Neue Wohnformen

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Neue Wohnformen Auf dem Land und in der Agglo ist innovativer Wohnungsbau rar. Fünf Projekte zeigen, dass man auch ausserhalb der Stadt gemeinschaftlich und nachhaltig wohnen kann. Themenheft von Hochparterre, September 2022

32 Die harzige Umsetzung eines Traums Selbstversorgendes Wohnen im Emmental.

Produktion Linda

Wohnstatt bei

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und

Themenheft von Hochparterre, September 2022 Neue Wohnformen Inhalt2

88, www.hochparterre.ch, verlag @

5 Von der ‹ Schauburg › zum Sprungbrett Die wichtigsten Fakten zum Förderprojekt. « Wenn Gemeinden Vertrauen fassen, ist viel gewonnen » Drei Wohnbauexpertinnen aus der Jury im Gespräch. Spuren aus dem Neudorf Rettung einer Arbeitersiedlung in Flums.

Impressum Verlag Hochparterre AG Adressen Ausstellungsstrasse 25, CH 8005 Zürich, Telefon + 41 44 444 28 hochparterre.ch, Susanne Arx Simon Direction Layout Antje Reineck Malzacher Korrektorat Dominik Süess Lithografie Team media, Gurtnellen Druck Stämpfli AG, Bern Fr. 15.—, € 12.— oder kostenlos als E-Paper Post heute und Genossenschaft Bern und im Neudorf in Flums.

Konzept und Redaktion Axel

Fotos Umschlag:

von

Fotografie Markus Frietsch, www.markusfrietsch.com Art

früher –Briefkästen der

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14 Selbstbau in der Grauzone Hallenleben in der Agglomeration von Zürich. Genau so ! Ein Selbstbauhof vor den Toren von Bern. Die in der Welt von morgen wohnen Clusterwohnen in einer alten Scheune in der Waadt.

38 « Die Mieterinnen erhielten Mitb estimmungsrechte » Ein Gespräch zwischen alten und neuen Pionieren. Inhalt Ein Sprungbrett für den Wohnungsbau « Ein Stück Aufklärungs architektur » nannte Bene dikt Lo derer 1989 in Hochparterre die ‹ Schauburg ›, eine Siedlung im damaligen Dörfchen Hünenberg nahe Zug, entworfen von Metron und Büro Z: holzverschalte Reihenhäuser zum Preis einer Geschosswohnung, mit viel Mitbestim mung durch die Mieterschaft und hohem ökologischen Anspruch. Acht junge Erbinnen der Besitzerfamilien von Landis & Gyr hatten die gemeinnützige ProMiet AG ge gründet. Dreissig Jahre später verkauften sie die Siedlung an die Wogeno Luzern. Mit dem Ertrag wollten sie weiter hin Gutes tun und schufen das Programm ‹ Sprungbrett Wohnungsbau ›, das Projekte im ländlichen Raum o der in der Agglomeration fördert. Eine namhafte Jury wählte fünf Projekte aus und vermittelte ihnen Coaches, denn statt Geld sollte bei dieser Förderung Wissen fliessen. Ganz im Sinne der Aufklärung. Die Mischung der Projekte ist so wild wie das Leben: von der Revitalisierung einer einstigen Arbeitersiedlung bis zur Planung einer Permakultursiedlung. Vom genos senschaftlichen Selbstbauhof über Clusterwohnen auf dem Dorf bis zum Leben in einer alten Industriehalle. Die Coachings liefen mal besser, mal schlechter. Abgeschlos sen ist noch keines der Projekte. Von all dem erzählen die Reportagen in diesem Heft, begleitet von den Bildern des Fotografen Markus Frietsch. Auch dieses Heft und die Veranstaltung in Bern am 15. September siehe Seite 5 sind Teil der Förderung und damit der Aufklärung. Denn sie tragen die Ideen und Erkennt nisse dieser fünf Wohnwelten in die Schweiz hinaus. Be nedikt Loderer hatte seinen Beitrag so geschlossen: « Wir hab en noch mehr ‹ Schauburgen › nötig. » Axel Simon Editorial

Herausgeber Hochparterre Bestellen shop.hochparterre.ch,

redaktion @ hochparterre.ch Geschäftsleitung Andres Herzog, Werner Huber, Agnes Schmid Verlagsleiterin

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Eine Scheune in der Waadt wird zum Wohncluster.

In alten Industriehallen spriessen neue Lebensformen.

Für den Bericht ‹ Impulse zur Innovation im Wohnungsbau ›

Gemeinsam mit den Planungsbüros Me tron und Bür o Z entwickelte die ProMiet AG die Siedlung Schauburg in Hünenberg bei Zug, damals noch ein Dorf. Sie hatte für damalige Verhältnisse hohe ökologische Ansprüche und günstige Mieten. Zum Preis einer Geschosswohnung konn te man in den holzverschalten Reihenhäusern wohnen, als ob sie einem gehörten. Zudem konnten die Mieterinnen mehr mitbestimmen als üblich. 1986 war der Bezug, 1996 wurde die Siedlung um ein Gebäude erweitert. 2013 ver kaufte die ProMiet AG die Siedlung Schauburg an die Wo geno Luzern. Der Netto erlös floss in das Projekt ‹ Sprung brett Wohnungsbau ›, um so innovativen Wohnungsbau weiterhin zu fördern. Innovation im Wohnungsbau

Sprungbrett Wohnungsbau Das Förderprojekt ‹ Sprungbrett – Impuls e im Wohnungs bau › s ollte helfen, Hürden zu überwinden. Ausgewählten Wohnprojekten stellte es eine Zeitlang Coaches zur Sei te, die sie mit ihrem Wissen und ihren Kontakten unter stützten. Vor allem Vorhaben im ländlichen Raum und in den Agglomerationen sollte das ‹ Sprungbrett › för dern schliesslich war auch die ‹ Schauburg › nicht in Zürich oder in Basel entstanden. Einzelpersonen oder Gruppen konn ten sich über die Projektwebsite bewerben. Die interdis ziplinär zusammengesetzte Jury wählte in einer ersten Runde 2018 zwei und in einer zweiten Runde 2019 drei Projekte aus, die ein Coaching im Wert von 35 00 0 bis 50 000 Franken zugesprochen bekamen. Die drei in der Ausschreibung formulierten Kriterien: – Innovationspotenzial, Relevanz und Nachhaltigkeit – Potenzial bezüglich Signalwirkung und Ums etzbarkeit – baukulturelle Qualität Die Jury: – Anne Burri, Büro für soziale Arbeit, Basel ( 1. Runde ) – Gion A. Caminada, Architekt und Professor ETH, Vrin und Zürich – Marie Glaser, ETH Wohnforum, Zürich ( Juryleitung )

Veranstaltung am 15. Septemb er in Bern An der Abschlussveranstaltung zum ‹ Sprungbrett Wohnungsbau › nehmen teil: die Teams und Coaches der geförderten Projekte, ausserdem Andreas Hofer ( IBA 2027 Stuttgart ), Marie Glaser ( Bun desamt für Wohnungswesen ) und Barb ara Buser ( Denkstatt, Baubüro in situ ). Eine Ko operation von Hochparterre, ProMiet AG und ETH Wohnforum – ETH Case / ETH Zürich. Donnerstag, 15. September, 17.30 Uhr, anschliessend Apéro Progr, Zentrum für Kulturproduktion, Bern Die Teilnahme ist gratis, Anmeldung unter www.sprungbrett-wohnungsbau.ch

ProMiet AG Acht junge Erben der dritten Generation der Besitzerfamilien von Landis & Gyr gründeten 1983 die gemeinnüt zige ProMiet AG: Daniel Brunner, Ursula Brunner, Verena Brunner, Andrée Mijnssen, Christoph Mijnssen, Elisabeth Mijnssen, Nick Mijnssen, Pete Mijnssen. Ihr Ziel: günsti gen und mieterfreundlichen Wohnraum mit hohen sozia len und ökologischen Standards zu schaffen siehe Seite 38. Aktueller Verwaltungsrat der ProMiet AG: Beat Bachmann, Andrée Mijnssen, Axel Simon ( Präsident ). Siedlung Schauburg

untersuchten Angela Birrer und Marie Glaser sechs Sied lungen, historische wie aktuelle, von der Höli in Scherz bis zur Giesserei in Winterthur. Eine wichtige Erkenntnis da bei: Hinter jedem Projekt stehen Persönlichkeiten – Initi anten, Architektinnen, weitere Akteure – mit einem immen sen Projekt und Prozesswissen, das in den meisten Fällen langsam versickert. Wie lässt sich dieses Wissen an nach folgende Generationen weitergeben, damit nicht jedes Projekt, das etwas wagt, wieder bei null anfangen muss ?

Die ProMiet AG beauftragte das ETH Wohnforum damit, zu erforschen, was das heute sei, innovativer Wohnungsbau.

– Christina Schumacher, Soziologin und Professorin FHNW, Muttenz ( 2. Runde ) – Axel Simon, ProMiet AG und Redaktor Hochparterre, Zürich – Petri Zimmermann, Architektin und Wohnexp ertin, Suhr Ausgewählte Projekte 1. Runde: – Revitalisierung Arbeitersiedlung Neudorf, Flums SG Team: Ilona Schneider und Michel Eigensatz, Schneider Eigensatz Architekten ; Coaching: Barbara Buser, Architektin – Clusterwohnen in S cheune, Denens VD Team: Arthur de Buren et Charles Capré Architectes ; Coaching: Laurent Guidetti, Architekt Ausgewählte Projekte 2. Runde: – Siedlung S onnhalde, Trubschachen BE Team: Genossenschaft Sonnhas ; Coaching: Christian Zimmermann, Architekt ( ausges chieden ), Peter Schürch, Architekt, und Sabine Wolf, Landschaftsarchitektin

– Hallenleben, Agglomeration Zürich Team: Verein ; Coaching: Tex Tschurtschenthaler, Finanzfachmann – Selbstbauhof Wohnstatt, Wohlen BE Team: Wohnbaugenossenschaft Wohnstatt ; Coaching: Holzhausen Zweifel Architekten

Themenheft von Hochparterre, September 2022 Neue Wohnformen Von der ‹ Schauburg › zum Sprungbrett 5

Braucht es eine Not für Innovation ?

Petri Zimmermann: Stimmt ! Und oft bleibt das Wissen auch in der Fachwelt.

Petri Zimmermann: Genau, diese Nahtstellen von Innen und Aussen sind wichtig. Eine wohltuende Unordnung ist auch ein Zeichen dafür, dass etwas lebt. Gleichzeitig steckt ein grosser Teil der Innovation im Innern, vor allem beim Flächenverbrauch. Überbauungen aus den 1930er- und 1940er-Jahren mit ihren kleinen Wohnflächen und den Selbstversorgergärten haben nach wie vor Vorbildcharak ter. Deshalb frage ich mich, ob nicht auch Vergangenheit mit Innovation zu tun haben kann. Marie Glaser: Innovation im Wohnungsbau kann man tat sächlich oft im Vorbeigehen erkennen oder zumindest er ahnen. Sie unterscheidet sich von der Konvention – den Bauten nebenan –, s ei es im architektonischen Ausdruck, im Aussenraum, in der Eingangssituation oder durch die vielen Abstellplätze für Velos. Diese bescheidenen, aber praktischen Überbauungen sind aus einer Not heraus entstanden.

Wenn Gemeinden Vertrauen fassen, ist viel gewonnen Wie sieht zukunftsfähiger Wohnungsbau aus, vor allem auf dem Land ? Drei Wohnbauexpertinnen aus der ‹ Sprungbrett ›-Jury im Gespräch: Marie Glaser, Petri Zimmermann und Christina Schumacher. Interview: Karin Salm Wenn Sie durch ländliche Regionen oder Stadtquartiere spazieren und dabei an Wohnsiedlungen vorbeikommen – gibt es ein eindeutiges Indiz , dass es sich um in novativen Wohnungsbau handelt ?

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Themenheft von Hochparterre, September 2022 Neue Wohnformen « Wenn Gemeinden Vertrauen fassen, ist viel gewonnen »6 «

Petri Zimmermann: Natürlich ! Aus S attheit entsteht keine Innovation. Denken wir an die Gegenden, in denen sich alle ihren privaten Traum vom zweigeschossigen Einfami lienhaus erfüllt haben. Da wäre Innovation dringend nötig.

Marie Glaser: In der Regel hat Innovation mit Kritik am Be stehenden zu tun, mit einer starken Vorstellung davon, wie etwas anders sein könnte. Beim Wohnungsbau heisst das auch, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse ver ändert haben, sich dieser Wandel im vorhandenen Woh nungsangebot der Zeit aber nicht widerspiegelt. Wenn die richtigen Akteure zusammenkommen, eine Vision entwi ckeln und gemeinsam tragen, kann etwas Neues entstehen.

Petri Zimmermann: Wir merken das jetzt mit den Flüchtlin gen aus der Ukraine. Plötzlich teilen Familien den Wohn raum mit anderen Menschen. In unserem Lehrmittel ‹ Wohn raum › haben wir das mit der Frage durchgespielt: Was wäre, wenn plötzlich doppelt so viele Menschen in deiner Wohnung leben müssten ? Aus s olchen Konstellationen können Impulse für neue Wohnformen kommen.

Christina Schumacher: Lange hätte ich ges agt: Es ist die Schnur mit den farbigen Wimpeln zwischen zwei Haus reihen, die Gemeinschaft suggeriert. Unterdessen taucht diese Wimpelschnur in jedem Wettbewerbsrendering auf. Es kommt auf das Innenleben an und darauf, dass eine Siedlung mit der Umgebung kommuniziert. Das hat mit den Übergängen zwischen privat, halböffentlich und öf fentlich zu tun.

Marie Glaser: Oder nehmen wir die ökologische Krise. Es gibt nachhaltige Wohnüberbauungen, die schon früh um gesetzt wurden, etwa die Siedlung Niederholzboden in Riehen von 1994. Da wurde ökologisch gebaut, Wohnflä che gespart, ein kluges Heiz- und Lüftungssystem gewählt und dabei möglichst preisgünstig gebaut. Die Gemeinde hatte das Grundstück mit dem Auftrag geerbt, sozialen Wohnungsbau zu realisieren. Sie hat eine Genossenschaft ausgewählt und ein Büro für soziale Arbeit mit einer Be gleitung beauftragt. Es gab bei allen Beteiligten eine klare Vorstellung und ein glückliches Ende. Mich beschäftigt, dass viel mehr Akteurinnen von diesem Projekt hätten ler nen können. Aber das Wissen blieb lokal, wie es leider oft der Fall ist. Viele neue Projekte starten später wieder bei null. Das wollten wir mit dem ‹ Sprungbrett Wohnungsbau › ändern. Das Wissen um Innovationen muss einfacher ver fügbar sein, um besser auf Krisen reagieren zu können.

Christina Schumacher: In kleineren Gemeinden spielen Ein zelpersonen eine wesentliche Rolle, weil die Verwaltungen nicht über die gleichen Planungsinstrumente verfügen wie

Christina Schumacher: Nicht ganz. Grosse Zürcher Genossen schaftsprojekte wie die Kalkbreite oder das Zwicky-Areal wurden auch in der Tagespresse und im Feuilleton abge handelt. Mittlerweile haben viele institutionelle Entwick ler entdeckt, dass es andere Bedürfnisse gibt und neue Wohntypen nachgefragt werden. In den urbanen Zentren passiert etwas. Aber auf dem Land oder in der Agglome ration fehlt es oft an Innovation – deshalb ist das ‹ Sprung brett › so wichtig Wenn die richtigen Akteure zusammenkommen, könne etwas Neues entstehen, sagten Sie soeben. Müssen diese Akteure auch fähig sein, Allianzen zu schmieden – erst recht in ländlichen Regionen ?

Welches finden Sie besonders interessant ?

Petri Zimmermannde Jager * 1961, Partnerin bei Zimmermann Architekten Aarau in Suhr, von 2005 bis 2008 Co Leiterin der Fachstelle Architektur und Schule an der ETH Zürich, Mitverfasserin des Lehrmittels ‹ Wohnraum › ( 2010 ). Christina Schumacher * 1967, Professorin für Architektur und Planungs soziologie am Institut Architektur der FHNW in Muttenz, Präsidentin der Stiftung zur Förderung einer gerechtenbehindertenbaulichenUmwelt,Mitgründerin des Kollektivs sofa*p.

Marie Glaser: Das Projekt im Dorf Denens im Kanton Waadt macht mir Fr eude siehe Seite 26. Dort bauen zwei junge Ar chitekten eine leer stehende Scheune für gemeinschaft liches Wohnen um. In Diskussion mit ihrem Coach, dem Architekten Laurent Guidetti aus Lausanne, haben sie ihre

Themenheft von Hochparterre, September 2022 Neue Wohnformen « Wenn Gemeinden Vertrauen fassen, ist viel gewonnen » 7 in den Städten. Da sind Verbündete noch wichtiger. Des halb braucht es die guten Beispiele, mit denen eine Ge meinde sich profilieren kann. Letztlich geht es für eine ländliche Gemeinde ja auch darum, dass neue Menschen zuziehen und den Ort vitalisieren.

Petri Zimmermann: An dieser Stelle möchte ich wieder ein mal für die Vermittlung plädieren. Sie ist enorm wichtig. Man muss den Menschen zeigen, welche Wohnmöglich keiten es überhaupt gibt und dass man unterschiedliche Bedürfnisse entwickeln kann. Das ‹ Sprungbrett › hat fünf Projekte gefördert.

Marie Glaser: Gar nicht. Es ist interessant, ganz unterschied liche Aspekte von Innovation darzulegen. So haben wir eine enorme Bandbreite.

Christina Schumacher: Die Rolle der Architektur ist b emer kenswert: Bei zwei Projekten ging die Initiative von Archi tektinnen aus. Beim Hallenprojekt ist noch gar nie ein Ar chitekt aufgetaucht.

Marie Glaser: Wenn eine Gemeinde erkennt, dass sie nicht allein ist mit ihren Fragestellungen, und gemeinsam mit der Nachbargemeinde ein Projekt entwickelt, kommt es zu Innovation. Wie etwa im inneren Mattertal, wo sich die Gemeinden Täsch und Zermatt vor einigen Jahren zu sammengetan haben. In diesen Tagen gründen sie eine Genossenschaft mit dem Ziel, ein bedürfnisgerechtes, preisgünstiges Wohnungsangebot zu schaffen und zu si chern. Für eine Stadt wie Zürich ist das nicht mehr inno vativ – ab er für die beiden Walliser Gemeinden ist das ein enormer Schritt.

Marie Glaser: Das gefällt mir: Wenn Gemeinden Vertrauen fassen in diese Projekte, dann ist viel gewonnen. ● Marie Glaser * 1971, seit 2022 Leiterin des Bereichs Grundlagen Wohnen und Immobilien im Schweizer Bundesamt für WohnforumschungszentrumDavorWohnungswesen.leitetesiedasForETH–ETHCase.

Vision entwickelt und dann unter anderem mit einer pro fessionellen Theaterproduktion in der Region verbreitet. So konnten sie die Bevölkerung sensibilisieren und gleich zeitig potenzielle Mitbewohnerinnen finden. Der Umbau ist erst der Anfang: Rund um den Genfersee ist der Woh nungsmarkt extrem angespannt, und es gibt viele leer ste hende Scheunen. Das Projekt hat eine Innovation für diese Region in die Welt gesetzt.

Christina Schumacher: Mein Herzensprojekt ist die Werk- und Lebensgemeinschaft in einer umgenutzten Industriehalle in einer Agglomerationsgemeinde von Zürich siehe Seite 14. Es geht dabei um eine Art der Raumnutzung, die im Ext remfall eine enorme Verdichtung zulässt: Derselbe Raum kann über 24 Stunden ganz unterschiedlich genutzt wer den. Das Kollektiv interpretiert die Halle als Container für Leben, Arbeiten und Kultur. Im Kollektiv wird ausge handelt, wie die einzelnen Raumeinheiten genutzt und die rollbaren Boxen arrangiert werden sollen. Damit steht der gemeinschaftliche Raum nicht – wie sonst üblich – von vornherein fest. Ich halte das für eine wirkliche Innovati on und auch für eine intellektuelle Herausforderung. Die se Lebensform verlangt ein sehr grosses Engagement und die Bereitschaft, viel Zeit zu investieren. Das lässt sich nicht im grossen Stil nachahmen. Die Projekte sind sehr unterschiedlich, ein roter Faden fehlt. Ist das nicht schwierig ?

Petri Zimmermann: Die Arbeitersiedlung in Flums siehe Sei te 8 war lange stigmatisiert. Die Planung ihrer Revitalisie rung mit einer durchmischten Bewohnerschaft hat mich gepackt. Mich interessiert, wenn etwas Bestehendes wie derbelebt und in etwas Neues überführt wird.

Christina Schumacher: Der Hinweis auf den Kontext ist ent scheidend. Dass ländliche Gemeinden von den Cluster grundrissen auf dem Hunziker-Areal oder dem Hallen wohnen im Zollhaus in Zürich etwas lernen, ist vermutlich der falsche Ansatz. Man muss etwas aus dem eigenen Ort entwickeln. Darum ist es auch so wichtig, die kleinen Inno vationen sichtbar zu machen.

Petri Zimmermann: Auch die Strahlkraft war ein wichtiges Kriterium für die Jury. Nehmen wir nochmal das Hallen projekt. Wenn das Kollektiv es schafft, in der Fabrikhalle zu bleiben und dort auch wohnen zu können, kann man darlegen, dass Normen und Regeln aufgeweicht und an gepasst werden können. Ohne Normen bleiben viele Pro jekte hübsche Rosinchen, die auftauchen und wieder verschwinden. Die Gesetzgebung ist ein wichtiger Be standteil der Gestaltung, denn Gesetze ermöglichen oder verunmöglichen vieles. Im Extremen liegt eine besondere Strahlkraft: Weil die Kalkbreite in Zürich so extrem ist, ha ben viele davon gehört, auch Menschen, die nicht in der Stadt leben. Vertreter von ländlichen Gemeinden schauen sich das an und erkennen, dass es viele Formen gibt, wie man gut wohnen kann.

Genau diese Idee verfolgt das ‹ Sprungbrett ›: situationsgebunden zu schauen, was ein Projekt in welchem Zeitrahmen bewirken kann. Der Coach unterstützt und bringt Stabilität. Marie Glaser: Auch wenn ein Projekt ‹ nur › einen Prozess an stösst und am Schluss der ‹ Sprungbrett ›-Förderung kein Gebäude steht, ist ein wichtiger Schritt zur Stabilisierung des innovativen Projekts getan. Darauf kann man aufbau en. Es geht eben auch darum, das Denken zu verändern und diese Veränderung zu festigen.

Flums: Ilona Schneider und Michel Eigensatz möchten eine alte Arbeitersiedlung wachküssen.

Themenheft von Hochparterre, September 2022 Neue Wohnformen Spuren aus dem Neudorf10

ausSpurendem

Ein untergehendes Baudenkmal Lang ist es her, seit die Familie Spoerry mit grossen Plänen aus dem Zürcher Oberland nach Flums übersiedel te. Der Ort lockte als vielversprechender Industriestand ort, und so gründeten sie 1866 eine Spinnerei. Dünnstes Baumwollgarn spannen ihre Arbeiter, aus dem sich wert volle Stoffe herstellen liessen. Das Geschäft florierte. Die Unternehmerfamilie wollte auch für ihre Angestell ten Verantwortung übernehmen und baute am Rand des Dorfkerns eine Siedlung für sie. Bald schon leuchteten die ersten Fachwerkgiebel der dreigeschossigen Doppelhäus chen rostrot in der Sonne. Fortan kehrten die Arbeiterfa milien nach der Fabrikarbeit heim in ihre vier Zimmer mit grosszügigem Garten. Neudorf nannten sie den kleinen Dorfteil. Doch bereits der Name liess erahnen, dass sich weder die starre Bebauungsstruktur noch deren Bewohner je ganz ins Dorf integrieren würden. Seit damals ist viel Zeit vergangen. Zeit, die um die Hausecken strich und mit jedem der mehr als 100 Winter etwas mehr Farbe und Verputz mitriss, an den Fensterläden rüt telte und hier und da eine Scheibe einschlug. Vor allem albanischstämmige Familien aus Nordmazedonien lebten inzwischen in den Häuschen. Wer nicht dort wohnte, be trat das Neudorf nicht. Auf dem Weg von der elterlichen Zimmerei zur Schule ging auch Ilona Schneider jeden Tag am Neudorf vorbei. Am Morgen hörten die Schulkinder dem Vogel zu, der von den schiefen Fensterläden herab das Lied der Neudorf Schuhe pfiff. Sie lernten: Wer mit staubigen Schuhen ins Dorf kommt, lebt in den kleinen Häusern an den gekiesten Strassen. Doch auf dem nahen Postplatz waren kaum je staubige Schuhe zu entdecken. Die Bewohnerinnen des Neudorfs hatten wenig mit dem Rest des Dorfs zu tun. Ilona Schneider zog nach der Schu le in die Welt hinaus und studierte Architektur. Das Neu dorf vergass sie nicht. Mit neuem Blick An einer Wäscheleine im Garten lässt ein Mieter seine Arbeitspullis trocknen. Sie erinnern an die Zeit, bevor die Spinnerei vor 13 Jahren ihre Tore schloss. Die Zeit scheint stillzustehen, die Autos auf dem schlaglöchrigen Kiesweg wirken geradezu futuristisch. Zusammen mit Michel Ei gensatz kehrte Ilona Schneider zurück. Mit neuem Blick erkundeten die beiden den Ort und fanden in den offenen Aussenräumen des Neudorfs viel Zukunft für das Zusam menleben im Quartier und die Anbindung an das Dorf. Hin ter den bröckelnden Fassaden und den zugenagelten

Das Neudorf in Flums Mitten in Flums steht das Neudorf, eine der bedeutendsten Arbeitersiedlungen der Schweiz. Sie ist ein Erbe der Spinnerei Spoerry, deren Fabrikherren auf dem mehr als 13 600 Quadratmeter grossen Areal 24 Doppeleinfamilienhäuser mit 49 Wohn einheiten hatten bauen lassen – in drei Etappen in den Jahren 1896, 1905 und 1909. Für die Eidgenössische Kommission für Denkmalpflege ist es eine « schützenswerte Siedlung von nationaler Bedeutung mit Ensembleschutz ». Das Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz bezeichnet die Siedlung als « intakte Arbei tersiedlung mit hohem Stellenwert ».

Die Zeit hat einer Arbeitersiedlung in Flums zugesetzt. Ein junges Architektenpaar wagt sich mit frischem Blick an die Rettung. Glückt der Umbau des ersten Hauses, kann bald eine Wohngenossenschaft gegründet werden.

Text: Mirjam Kupferschmid Ein Dorf im Sarganserland, im tiefen Seeztal, am Fusse imposanter Berge. Die höchsten Gipfel sind noch ver schneit, dazwischen hängen Wolken. Hinter dem Bahnhof folgen die Strommasten dem dunkelblauen Flüsschen, am gegenüberliegenden Ufer wird gebaut. Kräne, Gerüststan gen und ein ovaler Neubau ragen in den Himmel. Trotz dem gibt es an der Bahnhofstrasse kaum mehr Läden. Auf dem zentralen Postplatz haben die Dorfbewohnerinnen schon lang kein Fest mehr gefeiert. Darüber, was hinter der Post liegt, spricht hier niemand gerne. Doch gerade das verwunschene Neudorf könnte den Ort aus seinem Dornröschenschlaf wecken.

Neudorf

Der Hausraster der Siedlung gehörte zur ehemaligen Spinnerei Spoerry links unten. Foto: Walter Mittelholzer, 1919

Gekieste Strasse und abblätternde Farbe: Im Neudorf scheint die Zeit stillzustehen.

Themenheft von Hochparterre, September 2022 Neue Wohnformen Spuren aus dem Neudorf 11

Themenheft von Hochparterre, September 2022 Neue Wohnformen Spuren aus dem Neudorf12 012 5 012 5 012 5 Die Häuser sind ver nachlässigt, aber dafür noch ursprünglich. Foto: Thomas Kessler Michel Eigensatz und Ilona Schneider mit ihrem Coach Barbara Buser. Nun sollen die Räume sanft saniert werden. Foto: Thomas Kessler Erdgeschoss Typ 1 Basis Erdgeschoss Typ 2 Addition Erdgeschoss Typ 3 Subtraktion 0 5 m

Ganz unterschiedliche Menschen wohnen heute in den restlichen Häusern des Neudorfs. Mit den tiefen Mieten und dem einfachen Ausbau werden sie eher zwischengenutzt als gewöhnlich vermietet. Viele haben sich an einem Projekt für das Neudorf versucht. Zwei Pilotsanierungen zeigten: Nach herkömmli chen Vorstellungen betreffend Rendite und Komfort lässt sich das Neudorf nicht sanieren. Genau hier setzten Ilona Schneider und Michel Eigensatz an – ganz ohne Auftrag und ohne Bauherrschaft. Wie gründen wir eine Genossen schaft auf dem Land ? Wie organisier en wir die Finanzie rung für ein so grosses Projekt ? Mit dies en Fragen und dem Projektvorschlag für die Sanierung gewannen sie ein ‹ Sprungbrett › Co aching. Ihr Projekt forderte das Nachfol geunternehmen der Spinnerei Spoerry heraus, sich über die Zukunft der Siedlung Gedanken zu machen – gross war die Begeisterung nicht. Vor Kurzem hat Andreas Hofmän ner, Geschäftsführer von Eckstein Immobilien, das Grund stück übernommen. Die Ideen des Architektenpaars inte ressierten ihn. Die erfahrene Basler Architektin Barbara Buser unterstützt die beiden als Coach auch dabei, Hof männer die Idee der Genossenschaft und der alternativen Finanzierung näherzubringen.

Späte Integration Während hinter einem Sprossenfenster drei Orchide en auf die Abendsonne warten, harren die Neudorfhäuser ihrer Wiederentdeckung. Zuzügerinnen aus der Stadt, die mit der Genossenschaftsidee vertraut sind, sollen vor machen, wie es geht. Sie könnten Magnete sein, die auch Menschen aus der Region in die Neudorfhäuser locken. Im besten Fall werden sich Firmen aus dem Dorf an der Instandsetzung beteiligen und so eine neue Verbindung zum Neudorf aufbauen. Sind die Flumser stolz auf ihr Bau denkmal, wird sich die Siedlung vielleicht zum ersten Mal in das Dorf integrieren. Gerade noch scheinen die Häuser der Zeit entkommen. Bald werden immer mehr Menschen mit staubigen Schuhen auf dem Dorfplatz unterwegs sein. Und der kleine Vogel wird für sein Lied eine fröhlichere Melodie finden müssen.

Themenheft von Hochparterre, September 2022 Neue Wohnformen Spuren aus dem Neudorf 13 Fensterläden entdeckten sie, wovon auch das Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz spricht: ein Kulturdenkmal von nationaler Bedeutung, ein « typologis ch und sozialgeschichtlich wichtiger Zeuge der einst boomenden Textilindustrie ». Kommen die Flumserinnen auf ihrem Sonntagsspa ziergang am Neudorf vorbei, senken sie den Blick. Lange schwebte über dem Quartier die unausgesprochene Hoff nung, dass man vielleicht doch etwas Neues bauen könnte, würde es nur genug verfallen. Die Zeit, so schien es, hatte ihren Kampf fast gewonnen. Der Zustand vieler Häuser ist desolat. Gefährlich veraltete Elektroanlagen und sogar durchgebrochene Böden machen ein Drittel der Häuser unbewohnbar.

● Die ‹ Sprungbrett ›-Jury sagt: « Das Projekt ist sowohl baukulturell als auch sozial relevant. Es hat einen nach haltigen Ansatz, scheint umsetzbar und hätte dann grosse Signalwirkung. Die Jury freut sich am Projekt, hat aber auch Respekt vor seiner Grösse. Die stren ge Struktur der Siedlung lässt auf ein starkes Ensemble und auf gepflegte, autofreie Aussenräume hoffen. Architektur, Politik und Soziales könnten sich im Planungs und Bauprozess vermischen und die neuen Eingriffe sich an den alten Mauern zurückhaltend abbilden.

Hoffnungsschimmer Fast hätten die Ansprüche an zeitgemässes Wohnen auch die Mauern der Neudorfhäuser gesprengt. Die Ar chitekten planten, die Häuser komplett auszuhöhlen, um ihnen statt der kleinen 4 Zimmer Wohnungen eine grosse und eine kleine Einheit einzuschreiben. Die Kosten dafür waren hoch, und Barbara Buser ermutigte Ilona Schnei der und Michel Eigensatz, das Geld dort einzusetzen, wo mit kleinen Eingriffen die grösste Wirkung erzielt werden kann. Bald werden sich die ersten Bauarbeiter ans Werk machen und den minimalen Umbau an einem Musterhaus testen. Es gibt eine neue Küche, und hinter der Treppe wird ein Einbaumöbel auf den Zwischengeschossen Platz für Garderobe, Toilette und Installationen bieten. Neue Sprossenfenster und eine Innendämmung in den Räumen ohne Täfer halten künftig die Kälte ab. Bis dahin warten viele Fragen auf Antworten: Können wir die Mosaikplätt chen am Boden erhalten ? Welche s Material finden wir unter dem Linoleum ? Wie gehen wir mit der abblättern den Farbe auf den gedrechselten Treppengeländern um ? Während Ilona Schneider und Michel Eigensatz im Häus chen Schicht für Schicht entdecken, streift draussen eine Katze um die Zaunpfosten. Sogar solch einfache Bauteile werden bei einer gros sen Sie dlung wie dem Neudorf zur Herausforderung: Zwei Kilometer rostiges Metall warten auf einen frischen Anstrich. Für den Erfolg des Quartiers ist Vielfalt zentral. Nicht nur Mutter, Vater und zwei Kinder sollen künftig in den Neudorfhäuschen leben, auch für Wohngemeinschaften, grössere Familien und Generationenwohnen hat das Ar chitektenpaar Ideen. An acht Stellen könnte ein Anbau die Häuser zu einer 5 ½ Zimmer Wohnung ver grö s sern überall dort, wo er die fliessenden Aussenräume nicht stört und die Topografie es zulässt. Zwei Öffnungen in der Mittelwand im Erd und im Dachge schoss könnten eine gemeinschaftliche Nutzung der beiden Haushälften möglich machen. Zusammen mit den beiden bestehenden Treppen ergeben sich so unterschiedliche Raumbezüge. Egal ob Kleinfamilie oder Generationenwohnen – alle künftigen Bewohnerinnen s ollen Teil der gemeinnützigen Genossenschaft werden, deren Gründung in Vorbereitung ist. Bis es so weit ist, können interessierte Dorfbewohner dem Verein Pro Neudorf Flums beitreten. Dessen Website erklärt den Projektstand und führt die Vorteile des Genos senschaftsmodells aus. 2025 wird der Besitzer die Häuser an die Genossenschaft verkaufen und das Land im Bau recht abgeben. Welche Ideen umgesetzt werden, wird die Genossenschaft auf Basis des Musterhauses entscheiden.

» Team: Ilona Schneider und Michel Eigensatz, Schneider Eigensatz Architekten Coaching: Barbara Buser, Architektin

In der Agglo von Zürich: die Halle als Experimentierraum für Kultur, Leben und Arbeiten.

Text: Gianna Rovere Leben in Hallen Das Leben in Hallen, auch Hallenwohnen genannt, ist aus temporären Nutzungen alternativer Gross-WGs und der Besetzer* innenszene heraus entstanden – mit der Idee, gemeinschaftlich in multifunktionalen, loftähnlichen Räumen zu leben. Oft sind das leer stehende Hallen in stadtnahen Industrie- oder Gewerbezonen, die eine Gruppe von zehn bis zwanzig Personen legal mietet. Da auf diesen Arealen laut Zonenplan nicht offiziell gewohnt, jedoch im eigenen Atelier übernachtet werden darf, handelt es sich juristisch gesehen meist um eine Grauzone. Die Bewohner*innen gestalten die Halle im Selbstbau nach ihren Wünschen und Bedürfnissen. Neben meist fix installierten Küchenbereichen und Sanitäranlagen sind das oft modulare, rollbare und in die Höhe gebaute Rückzugsorte. Um dem gemeinschaftli chen Leben und Arbeiten den meisten Platz einzuräumen, ist der private Raum auf ein Minimum reduziert. Auf eine konventionelle Aufteilung in Küche, Bad, Wohn- und Schlafzimmer oder Büro wird bewusst verzichtet, stattdessen wird die Schnittstelle von Kultur, Wohnen und Arbeiten hervorgehoben. Die Küche ist einer der wichtigsten Begegnungsorte in der Halle.

inSelbstbauderGrauzone

Leben in Hallen heisst: parallele Nutzung von privaten und öffentlichen Räumen, verschiedenste Familienkonstellationen und WG-Modelle, genügend Platz pro Kopf. Wären da nicht die rechtlichen Hürden. Ein Stück in sechs Szenen.

Themenheft von Hochparterre, September 2022 Neue Wohnformen Selbstbau in der Grauzone16

( Geht weiter in Richtung Küche ) Niklas: Du musst dir einfach b ewusst sein, dass du, wenn du zum Beispiel in die Küche gehst, einen gemeinschaftli chen und sozialen Raum betrittst, in dem Menschen sind, die Geräusche machen und herumhantieren. Deshalb ha ben wir das Hiersein-auf-Probe eingeführt. Wenn du dann merkst, dass dir das zu anstrengend ist, solltest du dir gut überlegen, ob das hier der richtige Ort für dich ist. Neue Formen des Zusammenlebens Die zunehmende Individualisierung der Gesellschaft und der damit verbunde ne Wunsch nach Freiheit in Bezug auf die Gestaltung des eigenen Lebens und Arbeitens führt zu einem verstärkten Bedürfnis nach einem Leben in Gemein schaft und Selbstbau. Verschiedene Bau- und Wohnprojekte im In- und Ausland testen neue und zukunftsfähige Formen des Zusammenlebens aus und experimen tieren mit Nutzungsprogrammen und Gemeinschaftseinrichtungen. Dazu gehört auch das Leben in Hallen. Durch die Bereitstellung von Rohbauräumen anstatt fertigen Wohnungen soll eine legale Form für das Hallenwohnen gefunden werden. Die pa ral le le Nutzung von privaten, halb privaten und öffentlichen Räumen er möglicht auch diversen Familien- und WGModellen genügend Raum pro Kopf bei gleichzeitig verdichtetem Wohnen.

Szene II: Rollen oder nicht Rollen Es ist ruhig in der Halle. Niklas schlendert über den dunkelgrauen Hallenboden, zwischen fixen und rollbaren Spaces – s elbst gebauten Arbeits- oder Rückzugsorten – hindurch , an der Platt form an der Fensterfront mit Blick auf den Fluss vorbei.

→ Formen des Selbstbaus: ein Fixspace im Aufbau. Oben entsteht ein Rückzugsort, unten ein Atelierplatz.

Niklas ( steht auf und blickt zum Publikum ): Wir sind vier von rund 15 Menschen, die diese Halle seit Sommer 2019 als selbstverwaltete Ateliergemeinschaft und Verein mieten. Sonja ( von der Bank aus ): Und wir können voraussichtlich 15 Jahre bleiben !

Niklas ( geht nun langsamer ): Am Anfang lebte ich in einem Rollspace, den ich innert etwa einer Woche gebaut habe. Aber ... lustigerweis e erwarten dann einige, dass man kon stant damit herumrollt – was meiner Meinung nach nicht die Idee ist. Deswegen habe ich mir dann einen fixen Space gebaut. Einen, der sich nicht herumschieben lässt. Das hat etwa zwei Monate gedauert. ( Zeigt auf einen unfertigen Fixspace ) Niklas: Hier entsteht der Spac e von Hanna. Zu Beginn ih res Space-Projekts hatte sie kaum Erfahrung mit Bauen aber mit Unterstützung geht es nun ganz gut. Alle planen und bauen ihre Spaces selbst und kommen auch für das Material auf. Unten wird ihr Freund sein Atelier haben. Sie zahlt oben etwas mehr Miete als er unten. ( Hält kurz inne und dreht sich dann zum Publikum ) Niklas: Ein Fixspace gibt dir mehr Privatsphäre. Er lässt sich besser abgrenzen. Grundsätzlich ist die Möglichkeit eines Rückzugs immer da – sie ist aber halt auf deinen ei genen Space beschränkt, der nicht riesig ist.

Themenheft von Hochparterre, September 2022 Neue Wohnformen Selbstbau in der Grauzone 17 Szene I: Intro Die Lichter gehen an: Die Sonne scheint flach und golden über der Limmat, die an einer Shedhalle vorbeizieht. Vor der Halle auf einer Bank sitzen Manu, Sonja, Niklas und sein Sohn Enea * und lass en den Tag ausklingen. Sie machen Pläne fürs Abendessen.

→ Die Halle gleicht einer ständigen Baustelle, die sich täglich verändert.

Enea: Kann ich deine Schere ausleihen ? Wir wollen ein Ein Sprungbrett für die IG Hallenleben Die durch das ‹ Sprungbrett Wohnungsbau › gesprochenen Mittel haben die Gründung der ‹ IG Hallenleben › ermöglicht . Es soll eine langfristige Unterstützungsbasis für die Ideen, Werte und Qualitäten des Lebens in Hallen entstehen und das Hallenwohnen mittels einer Fachstelle po litisch und konzeptuell vorangetrieben und vermittelt werden. Weitere Ziele sind die Bündelung des Know-how-Transfers, die Vernetzung von Hallenwohnprojekten mit interessierten Institutionen, Stiftungen oder Genossenschaften und die juris tische Unterstützung und Beratung. Das Narrativ des Lebens in Hallen sowie Lösungsideen für bekannte und neue Herausforderungen sollen praktisch er probt und weiterentwickelt werden. Ein kleinerer Teil der Förderung geht in Form von Coachings – sei das für den sozialen Zusammenhalt der Gruppe oder für den Finanzierungsplan – an den Verein.

Niklas: Es sieht zwar aus wie ein Vorrat, aber bei einem gu ten Dutzend kochenden und essenden Menschen hält das nicht lange. ( Beginnt, auf der Kücheninsel Zwiebeln zu schneiden ) Niklas: Ich habe rund zehn Jahre in ‹ Bsetzige › mit vier bis 40 Mens chen oder auch mal in einer durchorganisierten Kommune gewohnt. Bevor ich hierher kam, lebte ich mit meiner Ex-Partnerin in einer normalen Mietwohnung – aber die Kleinfamiliensituation war nichts für uns. ( Manu und der fünfjährige Enea kommen in die Küche, Manu spielt auf der Ukulele )

Szene III: Die Halle füllt sich Die grosszügige Küche haben die Nutzer*innen selbst eingebaut. Es gibt viel Arbeitsfläche, zwei Geschirrspülmaschinen, mehrere Kühlschränke. An einem klebt die sorgfältig geführte Haushaltsbudgetliste. Die Fensterfront beleuchtet die Szene, durch ein offenes Fenster dringen Verkehrsgeräusche. Niklas ( stellt sich auf den weissen, runden Designertisch vor der Kücheninsel ): Mit den Selbstbauinstallationen erinnert die Halle vielleicht an Gemeinschaftsateliers von Kunstschaf fenden – sie ist aber um einiges aufgeräumter ! Nach knapp drei Jahren hat sich nicht nur baulich einiges getan. Unter dessen gehen hier rund 30 Menschen ein und aus. Einige haben fixe Spaces, andere Arbeitsplätze, und ein kleinerer Teil nutzt lediglich die Infrastruktur. Das heisst, sie haben einen Schlüssel, können die Werkstatt und die öffentlichen Räume mitbenutzen und am gemeinschaftlichen Leben teilnehmen. Neben der Halle gibt es auch einige Räume, die bereits bestanden. Dort befinden sich etwa die Küche, die Toiletten und der bis auf einige Spiegel und Matten leere Bewegungs- und Ruheraum.

Themenheft von Hochparterre, September 2022 Neue Wohnformen Selbstbau in der Grauzone18 Szene IV: Küche und Verantwortung Niklas steigt vom Tisch und öffnet einen der rot oder grün bemalten Schränke. Die Regalbretter sind sorgfältig beschriftet, die Dosen und Packungen ordentlich aufgereiht.

Parkverbotsschild basteln. Niklas: Klar, nimm die von meinem Pult – ab er leg sie da nach bitte wieder hin. ( Enea und Manu verlass en die Küche. Während Niklas Risottoreis in einen Topf kippt, kommt Sonja herein. Sie ist erst seit Kurzem Teil der Gemeinschaft )

Sonja: Hast du eigentlich schon Kinder erlebt, für die Hal lenleben nichts war ? Niklas: Ich kann nur von meinem Sohn reden. Ich finde, dass man merkt, dass er sehr sozialkompetent ist. Einige hier haben generell kein grosses Interesse an Kindern –aber die meisten haben doch Freude und schauen auch mal spontan zu ihm. So wie Manu jetzt gerade. Man kann auch hier die Verantwortung für ein Kind nicht gänzlich abgeben oder teilen, aber es hilft, wenn mehr Menschen da sind, die ebenfalls auf das Kind achten und aufpassen. Vieles ergibt sich – man muss nicht, ab er man darf.

Szene V: Kommunikation Während der Risotto vor sich hin köchelt, wäscht Niklas den Salat und schneidet Federkohl in Stücke. Hanna kommt schweigend herein und hält kurz inne, bevor sie die Küche wieder verlassen will.

* Zum Schutz der Privatsphäre wurden die Namen der Protagonist*innen geändert.

Die ‹ Sprungbrett ›-Jury sagt: « Bisher spriesst das Hallenwohnen im Halblegalen, in der Grauzone. Eine Legali sierung würde dazu führen, dass alle Vor schriften, Zonenvorgaben etc. eingehalten werden müssten, wie das Beispiel Zoll haus in Zürich zeigt. Die Jury findet, das durchzuspielen könnte dem Nischen thema Verbreitung bringen. Hallen stehen vielerorts leer. Beim Hallenwohnen gehen Wohnen und Arbeiten mit öffentli chen Nutzungen zusammen. Der Raum wird optimal ausgenützt, der individuelle Flächenverbrauch minimiert. Selbstent wicklung und Selbstbau machen es bezahl

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Niklas: Es ist doch interessant, dass die Architektur uns vorgibt – oder uns zumindest dazu verführt –, wie wir leben sollen und wollen. Wenn die Norm nicht lediglich 3-Zim mer-Wohnungen und Einfamilienhäuser wäre, würde un sere Gesellschaft anders aussehen. In den Augen vieler leben wir ein Experiment, aber es ist schlicht unser Alltag. Und der ist kein Zufall, sondern von uns so konstruiert. Es entsteht ein Plot mit der Idee dahinter, mehr Raum zu tei len, wie wir leben wollen und wohin das führen soll. ● Die Halle kann vieles gleichzeitig sein – Café, Konzerthalle, Rückzugsort oder Arbeitsplatz. Je nachdem, wie die Ateliergemeinschaft ihren Alltag gestalten will.

bar. Und: Das Projekt kommt aus der Zivilgesellschaft – es stehen keine Entwick lerinnen dahinter, sondern die Akteure selbst. Es ist ein innovatives Konzept, wenn auch sehr radikal und mit überschaubarer Zielgruppe. Doch auch das Cluster wohnen hat mal klein angefangen. » Team: Verein Coaching: Tex FinanzfachmannTschurtschenthaler,

Hanna: Ich bin hässig, es hat aber nichts mit euch zu tun. ( Niklas nickt und drückt ihr im Vorb eigehen kurz die Schulter ) Niklas: Ein schönes Beispiel für die Errungenschaft, mitei nander kommunizieren zu können. Wir haben verschiede ne Auffassungen davon, wie wir miteinander klarkommen oder umgehen. Ich finde einen präzisen gemeinsamen Nenner wichtig. Je kleiner der ist, desto toleranter muss man sein. Und Toleranz auf Dauer ( Schlägt mit dem Kochlöffel auf den Topfrand, um einen Rest Reis abzuschütteln ) Niklas: ... ist eine Beleidigung.

Szene VI: Epilog Das Essen ist fertig. Der grosse Topf Risotto wird mit einer Schüssel Salat, einem Stapel Teller, Besteck und Gläsern auf einen Servierwagen geladen. Vorsichtig fährt Niklas den Wagen zum grossen Tisch in der Halle. Manu, Enea, Sonja und Hanna kommen dazu und füllen ihre Teller. Hanna verschwindet in ihrem Space, die anderen setzen sich an den Tisch und essen. Nach einigen Minuten kratzt Niklas den letzten Rest Risotto auf seinem Teller zusammen und steht auf. Die Essensgeräusche verstummen, es wird dunkel. Spot auf ihn.

Wohnstatt in Wohlen bei Bern: gelebtes Paradies mit Ausblick.

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Text: Anna Raymann Das Krähen des Hahns ist schon von Weitem zu hören. Laut stark heisst er seinen Besuch willkommen. Fast hatte man damit gerechnet: Der Weg führte an Schafen, Kühen und ei nem kleinen Blumenfeld vorbei, das alles vor einem präch tigen Bergpanorama. Hier möchte man wohnen, denkt man sich – und ist mit diesem Gedanken nicht allein. Eine Grup pe von 18 Freunden hat sich hier ihr Zuhause eingerichtet und teilt, was da ist: den grossen Garten, den Pizzaofen vor dem Haus und den langen Tisch im Gemeinschaftsraum. « In unserem Haufen ist der Wunsch, so zu leben, weit ver breitet », sagt Mathias ‹ Tuz › Jost lachend. Ein ander er Teil des Freundeskreises hatte die Genossenschaft Wohnstatt schon vor Längerem gegründet, allerdings ohne konkrete Pläne. Dann entdeckte Jost das Bauernhaus in Wohlen bei Bern. Mit zwei Hauptwohngebäuden gross genug für den ganzen « Haufen », gut 500 0 Quadratmeter Umschwung obendrauf und in Velodistanz nach Bern – nur: zu teuer. Doch: « Ich hatte mich verliebt. Das war der Auslöser, um nach den richtigen Leuten zu suchen, die bereit waren, das Projekt zu stemmen », erzählt Jost. Seine Gruppe setzte sich zusammen, rechnete, träum te, hirnte. Ohne Eile zwar, aber beharrlich. Sie würden gemeinsam und selbst umbauen, Menschen mit unter schiedlichen Lebensentwürfen ein Daheim bieten, güns tig, und das Haus damit der Spekulation entziehen. Nach einem Jahr war das Bauernhaus am Waldrand noch immer nicht verkauft worden. Die Bedingungen für einen zweiten Anlauf hätten kaum besser sein können. « Niemand inter essierte sich mehr für das Haus. Ein Glücksfall ! » Jost und seine 17 künftigen Mitbewohner liessen die Genossen schaft ihrer Kollegen auf sich überschreiben und schlu gen zu. Ungefähr 2015 war das gewesen, die Erinnerungen verschwimmen langsam. Mehr Gemeinschaft Das Bauernhaus aus den 1940er-Jahren ist kein Schmuckstück im romantischen Sinn. Manches Haus in der Gegend verspricht mit Fachwerk, hübsch gedrechsel ter Veranda und von rot blühenden Geranien geziert mehr Postkartenidylle. Zum Zeitpunkt des Verkaufs war der Ra sen raspelkurz gemäht, « ein Golfrasen mit Partyzelt und Plastikpool ». Mindestens ein Hausteil war sanierungsbe dürftig, das Stöckli ebenso. Wohnraum für 18 Erwachsene, ihre Kinder und Haustiere zu schaffen, bedeutete anpa cken. Unter den Genossenschaftern sind einige Handwer ker ; Metallbauer etwa oder Schreiner, wie Mathias Jost. Alle haben von etwas anderem ein bisschen Ahnung. Ge meinsam wird gekonnt improvisiert. In den ersten Mo naten halfen alle jeweils zwei Tage pro Woche auf der Baustelle mit. Der Ostteil musste bis auf die tragenden Balkenkonstruktionen rück- und neugebaut werden. « Bau en schweisst zusammen. Wir verfolgen ein gemeinsames Ziel, wir wohnen nicht nur », sagt Céline Fluri. Bis die 4-Zimmer-Wohnung und im Stockwerk darü ber die WG für sechs Personen fertig gebaut waren, lebte die Grafikerin mit ihrer Familie in Bern. Zugegeben, der Weg morgens ins Atelier und abends zum Apéro mit Freun dinnen sei schon etwas länger. Aber immerhin müsse sie zum Einkaufen nicht jedes Mal ins Auto steigen. Im genos senschaftlichen Lädeli im Keller gibt es fast alles für den täglichen Bedarf: Spülmittel, Kichererbsen, Nudeln – alles in Bioqualität und fair gehandelt. Bezahlt wird monatlich nach eigener Schätzung, manchmal liegt die Summe et was darüber, seltener darunter. Im Raum daneben werden aussortierte Kleider getauscht. Man gibt und man nimmt. « In uns erer Gesellschaft – mit dem Prinzip Kleinfamilie –kapselt man sich mehr und mehr voneinander ab. Dabei würde ein bisschen mehr Gemeinschaft uns allen guttun », s agt Mathias Jost. « Wenn man e s genau nimmt, sind wir gar nicht so divers », meint Céline Fluri. Neb en ihr leben noch zwei weitere Familien auf dem Hof, mit insgesamt sechs Kindern, zwei sind unterwegs. Die Gruppe ist im ähnlichen Alter, alle kommen aus demselben Umfeld. Bis vor Kurzem lebte ein junger Mann aus Afghanistan in der WG, nun sei er in die Stadt gezogen. Hilfe von aussen Der Hahn, der zur Begrüssung gekräht hatte, ist aus seinem Gehege entwischt und rennt quer über den Rasen, der inzwischen eine borstige Wiese ist. Zwei befreundete Gärtnerinnen haben einen Naturgarten angelegt. Gemüse wächst hier nicht, dafür allerhand Blumen und Gräser, die Insekten anlocken. Die Kinder haben ein Trampolin und ein Spielhaus – ein Corona-Projekt. Obwohl Ferienzeit ist und die meisten verreist, ist einiges los auf dem Hof. Nach der ersten Bauetappe aber sei die Luft draussen gewesen. Ausgerechnet beim Herzstück der Genossenschaft, dem Gemeinschaftsraum im Mittelteil des Hauses, flaute die anfängliche Euphorie ab. Das Gemeinsame wurde kom pliziert, der Traum zum Pflichtprogramm. So geht es vie len Genossenschaften, und so hätte auch die Wohnstatt zu Ende gehen können. Sie brauchte Hilfe, jemanden, der

Genau so !

Der Genossenschaft Wohnstatt in Wohlen bei Bern ist gelungen, wovon viele träumen: mit Freunden raus aufs Land zu ziehen. Hinter dem Glück stecken Knochenarbeit und viel Zeit. Ein Protokoll.

Auf der Rückseite des Hauses wird zurzeit eine weitere Wohnung angebaut.

Themenheft von Hochparterre, September 2022 Neue Wohnformen Genau so ! 23 die Gruppe wieder zusammenbringt. Da landete die Aus schreibung für das ‹ Sprungbrett ›-Coaching in Céline Flu ris E-Mail-Postfach. Sprungbrett, das klang schon mal gut. Eine Anlaufhilfe –das war es, was die Bewohnerinnen gera de gut gebrauchen konnten. Sie stellten die erforderlichen Unterlagen zusammen, ergänzten diese mit Bildern und schickten das Dossier ab. Nach Zürich reisten die Genossenschafter gemeinsam. « Gfägt » habe das, erzählt Céline Fluri. « Endlich konnten wir mit unserem Projekt mal nach draussen. » Für die Ar beit am Herzstück erhielt die Wohnstatt 2019 – vier Jah re nach dem Hauskauf – die Architekten Sebastian Holz hausen und Hannes Zweifel zur Seite gestellt. Die Chemie stimmte auf Anhieb, sagt Zweifel: « Uns standen Ideologen gegenüber, Ideologen im besten Sinn. Sie glorifizieren nicht, was sie tun, sie sind organisiert, arbeiten fürein ander und miteinander. Dieser positive Vibe imponiert. »

Die Ar chitekten schauten sich den Bestand an. Was gab die Substanz her ? Wie konnte man die G eschichte des Hauses weitererzählen ? Holzhausen Zweifel Architekten sind es gewohnt, mit einfachen Mitteln zu arbeiten. Den Hof des denkmalgeschützten Progr in Bern etwa haben die beiden umgebaut, mit geringem Budget, lieber prakti schen statt prätentiösen Materialien. Für die Nutzung ge dacht – und nun tatsächlich genutzt, von Bargästen, Wirten und den Kreativen der angrenzenden Ateliers. → Es gibt romantischere Bauernhäuser in der Gegend. Die Wohnstatt-Idylle ist eine handfeste.

Die beiden ‹ Sprungbrett ›-Coaches Sebastian Holzhausen und Hannes Zweifel links sitzen mit den Bewohnerinnen zusammen.

Das Wichtigste in der Gemeinschaftsküche ist der lange Tisch, an dem alle Platz finden.

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Anstrengendes Paradies « Immer mal wieder kommen Leute zu uns, die sagen: Genau das, was ihr habt, so wie ihr hier lebt, wollen wir auch », erzählt sie. Warum aber gibt es « genau das » nicht öfter ? Warum wird nicht jedes leer stehende Bauern haus von einer Gemeinschaft bewohnt ? « Die Mens chen sind zu faul », meint Mathias Jost. Er lacht, meint es ab er durchaus ernst. Ein Paradies zu bauen sei Knochenarbeit und brauche Zeit. Drei Sauleben lang. Seit dem letzten Schlachtfest gibt es auf dem Hof nur noch das lebens grosse Holzpferd Berta, ein Bienenvolk, die Hühner und den Güggel, der nun zurück in den Stall muss, bevor ihn doch noch der Fuchs holt. ● Die ‹ Sprungbrett ›-Jury sagt: « Wohnstatt könnte zum Vorbild für Projek te dieser Art werden, weil viele von einer solchen Wohnform mit viel Potenzial zur Selbstverwirklichung träumen. Das gab es schon in den 1980er-Jahren, aber heute ist es erneut innovativ – als echte Alterna tive zum Einfamilienhaus im ländlichen Raum. Das Projekt ist mehr als eine Insel der Seligen. Geflüchtete und sozial Be nachteiligte gehören dazu, und das soll so bleiben. Wohnstatt entzieht den Wohn raum bewusst der Spekulation, doch Mis sionieren ist nicht Sache des Teams. Es vertritt eine Generation, die anders leben möchte, die ihre eigenen Ideen hat, aller dings recht unideologisch. Die Menschen probieren Wohn- und Lebensformen aus und tragen das ganz unprätentiös nach aussen.

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Ämtliplan und Plastikpool Im neuen Gemeinschaftsraum sollen dereinst alle zusammenkommen – für gemeinsame Essen, gemein same Gespräche, gemeinsame Zeit. Ein Versprechen der Genossenschaft. « Einiges ist vielleicht konservativer ge raten als ursprünglich geplant. Die Wohnungen sind eher pragmatisch. Der Gemeinschaftsraum als Herzstück der Genossenschaft ist nun für alle eine Projektionsfläche », s agt Hannes Zweifel. Eine grosse Fensterfront soll das hölzerne Tor ersetzen und den Raum zum Garten hin öff nen. Die Küche wird nach hinten versetzt, es gibt Nischen und Stauraum für die Töpfe, die jetzt noch an den Wänden hängen, und für das Geschirr und die Einmachgläser, die sich auf bunt zusammengewürfelten Kommoden stapeln. « Wir hätten den Raum einfach ausgehöhlt und päff – einen möglichst grossen Raum geschaffen », meint Céline Fluri. Auf dem ehemaligen Heuboden, schräg über dem Ge meinschaftsraum, liegt allerhand Gerümpel. In ein paar vergessenen Blumentöpfen welken Kräuter. Kabel, Werk zeug und sogar ein Schlagzeug stehen da. Auf ähnlicher Höhe wird es nach dem Umbau eine Galerie geben. Um das Vorhaben zu visualisieren, brachten die Architekten Referenzbilder von japanischen Häusern mit verschiede nen Plattformen mit – und regten damit die Fantasie der Bewohner an. « Einmal hatten wir die Idee, in diesen Mit telteil eine Art Schiff mit vielen Kojen zu bauen », erinnert sich Céline Fluri. « Wir mussten wohl erst über die verspiel testen Möglichkeiten nachdenken, um zu einer simplen Lösung zurückzukehren. » Nun muss zunächst die Woh nung im Westteil renoviert werden. Erst in ein, zwei Jahren beginnt der Umbau des Gemeinschaftsraums. Bis dahin muss die Gruppe dranbleiben, durchhalten. Da mit sie den Faden nicht verliert, hat jeder seine Aufgabe. Die Übersicht behält das « Arbeitsamt » in rotierender Be setzung mit Ämtliplan an der Tafel neben der Tür zum Ge meinschaftsraum. Jedes Jahr gibt es fünf Aktionstage, an denen alle zusammen anpacken, auf der Baustelle oder bei der Waldarbeit. Man hilft der Gemeinde, Neophyten zu beseitigen. Auch die wichtigen Traktanden kommen an diesen Tagen zur Sprache. Jede Etappe wird gefeiert, mal in kleinerem Rahmen, mal grösser, wie damals, in diesem einen Sommer, als die riesige Discokugel in den Dachgie bel gehängt wurde. Fotos gibt es nur vom Morgen danach, von den vergessenen Schuhen auf der Wiese, der Asche in der Feuerschale, den taufeuchten Luftschlangen über dem Hof. « Uns geht es allen s o gut. » Céline Fluri s chaut auf den Garten. Der Plastikpool müsste vor dem Sommer noch gründlich geschrubbt werden.

Team: WohnstattWohnbaugenossenschaft Coaching: Holzhausen Zweifel Architekten

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1.ErdgeschossObergeschoss → 0 5 10 m

Denens: Charles Capré und Arthur de Buren bauen Clusterwohnungen in eine Scheune.

Aber damals war das keine Selbstverständlichkeit. Ausser halb der Städte fielen zukunftsweisende Initiativen kaum auf fruchtbaren Boden ; unkonventionelle Alterna tiven zu den kleinen Behausungen, massgeschneidert auf jede einzelne Familie – oder auf die Vorstellung, die man davon pflegte –, waren kaum gefragt.

Die in der Welt von wohnenmorgen

Er: Gewiss … Damals war man no ch ein Aussteiger, wenn man aufs Land zog … Und die zwei Schwestern, die waren damit einverstanden ?

Sie: Ja, aber nur unter der Bedingung, dass die beiden Architekten die künftigen Bewohnerinnen finden würden. Und dann musste für ein Darlehen auch noch die Bank von der Idee überzeugt werden, dass in ein und demselben Haus Menschen zusammenleben würden, die sich davor nicht kannten. Er: Damals konnte man sich so etwas überhaupt nicht vor stellen. Wie haben sie die Parteien schliesslich gefunden ?

Themenheft von Hochparterre, September 2022 Neue Wohnformen Die in der Welt von morgen wohnen28

Zwei Menschen nach der Katastrophe. Sie wohnen in einer umgebauten Scheune –gemeinschaftlich, wie es mittlerweile alle tun. Gelassen blicken sie zurück.

Er: Ja, stimmt, es war tatsächlich zum Davonlaufen, da mals. Richtig deprimierend, so allein. Ich hatte alles, aber ich hatte niemanden. In der ‹ Grange › geht es uns entschieden besser. Sie: Weisst du eigentlich, wie sie auf die Idee dafür kamen ?

Er: Die beiden Architekten ? Nein, erzähl ! Sie: Bereits 2017, also ein paar Jahre vor dem ‹ Ereignis ›, hatte einer der beiden von seiner Mutter und seiner Tan te ein Mandat erhalten. Die beiden Frauen waren Eigen tümerinnen einer Scheune, die sie geerbt hatten, und sie wollten diese in ein Wohnhaus umgestalten. Das Problem war jedoch, dass es darin nicht genügend Platz für kon ventionelle Wohnungen hatte. Da schlugen die zwei jun gen Architekten die Lösung mit den Clustern vor.

Sie: Erst einmal bewarben sich die Architekten für ein Coaching Programm. Sie argumentierten damit, dass die ‹ Grange › ein Pilotprojekt s ei, ein Wohnmodell, das sich durchsetzen könnte. Das Theaterstück ‹ La thé orie de l’ours polaire › ( Die Theorie des Eisbären ) ist eine Koproduktion von Alexis Rime, Stella Giuliani und Arthur de Buren. Die Theatergruppe Comsi trat 2020 am Festival des Granges in La Chaux ( Cossonay ) und auf zwei weiteren Höfen auf.

Text: Casimir Trabandan Auf der Rampe einer Scheune sitzen bei Kerzenlicht ein Mann und eine Frau, fast nackt, auf Strohballen, die wie Möbelstücke arrangiert sind, und diskutieren.

Er: Eigentlich ging es uns gar nicht so schlecht, damals Sie: Ach, hör doch auf ! Ständig rannten wir von hier nach da und hatten keine Zeit für gar nichts. Und es machte uns krank. Der Mann beisst in einen Apfel und kaut bedächtig, bevor er antwortet.

Er lacht, verschluckt sich an seinem Apfel und spricht dann weiter.

Er: Ja, damals Sie: Mittlerweile wohnen wir ja praktisch alle gemein schaftlich. Wir haben auch nicht mehr wirklich die Wahl.

Er: Mit was ? Sie: Clusterwohnen, das ist der Name unseres Wohnmo dells: eine grosse Wohngemeinschaft mit gemeinsamem Wohnzimmer, geteilter Küche und Garten, aber mit zusätz lichen privaten Wohneinheiten mit je eigenem Bad und einer kleiner Küche. Ein neuer Trend, der in den Städten in aller Munde war. Aber auf dem Land gab es das nicht.

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Themenheft von Hochparterre, September 2022 Neue Wohnformen Die in der Welt von morgen wohnen30 ‹ Sprungbrett ›-Coach Laurent Guidetti mit den Architekten Arthur de Buren und Charles Capré. Die Halle in der Mitte dient als Hauptraum und als Treppenhaus. Visualisierung: Architekten Die Scheune in Denens oberhalb von Morges vor dem Umbau.

Themenheft von Hochparterre, September 2022 Neue Wohnformen Die in der Welt von morgen wohnen 31 Er: Ziemlich visionär, finde ich, wenn man b edenkt, was dann geschah.

Er: … bevor diese vollständig aufgebraucht wären. Er isst seinen Apfel, kaut langsam, in Gedanken versunken.

Entsteht hier ein neuer Wohntypus, der das Gemeinsame der Scheunen in der Re gion und ihre Geschichte lesbar macht ?

Die ‹ Sprungbrett ›-Jury sagt: « Hochs chulen und Bundesämter sind nah, Wohnraum ist gesucht. Ausserdem stehen in der Waadt viele Scheunen leer. Neue und unkonventionelle Wohnfor men könnten helfen, sie nutzbar zu ma chen – und auch jungen Erwachsenen und älteren Menschen die Möglichkeit geben, im Dorf zu bleiben. Das Projekt ist klein, das generelle Problem aber drängend. Der Umbau sollte über das einzelne Projekt hinaus einen baukulturellen Beitrag leisten.

Sie: Soviel ich weiss nicht. Aber die Mund zu Mund Propa ganda und die sozialen Netzwerke trugen dazu bei, dass das Projekt auf grosses Interesse stiess. Ich glaube, weil viele bauen wollten, aber weder über Boden noch über die nötigen finanziellen Mittel verfügten. Da war die Idee des gemeinschaftlichen Wohnens eine willkommene Möglich keit – die es aber erst einmal vorzuspielen galt, bevor man sie projektieren konnte. Das Theaterstück wurde 2020 ge zeigt, mitten in der Pandemie, nach der ersten Welle und dem generellen Lockdown, der einen ersten Exodus aufs Land nach sich zog. Er: Ah, stimmt, ich erinnere mich. Die Einsamkeit des Lock downs … S chlimm !

Er: Stimmt es, dass ihr Vorbild ein französischer Philo s oph war ? Sie: Ja, Bruno Latour. Einer der b eiden Architekten nahm an einem Studienprogramm von Latour in Paris teil. Auch da spielte das Theater eine wichtige Rolle: als gemein schaftlicher Rahmen für einen direkten Austausch von Ideen und Emotionen – als o nicht mehr über irgendein Medium. In jener Zeit hatte Latour auch ein Theater stück auf die Bühne gebracht, das die Menschen von der Dringlichkeit in Zusammenhang mit dem Klimawandel überzeugen sollte. Er ( sich den Bauch haltend vor Lachen ): Erfolglos, wie sich zeigte ! Sie: Ja … Aber es inspirierte unsere Architekten. Sie zo gen aus, eine Truppe zusammenzustellen, und konzipier ten ein Theaterstück. Sie arbeiteten mit verschiedenen Schauspielern, mit einem Autor und einer Regisseurin zusammen. Er: Hast du das Stück ges ehen ? Sie: Ja Er: Worum geht es ? Sie: Na ja, es erzählt unsere Geschichte: das gemeinschaft liche Leben in einer Scheune nach der Katastrophe. Er: Willst du damit sagen, sie hätten uns ere Existenz in szeniert, noch bevor sie ihr Projekt verwirklichten ? Für Architekten ganz schön kühn. Die interessieren sich ja meist nicht sonderlich für die Bewohner. Sie: Das Stück wurde s ogar mehrere Male aufgeführt, in drei verschiedenen Scheunen. Der Saal war bei jeder Vorstellung voll: Die Menschen aus dem Dorf natürlich, die waren neugierig, aber das Publikum kam aus der gan zen Region. Er: Und die künftigen Bewohnerinnen der S cheune, waren die auch unter den Zuschauern ?

Sie: Auf den Aufruf zum Erstbezug reagierten umgehend rund zwanzig Interessierte. Da auf beiden Seiten des gros sen Gemeinschaftsbereichs lediglich sechs Kleinwohnun gen zur Verfügung standen, organisierten die Architekten Treffen mit den Interessierten. Sie sollten sich in Gruppen einteilen – nach Vorlieben und unter Berücksichtigung ei ner gewissen Diversität. Er: Unglaublich, dies e Geschichte. Aber wie genau haben sie die Scheune dann umgestaltet ?

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Sie: Nach dem Grundsatz, das zu verwenden, was schon da ist: die Balken wiederverwenden, den Aushub für Back steine verwerten und so weiter. Sie haben sogar eine Ga bionenwand mit den für die neuen Öffnungen entfernten Steinen konstruiert. Ein Putz aus Kalk und Hanf diente der Isolation. Damals musste man um jeden Preis darauf ach ten, mit den Baumaterialien Energie zu sparen.

Er: Glaubst du, dass wir einfach nur Schauspieler auf einer Theaterbühne sind ? Sie: Vielleicht. Aber wären wir viele, dann vielleicht nicht.

Sie: Zu jener Zeit gab es zahlreiche leer stehende Scheu nen in dieser Gegend, die nur darauf warteten, bewohnt zu werden. Das Projekt der zwei Architekten wurde für ein Coaching ausgewählt, und so begegneten sie Laurent Guidetti, ihrem Coach. Er war eine Art Guru in der West schweiz, ein leidenschaftlicher Architekt, ein Ökofreak, wie man zu sagen pflegte. Mit ihm funktionierte das offen bar gut. Guidetti investierte einen Teil seines Honorars in die Entwicklung des Projekts. Zugleich machte er die bei den Architekten mit einer seiner grossen Leidenschaften, dem Improvisationstheater, bekannt.

Lärm dringt aus den anderen Zimmern: Schritte, Gesprächsfetzen, das Klingen von Gläsern beim Zuprosten. Vorhang. ● Das Projekt In einem Dorfkern im Kanton Waadt steht eine Scheune leer. Zwei junge Architekten planen eine Clusterwohngemeinschaft, die Bauherrinnen lassen sich auf das Experiment ein. Neben sechs unterschiedlich grossen Clustern mit Bad und kleiner Küche gibt es viele gemeinschaftliche Einrichtungen: Halle, Küche, Cheminéeraum, Gästezimmer. Der Miet vertrag heisst ‹ Charta für nachhaltiges Wohnen ›. Die Mieterschaft verpflichtet sich, auf ein Auto zu verzichten, sorgsam mit Ressourcen umzugehen und « jegliche Form von Extremismus oder Ausgrenzung zu vermeiden ». So möchte die ‹ Grange › in Denens Lebensqualität und Nachhaltigkeit verbinden.

Team: Arthur de Buren et Charles Capré Architectes Coaching: Laurent Guidetti, Architekt

Trubschachen im Emmental: Eine Genossenschaft um Anton Küchler 2. v. l. sucht nach der idealen Wohnsiedlung.

Text: Melanie Keim

Das Mauerhoferhaus in Trubschachen: Im früheren Wohnsitz eines reichen Käsehändlers trifft sich heute die Genossenschaft Sonnhas.

Themenheft von Hochparterre, September 2022 Neue Wohnformen Die harzige Umsetzung eines Traums34

Die Umsetzungharzige eines Traums

Die Genossenschaft Sonnhas plant in Trubschachen im Emmental eine Wohnsiedlung mit kollektiv betriebenem Bauernhof. Entwicklung, Bau und Betrieb sollen maximal und gleichzeitig günstig sein. Die Geschichte einer schwierigen Planung.

ökologisch

Der Fünfte in der Runde ist der Ruhige: der Architekt aus Langnau, der wenig sagt und zwei Hüte trägt – Auftrag geber und Auftragnehmer. Die se fünf bildeten einst den Vorstand der Genossenschaft Sonnhas, die für dieses Wohnund Landwirtschaftsprojekt gegründet worden war.

Am Anfang standen eine Baulandparzelle am Rand von Trubschachen, die zusammen mit einem alten Bauernhof di rekt nebenan zum Verkauf stand, und das Gefühl, dass die Kombination aus Wohnen und Landwirtschaft ohne eigenen Hof gefragt sein könnte. « Ich habe den Eindruck, dass e s viele Menschen gibt, die es attraktiv fänden, so zu wohnen –auch aus meinem eigenen Umfeld », sagt Anton Küchler. So wie er: auf dem Land, weit weg von allem. Doch er weiss auch, dass das Leben in Abgeschiedenheit nicht einfach ist, dass es einige dann doch wieder von den Hügeln runterzieht, an besser erschlossene Orte. Küchler weiss, wie man hoch qualifizierte Städter be zeichnet, die Abwanderungsgebiete wieder bevölkern. La chend spricht er von den « New Highlanders » und vom « Typ des neuen Bürgerlichen », der politisch korrekt ist, ökologisch bewusst lebt und in einer Genossenschaftssiedlung wohnt. Der Permakulturexperte meint das nicht abwertend. Er ist selbst ein Zuzüger, zog vor 20 Jahren nach dem Studium an der ETH Zürich in die Gegend und verortet sich und den Kreis, in dem das Projekt Sonnhas entstanden ist, in besagtem Mi lieu. Ein Milieu, das aus einer Mischung aus Aussteigerinnen und ökologischer Avantgarde, aus an Permakultur und an Gemeinschaftsprojekten Interessierten besteht, wie er sagt.

Herausfordernde Ausgangslage

Themenheft von Hochparterre, September 2022 Neue Wohnformen Die harzige Umsetzung eines Traums 35 Wenn mitten im Dorf ein Zettel mit der Aufschrift « Unser Geschäft bleibt für immer geschlossen » an einer Laden türe hängt, dann bedeutet das meist nichts Gutes. Solche Schilder hängen in Orten, die vielleicht hübsch sind, aber doch wenig Anziehungskraft haben. In Orten wie Trub schachen. Das Dorf liegt am Fuss des Napfs, eingebettet in die sanften Hügel des Emmentals, ziemlich genau in der Mitte der Bahnverbindung zwischen Luzern und Bern durch das Entlebuch. Am Bahnhof empfangen einen der buttrig-süsse Duft aus der Kambly-Fabrik, ein Selbstbe dienungsladen mit Landwirtschaftsprodukten und Selbst gemachtem aus der Region und ein Schild, das einen « im Herzen des Emmentals, im Herzen der Schweiz » willkom men heisst. Nur: In dieses Herz kommt man hauptsäch lich zu Besuch. Die Einwohnerzahlen von Trubschachen sinken zwar nicht, aber sie stagnieren. Einige Einwohne rinnen aus Trubschachen und aus Trub, dem Nachbardorf, sind überzeugt, dass das Dorf mehr Zuzüger anziehen könnte. Dass viele Menschen aus urbanen Gebieten gerne hier wohnen würden, wenn man ihnen nur bieten würde, was sie suchen und in der Stadt nicht finden. Wenn man ihren Traum vom abgeschiedenen Leben, in dem man auf einem Stück Land einen Teil der eigenen Lebensmittel an baut, in die Realität übersetzen würde. Diese Übersetzungsarbeit will die Genossenschaft Sonnhas leisten. Auf einem Flecken Land direkt an der Bahnlinie plant sie eine Genossenschaftssiedlung, in der rund 50 Menschen so günstig wohnen können, dass sie Zeit haben, neben einer Erwerbsarbeit einen Teil ihrer Be dürfnisse durch Selbstversorgung abzudecken. Und zwar auf einem kollektiv betriebenen Hof, der sich an der Idee der Permakultur orientiert: Der Bedarf soll so umfassend wie möglich über lokale und erneuerbare Ressourcen ge deckt werden. Diesem Gedanken soll nicht nur der Be trieb, sondern auch der Bau der Siedlung folgen: Die Sied lung soll idealerweise mit naturbelassenem Massivholz aus der Region gebaut werden. Fünf engagierte Menschen Doch so weit ist es noch nicht. Die Geschichte des Projekts Sonnhas erzählt erst von einer Gruppe engagier ter Menschen mit einer visionären Idee und von einem langen, schwierigen Weg bis zum Ziel. In den Hauptrollen: Anton Küchler, der Mann für Permakultur in der Schweiz. Auf dem Balmeggberg oberhalb von Trub betreibt er ei nen gemeinschaftlich geführten Permakulturhof und in Trubschachen ein Büro für Permakulturdesign. Er ist das Zugpferd des Projekts. An seiner Seite steht Ingur Seiler, gelernter Zimmermann, der auf dem Berghof Stärenegg ob Trubschachen aufgewachsen ist, wo er heute mit Ju gendlichen mit besonderen Bedürfnissen arbeitet. Von ihm stammt die Aussage, dass die geplante Siedlung mit höchstens einem Liter Leim pro Wohnung gebaut werden solle. Dann ist da der Landwirt, der ebenfalls in Trubscha chen aufgewachsen ist und dort einen Demeterhof be wirtschaftet. Ihm ist wichtig, dass die Wohnungen günstig sind, auch wenn mit Holz gebaut wird. Die Rolle der einzi gen Frau spielt eine Szenografin, die im Dorf in einem Ge meinschaftshaus mit Permakultur-Landwirtschaft wohnt und arbeitet. Sie interessiert sich vor allem dafür, wie die künftigen Bewohnerinnen die Siedlung nutzen werden.

Das Mauerhoferhaus, in dem wir uns treffen, verströmt ebenfalls einen alternativen Charme. In diesem eindrückli chen alten Haus an der Hauptverkehrsachse von Trubscha chen wohnte zu Gotthelfs Zeiten ein reicher Käsehändler. Heute arbeiten hier der Permakulturberater und zwei IT-Ex perten in Büros, die wie gemütliche Stuben aussehen. Eine Il lustratorin hat hier ihr Atelier eingerichtet, ein Schuhmacher seine Werkstatt, zudem wird lokal gerösteter Kaffee verkauft, und im Keller, wo einst der Käse lagerte, ist ein Veranstal tungssaal untergebracht. In einem Zimmer mit Blick auf das Bauland am Hang fand die erste Sitzung des Planungsteams statt, im Früh ling 2022, drei Jahre nachdem die Genossenschaft die Bau landparzelle und den Bauernhof hatte kaufen können. In der Zwischenzeit gab es einige Hürden zu überwinden. Zu nächst ist da die herausfordernde Ausgangslage: Möglichst günstig und maximal ökologisch soll der Bau werden. → Das Baufeld der geplanten Siedlung mit dem zugehörigen Bauernhaus rot und dem Mauerhoferhaus blau.

Themenheft von Hochparterre, September 2022 Neue Wohnformen Die harzige Umsetzung eines Traums36 Doch ein Massivholzbau, wie er dem Gedanken der Per makultur entspräche, kann schnell teuer werden. Dazu kam, dass der Vorstand sich nicht so schnell einig wurde. Denn auch wenn man sich im selben Umfeld, in der gleichen Ge dankenwelt und Kultur verortet, findet man nicht zwingend einen gemeinsamen Nenner. Weiter spielen die Figuren in den Nebenrollen mit: der Staat, der für das Stück Land am Dorfrand nur Einfamilienhäuser vorsieht und für den Erwerb der Landwirtschaftsfläche durch die Genossenschaft eine Ausnahmebewilligung erteilen muss – für die geplante Sied lung braucht es eine Änderung der Vorschriften für die Zone mit Planungspflicht. Zudem b etritt ein Coach die Bühne, ein Architekturprofessor der Hochschule Luzern, der den Vor stand bei der Planung unterstützen soll, hier aber nicht wirklich helfen kann. Zu unterschiedlich sind die Vorstel lungen. Und zu guter Letzt spielen auch die Nachbarn ei nen Part. Sie bringen die Bevölkerung von Trubschachen an der Gemeindeversammlung beinahe dazu, die Bewilli gung für grössere Bauten als Einfamilienhäuser nicht zu erteilen. « Wie das eben s o ist in einem Dorf », sagt Regula Turtschi zum knappen Abstimmungsresultat vom Septem ber 2020. Die Szenografin ist vor einigen Wochen aus dem Vorstand ausgetreten, gemeinsam mit dem Landwirt. Sie nennt persönliche Gründe für ihren Entscheid und spricht von Ressourcen, aber auch von einem harzigen Prozess. Sie wäre lieber pragmatischer vorgegangen, hätte mehr Kompromisse bei ökologischen Vorstellungen in Kauf genommen. Statt über Technisches wie das Baumaterial oder die Frage, ob und wie viel Leim verwendet werden soll, hätte sie lieber mehr über die Nutzung der Räume ge sprochen und das Projekt davon ausgehend geplant. Aus ihrer Erzählung hört man weder Frust noch Verbitterung heraus. Regula Turtschi hält das Vorhaben noch immer für ein « wunderbares Projekt » und « eine tolle Chance für das Dorf ». Und sie ist überzeugt, dass der kleinere Vorstand nun besser vorwärtskommt. Zielkonflikte und Pioniergeist Als beim Coaching die ersten Entwürfe auf dem Tisch lagen, wurden die unterschiedlichen Perspektiven deut lich: Bei einem Grundriss fand jemand, das sähe zu wenig nach Wohnhaus aus. Bei einem mäandrierenden Baukör per, der sich gut in den Hang eingefügt hätte, landete man wieder bei der Diskussion um den Holzbau. Denn Zick zackformen mit Holz sind aufwendig und folglich teuer. « Wir merkten, dass wir als Bauherrschaft kein Gegenüber sein können, wenn wir uns nicht einig sind », sagt Anton Küchler. In einem demokratischen Prozess entschied der fünfköpfige Vorstand, das Projekt vom Material und von der Baumethode her zu denken. Es soll lediglich Massiv holz verwendet werden, das aus den umliegenden Wäldern stammt und vom lokalen Gewerbe bearbeitet wird. Und da waren es eben nur noch drei, die ihre Vision für Trubscha chenNunvorantrieben.liegteinProjekthandbuch vor, das die wesentli chen Fragen zur Siedlung und zur Planung klären soll. Doch der reduzierte Vorstand muss nach wie vor die Quadratur des Kreises schaffen, weil das Projekt so anspruchsvoll ist. Geht man mit den drei verbliebenen Vorstandsmitglie dern über das Grundstück, spürt man ihren Pioniergeist und ihre Lust am Gestalten. Vor dem alten Bauernhaus mit Stöckli, Spycher und Schopf sprechen sie über mögliche künftige Nutzungen: Im riesigen alten Bauernhaus hätte Die ‹ Sprungbrett ›-Jury sagt: « Die Genossenschaft Sonnhas will günstiges und selbstversorgendes Wohnen in Trubschachen ermöglichen. Es gibt be reits solche alternativen Orte in der Region, das Projekt ist also nicht blauäugig und kann an etwas anknüpfen. Die Genossen schaft möchte etwas Sinnvolles bauen, eine einfache Siedlung aus lokalem Holz. Sie will dem Dorf etwas geben, Zuzüger und Schulkinder. Als Bauer bleibe man im Dorf, sagte einer von ihnen, also müsse man das Dorf besser machen. Es ist ein Dorfentwicklungsprojekt von unten und als solches ein Vorreiter.

» Team: Genossenschaft Sonnhas Coaching: Christian Zimmermann, Architekt ( ausgeschieden ), Peter Schürch, Architekt, und Sabine Wolf, Landschaftsarchitektin es Platz für einen gemeinsamen Mittagstisch oder für ei nen Lagerraum. Und vor dem Backhäuschen neben dem Mauerhoferhaus, wo sich einmal wöchentlich eine Back gruppe trifft, kann man sich das gemeinschaftliche Leben, das Ländliches und Urbanes vereint, bildlich vorstellen. Konstruktion und Städtebau Bei der Landbegehung werden auch grundlegende Fra gen diskutiert, etwa ob man den schmalen Spickel Land, der zum angrenzenden Schulhaus gehört, vielleicht doch noch der Gemeinde abkaufen könnte. Und man kommt zur Erkenntnis, dass Zeit in diesem Projekt nicht die wichtigs te Grösse ist. « Wir haben keine Eile », sagt nicht nur Anton Küchler, sondern auch Ingur Seiler, der Zimmermann, der erklärt, dass er diese Matte hier mähe und das Futter gut für seine Tiere brauchen könne. Als die Gruppe mögliche Grundrisse diskutiert, wird klar, was eine Planung vom Material her bedeutet. Über innovative Wohnformen wie Cluster-WGs oder Alterswohnungen wird nicht mehr ge sprochen. Jetzt geht es vor allem um Fragen wie: Wie breit dürfen die Räume sein, damit es keine verleimten Balken oder aufwendige Verbindungskonstruktionen braucht ? Auch die Nutzung oder die Aussenräume sind kaum mehr Thema. Im Vordergrund steht nun die Rechnung: Wie bringt man Massivholzbau und günstigen Wohnraum unter einen Hut ? Beim Favoriten, einer ringförmigen Anordnung, äu ssert die involvierte Landschaftsarchitektin Bedenken, weil die abgeschlossene Form nicht dem Gedanken der Sied lung entspreche, die doch eine Verbindung von Wohnen und Bewirtschaftung des umliegenden Landes suche. Als wich tiger Ort im Dorf solle die Siedlung auch einladend sein. Die Änderung der Zonenvorschriften ist mit der Auf lage verbunden, ein qualitätssicherndes Verfahren durch zuführen. Das verbliebene Coaching-Budget des ‹ Sprung br etts › fliesst nun zum Teil in Workshops mit externen Expertinnen, einer Landschaftsarchitektin und einem in Nachhaltigkeitsfragen erfahrenen Architekten. Als die Frage aufkommt, wann die Auswärtigen wohl einzie hen werden, wird deutlich, dass dieses Projekt nicht nur für Zuzüger gedacht ist. Sonnhas ist auch ein Projekt für Trubschachen und seine jetzigen Bewohnerinnen – auch für die, die vielleicht irgendwann von den Hügeln ins Dorf hinunterziehen wollen. ●

Das alte Bauernhaus mit Stöckli, Spycher und Schopf wird von den künftigen Siedlungsbewohnerinnen genutzt.

Das Grundstück der geplanten Siedlung liegt zwischen Weg und Schulgelände. Vorn fällt der Hang zur Bahnstrecke ab.

Themenheft von Hochparterre, September 2022 Neue Wohnformen Die harzige Umsetzung eines Traums 37

Andrée Mijnssen: Wir acht Erben nahmen die Herausforde rung an und beauftragten die Metron Architekten Mar kus Ringli und Claude Vaucher mit der Ausarbeitung ei nes Bauprojekts. Kurz darauf gründeten sie das Spin off Büro Z und wir die gemeinnützige ProMiet AG. Warum haben Sie sich für eine gemeinnützige AG entschieden und keine andere Form gesucht ? Andrée Mijnssen: Unser Angebot richtete sich an die auf dem Wohnungsmarkt wirtschaftlich am stärksten benachtei ligten Gruppen. Die Mietzinse in der Siedlung Schauburg waren günstiger als in neuen Genossenschaftswohnun gen ; das Reihenhaus mit Garten und einer Wohnfläche von 95 Quadratmetern kostete monatlich 1100 Franken. Gleich zeitig sicherte das Wohnbau und Eigentumsförderungsge setz ( WEG ) des Bundes Haushalten mit tiefen bis mittleren Einkommen zusätzliche Verbilligungen zu. Die Mieterschaft der ‹ Schauburg › hatte zudem den Vorteil, dass sie keine Anteilscheine erwerben musste. Bei einem weit gehenden Kündigungsschutz konnte sie einfach wieder ausziehen.

Themenheft von Hochparterre, September 2022 Neue Wohnformen « Die Mieterinnen erhielten Mitbestimmungsrechte »38 « Die Mieterinnen erhielten Mitb estimmungsrechte »

Daniel Brunner: Ab 1980 arbeitete ich neb en dem Studium halbtags als technischer Redaktor in der Industrie. Zu dieser Zeit wurde ich Teil der Zuger ‹ Aktionsgruppe Woh nungsnot ›. Ich engagierte mich in Abstimmungskämpfen für städtische Wohnungen und setzte mich gegen Häuserabbrüche und die Umnutzung von Wohnungen zu Büros ein. Damals wohnte ich in einer sehr einfachen, dem Ab bruch geweihten Landis & Gyr Siedlung im Arb ach. Vor diesem Hintergrund entstand die Idee einiger Nachkom men, die Wohnbaupolitik der von der Familie kontrollier ten Landis & Gyr grundlegend zu verändern. Andrée Mijnssen: Ich hatte Anfang der 1970er Jahre in Ber lin Landschaftsökologie und Landesplanung studiert und brachte ein grosses Interesse an einem Wohnungsbau mit, der auch ökologisch ist. In der Schweiz war das damals noch kein Thema. 1981 wandten Ursula Brunner, Daniel Brunner und ich uns an den ETH Professor Alexander Henz und wollten wissen, wie Landis & Gyr preisgünstigen und ökologischen Wohnungsbau mit Mieterschutz und Selbstverwaltung ermöglichen könnte. Neubauwohnun gen der Firma waren für normale Angestellte damals viel zu teuer. Weil Landis & Gyr den Landwert jeweils fix auf 15 Prozent der Anlagekosten festsetzte, gab es keinen An reiz für preisgünstiges Bauen. Wie waren die Reaktionen ? Andrée Mijnssen: Alexander Henz empfahl uns die Metron in Brugg, die er mitgegründet hatte. Nach einem heftigen Konflikt mit der Führung von Landis & Gyr sollte die Me tron unter der Ägide und auf Kosten der familieneigenen Landis & Gyr Holding eine Studie erstellen. Acht Erbinnen der Enkelgeneration Gyr im Alter von 22 bis 32 Jahren en gagierten sich in der B egleitgruppe.

Daniel Brunner: Die Mieterinnen wurden mit Unterzeichnung des Mietvertrags Mitglied des Mietervereins, und sie er hielten Gestaltungs und Mitbestimmungsrechte.

Vor 40 Jahren entstand in der Nähe von Zug die Siedlung Schauburg. Ein Gespräch über zukunftsfähigen Wohnraum mit Andrée Mijnssen und Daniel Brunner von der ProMiet AG und Andreas Wirz von den Wohnbaugenossenschaften Zürich.

Daniel Brunner: Die Form einer Stiftung hatten wir verwor fen, weil eine gemeinnützige AG eher zur Nachahmung des preisgünstigen und umweltfreundlichen Bauens ins piriert. Die mit dem WEG Mo dell verbundene Möglichkeit von Bundesbürgschaften sollte das Modell ‹ Schauburg › mit offener Rechnungslegung besonders auch für Genos senschaften und andere Bauherrschaften mit wenig Ei genkapital interessant machen. 1986 war die Siedlung Schauburg mit 20 Reiheneinfami lienhäusern und 14 Geschosswohnungen bezugsbereit und rasch vermietet. Sie war ein ökologisches Pionierprojekt im sozialen Mietwohnungsbau.

Andrée Mijnssen: Schon damals trugen Sonnenkollektoren, Holzfassaden mit biologischer Farblasur, die Bepflanzung mit einheimischen Gewächsen, wasserdurchlässige Belä

Interview: Karin Salm Wie kam Anfang der 1980er-Jahre die Idee zustande, die ProMiet AG zu gründen, um mieterfreundlichen und ökologischen Wohnungsbau zu erstellen ?

Daniel Brunner: Wir wollten, dass die Mieters chaft über ei gentümerähnliche Rechte verfügt und sie die Wohnungen auch verändern kann. Die Metron schlug unter anderem einen sehr weit gehenden Kündigungsschutz vor, doch das stand in Konflikt mit dem damaligen Firmenkonzept, das eine Betriebswohnung an eine Anstellung knüpfte. Das – und die Skepsis, ob Wohnungen mit einem einfachen Ausbaustandard für Landis & Gyr Ange stellte attraktiv seien – führte zum Abbruch der Metron Studie durch die Landis & Gyr Holding. Damit verbunden war das Angebot, dass « die Jungen » auf einem Restgrundstück im ländli chen Hünenberg zeigen durften, ob ihre Absichten markt und realitätstauglich seien.

Hatte das auch damit zu tun, dass die Genossenschaften in den 1980er- und 1990er-Jahren etwas träge waren ?

Andreas Wirz: Diese Geschichte beschäftigt mich. Sie zeigt, dass eine AG kein nachhaltiges Modell ist, um einen Grün dergeist an die nächste Generation weiterzugeben. Darum schätze ich die Rechtsform der Genossenschaft. Sie ist ein Generationenmodell und betrifft die Menschen, die die Überbauung bewohnen und betreiben. Interessanter weise gibt es jetzt Firmen, die gemeinnützige Genossen schaften als Geschäftsmodell haben. Zum Beispiel die Firma Halter: Sie gründet Genossenschaften und entlässt diese nachher in die Mietergenossenschaft. Ob der Trans fer funktioniert, wissen wir noch nicht.

Mit dem Erlös aus dem Verkauf der ‹ Schauburg › haben Sie das ‹ Sprungbrett Wohnungsbau › ins Leben gerufen mit dem Ziel, innovative und nachhaltige Wohnprojekte im ländlichen Raum und in der Agglomeration zu fördern. Und zwar in Form von Coachings, die Know-how und Kontakte vermitteln sollen.

Andreas Wirz: Tatsächlich waren das die Krisenjahre der Genossenschaftsbewegung in der Schweiz. Die Genossen schaften lebten vom Erbe und brachten wenig Innovatives zustande. Viele Vorstände wohnten selbst in den Siedlun gen und wollten nichts machen, was steigende Mieten zur Folge gehabt hätte. Für uns war das ein guter Augenblick, die Branche etwas aufzumischen.

Daniel Brunner * 1957, Wirtschaftsethnologe, von 1983 bis 1992 Geschäftsführer, bis 2007 Verwaltungsrat der Pro Miet AG, von 1986 bis 1998 im Grossen Gemeinderat der Stadt Zug.

Andrée Mijnssen: Für das ‹ Sprungbrett › haben wir einige ideenreiche Projekte ausgewählt. Ob sich daraus etwas Langlebiges entwickelt, werden wir erst in einigen Jahren sehen. Neue Wohn und Lebensformen sollen nicht zuletzt weitere Menschen dazu bewegen, Ähnliches zu versuchen.

Wenn wir es schaffen, an kleinen Orten Gemeinschaften zu fördern, die ein neues Herz bilden und einen neuen Blick auf das dörfliche Zusammenleben ermöglichen –etwa indem sie ein kleines Konsumdepot einrichten oder am Samstag eine Besenbeiz führen –, kann das ein wich tiger Beitrag zur Stärkung der ländlichen Region sein. ● Andrée Mijnssen * 1950, Studium der Land schaftsökologie und Landesplanung, bis 2012 Inhaberin eines ökologischen GründungProMietVerwaltungsrätinSeminarhauses,derAGseitderen1983.

Daniel Brunner: Letztlich ging es um einen Generationen wechsel und eine Schwachstelle der gemeinnützigen AG: Beim Vererben von Aktien mit statutarischem Dividen

Themenheft von Hochparterre, September 2022 Neue Wohnformen « Die Mieterinnen erhielten Mitbestimmungsrechte » 39 ge der Fusswege und Kompostierung zum Umweltschutz bei. Und übrigens: Der Vorstand des Mietervereins wurde an die jährlichen Aktionärsversammlungen eingeladen. 15 Jahre nach der ‹ Schauburg › wurde das Kraftwerk 1 in Zürich fertig. Andreas Wirz, Sie sind Mitgründer der gleichnamigen Bau- und Wohngenossenschaft.

denverbot hätten mittlerweile die stillen Reserven der AG herausverlangt und damit die mieterfreundliche Wohn siedlung gefährdet werden können.

War die ‹ Schauburg › in Ihren Diskussionen präsent ? Andreas Wirz: Nein. Natürlich kommen mir alle Themen b e kannt vor. Aber es ist ein wesentlicher Unterschied, ob man im gemachten Nest des Familienkonglomerats ver sucht, einen Beitrag zu leisten, oder ob man nach 1994 in einer Zeit der Rezession startet. Wir haben nach an deren Wohnformen gesucht. Unser Anspruch entsprang der 1980er und der Häuserkampfbewegung. Die Familie als L ebensform stand zur Disposition. Uns interessierten die Grosshaushalte, die Wohngemeinschaft nicht nur als Zweckgemeinschaft, sondern als Erweiterung des Zusam menlebens. Ökologie war auch bei uns ein riesiges The ma. Kraftwerk 1 hat das erste grosse Minergie zertifizierte Mehrfamilienhaus mit einer Lüftungsanlage erstellt. Viele sagten, dass das nicht funktioniere, aber das tut es nun seit mehr als 20 Jahren. Mir kommt es vor, als sei man bei ökologischen Fragen an Ort getreten.

Andrée Mijnssen: In den Städten gibt es s chon lange gute Konzepte, etwa das Kraftwerk 1. S olche Projekte brauchen kaum Unterstützung. Unsere Idee war es, spezifisches Wissen weiterzugeben, zum Beispiel im Bereich Finanzie rung, in der Organisation oder im ökologischen Bauen.

Andreas Wirz: In Frankreich gibt es ganze Landstriche mit D örfern ohne Beiz und ohne Laden, lediglich einem grossen Supermarkt an der Hauptstrasse. In der Schweiz ist es noch nicht so weit. Aber auch hier ist man durch die hohe Mobilität nicht mehr auf das direkte Umfeld angewiesen.

Daniel Brunner: Ein Wohnungsbau, der gleichzeitig preis günstig und ökologisch ist, galt damals als unlösbarer Widerspruch. Als Lokalpolitiker wollte ich das ändern. Seither hat sich rund um den genossenschaftlichen und städtischen Wohnungsbau sehr viel verändert. 1996 wurde die ‹ Schauburg › erweitert , 2013 verkaufte die ProMiet AG die Siedlung an die Wogeno Luzern.

Andrée Mijnssen: Wir haben im Verwaltungsrat eingehend darüber diskutiert, ob und wie wir die ‹ Schauburg › weiter entwickeln wollen. Zudem standen grössere Sanierungs arbeiten an. Die Aktionärinnen haben dann entschieden, die künftige Entwicklung einer Trägerschaft mit ähnli chem Profil zu übergeben.

Andreas Wirz * 1966, Architekt mit eige nem Büro in Zürich und Partner bei Archipel, Mit gründer und Vorstandsmitglied von Kraftwerk 1, seit 2010 Vorstandsmit glied der RegionalverbandsenschaftenWohnbaugenosSchweiz,Zürich.

Andreas Wirz: Coachings sind eine gute Sache. Beim Ver band Wohnbaugenossenschaften Zürich nennen wir das Gründungsberatung. Sehr viele kleine Genossenschaften werden im Milizsystem geführt. Sobald dort etwas Grösse res ansteht, ist der Vorstand überfordert. Gerade in ländli chen Regionen, wo der Anteil genossenschaftlicher Woh nungen sehr klein ist, tut eine solche Förderung not. Es gibt Gemeinden, in denen es nicht einmal Mietwohnungen gibt, sondern praktisch nur Einfamilienhäuser.

Neue Wohnformen Von der einstigen Arbeiter- über die geplante Permakultursiedlung, vom genossenschaftlichen Selbstbauhof über Clusterwohnen auf dem Dorf bis zum Leben in einer alten Industriehalle: All das sind Beiträge zu einem Neudenken des Schweizer Wohnungsbaus. Das Programm ‹ Sprungbrett Wohnungsbau › der gemein nützigen ProMiet AG förderte die fünf Projekt teams mit Coachings, damit sie von längst gemachten Erfahrungen profitieren können. Mit freundlicher Unterstützung der ProMiet AG

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