volk › bekannten Stationen aus der Stalin-Zeit. Den zweiten Ansatz verfolgt etwa Wien, wo die Architektengruppe U-Bahn um Wilhelm Holzbauer in den 1970er-Jahren ein Gestaltungskonzept entworfen hat, das – angepasst und weiterentwickelt – bis heute eingesetzt wird. Das gibt dem Gesamtsystem eine starke räumliche und visuelle Identität. Beide Ansätze haben ihre Vor- und Nachteile: Individuell gestaltete Stationen können einen Bezug zur jeweiligen Stadt herstellen, zur Identifikation mit der ‹ eigenen › Haltestelle beitragen und die Orientierung während der Fahrt im Untergrund verbessern. In ihrer Summe verbinden sich architektonisch herausragend gestaltete →

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Genève-Champel: Längsschnitt durch den Bahnhof und die umfangreichen technischen Räume.

Genève-Champel: Perrongeschoss

→ Stationen zu einer unterirdischen ‹ promenade architecturale ›. Eine einheitliche Gestaltung dagegen stärkt den Linien- und Netzgedanken, etwa wenn eine neue Strecke das System des öffentlichen Verkehrs komplett neu ausrichtet. So begann in Lausanne 2007 mit der Eröffnung der Métro M 2 eine neue Zeitrechnung. Mit wenigen, aber präzisen gestalterischen Elementen ist es den Architekten gelungen, eine unverkennbare ‹ architecture de ligne › zu erzeugen und die M 2 im Bewusstsein der Lausannoises und Lausannois als neues Verkehrsmittel zu verankern. Glasbausteine Auch in Genf wird die CEVA als Herzstück des S-BahnSystems Léman Express den öffentlichen Verkehr in der Agglomeration grundlegend verändern. Und auch da liegt das Gewicht weniger auf der einzelnen Station als vielmehr auf der ganzen Linie, die eine Lücke im Bahnnetz schliesst. Es ist also nur konsequent, dass die fünf neuen Bahnhöfe – so unterschiedlich sie auch sind – einem einheitlichen Konzept folgen. Entworfen haben es die Architekten Jean Nouvel und Éric Maria. Zwei siebzig auf fünf vierzig: Das ist das Mass aller Dinge bei der architektonischen Gestaltung der Bahnhöfe. So viel misst ein ‹ brique de verre ›, ein Glasbaustein, der als Grundmodul das Gesicht der fünf Stationen prägt. Die Ab-

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messungen zeigen, dass die ‹ briques de verre à la CEVA › keine gewöhnlichen Glasbausteine sind, sondern eigens angefertigte Bauelemente aus Stahl und Glas. Sie bestehen im Wesentlichen aus fünf Teilen: Ein dunkel eingefärbter, rund vierzig Zentimeter dicker Aluminiumrahmen ist beidseits mit einem Sicherheitsglas beplankt. Im Zwischenraum – so belüftet, dass kein Schmutz eindringt – stehen in gleichmässigem Abstand zur Aussenhülle und zueinander zwei Gläser mit quadratisch strukturierter Oberfläche, sogenannte ‹ Karolit ›-Gläser. Diese mehrschichtige Konstruktion verpixelt das Bild beim Blick durch das Glas. 660 solcher Glasbausteine belegen eine Fläche von insgesamt mehr als 20 000 Quadratmetern ; fast die Hälfte davon im Bahnhof Eaux-Vives. Die Architekten setzten die scharfkantigen, präzis gefertigten Glasbausteine in Kontrast zum Rohbau mit seinen unterschiedlichen Ausprägungen. Das entscheidende Element im Gestaltungskonzept von Jean Nouvel und Éric Maria ist das Licht. Es setzt die Glasbausteine mit dem Rohbau in Beziehung: Tageslicht, das in Lancy-Pont-Rouge an den ‹ briques de verre › bricht. Linienleuchten, die in Lancy-Bachet, Genève-Champel und Chêne-Bourg im Raum zwischen Glasbausteinen und Rohbau sitzen. Die Beleuchtung der rohen Oberfläche der Schlitzwand hinter den Gläsern in Genève-Eaux-Vives. →

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Genève-Champel: Tageslicht, Leuchten auf Beton und hinterleuchtete Glasbausteine erzeugen eine lichte Atmosphäre im unterirdischen Bahnhof. Themenheft von Hochparterre, August 2021 — Der Anfang einer Geschichte — Lichtarchitektur im Untergrund

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Chêne-Bourg: Auf der Bahnlinie Richtung Annemasse liegt die ‹ voie verte ›, ein Fuss- und Veloweg.

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Chêne-Bourg: Im nur knapp unter der Erde liegenden Bahnhof stehen Tages- und Kunstlicht im Wettstreit. Foto: Werner Huber

→ Überall dringt Tageslicht bis auf die Perrons der unterirdischen Bahnhöfe vor. Selbst im 25 Meter tief angelegten Bahnhof von Genève- Champel bestehen im Mittelteil grosse Bereiche der Zwischenböden aus dickem Glas, sodass trotz viel Kunstlicht der Wechsel von Tag und Nacht auch im Untergrund spürbar ist. Mit den Entwurfsthemen Licht und Transparenz hat Jean Nouvel immer wieder herausragende Bauwerke geschaffen, in Paris etwa das Institut du monde arabe ( 1987 ), die Fondation Cartier ( 1994 ) oder das Musée du quai Branly ( 2006 ). Eines seiner frühen Werke, das Théâtre Granit in Belfort ( 1984 ), aber auch der Monolith an der Expo.02 in Murten thematisieren den Kontrast zwischen dem Rohen und dem Edlen. An den Bahnhöfen der CEVA vereinen Jean Nouvel und Éric Maria die beiden Themen zu einem starken gestalterischen Auftritt.

genieure die möglichen Auswirkungen auf die umgebende Bebauung. Nach dem Aushub brachte man vibrierende Lastwagen in den Tunnel und mass die Auswirkungen im Tunnel und in den Gebäuden. Diese Messungen bildeten die Grundlage für die schliesslich beschlossenen Massnahmen – die der Kanton Genf mit einem Zusatzkredit über die gesetzlichen Normen hinaus ausbaute. Da es in der Schweiz nur wenig Erfahrung mit unterirdischen Bahnhöfen entlang einer ganzen Linie gibt, konnten die Planer nicht immer auf bestehende Normen zurückgreifen, sondern mussten diese in Zusammenarbeit mit den Behörden entwickeln, insbesondere beim Brandschutz. Während der Bahnhof Chêne-Bourg dicht an der Oberfläche liegt und natürlich entraucht werden kann, erforderten die Lüftungsanlagen in Genève-Champel grosse Bauvolumen, die man aber heute gar nicht sieht.

Zitterpartien Planung und Bau der CEVA stellten das federführende Ingenieurbüro Ingphi aus Lausanne und die Unternehmer vor grosse Herausforderungen. Die Baustelle erstreckte sich über eine Länge von 14 Kilometern und lag mitten in einem städtischen Umfeld. Entsprechend eng waren die Platzverhältnisse, entsprechend gross die Auswirkungen auf den Verkehr in der Stadt. Aufgrund ihrer Lage führt die Bahnlinie unter bestehenden Gebäuden hindurch. Für die Tunnelbauer ist die Arbeit umso einfacher, je tiefer ein Tunnel im Untergrund liegt, für die Passagiere hingegen ist es wichtig, dass ein Bahnhof nicht zu tief liegt. Die Devise der Planer lautete: so tief wie nötig und so hoch wie möglich. Heute unterfährt der Tunnel einzelne Hausfundamente in gerade mal fünf Metern Tiefe. Die Anrainer befürchteten, dass die Züge des Léman Express ihre Häuser zum Zittern bringen würden. Um das zu verhindern, plante man ein schwimmendes, auf Neopren ruhendes Trassee, wie es sich andernorts seit Jahrzehnten bewährt. Vor Baubeginn prognostizierten die In-

Grenzüberschreitungen Der Léman Express ist das grösste grenzüberschreitende S-Bahn-System Europas. Auf diesem Netz verkehren sowohl schweizerische als auch französische Züge, die jeweils für beide Stromsysteme ausgerüstet sind. Die bahntechnische Grenze liegt in Annemasse: Dort führt das schweizerische Stromsystem bis an den Perron, die schweizerische Signalisation endet bereits am Perronanfang. Für den Störungs- oder den Katastrophenfall haben die beiden Länder gemeinsam ein Konzept erarbeitet. Bei einem Unfall oder einer technischen Störung kann sowohl von Genf als auch von Annemasse ein Spezialzug ausrücken. Feine Unterschiede zwischen den schweizerischen SBB und der französischen SNCF spüren die Reisenden dennoch. Sie sind aber weniger von der Landesgrenze als vielmehr vom Fahrzeug abhängig: Die SBB haben bei Stadler Rail 23 Flirt-Züge gekauft, die SNCF hat bei Alstom 17 Coradia-Polyvalent-Kompositionen erstanden. Während die einen Waggons schweizerische Solidität vermitteln, verströmen die anderen französische Eleganz.

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Projektparade: Bauten und Projekte entlang dem Léman Express 1 Städtebaulicher Masterplan, 2013 Der städtebauliche Masterplan ist die Grundlage für die Aufwertung der Gebiete an den neuen Bahnhöfen zu Stadtzentren. Auf den drei Ebenen Stadt, Umfeld und Bahnhof entwickelten die Planerinnen ein System von Parametern und Prototypen, um die Eingriffe der verschiedenen Akteure – SBB, Verkehrsbetriebe, Stadt, Investoren – zu koordinieren. Ein dynamischer Masterplan ( ‹ plan guide › ) berücksichtigt die unterschiedlichen Zeithorizonte und stimmt sie aufeinander ab. Auftraggeber: Kanton Genf, Amt für Städtebau Planerteam: Van de Wetering Atelier für Städtebau, Zürich ( Städtebau, Stadtentwicklung ) ; Metron, Brugg ; MRS Partner, Zürich ; DeLaMa, Genf ; Atelier Descombes Rampini, Genf ( Vorstudie 2003 – 2006 ) A Cornavin 2 Gare de Cornavin, 2014 Der Umbau des Genfer Hauptbahnhofs Gare de Cornavin gab schon fünf Jahre vor der Eröffnung der CEVA einen Vorgeschmack auf das neue Eisenbahnzeitalter. Das verbrauchte, vielfach umgebaute und

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3 in seiner Substanz stark beeinträchtigte Gebäude von Architekt Julien Flegenheimer von 1934 wurde weitgehend ausgekernt ; einzig die grosse Schalterhalle blieb erhalten. Hinter den Fassaden aus Savonnière-Stein entstand ein Neubau mit einer zentralen Mall – ‹ le mall central › – als neuem Herz. Gelbbraungolden schimmernder Granit – Madura Gold – bestimmt das Bild. Bauherrschaft: SBB Immobilien, Développement Ouest, Lausanne Architektur: Itten + Brechbühl Architekten und Generalplaner, Lausanne Kunst: Carmen Perrin, Genf Kosten: Fr. 110 Mio. 3 Restrukturierung Cornavin, 2031 Die öffentlichen Räume rund um den Bahnhof Cornavin sind wenig einladend. Autos, Busse und Trams zerschneiden die Fusswege, das Bahnhofsgebiet ist städtebaulich schlecht mit seiner Umgebung verwoben. Das Ergebnis der Parallelplanung ist ein durchlässiges Netz von Strassen und Plätzen. Die öffentlichen Räume werden einheitlich gestaltet und erhalten so eine starke Identität. Auf der Rückseite erhält der Bahnhof mit einer gedeckten Galerie eine neue Fassade. Grundlage für diese Massnahme ist die Verbannung des Autoverkehrs von den beiden den Bahnhof flankierenden Plätzen.

Place de Cornavin, Place de Montbrillant, Genf Bauherrschaft: Stadt und Kanton Genf Planung: Consortium Pôlecornavin ( Guillermo Vázquez Consuegra, Sevilla ( E ) ; FRAR – Frei Rezakhanlou, Lausanne ; Emch + Berger, Bern ) Auftragsart: Parallelplanungen, 2016 – 2018 4 Ausbau Bahnverkehrsknoten Genève-Cornavin, 2032 Bis 2030 erwarten die Planer eine Verdoppelung der Passagierzahlen im Genfer Hauptbahnhof auf 100 000 Reisende pro Tag. Dafür muss der Bahnhof erweitert werden. Nachdem der seitliche Ausbau am Widerstand aus dem betroffenen Quartier des Grottes und anderen Kreisen gescheitert war, wird nun ein zweigleisiger unterirdischer Bahnhof erstellt. Das architektonische Projekt soll Räume schaffen, die die Bedingungen für alle Mobilitätsformen verbessern. Die Verkehrsströme sollen entflochten, die Querung des Bahnhofs soll vereinfacht werden. Gare de Cornavin, Genf Bauherrschaft: SBB Infrastruktur Ingenieure: BG Ingénieurs Conseils, Lausanne ( Leitung ), Egis, Pringy ( F ) Architektur: dl-a, Genf Auftragsart: Ausschreibung 2017 – 2018 Kosten: Fr. 600 Mio.

B Lancy-Pont-Rouge 5 Überbauung Pont-Rouge, 2018 / 2019 Beidseits des neuen Bahnhofs LancyPont-Rouge realisiert SBB Immobilien eine markante Überbauung. Am Rand des Entwicklungsgebiets Praille-Acacias-Vernets markieren fünf Hochhäuser von Pont 12 Architectes das Eingangstor nach Genf. In den Erdgeschossen sind Läden und Restaurants eingerichtet, darüber liegen Büros. Die streng gerasterten, mit Granit verkleideten Baukörper sind in der Horizontalen und der Vertikalen gegliedert und erzeugen unterschiedliche öffentliche Räume. Esplanade de Pont-Rouge 2 / 4 / 6, Place de Pont-Rouge 1 / 2, Lancy Bauherrschaft: SBB Immobilien, Développement Ouest, Lausanne Totalunternehmer: Implenia Schweiz, Onex Architektur: Pont 12 Architectes, Chavannes-près-Renens Landschaftsarchitektur: Raderschallpartner, Meilen ; La Touche Verte, Genf Kommerzialisierung: SPG Intercity, Genf 6 Adret Pont-Rouge, 1. Etappe ( A ), 2020 Das neue Wohnviertel Adret Pont-Rouge, das zu neunzig Prozent mit erneuerbaren Energien betrieben wird, liegt auf einem sechs Hektar grossen ehemaligen Bahngelände, das von der Stiftung zur Förde-

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rung des preisgünstigen und genossenschaftlichen Wohnungsbaus ( FPLC ) erworben wurde, die auch für die Gesamtkoordination des Baus verantwortlich war. Die vier Gebäude am Eingang des Quartiers wurden von kommunalen Stiftungen erstellt und bieten gemeinnützigen Wohnraum. Die FCLPA hat 150 Wohnungen für Menschen im AHV-Alter sowie für Studierende gebaut, ausserdem gibt es zwei Gemeinschaftswohnungen. Die FCIL hat 96 Wohnungen für Menschen mit bescheidenen finanziellen Mitteln realisiert. Ein Innenhof mit Pétanque-Bahn und Spielen bietet einen grosszügigen und freundlichen Begegnungsraum. Place de Pont-Rouge 2 – 12, Lancy Bauherrschaft: Fondation communale de la commune de Lancy pour le logement de personnes âgées ( FCLPA ), Fondation communale immobilière de Lancy ( FCIL ) Architektur: Tribu, Lausanne Landschaftsarchitektur: Interval, Chavannes-près-Renens Gesamtkoordination: FPLC, Genf Auftragsart: Wettbewerb 7 Adret Pont-Rouge, 1. Etappe ( B und C ), 2020 Die FPLC hat vier Gebäude mit 96 Wohnungen im Baurecht errichtet. Zwei weitere Gebäude, die mit dem Rücken zu den Bahngleisen stehen, beherbergen Sozial-

wohnungen, eines wurde von der Stiftung Nicolas Bogueret für 183 Studierende gebaut, das andere von der Genossenschaft Cooplog Pont-Rouge. Dieses wartet mit 64 genossenschaftlichen Wohneinheiten auf. Die Erdgeschosse dieser beiden Gebäude werden für unterschiedliche Aktivitäten genutzt. Die Aussenanlagen sind mit grossen Bäumen bepflanzt und auch deshalb sehr attraktiv. Chemin des Mérinos 2 – 14, Lancy Bauherrschaft: Fondation pour la promotion du logement bon marché et de l’habitat coopératif ( FPLC ), Fondation Nicolas Bogueret, Société Coopérative Cooplog Pont-Rouge Architektur ( Projekt ): Lopes & Périnet-Marquet, Genf Architektur ( Ausführung ): Lopes & PérinetMarquet, Genf ; dl-c, Genf ; In Situ ( Landschaftsarchitektur ), Montreux Gesamtkoordination: FPLC, Genf Auftragsart: Wettbewerb 8 Adret Pont-Rouge, 2. Etappe ( D und E ), 2022 Die fünf Gebäude, die zurzeit im Bau sind, werden eine breite Palette von Wohnungen anbieten. Die FPLC baut 47 Einheiten im Baurecht, die Stiftung HBM Camille Martin wird 62 Einheiten für Mieter mit geringem Einkommen zur Verfügung stellen, während die Genossenschaft Cité

Derrière ebenfalls 62 Einheiten realisiert. Das Gebäude der FCIL wird 23 gemeinnützige Wohnungen, einen Lebensmittelladen, Sozialräume und das Wohnungsamt der Stadt Lancy aufnehmen. Chemin de l’Adret, Lancy Bauherrschaft: Fondation pour la promotion du logement bon marché et de l’habitat coopératif ( FPLC ), Fondation HBM Camille Martin, Coopérative Cité Derrière Architektur: Tribu, Lausanne ; Fondation communale immobilière de Lancy ( FCIL ) ; Consortium jbmn, Lausanne, und Favre & Guth, Genf Landschaftsarchitektur: Interval, Chavannes-près-Renens Gesamtkoordination: FPLC, Genf Auftragsart: Wettbewerb 9 Alto Pont-Rouge, 2023 Das Gebäude Alto Pont-Rouge ist Teil der Überbauung am Bahnhof Lancy-PontRouge und flankiert die gemeinsame Esplanade. Das Herz des Gebäudes ist das Atrium, das sich vom ersten bis in das fünfte Obergeschoss erstreckt. Seine architektonische Sprache unterscheidet sich in Form und Materialität vom eher harten Äusseren. Abgeschrägte Winkel und warme Materialien sollen eine echte Begegnungsstätte für die Nutzerinnen des Gebäudes schaffen. Der viergeschossige Sockel ist Z-förmig angelegt und bildet

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differenzierte Aussenbereiche. Wie die benachbarten Bauten der SBB prägt ein markanter Raster die Fassaden, doch hier sind in der Höhe jeweils zwei Geschosse zusammengefasst, was die Gebäude grosszügiger wirken lässt. Esplanade de Pont-Rouge 9, Lancy Bauherrschaft: Swiss Prime Site Immobilien, Genf Architektur: Brodbeck Roulet, Carouge Ingenieur: Ingeni, Carouge Auftragsart: Direktauftrag Kosten: Fr. 186 Mio. 10 Geschäftshaus Esplanade 3, 2023 Das mehrteilige Gebäude schliesst die Grossüberbauung am Bahnhof Lancy-PontRouge im Südwesten ab. Im Erdgeschoss sind Läden vorgesehen, darüber Büros und im höheren der beiden Hochhäuser ein Hotel. Die vollständig verglaste, von einem filigranen Metallraster gegliederte Fassade lehnt sich in der Geometrie an die benachbarten Gebäude an, wirkt jedoch leichter als die steinernen Nachbarn. Esplanade de Pont-Rouge 1 / 3 / 5, Lancy Bauherrschaft: Caisse de Prévoyance de l’État de Genève Totalunternehmer: Halter, Zürich / Lausanne Architektur: Richter Dahl Rocha & Associés, Lausanne Projektmanagement: M 3, Genf

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12 11 Erweiterung Banque Pictet, 2025 Der Hauptsitz der Banque Pictet wird neben dem Gebäude von Charles Pictet erweitert. Die Neubauten bestehen aus einem Häuserblock und einem neunzig Meter hohen Turm mit einer Nutzfläche von 66 500 Quadratmetern. Der Turm und ein Teil des niedrigeren Gebäudes sind der Nutzung als Bank gewidmet. Am Vorplatz liegt auch der Zugang zu einem Konferenzzentrum und einem Auditorium. Wohnungen und kommerzielle Aktivitäten werden den Block vervollständigen. Route des Acacias 66, Carouge Bauherrschaft: Groupe Pictet, Genf Architektur: dl-a, Genf Auftragsart: Wettbewerb, 2020 C Lancy-Bachet 12 Überbauung Grosselin ( Studie ) Im neuen Quartier werden Wohnungen, Gewerbe- und Dienstleistungsbetriebe sowie Läden entstehen. Es befindet sich in der Nähe eines künftigen Parks und von Alt-Carouge. Eine Abfolge öffentlicher Räume wird das Quartier – im Zentrum ein Grundstück von HIAG – strukturieren. Der Wasserlauf der Drize begleitet die Bebauung und eine Route für den Langsamverkehr. Der partizipative Planungsprozess stellte die Umweltanliegen ins Zentrum, um einen klimafreundlichen, autofreien Stadtteil zu errichten.

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15 Avenue Vibert, Rue Jacques-Grosselin, Rue de St-Julien, Carouge Planungsprozess ( Leitung ): Kanton Genf, Stadt Carouge 13 Projekt Porte Sud ( Studie ) Mitten in der Agglomeration sieht Porte Sud auf 120 000 Quadratmetern ein neuartiges Konzept für Unternehmen und Organisationen vor. Das Projekt soll auch das Sport- und Kulturangebot der Umgebung erweitern. Die derzeitige ephemere Nutzung des Geländes soll einen sanften Übergang gewährleisten. Das Areal wird für eine allgemeine Belebung umgestaltet – zurzeit beherbergt es das ‹Village du soir› und bald auch ‹ Airloop ›, einen neuen Treffpunkt für Freestyle-Freizeitaktivitäten, einen Ort des Austauschs, des Mitmachens und des Vergnügens. Route des Jeunes 20 – 26, Carouge Bauherrschaft: HIAG, Genf Auftragsart: Mandat mit Studienauftrag 14 Bürogebäude Stellar, 2020 Das Gewerbe- und Bürohaus liegt nahe dem künftigen Stadtteil Cherpines mit 4000 Einwohnerinnen und 2500 Arbeitsplätzen. Auf sechs ober- und vier unterirdischen Geschossen bietet es eine Fläche von 32 000 Quadratmetern. Zwei Atrien gliedern den grossen Block in drei Teile, die autonom funktionieren, die

aber auch zusammengeschlossen werden können. Die Raumhöhe von 3,38 Metern lässt vielfältige Nutzungen zu. Der Autobahnanschluss und die Tramhaltestelle erschliessen das Gebäude hervorragend. Route de la Galaise 32 – 36, Plan-les-Ouates Bauherrschaft: Stellar Immo A, Genf Totalunternehmer: Hestia, Genf Projektmanagement: M 3, Genf Architektur: RDR, Lausanne ; M 3, Genf 15 Neubauten Bachet-de-Pesay, 2022 Die Überbauung liegt in der Nähe des Entwicklungsgebiets Praille-Acacias-Vernets. Gemeinsam mit den Eigentümern der Parzelle jenseits des Boulevards und der Stadt Lancy wurde ein zweistufiges Verfahren durchgeführt. Das Gesamtprojekt sieht den Bau von 229 Wohnungen vor, davon 163 für die Anlagestiftung Turidomus. Die Flächen der baurechtlich verlangten gemeinnützigen LUP-Wohnungen ( ‹ logements d’utilité publique › ) – rund ein Drittel – sind knapp gehalten: weniger als 90 Quadratmeter für eine 4-Zimmer-, rund 50 Quadratmeter für eine 2-Zimmer-Wohnung. Die Einheiten für den ‹ halbfreien › Markt sind etwas grösser. Chemin de Pesay, Lancy Bauherrschaft: Turidomus, Zürich Architektur: Jaccaud Spicher, Genf Bauherrenvertretung: M & R, Morges / Genf

D Genève-Champel 16 Öffentlicher Raum Champel, 2020 In der Mitte des Plateaus von Champel ein Eichenwäldchen zu pflanzen, ist die starke, strukturierende Idee des Wettbewerbsprojekts von 2013. Die Bauminseln sind frei gestaltet, und selbst die Avenue de Champel erhielt einen gekurvten Verlauf. Insgesamt 135 Eichen in sechs Variationen wurden gepflanzt. Mittelfristig werden sie ein dichtes grünes Dach bilden. Plateau de Champel, Genf Bauherrschaft: Stadt Genf Architektur: Bureau A, Genf ( Leopold Banchini, Daniel Zamarbide ) Beleuchtungskonzept: Concepto, Arcueil ( F ) Kosten: Fr. 16,2 Mio. E Genève-Eaux-Vives 17 Comédie de Genève, 2020 Die Comédie de Genève ist viel mehr als ein Theater: Zuerst einmal ist es ein öffentliches Gebäude für die Bevölkerung. Darüber hinaus geht es auch um eine Idee, ein kulturelles Projekt, eine gesellschaftliche Vision. Das Gebäude findet die Balance zwischen repräsentativ und schlicht, öffentlichem Raum und Arbeit, Zauber der Nacht und Alltagsleben. Das Schauspielhaus umfasst zwei sich ergänzende Säle: einen Theatersaal mit 500 Plätzen und eine 200-plätzige ‹ salle modulable ›.

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Esplanade Alice-Bailly 1, Genf Bauherrschaft: Stadt Genf Architektur: FRES ( Laurent Gravier, Sara Martin Camara ) Auftragsart: offener intern. Wettbewerb Kosten: Fr. 98 Mio. 18 Öffentlicher Raum Eaux-Vives, 2020 Für die Gestaltung des öffentlichen Raums am Bahnhof Eaux-Vives führte die Stadt Genf einen Wettbewerb durch. Das Siegerprojekt strukturiert den Ort mit drei Bändern. Die Avenue de la Gare-des-EauxVives wird zum städtischen Boulevard, der die Haupterschliessung mit dem öffentlichen Verkehr aufnimmt. Im Zentrum liegt ein grosser Bereich für die Fussgänger: Die Esplanade Alice-Bailly ist das Rückgrat der Anlage. Sie verbindet die Zugänge zum Bahnhof und zu den umliegenden Bauten. Grosszügige Plätze kennzeichnen die Abgänge zum Bahnhof. Bauherrschaft: Stadt Genf Architektur: MSV, Genf Kosten: Fr. 42 Mio. ( Gesamtprojekt ) 19 O’Vives: O’Centre, 2019, O’Parc, 2021 Das Projekt am Südende des neuen Quartiers um den Bahnhof Eaux-Vives umfasst fünf Elemente: O’Centre und O’Parc mit Mischnutzung, eine Einkaufspassage im Untergeschoss, eine Tiefgarage und eine Velostation. Das 100 Meter lange Gebäu-

de D weist rückspringende Fassadenteile auf, in denen das Konzept der Mischnutzung zum Ausdruck kommt. Durch die geringe Stockwerktiefe von 12,5 Metern sind offene, durchgehende Wohnungen entstanden. Die Fassade besteht aus leicht strukturiertem, kalkfarbenem Beton und französischen Fenstern. Das 55 Meter lange, quaderförmige Gebäude E ist formal schlichter gehalten, was zu seiner zurückversetzten Lage passt. Es weist eine grössere Tiefe auf, und in der Mitte sorgen die Aufteilung und die Panoramafenster für eine Auflockerung der Fassade. Die Wohnungen sind konventioneller gestaltet. Avenue de la Gare-des-Eaux-Vives 3 – 11, 19 – 21, Genf Bauherrschaft: SBB Immobilien Generalunternehmung: HRS Real Estate, Saint-Sulpice Architektur: Aeby Perneger & Associés, Carouge Auftragsart: Wettbewerb, 2013 Kosten: Fr. 100 Mio.

F Chêne-Bourg 20 Voie verte, 2018 Die ‹ voie verte ›, der grüne Weg, ist eine quer durch Genf geplante Langsamverkehrsachse. Im Endausbau soll sie 22 Kilometer lang sein. Der bislang längste zusammenhängende Abschnitt liegt über dem Tunnel der CEVA zwischen den Bahn-

höfen Eaux-Vives, Chêne-Bourg und Annemasse. Für die Velos wurde ein Asphaltband gelegt, das mit einem Schotterstreifen vom chauffierten Belag für den Fussgängerweg getrennt ist. Steinkörbe begleiten den Weg und bieten Lebensraum, insbesondere für Eidechsen. Eaux-Vives, Chêne-Bourg, Annemasse Bauherrschaft: Kanton Genf ; SBB 21 Tour Opale, 2020 Das neue Hochhaus markiert das Ende der Plattform über dem Bahnhof ChêneBourg. Die unterschiedlichen Nutzungen sind übereinandergestapelt. Im Erdgeschoss liegen die offene Velogarage, die Einfahrt in die Tiefgarage des Nachbargebäudes, Fitnessstudio, Waschsalon und Café. Darüber gibt es fünf Bürogeschosse, auf denen 14 Stockwerke mit 101 Wohnungen aufragen. Die Erschliessung der Wohnungen ist knapp gehalten, die Konstruktion auf das Minimum reduziert: Betonstützen tragen Betonplatten. Die für die diesjährigen Pritzker-Preisträger Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal typischen Wintergarten-Balkon-Schichten umhüllen das Gebäude ; hinter den Gläsern schimmern Vorhänge silbrig. Der ‹ Guide d’usage bioclimatique › erklärt den Bewohnerinnen und Bewohnern, wie sie den Wintergarten und seine Klimaschichten richtig nutzen.

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Chemin de la Gravière 5 a, Chêne-Bourg Bauherrschaft: SBB Immobilien, Lausanne Architektur: Lacaton & Vassal, Paris ; Nomos, Les Acacias Auftragsart: Projektwettbewerb auf Einladung, 2014 Gesamtkosten ( BKP 1 – 9 ): Fr. 83 Mio. 22 Jussy 34, 2022 In Zusammenarbeit mit der Stadt und dem Kanton Genf baut die Swiss Prime Anlagestiftung in der Gemeinde Thônex diese sechsstöckige Überbauung mit 78 Wohnungen. Da in der Zone keine mehrstöckigen Wohnbauten erlaubt waren, musste ein Quartierplan erarbeitet und eine Baubewilligung eingereicht werden, die beide einstimmig angenommen wurden. Das Gebäude ist nach den THPE-Normen für sehr hohe Energieeffizienz gebaut. Solaranlagen produzieren genug Strom, um den Bedarf des Gebäudes abzudecken. Das Regenwasser versickert kontrolliert im Boden, wodurch weniger Kanalisationsleitungen nötig sind. Route de Jussy 34, Thônex Bauherrschaft: Swiss Prime Anlagestiftung Generalunternehmung: Edifea, Genf Architektur: Urbanité( s ), Genf / Marseille Auftragsart: Ausschreibung Kosten: Fr. 40,5 Mio.

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24 23 Neubauten Saphir, 2023, und Tourmaline, 2022 Die beiden Neubauten Saphir und Tourmaline stehen direkt neben dem Bahnhof Chêne-Bourg. Der grosse Massstab von Jean Nouvels Stahl- und Glaskonstruktionen setzt sich in der modularen Gestaltung der Gebäude fort. Diese sind als ‹ urbane Regale › konzipiert: dünne Platten, die auf massiven, leicht abgedrehten und somit eigenständigen Stützen stehen. Tourmaline umfasst knapp siebzig vergünstigte Mietwohnungen, darunter 15 Alterswohnungen. Saphir bietet gut fünfzig Wohneinheiten, die im Stockwerkeigentum verkauft werden. Rue des Charbonniers 1 / 3 / 5 / 7 / 9 / 11, Chêne-Bourg Bauherrschaft: Valorisation immobilière Éthique, Genf ( Saphir ) ; Fondation Nicolas Bogueret, Genf ( Tourmaline ) Architektur: Group 8, Carouge Totalunternehmer: Pillet, Genf ( Saphir ) Kunst: Gianni Motti, Genf ( Saphir ) Auftragsart: Wettbewerb, 2013 24 Belle-Terre – Les Communaux d’Ambilly, 2021 ( 1. Etappe ) bis 2030 Das Projekt Belle-Terre – Les Communaux d’Ambilly entwickelt ein Gebiet von 36 Hektar in drei Etappen. Das gleichermassen wohnliche wie dynamische Quartier ermöglicht es, im Einklang mit der

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Natur zu leben und zu arbeiten. Die erste Etappe sieht den Bau von rund 670 Wohnungen vor. Zudem sind Läden und Dienstleistungen, ein Schulhaus mit Mehrzweck- und Sportsälen und grosszügige öffentliche Räume geplant. Das Quartier ist um einen zentralen Freiraum organisiert, der mit 180 hochstämmigen Bäumen bepflanzt wird. Allée Belle-Terre, Thônex Bauherrschaft: Batima - C 2I, Genf ( 1. Etappe ) ; Gemeinde Thônex ( öff. Raum, Schule ) Architektur: Atelier Bonnet, Bassi Carella Marello, Jaccaud Spicher, Arge LRS & BLSA ( alle Genf ) Vermarktung: Comptoir Immobilier, Genf Auftragsart: Parallelstudien, 2008 G Annemasse 25 Verkehrsknoten Bahnhof, 2020 Im Hinblick auf die Eröffnung des Léman Express wurde der Bahnhof von Annemasse grundlegend umgestaltet. Er erhielt einen vierten Perron, und eine neue Unterführung erschliesst auch das Gebiet hinter den Gleisen. Das bestehende Bahnhofsgebäude von 1880 verschwindet hinter einer Glasfassade und nimmt kommerzielle Nutzungen auf. Die Dienstleistungen für die Reisenden, etwa der Billettverkauf, wurden in einem Neubau untergebracht. Der Bahnhofvorplatz wurde umgestaltet und vergrössert.

Esplanade François Mitterrand, Annemasse Bauherrschaft ( Projektpartner ): Region Auvergne-Rhône-Alpes, Département de Haute-Savoie, Annemasse Agglo, SNCF, Staat Frankreich, Schweizerische Eidgenossenschaft, Kanton Genf Kosten: € 50 Mio. 26 Ilot des Trois Places, 2022 Die beiden Wohngebäude befinden sich rechts der drei Plätze Place du Marché, Place Clémenceau und Place de la Libération, die zusammen einen grossen öffentlichen Raum bilden. Aus der Place Clémenceau, gegenwärtig als Parkplatz genutzt, wird eine Grünfläche, was dieser urbanen Zone eine neue Qualität verleiht. Das Projekt sieht zudem eine städtebauliche Aufwertung durch einen Fussgängerstreifen sowie durch die landschaftliche Gestaltung der Bereiche zwischen den drei Plätzen und den südlich gelegenen Quartieren vor. Es wird im Zuge der Stadterneuerung des Quartiers Château Rouge nach dem Abriss von 102 Mietwohnungen umgesetzt. In die neuen Gebäude sollen die Mieterinnen und Mieter der abgerissenen Wohnungen einziehen, wobei auf erschwingliche Mieten geachtet wird. Das Projekt sieht eine Fassade mit einer Hochwärmedämmung und Metallverkleidung vor, die Struktur des Gebäudes

besteht aus Stahlbeton. Die Verkleidung bilden Kassetten aus lackiertem Aluminium, das langlebig ist und zugleich eine edle Materialisierung im öffentlichen Raum bietet. Place du Marché, Place Clémenceau, Place de la Libération, Annemasse Bauherrschaft: Dinacité, Bourg-en-Bresse Architektur: Atelier Régis Gachon, Lyon Kosten: € 9,1 Mio. 27 La Canopée, 2023 Die Überbauung steht beim Grenzübergang Mon-Idée und bietet einen schönen Ausblick auf den Fluss Foron und die Stadt. Die architektonische Gestaltung stellt eine enge Verbindung zum Boden und zum Flusslauf her. Die unterschiedlichen Volumengestaltungen verschmelzen mit dem Park, ebenso die hängenden Gärten. Der Name der Siedlung, La Canopée, bedeutet Baumkronendach – hier können Familien in allen Formen leben, sich begegnen, wachsen und sich entfalten. Rue de Mon-Idée, Ambilly Bauherrschaft: Groupe Batima, Genf Architektur: Camp, Annecy 28 Umbau und Erweiterung Château Rouge, 2021 Das Château Rouge im Zentrum von Annemasse ist ein multidisziplinäres Kulturzentrum und ein wichtiger Pfeiler in der

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29 regionalen und nationalen Theaterlandschaft. Das Gebäude entstand 1980. Ursprünglich als Mehrzwecksaal konzipiert wurde der grosse Saal bis heute nie richtig saniert. Für zahlreiche Spektakel war die Bühne ungeeignet, die Lüftung war laut, und die Sitze waren durchgesessen. Mit dem Projekt werden die Bedingungen und der Komfort sowohl für das Publikum als auch für die Artistinnen und Artisten verbessert. Für den Saal sind drei Konfigurationen mit einer unterschiedlichen Anzahl Sitz- und Stehplätze für Theateroder Tanzvorführungen, Zirkus oder Konzerte möglich. Route de Bonneville 1, Annemasse Bauherrschaft: Stadt Annemasse Architektur: Z Architecture, Lyon ( Leitung ) ; AER Architectes, Annecy Kosten: € 8,4 Mio. H Übriges 29 The Hive, 2017 – 2027 The Hive – der Bienenstock – liegt im Herzen des Innovations- und Forschungsclusters Meyrin. Konzipiert als Hightechcampus zwischen CERN und Uhrencampus beherbergt er ein vielfältiges Netzwerk von Unternehmen. Durch die direkte Anbindung an den Flughafen und den Bahnhof Cornavin ist der Campus strategisch hervorragend gelegen, was erheblich zu seiner Attraktivität beiträgt. Das Konzept

des ‹ bewohnten Waldes › ist ein grundlegendes Element des Campus. Das Gelände wurde als Ökopark gestaltet, mit nachhaltiger Entwicklung und Innovation als Hauptthemen. The Hive bietet Treffpunkte und Dienstleistungen und beherbergt bereits die Unternehmen HPi, HPe, Régus und die Luigia Academy. Das Gebäude Hive 8 wird ab 2022 neuer Hauptsitz der Firma LEM. Weitere Entwicklungen sind geplant – der Standort bietet attraktive Baumöglichkeiten für lokale Start-ups wie auch für internationale Konzerne. Route du Nant d’avril 150 – 158 Bauherrschaft: HIAG, Genf Architektur: CCHE ( Hive 2, 2017 ; Luigia Academy, 2021 ; Hive 8, 2022 ); TJCA ( Renovation Hive 1 ), 2018 30 Les Hauts-du-Château, 2022 Das Landgut Champ-du-Château liegt in Bellevue vor den Toren Genfs. Es ist eines der letzten grossen stadtnahen Grundstücke im Kanton. Die Überbauung Hautsdu- Château wird die Gegend prägen und den Beginn der Stadt markieren. In zwei Neubauten mit Blick auf Genfersee, MontBlanc oder Jura entstehen 287 Wohnungen. Offene Grundrisse erlauben eine vielfältige Nutzung und eine Anpassung der Wohnungen an veränderte Lebensgewohnheiten. Glasfronten öffnen die Wohnungen auf die privaten Aussenbereiche. Der

grosszügige Grünraum, in dem die beiden Häuser eingebettet sind, bleibt erhalten und wird neu gestaltet. Route des Romelles 1 – 25, Bellevue Bauherrschaft: Allianz Suisse Immobilier, Lausanne Architektur: Favre & Guth, Genf Totalunternehmer: Perret, Satigny Vermarktung: Comptoir Immobilier, Genf Kosten: Fr. 200 Mio. 31 Hauptsitz Lombard Odier, 2023 Der neue Hauptsitz für die Privatbank Lombard Odier liegt in Bellevue in der Nähe des botanischen Gartens und der Hauptsitze vieler internationaler Organisationen. Das Grundstück bietet einen Panoramablick über den See und auf den MontBlanc. Lombard Odier wünscht sich einen in jeglicher Hinsicht nachhaltigen Bau. Der Neubau besteht aus einem einzigen Gebäude, das weder ein Vorne noch ein Hinten hat. Darin werden zeitgemässe Arbeitswelten für 2600 Mitarbeitende eingerichtet. Ein Auditorium mit 600 Plätzen und ein Personalrestaurant vervollständigen das Programm. Route des Romelles, Bellevue Bauherrschaft: Lombard Odier, Genf Immobilienstrategie: SPG Intercity, Genf Architektur: Herzog & de Meuron, Basel Vermarktung: Comptoir Immobilier, Genf Visualisierung: © Herzog & de Meuron

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32 Grand-Puits, 2024 Die Überbauung Grand-Puits stösst die Tür auf zum grossen Entwicklungsprojekt für die Industriegebiete. Das Ziel ist, in diesem bereits mit Industrie besiedelten Gebiet eine neue Quartieridentität zu schaffen. Auf der Parzelle von HIAG Immobilien steht die alte Uhlmann-Eyraud-Fabrik, in den 1960er-Jahren eine der ersten Industriebauten in dieser Zone. Es geht darum, die Typologie und die architektonische Sprache jener Zeit zu überarbeiten: Sheddächer, u-förmiges Gebäude mit Hof, Laderampen, Fensterbänder, Transparenz und filigrane Struktur. Das Renovationsund Erweiterungsprojekt sieht vor, dieses Objekt an die industriellen Anforderungen von heute anzupassen und die überbaute Fläche zu verdoppeln. Die shedgedeckten Seitenflügel bleiben erhalten, beim hinteren Gebäudeteil spielen die Architekten mit der Tiefe, um die bebaute Zone zu verdichten. Zum Bahnhof hin vermittelt ein Vorplatz ein Gefühl des Ankommens. Der Aussenbereich wird aufgewertet und als Begegnungsraum nach Art eines Campus gestaltet. So formt ein vorderes Gebäude den Hof um, definiert die Wege neu und sorgt zugleich für grosse Durchlässigkeit. Chemin du Grand-Puits 28, Meyrin Bauherrschaft: HIAG, Genf Architektur: FdMP Architectes, Genf Auftragsart: Direktauftrag

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Der fernen Welt nah, der nahen Welt fern Städtebau und Verkehrspolitik bemühen sich, Genf besser mit der französischen Nachbarschaft zu vernetzen. Dass das nicht so einfach ist, liegt an der komplexen Geschichte. Text: Christophe Büchi

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Um die komplexen Beziehungen zwischen Stadt und Kanton Genf und der französischen Nachbarschaft zu verstehen, empfiehlt es sich, einen Blick auf die Landkarte zu werfen. Etwas springt einem sofort ins Auge: Die Topografie und die politische Karte passen überhaupt nicht aufeinander. Genf bildet eine Art schweizerischen Brückenkopf, der weitgehend von französischem Gebiet umgeben ist. Der Kanton teilt eine hundert Kilometer lange Grenze mit Frankreich, während die Landverbindung zur restlichen Schweiz lediglich vier Kilometer misst. Die Stadt Genf liegt am Rand eines Kessels, der im Nordwesten vom Jura und im Südosten von den Alpen begrenzt wird. Die Rhone durchquert diese Ebene in südwestlicher Richtung, zwängt sich durch eine Felsenenge und biegt dann nach Süden ab, um via Lyon dem Mittelmeer entgegenzufliessen. Fazit: Genf kehrt der Schweiz den Rücken zu und blickt Richtung Frankreich. Noch eigenartiger ist der Grenzverlauf: Das Genferland, le Genevois, wird von einer politischen Grenze zerteilt, deren Logik nicht ersichtlich ist. Nirgends reicht sie bis zur Krete der umgebenden Berg- und Hügelzüge. Vielmehr schlängelt sie sich im Slalom durch die Ebene, folgt mal einer Hauptstrasse, mal einem Gewässer und zerschneidet etwa die ursprüngliche Siedlung der Gemeinde Veyrier oder die europäische Atomforschungsanlage CERN. Davon wird das Dorf Soral zwar verschont, doch zwischen dem Dorf und der Grenze verbleibt lediglich ein schmaler Streifen Land, der gerade mal für einige Gemüsegärten ausreicht. Nicht umsonst hat der Westschweizer Publizist Alain Pichard einmal geschrieben, Genf besitze die absurdeste Grenze Europas. Im Grunde reicht das Genfer Umland weit in die französische Nachbarschaft hinein und schliesst französische Gemeinden wie Saint-Julien oder Annemasse mit ein ; bei

grosszügiger Betrachtung könnte man sogar das hochsavoyische Städtchen Annecy am gleichnamigen See zur Region Genf zählen. Genfs Land umfasst also nur einen Teil des Genferlands. Die politische Grenze trennt, was eigentlich zusammengehört. Oder bildlich gesprochen: Die Agglomeration Genf ist in ein Korsett geschnürt, das sie beim Atmen behindert. Die städtebaulichen und verkehrspolitischen Bemühungen der letzten Jahrzehnte sind ein einziger grosser Versuch, dieses Korsett abzulegen oder zumindest zu lockern und Genf besser mit der französischen Nachbarschaft zu vernetzen. Geschichte einer Entfremdung Bei diesen Bemühungen kommt den Genfern aber immer wieder ihre Vergangenheit in die Quere, die zu einem guten Teil die Geschichte einer kontinuierlichen Entfremdung zwischen der Stadt Genf und ihrer Umgebung ist. Die Cité am Ausfluss der Rhone aus dem Lac Léman war ursprünglich das Zentrum einer Region, die aus heutzutage genferischen, französischen und waadtländischen Besitzungen bestand. Das Bistum, über das im Mittelalter der Genfer Bischof als geistlicher und teilweise auch als weltlicher Fürst herrschte, erstreckte sich in westlicher Richtung bis nach Annecy. Nach und nach brachten die Grafen und später die Herzöge von Savoyen ( die sich später Könige von Sardinien nennen durften ) einen Grossteil der Region unter ihre Kontrolle. Dabei versuchten sie auch, sich in Genf festzusetzen, und die Bischofsstadt mit ihrer dynamischen Bürgerschaft musste um ihre Autonomie fürchten. Die Reformation 1536 war eine Zäsur in der Genfer Geschichte. Genfs reformfreundliche Partei, deren Anhänger als ‹ Eidguenots › bezeichnet wurden ( woraus der Ausdruck ‹ Hugenotten › hervorging ), gewann die Oberhand, schaffte die Messe ab und vertrieb den mit Savoyen sympathisierenden Bischof. Der französische Reformator Jean Calvin krempelte den Stadtstaat zu einer reformierten Theokratie um. Genf entwickelte sich zum ‹ protestantischen →

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Blick auf die Überbauung Pont-Rouge von Pont 12 Architectes und das Entwicklungsgebiet Praille-Acacias-Vernets ( PAV ). Themenheft von Hochparterre, August 2021 — Der Anfang einer Geschichte — Der fernen Welt nah, der nahen Welt fern

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In einer verglasten Brücke überquert die CEVA die Arve.

rer sich bemühen, den Kindern Sympathie für andere Kulturen zu vermitteln, wird ihnen gleichzeitig der Schrecken vor den bösen Savoyards eingeimpft. Natürlich sollte man solche Erzählungen nicht überbewerten ; wohlmeinende Lehrkräfte geben sich alle Mühe, den Kindern zu erklären, dass das alte Geschichten seien. Aber Spuren hinterlässt das patriotische Narrativ doch. So erzählte mir ein Genfer Bekannter, er sei mit seiner kleinen Tochter beinahe von einem Auto mit französischem Nummernschild umgefahren worden. Im Schreck habe das Mädchen ihn gefragt: « War das ein Savoyard ? » Die Beziehungen zum savoyischen Nachbarn normalisierten sich nach und nach. In der Folge wurde Frankreich zur Hauptgefahr für Genfs Unabhängigkeit. 1601 war das nördlich von Genf gelegene Pays de Gex zum Königreich Frankreich gekommen, und der reformierte Stadtstaat erhielt einen neuen, höchst unbequemen und mächtigen Nachbarn. Nach der Französischen Revolution kam die Katastrophe: 1793 okkupierten französische Truppen sowohl Genf als auch das Königreich Sardinien-SavoyEscalade und französische Okkupation en. Die vormalige Cité de Calvin wurde zum Hauptort des Nach der Reformation versuchten die Herzöge von Sa- französischen Département du Léman, das einen Grossvoyen noch einige Male, sich den stacheligen Stadtstaat teil der Region umfasste. Damit war die Einheit zwischen Genf einzuverleiben. Ein letzter Versuch wurde im Dezem- der Stadt Genf und ihrer Umgebung zwar wiederhergeber 1602 unternommen, von den Genfern jedoch abge- stellt, aber zu einem denkbar hohen Preis: der Degradieschmettert. Der Legende nach soll eine Genfer Matrone rung Genfs zur französischen Provinzstadt. mit dem unrepublikanischen Namen Mère Royaume einen Topf mit heisser Gemüsesuppe über die auf Leitern an der Genf wird eidgenössisch Stadtmauer hochkraxelnden Savoyer – grösstenteils itaNach dem Sturz Napoleons folgte ein weiterer epolienische Söldner – geleert und damit das Signal zur Ab- chaler Einschnitt: Am Wiener Kongress 1815 wurde der wehr gegeben haben. Die sogenannte Escalade wird bis Beitritt Genfs zur Eidgenossenschaft beschlossen. Die heute mit einem riesigen Volksfest am 12. Dezember ge- Helvetisierung ging mit einer Ausweitung des Genfer Terfeiert. Zu diesem Anlass wird auch die Genfer Hymne mit ritoriums einher: Dem neuen Kanton Genf wurden eininicht weniger als 68 Strophen gesungen, die in lokalem ge französische Gemeinden am rechten See- und RhonePatois das heroische Geschehen rapportieren. So lernt ufer zugesprochen, etwa Versoix. Mit diesem zwischen auch heute noch jedes Genfer Schulkind, wie die Genfer Genf und Nyon gelegenen Städtchen erhielt der Kanton die Savoyer besiegt haben – während Lehrerinnen und Leh- einen Landkorridor zur Waadt. Mitunter aus militärstra-

→ Rom › und zu einer kleinen, aber feinen Weltstadt, deren Ruf und Einfluss nach ganz Europa ausstrahlte. Die Stadt wurde zu einem Zufluchtsort für Tausende von verfolgten Protestanten aus Frankreich, Italien und anderen Ländern. Die Reformation veränderte Genfs Verhältnis zu seiner Nachbarschaft grundlegend. Die stolze Republik Genf verschanzte sich hinter Festungsmauern und riegelte sich von der katholisch gebliebenen Umgebung ab. Sie war jetzt ein Bollwerk, das ganz von savoyischem Gebiet umgeben war, mit dem sie nichts mehr zu tun haben wollte und das sie als Bedrohung empfand. Die Nachbarn waren sich fremd geworden. Mit der Reformation begann aber auch die Öffnung Genfs und der ‹ esprit de Genève ›, der eines Tages zum Roten Kreuz, zum Genfer Völkerrechtsabkommen, zur Völkerbunds- und zur UNO-Stadt Genf führen würde. Und es entstand jenes Paradox, das die Geschicke dieses Stadtstaats bis heute bestimmt: Genf steht der fernen Welt nah und der nahen Welt fern.

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tegischen Gründen wollte man eine Landverbindung zur Schweiz sicherstellen. Zudem wurde Genf zwecks Arrondierung seines Territoriums eine Reihe von savoyischen Gemeinden am linken Ufer zugesprochen, etwa das Städtchen Carouge, das vom König von Sardinien neu errichtet worden war, um die Genfer zu ärgern. Insgesamt wurde die Erweiterung des Kantonsgebiets zurückhaltend betrieben, nicht zuletzt, weil die reformierten Genfer nicht zu viele katholische Einwohner aufnehmen wollten. So entstand die eigenartige Grenze, die die Region zerschneidet. Die Folgen der Jahre 1815 / 16 waren tiefgreifend. Genf verlor seine exklusiv reformierte Identität und wurde zu einem konfessionell gemischten Gebiet. Der Kanton war kein Stadtstaat mehr ; er zählt seither 45 Gemeinden. Und Genf war nicht länger eine von Feinden umgebene Enklave, sondern der Westzipfel der Schweiz. Das Verhältnis zur französischen Nachbarschaft blieb distanziert. Durch die Hinwendung zur Schweiz wurde Genf seinem Umland gar noch mehr entfremdet. Die rasante Industrialisierung im 19. Jahrhundert führte in der Calvin-Stadt, die keine mehr war, zu einer starken Zuwanderung vor allem aus katholischen Kantonen wie Wallis, Freiburg und Luzern. Mit der Schaffung des Bundesstaats 1848 wurde der inzwischen freisinnig dominierte Kanton zusätzlich helvetisiert: Genf blickte jetzt nach Osten. 1860 wurde Savoyen von Frankreich annektiert. Das hatte auch für den Kanton Genf gravierende Folgen, der jetzt nicht mehr zwei, sondern nur noch einen einzigen mächtigen Nachbarn hatte, nämlich Frankreich. Um diesen Anschluss für die Savoyer und die Genfer etwas erträglicher zu machen, wurde ein Teil von Hochsavoyen und des Pays de Gex zu Freizonen erklärt. Das sollte den wirtschaftlichen Verkehr erleichtern. Französische Bauern konnten ihre Güter zollfrei nach Genf bringen ; umgekehrt eröffnete die Genfer Industrie in den ‹ zones franches › etliche Niederlassungen, um der Platznot in der Stadt zu entgehen. So entwickelte sich beispielsweise das savoyische Bauerndorf Annemasse zu einem periurbanen Industrieort. Das führte nach und nach zu einem regen Pendlerverkehr von Genf in Richtung Frankreich. Als Frankreich die Freizonen am Ende des Ersten Weltkriegs weitgehend aufhob, versiegte dieser Grenzgängerstrom. Die rasante Entwicklung der internationalen Stadt Genf und ihres Finanzplatzes kehrte die Verhältnisse in den vergangenen Jahrzehnten um: Heute pendeln mehr als 80 000 Grenzgängerinnen und Grenzgänger täglich von Frankreich nach Genf. Verzahnung ohne Annäherung Der wirtschaftliche und demografische Austausch hat sich in den letzten Jahrzehnten beschleunigt: Gross-Genf, la Grande Genève, ist längst zu einer transnationalen Agglomeration geworden. Verbesserte Verkehrswege und der Autoboom führten zu einem Anschwellen des Grenzverkehrs in beide Richtungen. Die Franzosen fahren nach Genf, um zu arbeiten ; die Genfer fahren nach Frankreich, um einzukaufen, Ski zu fahren oder zu wandern. Eine UrGenferin aus meinem Bekanntenkreis bringt es auf den Punkt: « Ohne das französische Umland würden wir ersticken. Es ist alles so beengt. Selbst unser Hausberg, der Salève, liegt auf französischem Boden. » Mehr und mehr wandern die Genferinnen und Genfer auch in die französische Nachbarschaft aus, um sich dort niederzulassen und von den tieferen Miet- und Bodenpreisen zu profitieren. Diese Verzahnung hat aber nur beschränkt zu einer geistigen Annäherung geführt. Die Differenzen zwischen den Genfern und ihren Nachbarn bestehen weiterhin. Zwar spielen die konfessionellen Unterschiede, die einst so wichtig waren, nicht mehr die gleiche Rolle wie frü-

her. Aber die Genfer und die Franzosen unterscheiden sich auch heute noch grundlegend – nicht zuletzt in der Art der Kommunikation. Sie sprechen zwar, oberflächlich betrachtet, die gleiche Sprache. Deren Gebrauch, der Sprachrhythmus, der Akzent, das Sprechtempo sind aber grundverschieden. Die Sprachbarriere ist fast so hoch wie zwischen Deutschschweizern und Deutschen. Pointiert gesagt: Genfer und Franzosen sind durch ihre gemeinsame Sprache getrennt. Auch die Unterschiede in der politischen Kultur sind zwischen Frankreich und Genf, ja der ganzen Westschweiz, nach wie vor riesig und gestalten den Dialog und erst recht die regionale Zusammenarbeit trotz gutem Willen sehr schwierig. Genfer Malaise Natürlich gibt es durchaus gut und ernst gemeinte Versuche, zusammenzuarbeiten und sich menschlich näherzukommen. Am Festival de la Bâtie, einem grossen Fest der Genfer Alternativkultur, sind Künstlerinnen und Künstler von beidseits der Grenze beteiligt. Auch die zahlreichen Institutionen, die sich mit regionalen Kooperationen beschäftigen, sind ein Zeichen dafür, dass man die Zukunft gemeinsam meistern will. Aber die alten Trennungen bleiben bestehen – und neue kommen dazu. Die enorme wirtschaftliche Entwicklung Genfs seit dem Zweiten Weltkrieg hat die Wohlstandskluft zwischen der reichen Kernstadt und der weniger reichen Region noch vertieft, auch wenn das französische Umland sich ebenfalls stark entwickelt hat. Die französischen Gemeinden rund um Genf bilden nicht etwa einen Speckgürtel, sondern eher einen populären Vorhof der Kernstadt. Das soziale Gefälle verstärkt das gegenseitige Misstrauen. Viele Genfer schauen auf ihre weniger begüterten Nachbarn hinab und fürchten sich vor Kleinkriminellen aus den plebejischen Banlieues von Annemasse. Das Unbehagen findet seinen schrillen Ausdruck in der Grenzgängerpolemik gewisser Genfer Parteien. Die Genfer betrachten die Menschen aus der französischen Nachbarschaft zwar nicht mehr wie einst die Savoyards, die ihre Unabhängigkeit bedrohten. Aber Sympathie für die ‹ cousins › jenseits der Grenze ist im Allgemeinen wenig zu spüren. In den französischen Gemeinden wiederum regt sich Unmut über die reichen Genfer, die die Grundstückspreise und die Mieten in die Höhe treiben. Die kommenden Jahre werden zeigen, ob Infrastrukturanlagen wie die CEVA dazu beizutragen können, das gegenseitige Missbehagen zu mindern. Wird wieder zusammenwachsen, was einst zusammengehörte ? Dass bei der Eröffnung der CEVA im Dezember 2019 Frankreichs Eisenbahner gerade wieder einmal streikten und die zur Feier angereisten Schweizer Behördenvertreter weitgehend unter sich blieben, mahnt vor übertriebenen Hoffnungen. Und die Corona-Pandemie zeigt, dass ein entgrenztes Europa und eine geeinte Grande Genève in weiter Ferne liegen. Es bleibt ein schwieriges Unterfangen, Barrieren zu überwinden, die im Lauf einer fünf Jahrhunderte alten Geschichte errichtet wurden.

In Erinnerung an Philippe Gardaz ( 1947 – 2018 ), einen feinen Kenner kantonaler Vielfalt. Der Journalist und Buchautor Christophe Büchi war von 2001 bis 2014 Westschweiz-Korrespondent der NZZ. Seither ist er als freier Publizist tätig. Er lebt in Lausanne und Champéry VS.

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Projektbeschleuniger Die ganze Region profitiert von der Erschliessung durch den Léman Express. Die umliegenden Wohn- und Arbeitsgebiete rücken in den Fokus zahlreicher Entwicklungen. Text: Hervé Froidevaux, Julien Thiney Grafiken: Wüest Partner

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niedergelassen und pendeln täglich über die Grenze. Schätzungen zufolge haben die täglichen Grenzübertritte in Genf zwischen 2001 und 2011 um zwanzig Prozent zugenommen. Das alles schlägt sich auch in der demografiVor zwei Jahren dauerte die Fahrt von Annemasse nach schen Entwicklung nieder: Das jährliche BevölkerungsEaux-Vives in Genf noch rund dreissig Minuten. Unter- wachstum in Annemasse lag in den letzten zehn Jahren schiedliche Verkehrsmittel und eine Grenze trennten die bei 1,8 %. Laut dem französischen Statistikamt Insee ist beiden Gebiete, die nur gerade 1,5 Kilometer voneinander die Haute- Savoie das am schnellsten wachsende Départeentfernt liegen. Die Inbetriebnahme des Léman Express – ment in Kontinentalfrankreich. das Vorzeigeprojekt des Grossraums Genf – öffnete die Tür zu einer einfacheren und umweltfreundlicheren MobiKonsequenzen für den Immobilienmarkt lität der Zukunft. Heute sind die Bahnhöfe von Annemasse Diese Dynamik beeinflusst auch den Immobilienund Eaux-Vives über eine unterirdische Bahnstrecke, über markt. Die Aussicht auf den Léman Express hat schon lander Fuss- und Velowege ( ‹ voies vertes › ) angelegt wurden, in ge vor seiner Inbetriebnahme zu einer Beschleunigung von weniger als zehn Minuten miteinander verbunden. Für die Bauprojekten geführt. In Frankreich reagierten etliche Inlokale Bevölkerung und die angrenzenden Gebiete kommt vestoren schon sehr früh auf die zukünftig verbesserte das einer Revolution gleich. Die gesamte Region profitiert Mobilität – insbesondere in Annemasse, wo der Wohnungsvon der deutlich besseren Erschliessung. Durch die kür- bestand in den letzten zehn Jahren um 2,1 % zugenommen zeren Reisezeiten gewinnen die umliegenden Wohn- und hat. Dieser Trend setzte sich in den Jahren vor der InbeArbeitsgebiete an Attraktivität und rücken damit in den triebnahme des Léman Express fort: 2018 wurden in AnneFokus zahlreicher Entwicklungen. Verkehrsnetze stärken masse Bauprojekte in einem Umfang von nicht weniger aber nicht nur das Gewicht gewisser Sektoren im territo- als 4,1 % des gesamten städtischen Wohnungsbestands rialen Gefüge. Mit ihren Bahnhöfen schaffen sie punktuell genehmigt, mit Grossprojekten im Zentrum. Die Kräne, auch neue Zentren mit hohen Passagierströmen: Auf dem die überall in der französischen Landschaft zu sehen sind, Netz des Léman Express verkehrten bis zum Beginn der veranschaulichen die rege Bautätigkeit, die durch eine Corona-Krise täglich nicht weniger als 45 000 Reisende. grosse Verfügbarkeit von Bauland ermöglicht wird. Das wachsende Angebot hat während einiger Zeit für Die Zugangspunkte zum Verkehrsnetz werden zu Orten, die ebenso intensiv genutzt werden wie die Stadt, und ihre eine Stabilisierung der Preise von Eigentumswohnungen Planung ist ein wichtiges Element beim Bau der nachhal- gesorgt. In den letzten zehn Jahren sind diese um ledigtigen Stadt von morgen. Solche Mikrosituationen werden lich 16,1 % gestiegen. Mit der Inbetriebnahme des Léman Express sind sie nun aber deutlich nach oben gegangen: auf dem Immobilienmarkt deutlich attraktiver. zwischen 2019 und 2021 um 7,3 %. Auf Schweizer Seite waren die Auswirkungen des Léman Express auf den ImmoZwei ungleiche Gebiete Die Auswirkungen auf den Immobilienmarkt sind umso bilienbereich moderater: In Eaux-Vives erhöhten sich die interessanter, als der Léman Express zwischen zwei Ge- Preise um 0,6 %. In diesem dichter bebauten Gebiet wabieten verkehrt, die höchst ungleich sind. Die Region ren die Baumöglichkeiten stark von der Realisierung der Genf, die wegen ihres Lohnniveaus, der hohen Lebens- Bahnhöfe und von den umliegenden Quartieren abhängig. qualität und ihres Wohlstands beliebt ist, zieht zahlrei- Die Unterschiede zu Frankreich sind nach wie vor gross, che Erwerbstätige an. 2015, als der Léman Express bei obwohl die Preise dort leicht gestiegen sind: 2020 kostete den Nutzerinnen und Nutzern noch kein Thema war, be- eine Eigentumswohnung in Eaux-Vives 15 200 Franken pro lief sich das Bruttomedianeinkommen in Eaux-Vives auf Quadratmeter, in Annemasse 4100 Franken pro Quadrat79 000 Franken, während es im französischen Annemasse meter. Aufgrund der guten Anbindung der französischen 25 000 Franken betrug. Wohnraum für diese Arbeitskräfte Gemeinden und der flexibleren Darlehensbedingungen zu bieten, ist in der Schweiz mit ihrem nach wie vor gesät- als in der Schweiz ist zu erwarten, dass die Preise weiter tigten Immobilienmarkt und den hohen Preisen ungleich steigen, was eine gewisse Gentrifizierung nach sich zieschwieriger als in Frankreich, wo die Lebenskosten tie- hen wird. Dass der Léman Express zu einem umfassenden fer und das Wohnungsangebot erschwinglicher ist. 2018, Ausgleich des Immobilienmarkts führen wird, ist indes nur kurz vor Inbetriebnahme der neuen Linien, belief sich schwer vorstellbar. Erhebliche administrative und reguder Preis für eine Eigentumswohnung auf 3600 Franken latorische Grenzen werden den Immobilienmarkt weiterpro Quadratmeter in Annemasse und auf 15 100 Franken hin einschränken und die Durchlässigkeit und die Mobilipro Quadratmeter in Eaux-Vives. Der Leerwohnungsbe- tät zwischen Frankreich und der Schweiz beeinträchtigen. stand lag in Annemasse bei 7,5 %, derjenige in Eaux-Vives Die vorübergehende Schliessung der Grenze im Zusambei 0,7 %. Viele Erwerbstätige haben sich in Frankreich menhang mit der Pandemie 2020 hat das klar gezeigt.

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Karte der Immobilienpreise Wohnungspreise Fr. pro m2 2.0 % Nyon: Fr. 10 100.— 2.0 % 1.5 % Genf: Fr. 14 800.—

weniger als 1000 von 1000 bis 1500 von 1500 bis 2000 von 2000 bis 2500 von 2500 bis 3000 von 3000 bis 3500 von 3500 bis 4000 von 4000 bis 4500 von 4500 bis 5000 mehr als 5000

Annemasse: Fr. 4100.—

1.5 % 1.0 % 1.0 % 0.5 % 0.5 % 0.0 % 0.0 %

Annemasse

Eaux-Vives

Annemasse Eaux-Vives Annecy: Fr. 5600.—

Quellen: Bon de Visite, Wüest Partner, Swisstopo

Eaux-Vives: Fr. 15 200.—

Jährliches Bruttomedianeinkommen in Franken ( 2015 ) 90 000

Durchschnittliches jährliches Bevölkerungswachstum in den letzten zehn Jahren

80 90 000 000 70 000 80 000

2.0 %

60 70 000 000 50 60 000 000

1.5 %

40 50 000 000 30 40 000 000

1.0 %

20 000 30 000 10 000 20 000

0.5 %

0 10 000 0

Annemasse

Eaux-Vives

Annemasse

Eaux-Vives

0.0 %

Annemasse

Eaux-Vives

Annemasse

Eaux-Vives

Anteil bewilligte Wohnbauprojekte ( 2018 ) ( bezogen auf den Wohnungsbestand ) 5.0 % 5.0 % 4.0 %

90 000

4.0 % 3.0 %

80 000

3.0 % 2.0 %

60 000

2.0 % 1.0 %

40 000

1.0 % 0.0 %

20 000

0.0 %

70 000 50 000 30 000

Annemasse

Eaux-Vives

Annemasse

Eaux-Vives

Zentralität und Nutzungsmix Der Léman Express ist nicht nur ein Projektbeschleuniger, sondern gibt auch Anlass, über die städtische Struktur nachzudenken und auf die Ziele einer nachhaltigen Entwicklung zu reagieren. Etliche Gebiete haben an Attraktivität gewonnen. Das bietet die Chance, eine dichte Stadt zu planen und die Entwicklung von Projekten zu fördern, bei denen der Nutzungsmix und die Lebensqualität im städtischen Umfeld im Fokus stehen. In einigen Jahren wird mit der Erweiterung des Bahnhofs Cornavin und seines Vorplatzes ein strategischer Punkt mitten in Genf neu gestaltet. Vorderhand profitieren vor allem die Bahnhöfe Lancy-Pont-Rouge, Lancy-Bachet und Eaux-Vives von dieser Dynamik der Stadterneuerung. Das Grossprojekt Praille-Acacias-Vernets zwischen Lancy-Bachet und LancyPont-Rouge wird mehr als 10 000 Wohnungen umfassen, ergänzt durch Flächen für Freizeit, Verwaltung, Handel, Gewerbe und Logistik. Hinzu kommen neue Grünräume und Fusswege, die die sanfte Mobilität fördern und das Leben in der Stadt attraktiver machen sollen. Der geplante Sektor Étoile gilt schon heute als künftiges Stadtzent-

10 000 0

rum von Genf ; renommierte internationale Unternehmen lassen sich bereits dort nieder. In Richtung Annemasse ist das Projekt O’Vives, das an den Neubau der Nouvelle Comédie und ihren zentralen Platz anschliesst, ein Parade5.0das % Zentralität und Nutzungsbeispiel für ein Quartier, mix verbindet. Über dem Bahnhof von Eaux-Vives umfasst 4.0 % es knapp 6000 Quadratmeter Büro- und Geschäftsflächen sowie 88 Wohnungen. 3.0 % Diese neuen zentralen Orte mit Nutzungsmix treiben die Preise für Verkaufs- und Büroflächen in die Höhe. 2.0 % Rund um den Bahnhof Lancy-Pont-Rouge liegen sie bei fast 500 Franken pro Qua dratmeter pro Jahr, während 1.0 % die meisten neuen Grossflächen im Kanton weniger als 400 Franken pro Quadrat meter pro Jahr kosten. Ob die mit 0.0 % Annemasse Eaux-Vives Einkaufen und Freizeit verbundenen Mobilitätsströme mit diesem Nutzungsmix begrenzt werden können, ist fraglich. Der Léman Express vereinfacht das Reisen zwischen zwei Ländern mit grossen wirtschaftlichen Unterschieden. Eine umsichtige Planung der zentralen Sektoren des Grossraums Genf ist daher eine der grossen Herausforderungen bei der Erneuerung des Immobilienangebots.

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Vom Rösslitram zum Léman Express Der Léman Express hat seinen Ursprung im 19. Jahrhundert. Nach Jahrzehnten in der Schublade brachte erst der schiere Kollaps der Stadt Genf neuen Schwung in das Projekt. Text: Dr. Christophe Vuilleumier

Der Historiker Christophe Vuilleumier publiziert hauptsächlich über das 17. und 20. Jahrhundert. Er ist Autor das Buchs ‹ Chêne-Bourg. Entre passé et avenir › ( Slatkine, Genf 2019 ). Mit Gérard Duc veröffentlichte er eine Geschichte der CEVA: ‹ Du CEVA au Léman Express. Le chantier du siècle › ( Slatkine, Genf 2020 ).

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Bis eine Verbindung zwischen der Schweiz und dem savoyischen Chablais im benachbarten Frankreich – seit Jahrhunderten ein natürliches Einzugsgebiet von Genf – hergestellt war, dauerte es 169 Jahre. Die Idee geisterte bereits seit den 1850er-Jahren herum und wurde 1876 mit einem Rösslitram erstmals umgesetzt, das zwischen dem kleinen Bahnhof Eaux-Vives im Herzen der Calvin-Stadt und Moillesulaz am Tor zur Schweiz verkehrte. Bald einmal wurden die Pferde durch Dampftrams ersetzt. 1888 wurde die Tramlinie bis zur französischen Stadt Annemasse verlängert und 1896 schliesslich elektrifiziert. Diese erste Linie am linken Ufer der Stadt war aber nicht an den Bahnhof Cornavin am rechten Seeufer angeschlossen, der 1858 gebaut worden war und Genf mit Lyon und der restlichen Schweiz verband. Damit blieb der Eisenbahnverkehr nach Genf von der Tonkin-Linie im Süden des Genfersees abgeschnitten, die zwischen 1857 und 1886 von der ‹ Compagnie française des chemins de fer de Paris à Lyon et à la Méditerranée › realisiert worden war und über Le Bouveret ins Wallis führte. Genf war zu einem Sackbahnhof geworden: Alle Gleise endeten vor einem Prellbock. Vervollständigung der Bahnlinie Es folgten mehrere Projekte, die diese Lücke schliessen sollten. In einer Zeit, in der die Eisenbahn nicht nur ein wichtiges Wirtschaftsgut war, sondern auch eine zentrale militärstrategische Rolle für den Truppentransport spielte, wurden etliche Szenarien entwickelt, die neue Bahnhöfe und Ingenieurbauten umfassten. Doch erst 1907, als die französischen Behörden das Projekt eines Mont-Blanc-Eisenbahntunnels aufgaben, kam die Schweiz zur Überzeugung, dass der Col de la Faucille im Jura eine valable Alternative für den Zugang zum Simplon sein könnte. 1909 wurde ein französisch-schweizerisches Abkommen unterzeichnet, das drei Jahre später zum Vertrag vom 7. Mai 1912 zwischen der Eidgenossenschaft und dem Kanton Genf führte. Dieser Vertrag versprach den Bau einer Verbindungsstrecke zwischen den Bahnhöfen Cornavin und Eaux-Vives und damit die Vervollständigung der Bahnlinie westlich des Genfersees. Die SBB verpflichteten sich, ein Drittel der Kosten zu übernehmen, je ein Drittel sollten der Bund und der Kanton Genf beisteuern. Dringender Handlungsbedarf Zwei Weltkriege und die rasante Verbreitung des Automobils führten dazu, dass das Bahnprojekt für Jahrzehnte in der Schublade verschwand. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts kam es wieder auf den Tisch. Die zunehmende Verstädterung, das exponentielle Wachstum des Autoverkehrs und die immer grösser werdende Zahl der Arbeits-

kräfte, die von ausserhalb des Kantons nach Genf pendelten, hatten die Stadt an den Rand des Erstickungstodes gebracht. Die Mobilität musste dringend überdacht werden. Bei diesen Überlegungen stand zunächst vor allem das Tram im Fokus: ein Verkehrsmittel, das in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend vernachlässigt worden war. Nun konzentrierte sich die Planung des öffentlichen Verkehrs ganz auf den Bau neuer Tramlinien zur Erschliessung des Kantons. Die Idee einer Bahnverbindung über den Süden des Genfersees schien in Vergessenheit geraten zu sein – untergegangen in einer Flut von Gutachten und Berichten, in denen sich öffentliches Interesse, regionale Begehren und widersprüchliche ideologische Grundsätze unentwirrbar miteinander vermischten. Hinzu kam die grenzüberschreitende Dimension des Vorhabens, die diese schwierige Ausgangslage noch komplizierter machte. Der Verein Alprail brachte 1993 die Wende: Er hatte den Vertrag von 1912 ausgegraben und sorgte dafür, dass erneut über eine mögliche Eisenbahnverbindung diskutiert wurde. Das Szenario überzeugte nach und nach sowohl die Vertreterinnen und Vertreter der verschiedenen politischen Parteien als auch die französischen Regionalbehörden – und Robert Cramer, der 1997 zum neuen Genfer Staatsrat gewählt wurde. Das Projekt mit dem Namen ‹ CEVA – Cornavin – Eaux-Vives – Annemasse › profitierte von der Dynamik des 2004 erarbeiteten Agglomerationsprojekts und setzte sich bei den Genfer Entscheidungsträgern durch, noch bevor es vom Bundesrat, den SBB und der französischen Regierung in Paris angenommen wurde. Die Geburt des Léman Express Am 20. September 2005 fand der Spatenstich zur ersten Etappe des Projekts statt. Zahlreiche Persönlichkeiten aus der Politik waren anwesend, etwa die Zürcher Regierungsrätin Rita Fuhrer und ihr Tessiner Amtskollege Marco Borradori, die damit die im Jahr zuvor geschlossene Allianz zwischen den drei Kantonen zur Umsetzung ihrer jeweiligen Bahnprojekte bekräftigten. Sechs Jahre später, am 15. November 2011, wurde im Beisein von Bundesrätin Doris Leuthard die zweite Etappe lanciert, die zur Fertigstellung des Projekts CEVA und zur Geburt einer neuen Bahnlinie – des Léman Express – führen sollte. Die neue Strecke wurde am 12. Dezember 2019 in Betrieb genommen. Sie umfasst 14 Kilometer Gleise auf Schweizer Boden, fünf neue Bahnhöfe – vier davon unterirdisch siehe Seite 8 –, zweieinhalb Kilometer Tunnel, 3,6 Kilometer überdeckte Einschnitte, auf denen ein Fuss- und Velowegnetz ( ‹ voies vertes › ) angelegt wurde, und rund 600 neu gepflanzte Bäume. Ein Jahr danach sind die Auswirkungen dieser Revolution allerdings noch kaum abzuschätzen, da die Monate nach der Einweihung des Léman Express von einer historischen Pandemie geprägt waren, die die Gesellschaft lähmte und die jede statistische Beobachtung verfälscht.

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Am Bahnhof Lancy-Bachet beginnt der unterirdische Abschnitt der CEVA. Themenheft von Hochparterre, August 2021 — Der Anfang einer Geschichte — Vom Rösslitram zum Léman Express

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Der Anfang einer Geschichte Im Dezember 2019 konnte in Genf die Bahnlinie Cornavin – Eaux-Vives – Annemasse ( CEVA ) eröffnet werden. Für die Autostadt Genf ist das ein Meilenstein in der Entwicklung des öffentlichen Verkehrs. Die CEVA schliesst eine Lücke, die die verschiedenen Bahnlinien zu einem Netz verflechtet: dem Léman Express. Genf steht nun am Anfang einer Geschichte. In zwanzig, dreissig Jahren werden sich les Genevoises und les Genevois die Augen reiben, wie der Léman Express ihr Lebensumfeld verändert und geprägt hat. Dieses Heft besucht die neue Bahnlinie und ihre Bahnhöfe, es zeichnet die Geschichte nach, und es stellt erste Bauten und Projekte vor, die eine direkte Folge der CEVA sind.

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Hochparterre X / 18 — Titel Artikel


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