INDIEKINO MAG #15, November/Dezember 2021

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D DRIVE MY CAR Etwas verändert sich D GROSSE FREIHEIT Im Gefängnis wegen § 175 D ANNETTE Abschied vom ­Starkult D AMMONITE Patriarchale Kiesel D ZUHURS TÖCHTER In Frieden Frau sein D IN DEN UFFIZIEN Hinter Museums­türen D BERGMAN ISLAND Mikrostimmungen D MEIN SOHN Reisegefährten D LIEBER THOMAS Bekenntnis zum Fragment D DIE GESCHICHTE MEINER FRAU Kapitän, gestrandet D FIRST COW Anti-Western D BENEDETTA ­Mystisch, sexy und pervers D BLOODY NOSE, EMPTY POCKETS Gemeinschaft der Trinkenden D RESPECT Mitreißende Performances D COPPELIA Für Ballettfans D ADAM Sonnenstrahlen in Ablas Küche

Magazin FÜR unabhängigeS KINO

D 15 D NOVEMBER/DEZEMBER 2021

indiekinoMAG

LIEBER THOMAS – START AM 11.11.2021


EIN FILM VON RYUSUKE HAMAGUCHI

HAMAGUCHIS EPISCHE MURAKAMI-ADAPTION IST EINE FESSELNDE GESCHICHTE ÜBER VERTRAUEN UND VERRAT. INDIE WIRE

DER FILM ERZÄHLT VON DER SEHNSUCHT NACH EINER STILLE, IN DER KEINE WORTE MEHR NÖTIG SIND. VIELLEICHT IST ER AUCH DIE GRÖSST MÖGLICHE FILMISCHE ANNÄHERUNG AN DIE STILLE. KATJA NICODEMUS, DIE ZEIT

WWW.RAPIDEYEMOVIES.DE


THOMAS NIEHAUS SARAH HOSTETTLER AENNE SCHWARZ GODEHARD GIESE

Editorial

TAGUNDNACHTGLEICHE EIN FILM VON LENA KNAUSS

Im November und Dezember erscheint das INDIEKINO Magazin als dicke Winter-Doppelausgabe. Es gibt viel zu sehen, und das Filmprogramm ist noch umfangreicher und vielfältiger als sonst immer im Winter, denn während der Corona-Schließungen hat sich eine Art Filmstau gebildet, der sich erst jetzt langsam auflöst. Viele Cannes-Titel kommen jetzt ins Kino, darunter der zarte DRIVE MY CAR von Ryûsuke Hamaguchi (ein Name, den man sich merken sollte), der eine Kurzgeschichte von Haruki Murakami meisterhaft umsetzt, und Sebastian Meises Drama GROSSE FREIHEIT. Franz Rogowski, der im Film den Überlebenden Hans spielt, der immer wieder aufgrund des § 175 im Gefängnis landet und dort immer wieder auf den gleichen Kriminellen, Viktor (Georg Friedrich) trifft, erzählt in einem unserer Interviews von seiner Arbeit am Film und seinem Verhältnis zum Schauspielerberuf. In weiteren Interviews kommen Ryûsuke Hamaguchi und Shahrbanoo Sadat zu Wort. Die afghanische Regisseurin von WOLF AND SHEEP und KABUL KINDERHEIM, der im November ins Kino kommt, konnte im August aus Afghanistan entkommen und lebt derzeit in Deutschland. Ein Lieblingsfilm der Redaktion ist die in alle Richtungen ausufernde Pop-Oper ANNETTE von Leos Carax und den Sparks Brüdern, Kelly Reichardts FIRST COW ist endlich im Kino zu sehen, und BERGMANN ISLAND von Mia Hansen-Løve schafft es, gleichzeitig intellektuell, verspielt, berührend und eine Hommage an Ingmar Bergmann zu sein. Der Dokfilm DIE ZÄHMUNG DER BÄUME verfolgt den größenwahnsinnigen Transport 100-jähriger Bäume quer durch Georgien, und BLOODY NOSE, EMPTY POCKETS inszeniert semi-dokumentarisch den letzten Abend einer Kneipe. Viel Spaß beim Lesen und viel Spaß im Kino! Eure INDIEKINO Redaktion

AB 18. NOVEMBER IM KINO


INDIEinhalt

06 Magazin 10 „MICH INTERESSIERT, WIE ZUFÄLLE UNSER LEBEN BEEINFLUSSEN“ INTERVIEW MIT HAMAGUCHI RYÛSUKE ÜBER DRIVE MY CAR 14 „IM WENIGER SPRECHEN ENTSTEHT FÜR MICH OFT EIN GRÖSSERER POETI SCHER RAUM“ INTERVIEW MIT FRANZ ROGOWSKI ÜBER GROSSE FREIHEIT 28 ABSCHIED VOM STARKULT ANNETTE

30 BEKENNTNIS ZUM FRAGMENT LIEBER THOMAS 46 „IM KINO GEHT ES UM GESCHICHTEN, UND ICH HABE DIE GESCHICHTEN“ INTERVIEW MIT SHAHRBANOO SADAT ÜBER KABUL KINDERHEIM 54 Kinderfilme 56 Kinohighlights 62 NachbildKLANG 63 KinoS, Impressum, Abo

Neu im November & Dezember 39 38 53 21 28 37 25 48 42 55 12 52 52 59

À la Carte! Adam Aline – The Voice of Love Ammonite Annette Benedetta Bergman Island Billie – Legende des Jazz Bloody Nose, Empty Pockets Coppelia Drive My Car Eiffel in Love Das Ende des Schweigens Ein Festtag

First Cow Die Geschichte meiner Frau Gracious Night Grosse Freiheit Hannes Harald Naegeli – Der Sprayer von Zürich Hope House of Gucci In den Uffizien Kabul Kinderheim Kinder der Hoffnung Krieg und Frieden (1966) Das Land meines Vaters Last Night in Soho

30 40 48 18 55 40 26 22 24 53 36 43 52 23 20

Lieber Thomas The Lost Leonardo Maternal Mein Sohn Meine Wunderkammern Mit eigenen Augen Mitra Monte Verità Notre Dame Pankow 95 Plan A Platzspitzbaby Plötzlich aufs Land A Pure Place Respect

44 41 19 58 44 50 58 23 36 32 18

40 Mit eigenen Augen 44 Speer Goes to Hollywood 36 Windstill

52 26 53 23 44 19

House of Gucci In den Uffizien Pankow 95 A Pure Place Saint-Narcisse Das schwarze Quadrat

9.12.

45 35 50 14 49 40 22 52 26 46 41 58 34 34

Saint-Narcisse Schocken – Ein deutsches Leben Das schwarze Quadrat Sing Me a Song Speer Goes to Hollywood Tagundnachtgleiche Vater Vicious Fun Windstill Die Zähmung der Bäume Zuhurs Töchter

Starts der Woche 4.11. 21 25 35 46 41 55 41 23 18

Ammonite Bergman Island Die Geschichte meiner Frau Kabul Kinderheim Kinder der Hoffnung Meine Wunderkammern Schocken – Ein deutsches Leben Vicious Fun Zuhurs Töchter

11.11. 48 34 30 48 D4

Billie – Legende des Jazz Last Night in Soho Lieber Thomas Maternal D NOVEMBER/DEZEMBER 2021

18.11. 52 45 14 58 34 18 26 43 50

Eiffel in Love First Cow Grosse Freiheit Krieg und Frieden (1966) Das Land meines Vaters Mein Sohn Mitra Platzspitzbaby Tagundnachtgleiche

25.11. 39 À la Carte! 49 Hannes 22 Hope

2.12. 37 42 52 40 52 20 58 32

Benedetta Bloody Nose, Empty Pockets Das Ende des Schweigens Harald Naegeli – Der Sprayer von Zürich Plötzlich aufs Land Respect Vater Die Zähmung der Bäume

38 24 36 58

Adam Notre Dame Plan A Sing Me a Song

16.12. 28 55 12 50 22

Annette Coppelia Drive My Car Gracious Night Monte Verità

23.12.2021 53 Aline – The Voice of Love 58 Ein Festtag 40 The Lost Leonardo


„Purer Kinospaß ohne Bremsvorrichtung“

– Filmstarts

A B 2 5. N O V E M B E R I M K I N O dasschwarzequadrat.film

dasschwarzequadrat.film


INDIEMagazin

Volevo Nascondermi

CINEMA! ITALIA! Noch bis Dezember ist das Festival „Cinema! Italia!“ auf Tournee durch zahlreiche deutsche Kinos. Im Programm: die Liebeskomödie L’AMORE A DOMICILIO (Liebe unter Hausarrest), über einen schüchternen Versicherungsvertreter, der im gerichtlich angeordneten Hausarrest seiner Angebeteten Anna seine Chance sieht: Sie kann ihm nicht weglaufen. In Cosa sarà (Alles wird gut) verarbeitet Regisseur Francesco Bruni Erfahrungen mit einer Leukämie-Erkrankung. In der Komödie GENITORI QUASI PERFETTI (Fast perfekte Eltern) von Laura Chiossone läuft einer alleinerziehenden Mutter eine Geburtstagsparty völlig aus dem Ruder. In I PREDATORI (Die Raubtiere) kollidieren eine bürgerlich-intellektuelle Familie und eine proletarischneofaschistische. Der neorealistische Film Rosa pietra stella (Rose, Stein und Stern) erzählt von einer Frau die ständig in Angst lebt, das Sorgerecht für ihre Tochter zu verlieren und sich in ein zwielichtiges Geschäft verstrickt. Für VOLEVO NASCONDERMI (Ich wollte mich verbergen) erhielt der Hauptdarsteller Elio Germano den Silbernen Bären als Bester Hauptdarsteller bei der Berlinale. Er spielt den Außenseiter-Künstler Antonio Ligabue, der im frühen 20. Jahrhundert Hunger und Angst durch Malerei zu besiegen versucht. cinema-italia.net

14.11.: EUROPEAN ART CINEMA DAY Seit 2016 zeigen mehr als 600 Kinos in 40 Ländern am „European Art Cinema Day“ einmal im Jahr gegenwärtige, vergangene und kommende Highlights des europäischen Kinos. Mit dabei sind auch immer eine Reihe von Previews, so zum Beispiel Céline Sciammas PETITE MAMAN, der auf der diesjährigen Berlinale zu sehen war, DEATH OF A LADIES‘ MAN mit Gabriel Byrne als Professor und Frauenheld, der zur Musik von Leonard Cohen mit seiner Endlichkeit konfrontiert wird, Leos Carax fulminanter ANNETTE (Besprechung auf Seite 28) und Pedro Almodovars Cannes-Kurzfilm THE HUMAN VOICE mit Making-Of. Drumherum gibt es Filmgespräche, Empfänge und Ausstellungen. artcinemaday.org Petite Maman D6

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Velnio Nuotaka

63. NORDISCHE FILMTAGE Die Nordischen Filmtage finden auch in diesem Jahr wieder hybrid statt – eine Auswahl der Filme wird online verfügbar sein. Insgesamt 130 Produktionen werden vom 3.–7.11. im Spielfilm- und Dokfilm-Wettbewerb, den „Nordic Shorts“ und den Sektionen Kinderfilm und Serien zu sehen sein. Besonders hübsch wird die Retrospektive: Unter dem Motto „Sing a Song!“ widmet sie sich Popmusik und -musicals des nordischen und baltischen Kinos. Aki und Mika Kaurismäki dokumentieren in SAIMAA-ILMIÖ/THE SAIMAA GESTURE (Finnland 1981) eine Tournee von drei ihrer Lieblingsbands um den Saimaa-See, darunter spätere Mitglieder der Leningrad Cowboys sowie der finnische Melancholiker Juice Leskinen, der außerdem im Biopic JUICE-ELOKUVA/THE RAGGED LIFE OF JUICE LESKINEN (Finnland 2018) von Teppo Airaksinen porträtiert wird. ABBA – THE MOVIE von Lasse Hallström (Schweden 1977) illustriert mit Live-Auftritten und Publikumsbildern die grassierende „Abbamania“ nicht nur „down under“. Mit dem litauischen Rock-Musical VELNIO NUOTAKA/THE DEVIL’S BRIDE (1973) schuf Arūnas Žebriūnas eine geradezu „diabolische“ Antwort auf Andrew Lloyd Webbers „Jesus Christ Superstar“. nordische-filmtage.de

BEST OF CINEMA Unter dem Titel „Best of Cinema“ bringt der Studiocanal Filmverleih ab November immer am ersten Dienstag des Monats restaurierte Fassungen von erfolgreichen Filmen der achtziger und neunziger Jahre erneut ins Kino. Den Auftakt macht Francis Ford Coppolas THE OUTSIDERS – THE COMPLETE NOVEL, eine längere Fassung mit zusätzlichen Szenen gegenüber der Kinofassung von 1983. Am 7. Dezember folgt DIE FABELHAFTE WELT DER AMÉLIE, der Erfolgsfilm von Jean-Pierre Jeunet. Für 2022 stehen auf dem Programm: TOD AUF DEM NIL mit Peter Ustinov, David Lynchs MULLHOLLAND DRIVE, Paul Verhoevens TOTAL RECALL und GRÜNE TOMATEN mit Kathy Bates und Jessica Tandy. Die fabelhafte Welt der Amélie

© AFRIKAMERA 2021

AFRIKAMERA

AKTUELLES KINO AUS AFRIKA URBAN AFRICA, URBAN MOVIES: YOUTH & YOUTH CULTURE 17.-21.11.2021 BERLINER SCHLOSS SCHLOSSPLATZ 10178 BERLIN

PROGRAMM UND TICKETS UNTER HUMBOLDTFORUM.ORG


INDIEMAGAZIN

EXGROUND FILMFEST 34: FOKUS USA Der Länderfokus des exground filmfest (12.–21.11.) in Wiesbaden liegt in diesem Jahr auf den USA. Das Programm umfasst 13 Lang- und 12 Kurzfilme, sowie zwei Beiträge im Internationalen Kurzfilmwettbewerb des Festivals. In den Filmen geht es um eine Ahanshati-Beerdigungsfeier (QUEEN OF GLORY), die wilde Nacht einer Pool-Tänzerin (ZOLA), den Rock’n’Roller Trini Lopez, der als Sohn mexikanischer Einwanderer ohne Papiere geboren wurde (MY NAME IS LOPEZ), Eifersucht in einer offenen Beziehung auf dem Land (THE KILLING OF TWO LOVERS), eine Therapiestunde nach einem Schul-Massaker (MASS), die aufkeimende Beziehung zwischen eine jüdischen Mädchen und ihrer Schwarzen Mistschülerin (TAHARA), den Bürgerkrieg (THE ANNOTATED FIELD OF ULYSSES S. GRANT), einen Einsiedler (A SHAPE OF THINGS TO COME), Reinkarnationsmythen der Chinnok (MAINI – TOWARD THE OCEAN, TOWARDS THE SHORE) und eine elitäre Senioren-Siedlung in Florida (SOME KIND OF HEAVEN). Neben dem Filmprogramm präsentiert das Festival auch Lesungen und Vorträge sowie Kunstausstellungen im Nassauischen Kunstverein und im Foyer des Murnau-Filmtheaters umfasst. Über Wiesbaden hinaus gastiert der Länderfokus in den etablierten Nachspielorten: dem Rex in Darmstadt und der Pupille in Frankfurt am Main. exground.com Tahara

You Resemble Me

IFFMH

Das Internationale Filmfest Mannheim-Heidelberg, das vom 11.–21.11. stattfindet, gehört neben der Berlinale zu den ältesten deutschen Filmfestivals. Es hat sich der Entdeckung junger Talente und neuer Experimente verschrieben. Zu den historischen Newcomern, die dort zuerst zu sehen waren, gehören unter anderem François Truffaut, Rainer Werner Fassbinder, Angela Schanelec oder Hong Sang-soo. Der internationale Wettbewerb „On the Rise“ zeigt etwa ausschließlich erste bis dritte Langfilme. Für die Sektion „Pushing Boundaries“ dürfen die Filmschaffenden schon länger in der Branche unterwegs sein, dafür geht es hier um Filme, die „ästhetisch wie narrativ konsequente Visionen auf die Leinwand bringen.“ Anlässlich des 70. Jubiläums wirft die Retrospektive UMBRÜCHE UND WENDEPUNKTE einen Blick auf die „Neuen Wellen“ der Film- und Festivalgeschichte. Als Eröffnungsfilm läuft YOU RESEMBLE ME von Dina Amer, die als Journalistin für CNN, The New York Times und Vice gearbeitet hat und 2011 nach Ägypten zog. Der Film erzählt von einer jungen Frau, die von Zuhause ausbricht, und dem Traum vom selbstbestimmten Leben folgt. iffmh.de D8

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MARESI RIEGNER · MAX HUBACHER JULIA JENTSCH · HANNAH HERZSPRUNG PHILIPP HAUSS · JOEL BASMAN

FRAME BY FRAME – FILM RESTAURIEREN In ihrer neuen Ausstellung würdigt die Deutsche Kinemathek das Handwerk der Filmrestaurierung. Der Teil „Überlieferung“ dokumentiert die durch Vernachlässigung und Verlust entstandenen Lücken in den Archiven und zeigt, wie aufwendig Restaurator*innen weltweit recherchieren müssen, um noch vorhandenes Filmmaterial aufzufinden. In der „Werkstatt“, dem Herzstück der Ausstellung, kann man sehen, wie aus zersetzten oder unvollständigen Kopien wieder ein kompletter Film wird. Der Bereich „Ästhetik und Ethik“ widmet sich der Farb- und Lichtbestimmung, und hier sind auch jüngere Werke zu sehen, wie die Experimentalfilme von Dore O. aus den 1970er-Jahren oder der 1968 auf Techniscope gedrehte Debütfilm NEUN LEBEN HAT DIE KATZE von Ula Stöckl. Im „Kino“ können Besucher*innen schließlich Ausschnitte der restaurierten Filme erleben – mit Gästen und Gesprächen. Bis 2.5.2022. deutsche -kinematek.de

KURZFILMTAG Am kürzesten Tag des Jahres, dem 21. Dezember ist Kurz-

DER RAUSCH DER FREIHEIT

filmtag. Landauf, landab werden in Kinos und temporären Projektionsräumen Kurzfilme gezeigt. Der Kurzfilmtag begann in Frankreich als „Le jour le plus court“, mittlerweile wird in 20 Ländern der Kurzfilm als Einstieg in die Filmwelt für den Nachwuchs, als Kabinettstück gestandener Filmemacher*innen, als Spielwiese für Experimentierfreudige gefeiert. Das gesamte Programm findet sich unter kurzfilmtag.com

VERLOSUNG: LORIOT KOMPLETT & DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE Wir verlosen in diesem Monat die extra-dicke Edition der gesamten Fernsehwerke von Loriot auf sechs DVDs mit allen Sketchsendungen, Live-Auftritten in der Philharmonie, bei „Stars in der Manege“, Wahlkampf- und Werbespots, Cartoons und vielen Extras. Außerdem: Die restaurierte Fassung von Fritz Langs Klassiker DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE. Lang legte mit dem Film den Grundstein für das Crime- und Mystery-Genre, der Film wurde aber noch vor seiner Uraufführung 1933 von den Nazis verboten. Schickt uns bei Interesse bis zum 15.12. eine Email am info@indiekino.de. Stichwort: „Loriot“ oder „Mabuse“.

EIN FILM VON STEFAN JÄGER

AB 16. DEZEMBER NUR IM KINO


INDIEFEATURE

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INDIEFEATURE

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INDIEFEATURE

Drive My Car

Originaltitel: Doraibu mai kâ D Japan 2021 D 179 min D R: Ryûsuke Hamaguchi D B: Ryûsuke Hamaguchi, Haruki Murakami, Takamasa Oe D D: Hidetoshi Nishijima, Tôko Miura, Masaki Okada, Reika Kirishima D V: rapid eye movies

Etwas verändert sich

Nach Lee Chang-Dongs BURNING (2018) ist Ryûsuke Hamaguchi mit DRIVE MY CAR die zweite umwerfende Verfilmung eines Stoffes von Haruki Murakami gelungen. Murakamis Geschichten über traurige Menschen erzählen oft davon, dass es helfen kann, sich Zeit zu nehmen, um irgendwo zu sitzen, wie der Erzähler im Roman „Der Aufziehvogelmann“, der sich, als er nicht mehr weiter weiß, monatelang auf einen öffentlichen Platz setzt, bis etwas passiert. In DRIVE MY CAR lässt sich der Regisseur und Schauspieler Yûsuke im Auto herumfahren, wenn nichts mehr hilft. Das hat den Vorteil, eine leere Zeit zu erzeugen, in der er denken kann, und er kommt irgendwo an, an einer Müllverbrennungsanlage, am Meer, an einem Dorf, an dem ein furchtbares Unglück geschehen ist – und etwas verändert sich. Die erste Dreiviertelstunde des Films erzählt die Vorgeschichte der Erzählung, dann erst laufen die Titel über das Bild. Yûsuke (Hidetoshi Nishijima) und seine Frau Oto (Reika Kirishima) hatten gerade Sex, sie erzählt eine Geschichte von einem jungen Mädchen, die immer wieder in das Haus eines Schulfreundes eindringt, und jedes Mal ein Objekt aus dessen Zimmer mitnimmt und ein eigenes Okjekt hinterlässt. Die beiden malen sich die Geschichte in verschiedenen Situationen weiter aus: Ein Künstlerpaar, er ist Theaterregisseur, sie ist Drehbuchautorin beim Fernsehen. Ihre Beziehung scheint glücklich und produktiv, und auch nachdem Yûsuke seine Frau zufällig beim Sex mit dem jungen Schauspieler Kôji (Masaki Okada) beobachtet, scheint sich nichts in ihrem Zusammenleben zu verändern. Gemeinsam trauern sie am Todestag ihrer Tochter, gemeinsam spinnen sie Geschichten weiter und schlafen miteinander. Bis ein furchtbares Unglück passiert. D 12

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Zwei Jahre später beginnt die eigentliche Geschichte des Films. Yûsuke, der sich auf experimentelle Inszenierungen mit Übertiteln und Schauspieler*innen aus verschiedenen Sprachräumen spezialisiert hat, ist nach Hiroshima eingeladen worden, wo er Tschechows „Onkel Wanja“ mit einem neuen Ensemble inszenieren soll. Aus Versicherungsgründen erhält er eine Fahrerin, die schweigsame junge Misaki (Tôko Miura). Der Film verwebt die Produktion des Theaterstücks und die existentiellen Krisen der Figuren in „Onkel Wanja“ mit denen von Yûsuke, Kôji, Oto und Misaki. Wie um sich selbst zu befreien und sich im Geheimen an Kôji zu rächen, gibt Yûsuke ihm die Rolle des Wanja, der alles verliert und mit seiner Trauer und Enttäuschung weiterleben muss. Wie in Yûsukes (und wohl auch Ryûsuke Hamaguchis) Theatermethode geht es aber auch um die kleinen Momente, in denen zwischen Menschen und Schauspielern „etwas passiert“, wie Yûsuke nach einer Szene zwischen einer Chinesisch und einer in koreanischer Zeichensprache sprechenden Darstellerin sagt. Die zurückhaltenden, sehr beherrschten Menschen, die der Film zeigt, öffnen sich nur langsam. Die Momente, in denen die pure Emotion durchbricht, sind um so überwältigender. Die sich allmählich entwickelnde Nähe zwischen Yûsuke und der Fahrerin Misaki, deren Geschichte am Ende des Film erzählt wird, ist dabei besonders intensiv. Ein stiller, kluger Film, der in Cannes den Preis für das Beste Drehbuch, den Kritikerpreis und den Preis der Ökumenischen Jura gewann. D Tom Dorow ¢ Start am 23.12.2021 The reserved, very controlled people that this adaptation of a Haruki Murakami short story depicts are very slow to open up. The moments in which pure emotion breaks through are that much more staggering because of it.

Termine unter www.indiekino.de


INDIEFEATURE

Hamaguchi Ryûsuke hatte seinen internationalen Durchbruch 2015 beim Filmfestival in Locarno mit dem Film HAPPY HOUR über vier Freundinnen, von denen eine inmitten eines Scheidungsprozesses plötzlich verschwindet. 2016 wurde sein Film ASAKO I & II über eine Frau, die dem Doppelgänger ihres verstorbenen Ehemanns begegnet, zum Festival nach Cannes eingeladen. 2021 wurde Hamaguchis Episodenfilm Wheel of Fortune and Fantasy bei der Berlinale mit dem Preis der Jury ausgezeichnet, in Cannes erhielt DRIVE MY CAR den Preis für das beste Drehbuch und den FIPRESCI-Preis der Filmkritik. Thomas Abeltshauser hat mit Hamaguchi Ryûsuke über DRIVE MY CAR gesprochen.

„Mich interessiert, wie Zufälle unser Leben beeinflussen“ INDIEKINO: Was hat Sie daran interessiert, ein Roadmovie zu drehen? Hamaguchi Ryûsuke: Als ich die Dokumentarfilmtrilogie „Tōhoku“ über die Verwüstungen durch Erdbeben und Tsunami in Ostjapan drehte, bin ich mit meinem Ko-Regisseur oft stundenlang durch die Gegend gefahren. Mich interessiert das Auto als ein geschlossenes System, in dem Menschen fast gezwungen sind, miteinander zu kommunizieren. Zugleich hat es etwas Instabiles, Dynamisches, weil wir in Bewegung sind, uns auf etwas zu oder von etwas wegbewegen. Auf so engem Raum kommt man notgedrungen ins Gespräch und dabei können auch sehr intensive, tiefgründige Dialoge entstehen. Dabei wurde mir bewusst, welch interessante Grundkonstellation für einen Film das ist. Drive My Car beruht auf einer Kurzgeschichte von Haruki Murakami. Wie schwer ist es, ihn zu überzeugen, eines seiner Werke verfilmen zu dürfen? Murakami ist weltweit bekannt, aber in Japan ist er eine Legende. Es ist sehr schwer, an ihn heranzukommen. In meinem Fall hat mein Produzent einen Brief an Murakami geschrieben. Ein halbes Jahr hörten wir gar nichts. Dann kam die Antwort, dass wir die Geschichte verfilmen dürfen, mit allen Freiheiten. Da seine Short Story nur etwa 50 Seiten lang ist, habe ich das Drehbuch noch mit Szenen und Dialogen erweitert. Ansonsten bin ich der Vorlage recht treu geblieben. Nur den Wagen habe ich verändert. Bei Murakami war es ein gelbes Cabrio, das hätte aus zwei Gründen nicht funktioniert: ich drehe mit Live-Ton und die Dialoge sind in einem geschlossenen Auto besser zu verstehen. Und weil die Kamera dem Auto durch die Stadt oder das Grün der japanischen Landschaft folgt, hätte ein gelbes Auto zu wenig herausgestochen. Deswegen fahren sie jetzt im Film einen roten Saab 900 Hardtop. Sie wechseln als Regisseur zwischen Spielfilmen und Dokumentarischem. Wie beeinflussen sich diese Arbeitsweisen? Mein Fokus bleiben Spielfilme. Ich habe nur durch Fukushima und die Katastrophen in Japan beschlossen, eine Doku-Trilogie darüber zu machen. Und ich habe viel dadurch gelernt, mein Blick hat

sich verändert. Wenn man so will, inszeniere ich meine Spielfilme heute wie einen Dokumentarfilm über die Bewegung der Körper der Schauspieler. Ist der Protagonist ein Alter Ego, wie viel von Ihnen steckt in ihm? Die Art, wie er als Theaterregisseur mit Schauspielern arbeitet, ist meiner sehr ähnlich. Ich lasse sie das Drehbuch gemeinsam lesen und möchte, dass sie die Dialoge dabei so emotionslos wie möglich vortragen. Und vor der Kamera sollen sie dann improvisieren. Diese Methode hat sich für mich bewährt. Einige hatten mit dieser Art Schwierigkeiten, aber die meisten sind nach einem anfänglichen Schock sehr begeistert über die Freiheiten, die es bringt. Ihre Filme handeln oft vom Zufall, so auch hier. Was interessiert Sie daran? Mich interessiert ganz allgemein, wie Zufälle unser Leben beeinflussen. Es ist für mich wie eine Langzeitstudie, vor allem wie zufällige Begegnungen Menschen verändern, sie über sich hinauswachsen und Dinge tun lassen, die sie bis vor Kurzem noch nicht für möglich gehalten haben. Eine Begegnung oder ein unerwartetes Erlebnis lässt sie aus der Routine ausbrechen und unbekannte Seiten an sich selbst entdecken. Inwieweit zeigen Ihre Filme ein repräsentatives Bild Japans? Mir geht es weniger um soziale Themen, als um das Innenleben der Charaktere. Und weil ich mit sehr kleinen Budgets arbeiten muss, bin ich darauf angewiesen, mit realen Gegebenheiten zu arbeiten. Im Fall der Darsteller*innen bin ich oft gezwungen, ihre eigenen Lebenserfahrungen mit einzubeziehen, bei Happy Hour machte ich zum Beispiel Workshops mit den Frauen, um ihre persönliche Lebenssituation besser zu verstehen, daraus entstanden Szenen und Emotionen, die wir im Film nutzen konnten. Wenn ich dann einen Film im Ausland präsentiere, höre ich oft, wie sehr ich helfe, die soziale Realität in Japan zu verstehen. Dabei geht es mir nur darum, Gefühle darzustellen. Aber natürlich sind die Gefühle auch von äußeren Faktoren bestimmt. D Das Gespräch führte Thomas Abeltshauser. NOVEMBER/DEZEMBER 2021 D

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INDIEFEATURE

INDIEKINO: Weil Hans homosexuell ist, landet er zuerst im Konzentrationslager und nach dem Krieg immer wieder hinter Gittern. Was hat Sie an der Rolle interessiert? Franz Rogowski: Für mich ist Hans eine geschlossene Figur, die jedoch nicht autark funktioniert, sondern als Teil der Geschichte - einerseits der Geschichte, die wir im Film erzählen, aber auch als Teil der deutschen Geschichte. Meine Entscheidung, die Rolle anzunehmen, basierte deshalb auch eher auf der Tatsache, dass ich mich für dieses Drehbuch interessierte, nicht nur für die Figur allein. Weil es ein Drehbuch war, das in sich so stimmig und geschlossen daherkam, wie man es nur äußerst selten in die Hände bekommt. Und deshalb wollte ich gerne an der Umsetzung beteiligt sein. Wie sind Sie auf das Drehbuch gestoßen? Kannten Sie Sebastian Meise bereits? Es wurde mir ganz klassisch mit der Post zugesandt. Dann habe ich es erst zwei-, drei Mal aufmerksam gelesen, um meine ersten Gefühlsregungen zu überprüfen. Und dann stand für mich fest, wir müssen uns sehen, Sebastian und ich, um zu schauen, ob D 14

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wir miteinander klarkommen. Daraufhin waren wir uns dann recht schnell einig, dass wir den Film zusammen machen wollten. Gibt es auch Rollen, die Sie nach einmaligem Lesen des Drehbuchs sofort zugesagt haben? Nein, das ist bei mir immer ein ziemlich neurotischer Prozess. Das Buch liegt immer erst eine Weile da und ich guck es gar nicht an. Dann halte ich es irgendwann nicht mehr aus, muss es lesen und kriege sofort eine Krise, bis ich es noch einmal lese. Und ich muss es wirklich immer von Anfang bis Ende durchgehen. Ich bin da sehr eigen. Das bekommt alles keiner mit. Aber ich denke, es ist eigentlich die wichtigste Aufgabe für einen Schauspieler, die Stoffe zu erkennen, die zu ihm passen. Mal ganz abgesehen davon, das immer auch jede Menge Glück dazugehört, dass man solche Drehbücher überhaupt zugeschickt bekommt. Was hält Hans Ihrer Meinung nach in diesen ersten schweren Jahren nach dem Krieg am Leben? Das weiß ich selbst nicht so genau. Ich vermute aber, dass er für sich schon lange eine Entscheidung getroffen hat, bevor


INDIEFEATURE

„Im weniger Sprechen entsteht für mich oft ein gröSSerer poetischer Raum“ Interview mit Franz Rogowski zu GROSSE FREIHEIT

Franz Rogowski wurde 2013 mit seiner Hauptrolle in LOVE STEAKS bekannt und spielte seitdem in zahlreichen Filmen, darunter Sebastian Schippers VICTORIA, Michael Hanekes HAPPY END, Terence Malicks A HIDDEN LIFE; IN DEN GÄNGEN von Thomas Stuber sowie TRANSIT und UNDINE von Christian Petzold. In Sebastian Meises GROSSE FREIHEIT spielt er den schwulen Hans, der in der Nachkriegszeit vom KZ direkt in den Knast eingeliefert wird und bis zur Abschaffung des Paragrafen 175 immer wieder im Gefängnis sitzt. Pamela Jahn hat mit Franz Rogowski über GROSSE FREIHEIT gesprochen.

der Paragraf 175 überhaupt fällt. Und er hat diesen Paragrafen bereits für sich gefällt. Er lebt sein Leben natürlich nicht so, wie man es heute kennt. Das findet schon in erster Linie im Geheimen statt, aber er nimmt es in Kauf, dafür immer wieder ins Gefängnis zu müssen. Er lernt seine Lektion, in Deutschland kriminell zu sein und die Konsequenzen dafür zu zahlen. Aber er lässt sich seine Liebe nicht nehmen. Hat er Viktor gegenüber zunächst Respekt oder eher Angst? Am Anfang kommt Hans aus dem KZ und wird direkt ans Gefängnis übergeben. Dass da jetzt einer homophob ist, das berührt ihn gar nicht mehr wirklich. Er ist einfach nur ziemlich am Ende. Kraft zum Widerstand hat er erst wieder ab den fünfziger Jahren. Aber so richtig entwickelt sich die Beziehung zwischen den beiden ja erst in den Sechzigern. Das heißt, es sind zwanzig Jahre gemeinsame Zeit, in denen zwischen ihnen diese Verbindung entsteht. Wenn man als Schauspieler eine Figur in einem Film über Jahrzehnte begleitet, verändert sich dann die Herangehensweise, wie man mit der Rolle umgeht?

Die Zeitsprünge ergeben tolle Möglichkeiten, die man normalerweise nicht hat. Man kann der Figur ganz neue Eigenschaften geben. Die Figur vom Hans hat durchaus viele kleine Unterschiede, die man vielleicht auf den ersten Blick nicht bemerkt, aber es gibt, wie gesagt, den Hans der Fünfziger, der eher rebellisch ist und an das Utopische glaubt. Einer, der sich nichts sagen lassen möchte, und der anders ist als der Hans der Vierziger, in denen er vom Staat im Prinzip systematisch unterdrückt und fertig gemacht wird. Und dann gibt es schließlich den Hans der sechziger Jahre, der sich mit seiner Stellung in der Gesellschaft abgefunden hat und die Konsequenzen dafür dann auch relativ stoisch trägt. So gesehen hat die Figur tolle Facetten, die man bei einer einfachen Erzählung, die nur im Hier und Jetzt spielt, nicht erforschen kann. Was bedeutet Freiheit für Sie persönlich? Für mich ist die Freiheit mit das kostbarste Gut in meinem Leben. Die Meinungsfreiheit, die Freiheit, sich entscheiden und ungehindert entfalten zu dürfen, beides gehört für mich zu den höchsten Gütern in unserer Demokratie. Wie bewahren Sie sich die Freiheit im Beruf? NOVEMBER/DEZEMBER 2021 D

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INDIEFEATURE

In dem ich das alles nicht so ernst nehme und ein Leben lebe, das auch ganz unabhängig von Filmpremieren funktioniert. Je mehr Erfolg man hat, um so mehr muss man aufpassen, dass man nicht abhebt oder plötzlich das Gefühl hat, jemand Besonderes zu sein. Aber ich glaube, je mehr von außen an einen herangetragen wird, um so mehr fängt man an, sich zurückzuziehen, wenn man die Möglichkeit hat, um eine gewisse Trennung oder einen Abstand herzustellen zwischen Beruf und Privatleben, der unheimlich wichtig ist. Zumindest geht mir das so. Können Sie die Aufmerksamkeit, die Ihnen beispielsweise auf dem roten Teppich, oder auch ganz allgemein tagtäglich von den Medien geschenkt wird, trotzdem auch genießen? Ja, solange ich es wie eine Art Theaterstück empfinde. Das heißt, wir spielen alle ein Spiel, bei dem jeder seine Rolle kennt. Aber der, der ich bin, der wohnt für sich allein in einer ganz anderen Realität. Sie haben sich in letzten Jahren mit Filmen wie Victoria, Transit, In den Gängen, Undine und jetzt Grosse Freiheit eine bemerkenswerte Bandbreite an Charakteren erspielt. Was macht eine gute Rolle für Sie aus? Ich bin gar nicht so sehr auf die Rollen aus. Ich suche eigentlich immer eher nach spannenden Geschichten, bei denen ich das Gefühl habe, da kommt am Ende etwas Gutes heraus. Nur dann kann auch eine Rolle gut sein. Ich habe kein Interesse an einer tollen Figur in einem schlechten Film. Was war bei dieser Rolle des Hans Hoffmann die größte Herausforderung für Sie? Für mich war es diese Verbindung von drei Jahrzehnten und der Versuch, der Figur dadurch gewissermaßen auch drei unterschiedliche Temperaturen zu geben. Vor allem die vierziger Jahre vorzubereiten, bedeutete acht Wochen lang eine starke Ernährungsumstellung. Und wenn man in so kurzer Zeit zwölf Kino verliert, verändert einen das auch in dem eigenen Wesen. Ich habe beispielsweise kaum noch Schlaf gebraucht, habe ganz anders gerochen, gehört und gesehen, und ich habe mich auch ganz anders gefühlt. Ich hatte durch dieses Hungern eine sehr intensive Vorbereitungsphase, vor allem, weil mittendrin die Pandemie kam. In der Zeit habe ich alles wieder zugenommen, und als wir endlich weiterdrehen konnten, ging das Hungern wieder von vorne los. Das war neu für mich und hatte auch einen gewissen Reiz, weil ich mich vorher noch nie für eine Rolle so intensiv mit meinem Körper auseinandergesetzt habe. Haben Sie sich der Figur allein aufgrund der körperlichen Veränderung automatisch näher gefühlt? Ja, ich denke schon. Man fragt sich am Anfang ja immer: Wie bekomme ich das jetzt hin mit den Gefühlen, die nicht meine sind. D 16

D NOVEMBER/DEZEMBER 2021

Und wenn man sich plötzlich in diesem intensiven Fastenmodus befindet, keine Libido mehr hat, merkt, wie die Haut sich verändert, man wirklich sich selbst wahrnimmt wie noch nie zuvor, dann sind diese Gefühle irgendwann ziemlich einfach abrufbar, weil der Körper sie einem zeigt. Was bedeutet Körperlichkeit im Kino ganz allgemein für Sie? Für mich persönlich ist eine Entscheidung für das Physische oft auch eine Entscheidung gegen die Unkörperlichkeit der Worte. Ich glaube, dass wir heutzutage allgemein vor einer stolzen Körperlichkeit regelrecht Angst haben. Wir nutzen sie eigentlich gar nicht mehr, außer vielleicht in der Karikatur unserer eigenen Identität. Aber ich denke, dass beispielsweise im weniger Sprechen für mich oft ein größerer poetischer Raum entsteht, und ich immer eine gewisse Frustration empfinde, wenn meine Figur erklärt, wer sie ist, wo sie herkommt, wo sie hingeht … wenn sozusagen der Plot seine Bedürfnisse entlädt. Viel spannender finde ich es, Figuren so zu spielen, dass sie eine Würde behalten. Und für mich hat diese Würde eben konkret damit zu tun, dass ein Körper seine Identität nicht erklären muss, sondern sein Geheimnis für sich wahren kann. Wenn man den Gedanken weitertreibt, dann wünsche ich mir eigentlich fast schon ein Kino, in dem man überhaupt nicht mehr versteht, worum es geht, aber in dem man die Körper dafür um so mehr spüren kann und eine Reibung entsteht, zwischen dem eigenen Körper und den Körpern des Kinos. Georg Friedrich ist jemand, der gerne für einen bestimmten Typ Mann gecastet wird. Nicht umsonst gilt er als der fiese Ösi vom Dienst, obwohl er durchaus auch andere Rollen spielt. Haben Sie manchmal Bedenken, irgendwann auch in eine bestimmte Schublade gesteckt zu werden? Nicht wirklich. Ich bin unheimlich dankbar für das, was jetzt gerade um mich herum passiert. Ich gebe mir Mühe, die richtigen Stoffe zu finden, und wenn da irgendwann nichts mehr kommen sollte, dann mache ich etwas anderes. Ich muss nicht bis an mein Lebensende Schauspieler sein. Was wäre die Alternative? Ich muss mal schauen. Ich habe gelernt, solche Dinge nicht so sehr in die Öffentlichkeit zu tragen. Das setzt mich dann nur wahnsinnig unter Druck. Ich weiß es selber nicht genau. Und ich will damit auch nur sagen, dass ich keine Angst habe vor Kategorisierungen jeder Art, weil mich das auch gar nicht interessiert. Es geht mir darum, dass ich verstehe, was mir guttut, und dass ich dafür Verantwortung übernehme. Und wenn ich damit einen ehrlichen Umgang finde, bin ich, glaube ich, gar nicht so abhängig davon, was man von außen mit mir machen will. Ich versuche einfach mir selbst treu zu bleiben. Ich denke, darauf kommt es an. D Das Interview führte Pamela Jahn


E I N F I L M VO N C O R I N N A B E L Z Österreich/Deutschland 2020 D 116 min D R: Sebastian Meise D B: Thomas Reider, Sebastian Meise D K: Crystel Fournier D S: Joana Scrinzi D M: Peter Brötzmann, Nils Pretter Molvaer D D: Franz Rogowski, Georg Friedrich Anton von Lucke, Thomas Prenn, Ulrich Faßnacht D V: Piffl Medien

UND ENRIQUE SÁNCHEZ L ANSCH

SHANGHAI

Grosse Freiheit Im Gefängnis wegen § 175

INTERNATIONAL FILM FESTIVAL 2021 OFFICIAL SELECTION

Vom KZ direkt in den Knast: Freiheit ist relativ im Leben von Hans Hoffmann (Franz Rogowski). Sie bedeutet für den jungen, ausgezehrten Mann in erster Linie, sich selbst treu zu bleiben und seine Liebe zum gleichen Geschlecht zu leben, egal wo, egal wie, auch wenn er dafür immer wieder hinter Gittern landet. Denn straffrei ist Homosexualität unter Erwachsenen in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg noch lange nicht. Erst 1969 wird der berüchtigte Paragraf 175 reformiert, der bis dahin sexuelle Handlungen unter Männern als Verbrechen ahndet. So lange sind die dreckigen Wände, schmalen Räume und trostlosen Korridore der Haftanstalt die Welt, in der sich Hans ein wahres Leben im Falschen einrichtet. Und auch Viktor (Georg Friedrich), der wegen Mordes sitzt, hat sich mit seinem Schicksal abgefunden. Er ist der Harte, der Hetero, ein Mann fürs Grobe, der das Tätowieren zu seiner Kunst erklärt hat und zunächst nichts mit einem wie Hans zu tun haben will. Aber als sich die Begegnungen häufen, weil Hans aufgrund seiner sexuellen Neigungen im Bau zum Stammgast wird, gewinnen die beiden Männer langsam Vertrauen zueinander. Dass daraus schließlich eine innige Nähe, ja eine tiefe Zuneigung wird, die ganz und gar glaubhaft erscheint, ist dem feinen Zusammenspiel der beiden Ausnahmeschauspieler im Zentrum der Geschichte zu verdanken, die Sebastian Meises präzise beobachtetes und tief bewegendes Drama erst zu dem machen, was es ist: nämlich eine der schönsten Entdeckungen dieses ohnehin aufregenden Kinojahres. Dabei tappt die Geschichte über lange Strecken im Dunkeln, immer wieder bestimmen schwere Blau-, Grau und Schwarztöne das Geschehen. Und doch gelingt es dem Regisseur und seiner Kamerafrau Crystel Fournier auch, ein Gefühl von Hoffnung und Autonomie in den Bildern zu finden, Kontraste zu schaffen und Akzente zu setzen, wo kaum Schatten zu sehen sind. Als der Paragraf 175 endlich fällt, wird Hans übermütig und Viktor trifft die Verzweiflung. Der eine geht, der andere bleibt. Nur ist die große Freiheit allein nach all den Jahren zu zweit auch längst nicht mehr das, was sie einmal war. D Pamela Jahn ¢ Start am 18.11.2021

From the concentration camp directly to prison: Hans Hoffmann (Franz Rogowski) is gay and that is still considered a crime in post-war FRG. He meets Viktor (Georg Friedrich) there, who is in prison for murder.

Termine unter www.indiekino.de

AB 25. NOVEMBER IM KINO


INDIEKRITIKEN Deutschland 2021 D 89 min D R: Laurentia Genske, Robin Humboldt D K: Laurentia Genske, Robin Humboldt D S: Carina Mergens D V: Camino

Zuhurs Töchter In Frieden Frau sein

Deutschland 2020 D 87 min D R: Lena Stahl D B: Lena Stahl D K: Friede Clausz D S: Barbara Gies D D: Jonas Dassler, Anke Engelke, Hannah Herzsprung, Karsten Antonio Mielke, Golo Euler D V: Warner Bros.

Mein Sohn Reisegefährten

„Haram, haram!“, hat ein Mann am Bahnhof ihnen hinterhergerufen – Sünde. „Sie wussten, wie frei dieses Land ist, warum sind sie hier hergekommen?“, sagt Samar. Sich unterkriegen zu lassen, ist keine Option: „Ich werde sie alle erziehen“, verkündet Lohan. Samar und Lohan, die mit ihrer Familie nach Deutschland geflohen sind, haben Einiges gemeinsam: So auch, dass sie beide trans sind und in Syrien als Jungen lebten. Der Dokfilm ZUHURS TÖCHTER zeigt ihr Leben mit Eltern und Geschwistern in einer Gemeinschaftsunterkunft in Stuttgart. Ob beim Schminken, beim Friseur, beim Tanzen im Club oder bei der Kernspintomografie, die Schwestern sind unzertrennlich. Die Kameras begleiten sie ein stückweit während ihrer Transition und beim Erwachsenwerden. „Wir schämen uns natürlich wegen dieser Sache“, sagt Vater Talib in die Kamera. Mutter Zuhur sagt da nichts, aber man sieht ihr den Kummer an. Für die Eltern sind Samar und Lohan „zwei Söhne, die sich in Frauen verwandeln.“ Das klänge fast schon märchenhaft, wenn es nicht so traurig wäre. Diskriminierung erfahren die beiden Mädchen auf der Straße ebenso wie im Deutschkurs, und das oft durch andere (muslimische) Geflüchtete. Dabei wollen sie doch bloß in Frieden leben, als Frauen. Bis dahin ist es ein weiter Weg, den das deutsche Gesundheitssystem zwar ermöglicht, aber (im Rahmen des veralteten „Transsexuellengesetzes“) zugleich auch krass erschwert.Trotz der so unlösbaren innerfamiliären Konflikte sind alle Familienmitglieder erstaunlich offen und erlauben dem Filmteam tiefe Einblicke in ihre Lebens- und Gefühlswelt. Dass da viel Liebe ist, spürt man; dass das nicht immer reicht, auch. ZUHURS TÖCHTER urteilt nicht, stellt sich aber doch klar an die Seite seiner beiden Heldinnen, die sich von all den Widrigkeiten nicht unterkriegen lassen. D Eva Szulkowski

Jason (Jonas Dassler) trägt nicht umsonst den Namen einer griechischen Heldengestalt. Seine Mutter Marlene (Anke Engelke) betet ihren Sohn an und erfüllt ihm jeden Wunsch. Der 20-Jährige kostet das voll aus und lebt ein Leben auf der Überholspur. Meist tanzt er die Berliner Nächte durch und stellt sich anschließend zugedröhnt auf sein Skateboard – bis er eines Morgens auf der Motorhaube eines Autos landet. Das Bein ist zertrümmert. Jonas entkommt nur knapp dem Tod, würde sich aber am liebsten gleich wieder aufs Board schwingen. Seine Mutter beschließt, ihn mit dem klapprigen Volvo in die sündhaft teure Rehaklinik in der Schweiz zu fahren. Auf der Fahrt lernen sich die beiden unterschiedlichen Menschen besser kennen. Jonas begreift, dass seine Mutter ein Leben vor ihm hatte und dass ihn sein Leichtsinn für immer zeichnen könnte. Die Läuterung ist absehbar und viel passiert eigentlich nicht auf dieser Reise. Die Fahrt ans Ziel führt auch zu einer Freundin auf einen Hof in Tschechien. Hier prallen unterschiedliche Lebenswege aufeinander: Der Freigeist einer Kommune inmitten der Natur und Marlenes karrieregetriebener Lebensstil. Doch bevor es allzu tiefschürfend wird, sind die beiden auch schon wieder unterwegs. Die Themen, die Regisseurin Lena Stahl in ihrem Spielfilmdebüt anschneidet, könnten leicht plakativ und oberflächlich wirken. Doch ihr Drehbuch geht ehrlich damit um, und ihre beiden Hauptdarsteller*innen überzeugen: Jonas Dassler (DER GOLDENE HANDSCHUH) gibt Jason eine jungshafte Körperlichkeit, verkörpert aber auch die Entwicklung seiner Figur glaubhaft. Anke Engelke wiederum darf hier auch mal nicht lustig sein und überzeugt in der Rolle der am Leben zweifelnden Mutter. Am Ende ist wie so oft bei Roadmovies der Weg das Ziel. D Lars Tunçay

¢ Start am 4.11.2021

¢ Start am 18.11.2021

Samar and Lohan are trans and lived as boys in Syria, but in Germany they finally want to live their lives as women in peace. For their parents they are “two sons who have transformed into women.”

D 18

D NOVEMBER/DEZEMBER 2021

After Jason’s skateboard accident, his mother Marlene drives him to a rehabilitation clinic in Switzerland, but before that they visit a friend with a farm in the Czech Republic, where different lifestyles collide.

Termine unter www.indiekino.de


Deutschland 2020 D 105 min D R: Peter Meister D B: Peter Meister D K: Felix Novo de Oliveira D S: Jan Ruschke D M: Andreas Lucas D D: Bernhard Schütz, Jacob Matschenz, Sandra Hüller, Victoria Trauttmansdorff, Pheline Roggan D V: Port-Au-Prince

Das schwarze Quadrat Skurriler Ensemble-Krimi

Auf Kasimir Malewitschs Gemälde „Das Schwarze Quadrat“ ist genau das zu sehen, was im Titel steht: ein schwarzes Viereck. Die Kunst von Gegenständlichem zu entledigen, war 1915 eine Sensation, wenn nicht Revolution. Wer jetzt aber eine kunstgeschichtliche Doku erwartet, liegt falsch. Regisseur Peter Meister schickt in seinem Langfilmdebüt zwei semi-professionelle Kunsträuber auf Beutezug. In der Komödie stehlen Fälscher Vincent und der etwas naive Nils „Das schwarze Quadrat“ und flüchten auf ein Kreuzfahrtschiff. Doch die beiden sind nicht die einzigen, die sich an Bord für das Kunstwerk interessieren. Bald schon ist das Gemälde weg und auch die Fälschungen, die Vincent anfertigt, gehen von Hand zu Hand. Neben der Kunstagentin Martha, die das Bild für einen reichen Russen will, jagen ein Polizist, ein gieriger Gigolo und schließlich die Bord-Chefin dem Bild hinterher. Das führt zu einigen Verwicklungen, Verwechslungen und zu der ein oder anderen Verführung. Peter Meister verbindet einen Ensemble-Krimi mit der skurrilen Atmosphäre eines Wes Anderson. Der angestaubte Pomp des Schiffs, die Farbstimmung, die Kostüme. Die große Frage der Kunst nach Originalität – Malewitsch selbst fertigte das Bild gleich mehrmals an. Das ist alles gelungen und die stimmige Besetzung mit Sandra Hüller als Martha, Bernhard Schütz als Vincent und Jacob Matschenz als Nils macht Spaß. Wenn aus dem abgebrühten Fälscher der verletzliche Künstler herausbricht, die kultivierte Martha zur eiskalten Profi-Killerin mutiert oder der unsichere Nils sich als Elvis-Imitator selbst findet, sprüht das Spiel vor Komik. Leider verlieren die Figuren im steigenden Aberwitz der Geschichte gegen manche Zote und den rasanten Gag-Beschuss. Ein bisschen weniger hätte gutgetan. Wie Malewitsch ja schon zeigte, muss sich Kunst manchmal auf das Wesentliche konzentrieren. D Clarissa Lempp ¢ Start am 25.11.2021 Forger Vincent and the somewhat naive Nils steal Malewitsch’s “The Black Square” and flee on a cruise ship. A surreal ensemble crime film with a touch of Wes Anderson.

VICKY

TIM

MIA

EIN FILM VON

MIA

HANSEN-LØVE

AB 4. NOVEMBER IM KINO   / WeltkinoFilmverleih

Termine unter www.indiekino.de

ANDERS

KRIEPS ROTH WASIKOWSKA DANIELSEN LIE


USA 2021 D 145 min D R: Liesl Tommy D B: Tracey Scott Wilson D K: Kramer Morgenthau D D: Jennifer Hudson, Marlon Wayans, Forest Whitaker, Leroy McClain, Tate Donovan, Mary J. Blige D V: Universal Pictures

Respect

Mitreißende Performances

KINO FEIERN. EIN JAHR LANG

ZUM FESTTAGSPREIS VON 72 EURO (6 Euro/Monat)

KINO-PAKET BESTELLEN UNTER WWW.INDIEKINO-SHOP.DE D aNNETTE Übersprudelnde Einfälle D LIEBER ThOMaS Bekenntnis zum Fragment D DRIVE MY CaR MurakamiVerfilmung D aMMONITE Patriarchale Kiesel D zuhuRS TÖChTER In Frieden Frau sein D IN DEN uFFIzIEN Hinter Museumstüren D BERgMaN ISLaND Gefühlslagen von Paaren D gROSSE FREIhEIT Im Knast durch §175 D MEIN SOhN Unterschiedliche Weggenossen D DaS SChWaRzE QuaDRaT Skurriler Ensemble-Krimi D BENDETTa Mystisch, sexy und pervers D BLOODY NOSE, EMPTY POCKETS Gemeinschaft der Trinkenden D VaTER Zu Fuß nach Belgrad D aDaM Sonnenstrahlen in Ablas Küche

MagazIN FÜR uNaBhäNgIgES BERLINER KINO

D 76 D NOVEMBER 2021

indiekinoBERLIN

INDIEKINO MAGAZIN LIEBER ThOMaS – STaRT aM 11.11.2021

Zärtliche Texte zu den Neustarts des Monats. INDIEKINO CLUBCARD

indie kino cLUB

Name: Kim

Musterperson

Geburtsdatum: 10.10.1980 Club-Abo: 1.7.2021–30.6.2022 ID: 0001

INDIEKINO CLUB

KINOPASS

Das online Film-Angebot der Berliner Indiekinos auf www.indiekino-club.de

Ermäßigter Eintritt in 11 Berliner Indiekinos: b-ware! ladenkino, Brotfabrik Kino, Bundesplatz-Kino, City Kino Wedding, Filmrauschpalast, fsk-Kino, Hofkino, Il Kino, Klick Kino, Sputnik Kino, Wolf

Aretha Franklins epochale Version des Otis-Redding-Songs RESPECT liefert den Titel für ein Biopic der Sängerin, das vor allem die feministische Bürgerrechtsikone feiern soll. Aretha Franklin war in einer frühen Phase der Produktion selbst noch am Film beteiligt, und die Besetzung mit Jennifer Hudson in der Hauptrolle hat ihren persönlichen Segen. Jennifer Hudson und auch Skye Dakota Turner als junge Aretha liefern in den Musiknummern starke, überzeugende und mitreißende Performances ab. Die Szenen, in denen Aretha und die Weißen Musiker des Muscle Shoals Studios an ihren Aufnahmen arbeiten, die Songs in musikalische Elemente zerlegen und allmählich den perfekten Sound kreieren, sind ähnlich faszinierend. Über Aretha Franklins wirkliches Leben erzählt der Film dagegen wenig und bleibt seltsam brav. Aretha setzt sich gegen ihren gewalttätigen ersten Ehemann Ted White durch, und der nimmt seinen Hut, wenn er Aretha auf der Bühne „Think“ singen hört, als wäre das Patriachat so einfach zu besiegen. Das Drehbuch verdichtet notwendigerweise, lässt aber Aretha Franklin weniger als lebendige und widersprüchliche Frau auftreten denn als Ikone, etwa wenn ihr berühmter Gospel-Auftritt in der New Temple Missionary Baptist Church, bei dem das Album „Amazing Grace“ entstand, gleich auch als mentaler Sieg über den Alkoholismus gezeigt wird. Das ist alles ein bisschen zu eindimensional. Dabei sind auch die Nebenrollen gut besetzt, mit Forest Whittaker, der Arethas Vater Clarence mit ruhiger Ambivalenz spielt und Marc Maron als Produzent Jerry Wexler, der Franklin erst überzeugen muss, mit Weißen Musikern zusammenzuarbeiten. Die, bekannten Auftritten von Franklin nachempfundenen Musiknummern reißen aber immer noch mit, und der erfahrenen Jennifer Hudson gelingt es, ein Gefühl für Aretha Franklins Bühnenpräsenz zu vermitteln. D Tom Dorow ¢ Start am 25.11.2021 RESPECT is an enjoyable music biopic, as long as you don’t expect a historically accurate depiction of the life of soul legend, feminist, and civil rights icon Aretha Franklin.

Termine unter www.indiekino.de


INDIEKRITIKEN

Ammonite Patriarchale Kiesel

Großbritannien 2020 D 120 min D R: Francis Lee D B: Francis Lee D K: Stéphane Fontaine D S: Chris Wyatt D M: Volker Bertelmann, Dustin O’Halloran D D: Saoirse Ronan, Kate Winslet, Fiona Shaw, Gemma Jones, Clarie Rushbrook D V: Tobis Film

Im Mittelpunkt von AMMONITE stehen zwei zunächst einmal erfrischend schlecht gelaunte Frauen. Wir schreiben die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Paläontologin Mary Anning (Kate Winslet) – die es übrigens wirklich gab – bringt sich und ihre Mutter durch, indem sie an der Südküste Englands Fossilien sammelt, säubert, kategorisiert und an Touristen verkauft. Es ist eine anstrengende und dreckige Arbeit, deren Ergebnisse wenig einbringen und dann umetikettiert in den Vitrinen männlicher Sammler und Institutionen landen. Kein Wunder also, dass Mary dem jungen Möchtegern-Sammler Roderick Murchinson, der mitsamt seiner männlich-selbstverständlichen Anspruchshaltung bei ihr einschneit und um eine Führung bittet, ruppig begegnet. Wenig mehr Liebe bringt sie seiner kränklichen Frau Charlotte entgegen, mit der sie gegen Bezahlung am Meer spazieren gehen soll, während Murchinson durch Europa tourt. Auch Charlotte (Saoirse Ronan), die lieber den Tag depressiv im Bett verbringen würde, ist von dieser Aussicht nicht begeistert. Winslet ist wunderbar als spröde Forscherin und ist zudem eine der wenigen Schauspielerinnen, der man körperliche Arbeit tatsächlich abnimmt. Ronan setzt ihr eine junge Frau gegenüber, die Kate Winslet is paleontologist Mary Anning who collects fossils on the southern coast of England and sells them to tourists. She is tasked with caring for a client’s sickly wife, Charlotte (Saoirse Ronan), who has been prescribed to get some sea air.

einerseits wirklich geschwächt und verletzlich, andererseits aber auch launisch und verwöhnt ist. In beiden Fällen ist das schroffe Äußere nicht nur Ausdruck einer widerständigen Persönlichkeit, sondern auch Ergebnis gesellschaftlicher Erfahrungen. Natürlich nähern sich die beiden Frauen trotz, oder vielleicht auch gerade wegen ihrer „schwierigen“ Art an und lassen sich schließlich auf eine Affäre ein, von der beide wissen, dass sie geheim bleiben und enden muss, sobald Roderick von seinen Reisen zurück ist. Auf den ersten und auch noch auf den zweiten Blick erinnert Francis Lees AMMONITE an Céline Sciammas PORTRÄT EINER JUNGEN FRAU IN FLAMMEN. Nicht nur die historische Verortung die Geschichte, auch die Konstellation der Figuren und die Interessen der Filmemacherinnen ähneln sich. Beide Filme finden fast ausschließlich in der weiblichen Sphäre statt. Wie Sciamma hat Lee einen Blick nicht nur für Geschlechterverhältnisse, sondern auch für Klassenverhältnisse. Beide Regisseurinnen inszenieren die Welt ihrer Protagonistinnen enorm physisch und machen raue und feine Stoffe, Kälte, Wind, Hunger und Dunkelheit spürbar. Doch während Sciamma von der Unmöglichkeit eines guten weiblichen Lebens im Patriarchat erzählt und auf ein unvermeidlich trauriges Ende hin inszeniert, ist Lee auf der Suche nach Möglichkeiten und Schlupflöchern, nach Spuren einer lesbischen Gegenwelt in der Vergangenheit, oder anders gesagt, nach den Fossilien lesbischen Alltagslebens in einem Haufen patriarchaler Kiesel. D Hendrike Bake ¢ Start am 4.11.2021

Termine unter www.indiekino.de

NOVEMBER/DEZEMBER 2021 D

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INDIEKRITIKEN Originaltitel: Hap D Norwegen/Schweden 2019 D 126 min D R: Maria Sødahl D B: Maria Sødahl D K: Manuel Alberto Claro D S: Christian Siebenherz D D: Andrea Braein Hovig, Stellan Skarsgård, Eirik Hallert, Hala Dakhil D V: Arsenal Filmverleih

Hope

Angst vor dem Abschied Nach vielen entbehrungsreichen Jahren ist Anja (Andrea Bræin Hovig) endlich dort angekommen, wo sie hinwollte. Ihre Tanzinszenierung feiert den Abschluss einer umjubelten Tour, ein Jahr, nachdem der Lungenkrebs drohte, sie aufzufressen. Zuhause ist immer etwas los. Das Jüngste ihrer drei Kinder ist zehn, die drei Kinder ihres Lebensgefährten Tomas (Stellan Skarsgård) haben sie als Stiefmutter akzeptiert, die Partnerschaft mit dem angesehen Regisseur ist geprägt von gegenseitigem Respekt – es herrscht eine scheinbare Harmonie im Haus, am Tag vor Weihnachten. Doch dann bricht eine erschütternde Diagnose in ihr Leben: Der Krebs hat gestreut und Metastasen im Gehirn gebildet. Eine Heilung ist aussichtslos. Ihr bleiben nur noch wenige Monate. Wie soll sie damit umgehen? Es den Kindern sagen, so kurz vor dem Weihnachtsfest, oder lieber schweigen? Soll sie aufgeben und die letzten Tage genießen oder den vielleicht aussichtslosen Kampf aufnehmen? Mit diesen Fragen sah sich auch Maria Sødahl (LIMBO) konfrontiert, die mit dem Regisseur Hans Petter Moland liiert ist. In HOPE erzählt sie ihre Geschichte. Dass sie überlebte, nimmt allerdings weniger das Ende ihres erschütternden Dramas vorweg. Sie schildert in den wenigen Tagen, an denen sich ihre Geschichte abspielt, vielmehr, welchen Preis die Krankheit von ihr und ihrer Familie abverlangte. Unausgesprochene Wahrheiten zwischen Anja und Tomas treten zu Tage. Der Hirntumor hat direkte Auswirkungen auf Anjas Verhalten, die Medikamente tun ihr Übriges, der Schlafentzug droht, sie endgültig zu zermürben. Über allem schwebt die Angst des nahenden Abschieds von denen, die sie liebt. Ein emotionales, essentielles Drama, getragen von den großartigen Leistungen der Norwegerin Andrea Bræin Hovig und des Schweden Stellan Skarsgård. D Lars Tunçay ¢ Start am 25.11.2021

Anja is finally where she wants to be. But on the day before Christmas a shocking diagnosis fractures her life: the old cancer has spread and metastases has formed in her brain. She only has a few months left.

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D NOVEMBER/DEZEMBER 2021

Schweiz/Österreich/Deutschland 2021 D 110 min D R: Stefan Jäger D B: Kornelija Naraks D K: Daniela Knapp D S: Noemi Katharina Preiswerk D M: Volker Bertelmann D D: Maresi Riegner, Hannah Herzsprung, Max Hubacher, Julia Jentsch, Joel Basman, Philipp Hauß D V: DCM Film Distribution

Monte VeritÀ Licht und Luft

Stefan Jägers Historienfilm spielt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Während in bürgerlichen Wohnzimmern noch strikte Hierarchien und eine abgezirkelte Etikette herrschen, Kinder ihre Eltern mit „Sie“ anreden und vermögende Frauen von den Zehen bis zum Stehkragen in mehrere Lagen Stoff und Spitze eingewickelt sind, bahnt sich in den Wissenschaften, den Künsten und der Politik eine Befreiungsbewegung an. In frühen Künstler-Kolonien experimentieren Freigeister mit Nackttanz, Naturheilkunde, kommunalen Lebensformen und alternativen Beziehungsmodellen. Die von Ida Hofmann und Henri Oedenkoven gegründete „vegetabile Cooperative Monte Verità“ in Ascona gehört dazu. MONTE VERITÀ inszeniert den Kontrast. Im heimischen Wien droht die junge Mutter Hanna (zeitlos: Maresi Rieger) in den vollgestopften und farbsortierten Räumen der Jahrhundertwende wortwörtlich zu ersticken. Wegen ihrer Luftnot haben die Ärzte ihr verboten den Kindern zu nahe zu kommen (keine Emotionen) oder das Haus zu verlassen. Erst ihr neuer Arzt, der Freud-Schüler Otto Groß (allzu aufgeklärt: Max Hubacher) sieht das anders. Eines Abends packt Hanna eine kleine Tasche und flüchtet zu ihm – in die Kommune Monte Verità. Dort findet sie Licht und Luft und eine Freiheit im Umgang, die sie zunächst verängstigt, aber dann eine Rückkehr in das alte Leben immer unmöglicher macht. Hannas Geschichte funktioniert vor allem auf der Bildebene, die Wiener Innenräume mit dem klaren Licht der Berge kontrastiert und immer wieder in Schwarz-Weiß-Bildern einfriert, die an historische Aufnahmen erinnern. Auf der Textebene gerät die Illusion allerdings ins Stolpern: Die Dialoge wirken doch sehr 21st Century – „Heißt das, dass du mit allen deinen Patientinnen schläfst?“ –, gerade, wenn man die ungeheuer redseligen Manifeste der Reformer*innen kennt. D Hendrike Bake ¢ Start am 16.12.2021 1906: A time of upheaval. The first exiles – young Herman Hesse being one of them – are looking for their paradise and find it in the south of Switzerland, in the commune Monte Verità. Young mother Hanna Leitner is also drawn to the place.

Termine unter www.indiekino.de


INDIEKRITIKEN

A Pure Place

Vicious Fun

Die Geschwister Irina und Paul schlagen sich als Straßenkinder durch, als ihnen eines Tages eine Lichtgestalt erscheint – es ist der dubiose Sektenführer Fust, der sich einem Ideal von totaler Reinheit verschrieben hat. Auf einer griechischen Insel produziert die Sekte Seife und gibt sich skurrilen Idealen hin. Wenn der Sektenführer einen Witz macht, kichert die Gemeinde. Wer sich widersetzt wird verstoßen. Während Irina in der Hierarchie aufsteigt und sich immer mehr blenden lässt, harrt der kleine Paul bei den Niederen, Dreckigen aus. Er beschließt, Irina zu befreien.

Joels Karriere als Horrorfilmjournalist läuft nur bedingt gut, aber immer noch besser als seine Annäherungsversuche an seine Mitbewohnerin Sarah. In einer Bar quatscht der überzeugte „nice guy“ den schmierigen Bob an, mit dem Sarah gerade ein Date hatte, in der Hoffnung, ihn mit einem versteckten Diktiergerät als Arschloch zu entlarven. Der Plan scheitert, Joel betrinkt sich und wacht nach einem Nickerchen in einer geschlossenen Bar auf, die leer ist, bis auf eine Gruppe Serienkiller, die dort ein Seminar abhalten … ¢ Start am 4.11.2021

¢ Start am 25.11.2021 Deutschland 2021 D 90 min D R: Nikias Chryssos D D: Sam Louwyck, Claude Heinrich, Greta Bohacek, Daniel Sträßer, Daniel Fripan, Lena Lauzemis, Wolfgang Czeczor

USA 2020 D 103 min D R: Cody Calahan D D: Evan Marsh, Bernstein Goldfarb, Ari Millen, Julian Richings, Robert Maillet


INDIEKRITIKEN Originaltitel: Notre Dame D Frankreich/Belgien 2019 D 89 min D R: Valérie Donzelli D B: Valérie Donzelli, Benjamin Charbit D K: Lazare Pedron D S: Pauline Gaillard D D: Valérie Donzelli, Pierre Deladonchamps, Thomas Scimeca, Bouli Lanners D V: W-Film

Notre Dame

„Die Menschen sind nervös“ Die Komödie von und mit Valérie Donzelli ist etwas anders als man das von französischen Komödien gewohnt ist, eigenwilliger, alberner, verträumter, feministischer. Maud Crayon (Donzelli) ist alleinerziehende Architektin in Paris, und das erste, was ins Auge fällt, ist die winzige Wohnung, in der Maud, ihre zwei Kinder und Mauds Ex (Thomas Scimeca), der immer vorbeischaut, wenn es mit der Neuen kriselt, umeinander manövrieren. Die Dusche ist in der Küche, aus dem Radio kommen bizarre apokalyptische

Meldungen – „Frankreich geht es schlecht. Die Pariser sind deprimiert“ – und überall liegt Kram. Normal halt in Paris, wenn man nicht so besonders verdient, aber doch selten im Kino zu sehen. Auf Arbeit in einem Souterrain-Büro mit Baustelle vor dem Fenster erwarten Maud ihr narzisstischer Chef Greg (Samir Guesmi), ihr netter Tischnachbar Didier (Bouli Lanners) und ein Team unterbezahlter Kollegen, die alle heimlich in ihrer Arbeitszeit am Wettbewerb zur Modernisierung des Vorplatzes von Notre Dame arbeiten. Durch ein Wunder gewinnt Maud, die gar nicht eingereicht hatte, den Wettbewerb. Ab da potenzieren sich die Turbulenzen, nicht zuletzt, weil Maud unerwartet schwanger ist und sich eine Bürgerbewegung gegen die Planungen bildet. NOTRE DAME begleitet Maud beim Krisen-Multitasking und streut dabei immer wieder Absurditäten ein. So ohrfeigen sich in ganz Paris immer wieder Leute. Ohne jede Erklärung. „Die Menschen sind nervös“, ist alles, was ein Polizist dazu sagt. Es gibt einen romantischen Trennungssong, und die befreundete Frauenärztin führt bei der Ultraschalluntersuchung Selbstgespräche à la „Er hat nur ein Bein, oh nein, doch zwei …“. Das trägt nicht unbedingt über die ganze Laufzeit, ist aber charmant anders und wirklich oft komisch. Muss man mögen. D Toni Ohms ¢ Start am 9.12.2021 A comedy about a Parisian architect, with an idiosyncratic sense of humor.


INDIEKRITIKEN

Bergman Island Mikrostimmungen

In BERGMAN ISLAND schickt Mia Hansen-Løve (ALLES WAS KOMMT, EDEN) ein Filmschaffenden-Paar nach Fårö, Wahlheimat und Sehnsuchtsort des Regisseurs Ingmar Bergman. Sie wollen einen Sommer in einem von Bergmans ehemaligen Wohnhäusern verbringen. Er, Tony (Tim Roth), ein gestandener Regisseur, hat eine Einladung, sein Werk auf der Bergman-Woche zu präsentieren. Sie, Chris (Vicky Krieps) ist deutlich jünger und erst am Beginn ihrer Karriere. Ungeheuer präzise fängt Hansen-Løve die sehr spezielle Atmosphäre dieser Reise ein – das strahlend helle Insellicht, die ernsthaften Intellektuellen, die sich zu Filmsichtungen treffen und auf der „Bergman Safari“ Bergmans Schaffen verfolgen, die zurückhaltenden Inselbewohner und die Mikrostimmungen zwischen Tony und Chris, die beide vorhaben, hier in der Abgeschiedenheit an ihren jeweiligen Drehbüchern zu arbeiten. Während es bei Tony gut zu laufen scheint, kämpft Chris mit Leerstellen, sieht aus dem Fenster, wandert über die Insel. Schließlich findet sie einen Anfang, und während sie Tony auf einem Spaziergang davon berichtet, wandelt sich BERGMAN

A filmmaking couple spends a summer in Fårö, the chosen home and place of longing of director Ingmar Bergman. Hansen-Løve interlaces the narrative layers with Bergman themes and motifs with uncanny assuredness.

Frankreich 2021 D 112 min D R: Mia Hansen-Løve D B: Mia Hansen-Løve D K: Denis Lenoir D S: Marion Monnier D D: Mia Wasikowska, Vicky Krieps, Anders Danielsen Lie, Oscar Reis, Tim Roth D V: Weltkino

ISLAND und beginnt, Chris‘ Drehbuchidee zu erzählen, die Geschichte von Amy (Mia Wasikowska), die zur Hochzeit einer Freundin nach Fårö fährt und dort Joseph (Anders Danielsen Lie) trifft, mit dem sie eine alte, komplizierte Beziehungsgeschichte verbindet. Auch diese Geschichte um Begegnungen und Sehnsüchte ist so atemberaubend genau eingefangen, dass es nur Minuten dauert, bis man von ihr gefangen genommen wird und nun den Gefühlslagen dieses anderen Paares folgt. Mit traumwandlerischer Sicherheit verschränkt Hansen-Løve die Erzählebenen, bis die Charaktere zu verschwimmen beginnen. Wie Amy hat etwa auch Chris eine junge Tochter, und ebenso natürlich Mia Hansen-Løve, die mit ihrem Ehemann Olivier Assayas, einem bekannten Regisseur, Fårö mehrfach besucht hat und großer Ingmar Bergman-Fan ist … Dabei erforscht BERGMAN ISLAND auf allen Ebenen ein ähnliches Terrain und folgt den Sehnsüchten, den kleinen Ausbruchsund Abgrenzungsbewegungen, die sich unterhalb der etablierten Paar-Dynamik abspielen. Mit jeder Szene, jeder alltäglichen Begegnung und deren Spiegelungen in den Geschichten, die sich die Charaktere selbst erzählen, lotet Hansen-Løve aus, inwiefern in jeder Beziehung jede Person einzeln und allein ist, und das mit sich und dem Gegenüber verhandelt. Sie tut das spielerisch, ohne die existentielle Verzweiflung, die Ingmar Bergman in seinen Filmen einfing, aber dezidiert auf seinen Spuren. D Hendrike Bake ¢ Start am 4.11.2021

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INDIEKRITIKEN Dänemark/Deutschland/Niederlande 2021 D 107 min D R: Kaweh Modiri D B: Kaweh Modiri D K: Daan Nieuwenhuijs D S: Carla Luffe Heintzelmann D M: Mohsen Namjoo D D: Mohsen Namjoo, Jasmin Tabatabai, Shabnam Tolouei, Sallie Harmsen, Avin Manshadi, Aram Ghasemy D V: Camino

Mitra

Keine Erlösung Nicht erst seit Quentin Tarantino wissen wir, dass Rache süß ist – zumindest im amerikanischen Kino. Doch wie sieht es in einer Filmwelt aus, die deutlich näher an die Realität anknüpft und von erwachsenen Emotionen erzählen will? Die Geschichte, die Kaweh Modiri in seinem Melodram MITRA erzählt, ist lose autobiografisch und beschreibt Ereignisse, die der Familie des im Iran geborenen, inzwischen in den Niederlanden lebenden Autors und Regisseurs widerfuhren. Sie erzählt von Haleh (Jasmin Tabatabai) einer 70jährigen Exiliranerin, die vor vielen Jahren aus ihrer Heimat flüchtete, nachdem ihre Tochter Mitra wegen ihrer politischen Aktivitäten verhaftet und hingerichtet wurde. Verdrängt hat sie dieses Trauma, aber nicht vergessen, und nun brechen die Wunden auf: Eine Organisation von Exil-Iranern hat eine Frau ausfindig gemacht, die Leyla sein soll, das Mädchen, die Mitra einst verraten hat. So ganz mag Haleh das zwar nicht glauben, doch dann sucht sie doch die Verdächtige auf, die junge Sare (Shnabnam Tolouei). Haleh wird zur Bezugsperson für die jüngere Frau und vor allem deren Tochter Nilu (Avin Manshadi), doch ob Sare wirklich Leyla ist, lässt sich nach all den Jahren kaum beantworten.Während Haleh vom Bedürfnis nach Vergeltung getrieben ist, nimmt ihr Bruder Mohsen (Mohsen Namjoo) eine andere Position ein: Nach Jahren im Gefängnis ist er ein gebrochener Mann, lebt zurückgezogen in Deutschland und weiß, dass Rache nichts wieder gut macht. So bleibt den Figuren nur das Vergeben, das Modiri jedoch nicht als erlösenden Moment zeigt, sondern als bloße Akzeptanz der Realität. Passend zu seinen meist dunklen, verregneten Bildern wird MITRA so zu einem pessimistischen Film, der davon handelt, dass erlittenes Unrecht sich nicht so einfach wegwischen lässt. D Michael Meyns ¢ Start am 18.11.2021

70 year old exiled Iranian Haleh fled her home many years ago after her daughter Mitra was executed. Now an exile organization has found the woman who betrayed Mitra.

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Deutschland 2020 D 96 min D R: Corinna Belz, Enrique Sánchez Lansch D B: Corinna Belz, Enrique Sánchez Lansch D K: Johann Feindt, Thomas Riedelsheimer D S: Anne Fabini D M: Christoph Kaiser, Julian Maas D V: Piffl Medien

In den Uffizien Hinter Museumstüren

Zur gelungenen Italienreise gehört neben Pasta, Vino und Dolce Vita auch ein Besuch in den Uffizien in Florenz, einem der berühmtesten Museen der Welt. In dem einstigen Bürogebäude der Familie Medici stellte die ihre Kunstsammlung erstmals 1581 aus. Das Regieduo Corinna Belz und Enrique Sánchez Lansch wirft einen filmischen Blick hinter Türen, die Besucher*innen sonst verschlossen bleiben, und dokumentiert kleine Geschichten aus dem großen Museum. Da ist etwa das Gemälde „Venus von Urbino“ von Tizian, das vor einer grün gestrichenen Wand perfekt zur Geltung kommen soll. Zwölf Farbschichten haben die Maler bereits aufgetragen, doch noch findet der Museumsdirektor Dr. Eike Schmidt den Farbton nicht optimal. Wie ein kostbarer Samtstoff soll das Grün wirken und nicht an Monet und den Impressionismus erinnern. Der Gegenwartskünstler Antony Gormley zeigt sich unzufrieden mit dem Standort seiner Statue, einem Selbstporträt. Aus dem Fenster soll sie auf die Ponte Vecchio schauen, eine Verbindung zur Außenwelt schaffen. Doch unter dem von Gormley favorisierten Platz befindet sich ein altes Gewölbe – was nun? Wie bringt man Kindern Kunstwerke wie Caravaggios „Medusa“ nahe? Wie motiviert man den Kunstförderverein aus den USA dazu, Geld für den restaurierungsbedürftigen Geografie-Saal zu sammeln? Eike Schmidt, der erste deutsche Direktor der Uffizien, und sein Team finden Lösungen. Die auf den jahrhundertealten Gemälden porträtierten Personen, von der Kamera in Nahaufnahmen eingefangen, scheinen sie mit mildem Spott dabei zu beobachten. IN DEN UFFIZIEN ist ein Film wie ein Gang durchs Museum, kontemplativ und lehrreich, ein Film über Menschen, die sich mit Leidenschaft dafür einsetzen, Kunst für die Zukunft zu bewahren. D Stefanie Borowsky ¢ Start am 25.11.2021 In IN DEN UFFIZIEN, directing duo Corinna Belz and Enrique Sánchez Lansch take a filmic look behind the doors of the famous museum that is otherwise closed for visitors.

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INDIEFEATURE

ANNETTE, die Zusammenarbeit von Carax und den Mael-Brüdern Ron und Russel von der Band Sparks sprudelt vor visuellen und musikalischen Einfällen über. Alle Erwartungen an eine naturalistische Geschichte sollten sich eigentlich mit Beginn des Films erledigt haben, wenn Texttafeln darüber informieren, dass Sprechen, Essen und Atmen während der Vorstellung untersagt sind. Dann sitzt Carax als Produzent in einem Tonstudio, um den Song „So May We Start“ aufzunehmen. Was als Inszenierung einer Aufnahmesession beginnt, wird zu einer großen Chornummer, in der das Ensemble die Straßen herunterläuft und eine Vorstellung verspricht, bei der ungewiss ist, ob die Bühne außen oder innen ist. Die Geschichte, die der Film nun erzählt, hat mehrere Bezugsrahmen, aber die Mechanismen der Kulturindustrie und ihrer Erzählungen sind eine Konstante. ANNETTE ist eine unversöhnliche Variation auf Themen von A STAR IS BORN als subversive Pop-Oper und exakt der Film, den die Welt gerade braucht: ein Abschied vom Helden- und Starkult. Der erfolgreiche Stand-Up Komiker Henry McHenry (Adam Driver) und die erfolgreiche Opernsängerin Anne Defrasnoux (Marion Cotillard) haben sich verliebt und bekommen ein Kind, woraufhin der Komiker immer mehr trinkt und seine Karriere den Bach herunter geht. Dieser Teil Geschichte wurde als A STAR IS BORN seit 1932 viermal verfilmt, darunter zweimal von George Czukor, dessen Filme der wichtigste visuelle Bezugspunkt von ANNETTE sind, bis hinein in die Farbgebung. Alle früheren Filme endeten mit dem Tod der Männer, der die Energien der Frauen erst wirklich freisetzt, und der in den Filmen von 1937 und 1954, in gewisser Hinsicht auch noch in der Version mit Lady Gaga und Bradley Cooper von 2018, als Liebesopfer inszeniert ist. Davon haben Sparks ganz offensichtlich genug. Bereits Czukors Version mit Judy Garland hatte deutlich depressive Gothic-Züge, und in ANNETTE wird Adam Driver tatsächlich von Gespenstern gejagt. Hier hat der Narzissmus des Komikers keine positiven Aspekte mehr. In seiner Comedy-Routine, die zwar von Lachern begleitet wird, aber explizit und in jeder Hinsicht unwitzig ist, wird Humor durch Lachsamples und das Ha-Ha-Ha von Backgroundsängerinnen ersetzt. Seine Liebe hat stets bedrohliche Untertöne: „Du stirbst so schön“, sagt er zu Anne, die täglich auf der Opernbühne ästhetisch darnieder sinkt – auch das ein Kommentar zum Liebes-Opfermythos. Wer ein Feelgood Musical mit liebenswerten Figuren und einer anständigen Handlung erwartet, wird möglicherweise enttäuscht. Anders als etwa LA LA LAND, dessen düstere Aspekte sich eher im Nachhinein offenbaren, ist ANNETTE überwiegend schräg-­­finster und erzählt eher eine Meta-Geschichte. Der Film hat aber jede Menge Drive und Witz, szenisch, musikalisch und visuell, etwa wenn ein Dirigent während einer Aufführung über seine geheime Liebe zu Anne spricht und sich immer wieder kurz entschuldigt, bevor ein Orchester-Crescendo ansteht, wenn ein Sturm ausschließlich aus völlig überdimensionierten Rückprojektionen D 28

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besteht, oder wenn das Baby ANNETTE so lange eine Marionette bleibt, wie sie von Henry McHenry ausgebeutet wird. Leos Carax und Sparks haben einen der aufregendsten Filme des Jahres produziert und einen zukünftigen Klassiker. Man fragt sich nach dem Film vor allem, warum in Carax‘ Filmen nicht schon früher und ausschließlich gesungen wurde oder generell in allen Filmen, die nach Oper riechen, DUNE, Marvel usw. Die Mael-Brüder mögen inzwischen über siebzig sein, aber es gibt noch so viel zu tun. ANNETTE ist ein Geschenk und setzt neue Maßstäbe. D Tom Dorow ¢ Start am 16.12.2021


INDIEFEATURE

Annette

Abschied vom Starkult

Frankreich/USA 2021 D 141 min D R: Leos Carax D B: Ron Mael, Russell Mael D K: Caroline Champetier D M: Russell Mael, Ron Mael D D: Adam Driver, Marion Cotillard, Simon Helberg, Rebecca Dyson-Smith D V: Wild Bunch

At its root a very current version of A STAR IS BORN, the collaboration between Leos Carax and the Mael brothers Ron and Russel of the band Sparks is filled to the brim with visual and musical ideas.

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INDIEFEATURE

Vor 20 Jahren verstarb Thomas Brasch. Als er im Herbst 2001 zu Grabe getragen wurde, war er in der Öffentlichkeit nahezu vergessen. Dabei hatte er einst zu den gefragtesten deutschen Schriftstellern gehört, zeitweilig galt er sogar als der meistgespielte deutschsprachige Dramatiker. Das war Ende der 1970er, Anfang der 1980er, kurz nach seiner Übersiedelung von Deutschland-Ost nach Deutschland-West, von Berlin nach Berlin. Alles schien ihm damals zu gelingen. Die Feuilletons rissen sich um ihn, ebenso die Sender und Bühnen. Er veröffentlichte pausenlos, heimste Preis um Preis ein. Und dann erfüllte er sich seinen eigentlichen künstlerischen Lebenswunsch: Er drehte einen ersten Spielfilm. Die während der Berliner Blockade 1948 spielende, abgründig-sentimentale Gangster-Ballade ENGEL AUS EISEN feierte als bundesdeutscher Wettbewerbsbeitrag im Frühjahr 1981 in Cannes Premiere. Welch ein Triumph für den exmatrikulierten DDR-Filmstudenten! Als er im selben Jahr aus den Händen von Franz Josef Strauss den mit 50.000 Mark dotierten Bayrischen Filmpreis entgegennahm, bedankte er sich bei der Babelsberger Filmhochschule für seine Ausbildung. Und das war nicht ironisch gemeint – sondern dialektisch gedacht. Den berühmten Eklat, den die Preisvergabe damals in München auslöste (in YouTube auffindbar), haben Regisseur Andreas Kleinert und Autor Thomas Wendrich nicht mit aufgenommen in ihre Reise durch das ungestüme, schöne, gefährliche und abgrundtief traurige Leben des Thomas Brasch. Ansonsten hat natürlich eine D 30

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ganze Reihe von biografischen Zäsuren Einzug gefunden. So die Kasernierung als Kadett im Alter von 12 Jahren, das Aufbäumen gegen den Einmarsch der „sozialistischen Bruderländer“ in Prag 1968, die Auslieferung an „die Organe“ durch den eigenen Vater. Danach Haft, Bewährung in der Produktion, latente Überwachung und „Bearbeitung“ durch das Ministerium für Staatssicherheit, schließlich die Abschiebung in den Westen im Dezember 1976. Und noch später sein Aufstieg im Kulturbetrieb des Westens: Schickeria, Big Apple, immer öfter Drogen aller Art, Abstürze. Diese authentischen Stationen erscheinen bereits ohne jede Ausschmückung wie dramaturgisch pointierte Eckpunkte eines Dramas oder Romans – oder eben eines konventionellen Biopics. Doch Kleinert und Wendrich widerstanden der Versuchung, sie als bequemes Gerüst zu nutzen und sich daran entlangzuhangeln. Stattdessen arbeiteten sie spielerisch mit dem Faktenmaterial, wirbelten es wild durcheinander, ließen weg, dichteten hinzu, über- und untertrieben. Dies alles mit einer im deutschen Kino selten erlebten Lust und Laune. Ihr Film ist zwar chronologisch aufgebaut, setzt sich aber lässig über die Klischees von kausaler Sinnhaftigkeit hinweg. Der Maßlosigkeit ihres Antihelden treten sie auf Augenhöhe entgegen. Möglicherweise hätte Thomas Brasch diesen Film gemocht. Ein größeres Lob lässt sich indes kaum denken. Denn wer sich an ihn als Mensch erinnert, weiß um sein schneidend scharfes Kritikvermögen. Er konnte gegenüber unaufrichtigen Kunstäußerungen


INDIEFEATURE Deutschland 2021 D 150 min D R: Andreas Kleinert D B: Thomas Wendrich D K: Johann Feindt D S: Gisela Zick D M: Daniel Kaiser D D: Albrecht Schuch, Jella Haase, Ioana Iacob, Jörg Schüttauf, Anja Schneider D V: Wild Bunch

Lieber Thomas Bekenntnis zum Fragment

zornig bis hin zum Zynismus sein, vernichtend im Urteil oder stumm verachtend. Er war aber gleichzeitig stets verletzbar und offen. Dieser Durchlässigkeit kommt der Film in seiner Gestalt nahe. Zunächst ist es schon mal eine gute, weil seltene Idee, ein Gedicht als Gerüst für eine erzählerische Rahmung zu nutzen. In nur sieben Zeilen spitzte Brasch in seinem Text namens „Was ich habe, will ich nicht verlieren“ die Zerrissenheit zwischen Besitz und Verlust zu, zwischen Bleiben und Gehen, Leben und Tod. Die sieben Zeilen des Gedichts ziehen sich durch die 150 Minuten des Films, erwischen einen immer unerwartet, zerschneiden die Handlungslinien, bündeln sie gleichzeitig, verbinden und trennen die scheinbar erratischen Blöcke der Szenen. Sie erinnern auch daran, dass wir uns beim Sehen in einem Kunstraum bewegen. Brasch war trotz seiner Besessenheit vom Kino vor allem und zuerst immer Dichter. Die Sprache blieb sein Zuhause. Nicht Ost-, noch West-Berlin, und erst recht nicht New York konnten ihm zur Heimat werden. Den Boden unter den Füßen verlor er erst, als seine Stimme nicht mehr gehört wurde. Sein öffentliches Verstummen spiegelte sich paradoxerweise in der manischen Niederschrift eines mehrere tausend Seiten umfassenden Manuskript über den „Mädchenmörder Brunke“. Ein absurd kurzer Auszug von 80 Seiten bleib seine letzte zu Lebzeiten erschienene Publikation. Von all diesen Höhen und Tiefen erzählt der Film. Dass er sich an seiner Material- und Gefühlsfülle nicht verhebt, glückt durch

das Bekenntnis zum Fragment. Hier wird nichts „auserzählt“, es gibt keine umständlichen Erklärungen, viele Figuren tauchen so schnell auf, wie sie wieder verschwinden. Man muss sich schon in diesen Wirbel fallen lassen, um etwas zu verstehen. Deshalb haben wir es hier auch explizit mit Kino zu tun – und nicht mit dem Teilprodukt einer möglichst breiten Auswertungskette. LIEBER THOMAS ist ganz klar Andreas Kleinerts bester Film seit WEGE IN DIE NACHT (1999). Ein Zufall, dass er damals Hilmar Thate in der Hauptrolle besetzte? Sicher nicht. Thate spielte auch in Braschs Kinodebüt eine zentrale Figur. Kleinert geht jetzt mit seiner Referenz so weit, dass er eine Schlüsselszene aus ENGEL AUS EISEN als konkretes Zitat direkt in seinen Film implantiert. LIEBER THOMAS steckt voller solcher Überraschungen. Da ist zum Beispiel die Idee, eine wichtige Traumsequenz nicht mit den üblichen Weichblenden und sphärischen Klängen einzuläuten, sondern geradezu slapstickhaft, in Zeitraffer und mit Stop-Motion-Effekten zu inszenieren. Mehrfach kippt die eben noch realistische Atmosphäre übergangslos in ausufernde Phantasmagorien. Die heterogenen Elemente des Films werden nicht zuletzt durch die Schnittmeisterin Gisela Zick und den Bildgestalter Johann Feindt zusammengehalten – zwei langjährige Partner Kleinerts. Gedreht wurde in Schwarzweiß und Cinemascope, dem Lieblingsformat Braschs. Feindts Kamera macht die Enge weit und die Weite eng. Sie steigt in lichte Höhen, taumelt und stürzt mehrfach krachend ab. Sie umtanzt die Figuren, lässt trotz aller Empathie nie vergessen, dass es sich eben dann doch „nur“ um Darsteller handelt. Albrecht Schuch in der Titelrolle durchläuft die aufreibenden Metamorphosen bravourös; obwohl er mehrfach besessen auf die Tasten seiner Schreibmaschine einhieben muss, entkommt er weitgehend den Mustern eines genialischen Künstlerporträts. Vom präzisen Joel Basman als tragisch endenden Bruder Klaus wünschte man sich noch mehr Szenen. Und den in Parteidisziplin gefangenen Vater spielt Jörg Schüttauf stets überraschend-vielschichtig. (Er ist zudem in einer kuriosen Doppelrolle zu erleben!) LIEBER THOMAS kann durchaus als „Männerfilm“ bezeichnet werden. Und wenn in einer Filmkritik nicht ganz auf Kritik verzichtet werden soll, dann könnte auch auf ein gewisses Zuviel an hedonistischen Momenten verwiesen werden sowie auf die an manchen Punkten doch etwas zu illustrativ geratene Musik. Doch diese Abstriche fallen wenig ins Gewicht. Alles in allem brilliert das Werk als ein Höhepunkt des jüngsten deutschen Kinos. Es erweist Thomas Brasch eine würdige Ehre. Ja, vermutlich hätte ihm dieser Film tatsächlich gefallen. D Claus Löser ¢ Start am 11.11.2021

In their Thomas Brasch biopic, director Andreas Kleinert and writer Thomas Wendrich playfully work with facts, widely shake things up, leave things out, bulk things up, exaggerate and underplay.

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Bidsina Ivanishvili ist der vermutlich mächtigste Mann Georgiens. Während der Perestroika machte er in Russland ein Vermögen mit Import- und Kreditgeschäften sowie in der Metallindustrie. 2012 wurde er für die von ihm gegründete Partei Georgischer Traum zum Premierminister gewählt. Doch auch nach dem Ende seiner politischen Karriere 2021 („Ich habe mein Ziel erreicht“), verfügt Ivanishvili über erheblichen Einfluss, allein schon da sein Privatvermögen es durchaus mit dem georgischen BIP aufnehmen kann. In TAMING THE GARDEN tritt Ivanishvili jedoch nicht als Politiker oder Geschäftsmann in Erscheinung, sondern als Sammler seltener Bäume: Für einen öffentlichen Garten an der

Schwarzmeerküste Georgiens lässt Ivanishvili im ganzen Land Laubbäume mit einem Alter über 100 Jahren ausgraben und verschiffen. Der ungeheuer mühsame Transport dieser Bäume ist die Grundlage für Salomé Jashis souveränen, zurückhaltenden Film. Genaugenommen tritt Ivanishvili hier jedoch nicht einmal als Bäumesammler in Erscheinung, sondern gar nicht. Statt den Auftraggeber, der als gottgleicher Lenker über Mittelsmänner seinen Paradiesgarten einrichtet, porträtiert DIE ZÄHMUNG DER BÄUME die Mühsal, durch die seine Vision Realität werden kann. Er zeigt Arbeiter mit Kettensäge, die über den Zweck ihres Tuns rätseln, Originaltitel: Taming The Garden D Georgien/Deutschland/Schweiz 2021 D 86 min D R: Salomé Jashi D B: Salomé Jashi D K: Salomé Jashi, Goga Devdariani D S: Chris Wright D V: Film Kino Text

Die Zähmung der Bäume Monumentales Gartenprojekt

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ebenso wie die Landbevölkerung, die durch Verkäufe von Land und jüngeren Bäumen – abzuholzende Hindernisse für die älteren – den Transport erst ermöglicht. Jashi filmt die Momente der Unsicherheit, wenn die Möglichkeit und der Druck zum Verkauf die Frage nach dem Wert ihrer Bäume, ihres Grundstücks, ihrer Identität völlig neu aufwerfen, und wenn die Baumtransporte Reaktionen der Trauer, der Freude, der Wut und der Belustigung gleichermaßen hervorrufen.

– nicht zuletzt war Ivanishvili des öfteren nationalistischer Kritik an seinen russischen und französischen Staatsbürgerschaften ausgesetzt. Hinter dem Baum als sozialer Metapher, über dessen Verkauf und Transport zwischenmenschliche Beziehungen ausgehandelt werden, steht jedoch auch der Baum als ökologische Realität. Damit ist der Film auch ein Kommentar zu Absurdität und Größenwahn eines Naturschutzes mit primär ästhetischem Interesse. D Yorick Berta ¢ Start am 2.12.2021

Das Motiv des fahrenden Baums erzeugt dankbare Metaphern der Verbundenheit, Entwurzelung und Mobilität im Kapitalismus

Bidsina Ivanishvili, the former prime minister and one of the most powerful men in Georgia, digs out and ships all of the leaf trees aged 100 and older to a public garden on the Black Sea Coast of Georgia.

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INDIEKRITIKEN Originaltitel: Au nom de la terre D Frankreich/Belgien 2019 D 103 min D R: Edouard Bergeon D B: Edouard Bergeon, Emmanuel Courcol, Bruno Ulmer D K: Éric Dumont D M: Thomas Dappelo D V: Weltkino

Das Land meines Vaters Bauernleben

USA/Grossbritannien 2021 D 116 min D R: Edgar Wright D B: Krysty Wilson-Cairns, Edgar Wright D K: Chung-hoon Chung D S: Paul Machliss D D: Thomasin McKenzie, Anya Taylor-Joy, Diana Rigg, Matt Smith, Terence Stamp D V: Universal

Last Night In Soho Retro-Pop als Ausweg

Der Schein trügt. Die goldenen Felder, die Sonne, die Farben, das Licht. Ende der siebziger Jahre, als der junge Pierre (Guillaume Cane) nach einem Aufenthalt in den USA in seine französische Heimat zurückkehrt, macht das Leben auf dem Land noch Sinn. Er hat sich entschlossen, den Hof des Vaters zu übernehmen, wie es sich gehört. Auch eine Frau hat er an seiner Seite, die ihn liebt und ihn in seinem Vorhaben unterstützen will. Es kann also eigentlich gar nichts schief gehen, zumal der Vater den Familienbetrieb vorbildlich geführt hat. Nicht umsonst ist sein Hof der schönste in der ganzen Region. Aber ein einfacher Schwenk in die Gegenwart zeigt, das sich das Bauernleben innerhalb von zwei Jahrzehnten stark gewandelt hat. Der Druck von außen ist gewachsen, die Konkurrenz, die Schulden, die Kredite, all das macht Pierre zu schaffen, der mittlerweile eine vierköpfige Familie zu ernähren hat. Sein Sohn geht schon auf die Agrarschule, um später ebenfalls in seine Fußstapfen zu treten. Aber wenn es so weiter geht, kann Pierre den Hof nicht mehr lange halten. Die herablassenden Belehrungen seines alten Herrn geben ihm den Rest. Edouard Bergeons aufrichtiges Drama DAS LAND MEINES VATERS zeichnet den Verlauf der Depression nach, in die Pierre immer tiefer hineinstürzt, je mehr ihm die Dinge entgleiten. Panikattacken und unkontrollierte Ausraster häufen sich, bis irgendwann auch seine Frau nicht mehr weiter weiß und nach Hilfe sucht, aber da ist es bereits zu spät. Für Pierre. Und in gewisser Weise auch für den Film. Bergeon, der hier seine eigenen Kindheitserinnerungen verarbeitet, nimmt sich etwas zu lange Zeit, um zu seinem finalen Akt zu gelangen, der alles erschüttert und schließlich die bestürzende Wahrheit hinter der Geschichte offenbart. Ein strafferes Drehbuch hätte die Wirkung um Einiges verstärkt. D Pamela Jahn

LAST NIGHT IN SOHO ist eine wundervolle Hommage an die Frauen der sechziger Jahre im britischen Film, in der Mode und im Pop. Thomasin McKenzie (THE VVITCH) und Anya Taylor-Joy (The Queen‘s Gambit) spielen die Hauptrollen als Studentin Eloise und ihr imaginäres Sixties-Traumgirl Sandy, die ältere Generation wird von zwei Sixties-Ikonen verkörpert: Rita Tushingham (A TASTE OF HONEY), die für das damals gerade entstehende britische Independent-Kino steht, und der im letzten September verstorbenen Diana Rigg (The Avengers), die neben Emma Peel auch die einzige Frau war, die James Bond geheiratet hat. Die sensible und introvertierte Eloise wächst bei ihrer Großmutter auf und hört am liebsten deren Platten, die sie als erstes in ihren Koffer packt, als sie nach London zur Modeschule geht. Auf Partys mit ihren schnöseligen Mitbewohnerinnen wickelt sie sich in Sixties-Pop wie in eine flauschige Decke, bevor sie sich bei der alten Alexandra einmietet und nachts vom Leben der glamourösen Sandy träumt, die in den Clubs der swingenden Großstadt zum Star werden will. Eloise verwandelt sich allmählich immer mehr in Sandy, wird zum retro-hippen Mod-Girl und erfährt immer mehr Anerkennung an der Hochschule. Aber bald merkt sie, dass ihre Träume mehr sind als Fantasien. Dann beginnen sich die dunkleren Seiten der sechziger Jahre zu offenbaren, und Eloise wird in einen Thriller um Missbrauch und Mord hineingezogen. Edgar Wright garniert seinen Film mit Hits von Sandy Shaw, Petula Clark und Cilla Black und zitiert visuelle Stile der Sixties wie Doppelbelichtungen, Überblendungen und psychedelische Farbeffekte. Seine Liebe gilt aber vor allem der Idee, durch Eintauchen in eine andere Zeit kreative Kraft zu erlangen: Retro-Stil als Ausweg aus dem Algorithmen-Pop der Gegenwart. D Tom Dorow

¢ Start am 18.11.2021

¢ Start am 11.11.2021

Young Pierre (Guillaume Cane) returns to his French home to take over his father‘s farm after living in the US. 20 years later the pressure grows and Pierre is in danger of losing the farm.

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Sensitive and introverted Eloise dreams of glamorous Sandy at night, who wants to become a singer in the swinging sixties in London. But soon the dark and dangerous sides of the sixties are revealed.

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Originaltitel: A feleségem története D Deutschland/Frankreich/Italien/Ungarn 2021 D 169 min D R: Ildikó Enyedi D B: Ildikó Enyedi D K: Marcell Rév D M: Adam Balazs D D: Léa Seydoux, Louis Garrel, Jasmine Trinca, Gijs Naber, Sergio Rubini D V: Alamode Film

Die Geschichte meiner Frau Kapitän, gestrandet

Europa in den 1920er Jahren. Der niederländische Kapitän Jakob Störr (Gijs Naber) ist ein ruhiger Mann mit sehr blauen Augen und einer bedächtigen, aber entschlossenen Art. Als er sich entschließt zu heiraten, spricht er, eigentlich zum Scherz, die erste Frau an, die ein Café betritt. Es ist die Pariserin Lizzy (Léa Seydoux), die, ebenfalls aus einer Laune heraus, einwilligt. Ildikó Enyedis Verfilmung des in Form eines inneren Monologs geschriebenen Romans von Milán Füst aus dem Jahr 1942 wechselt zwischen Szenen auf See, wo Routine und eine große, schöne Klarheit herrschen, und Szenen an Land, in denen der Kapitän mit den Untiefen menschlicher Beziehungen zu kämpfen hat. Nachdem die spontane Ehe kurz überraschend gut funktioniert und tiefe Gefühle weckt, schleichen sich bei Jakob schon bald Misstrauen und Eifersucht ein. Lizzy reagiert kühl und undurchschaubar. Etwas undurchschaubar bleibt auch die Paardynamik: Als Zuschauerin kommt man den Personen wenig nahe und verfolgt das lange Wechselspiel von Nähe und Distanz aus der Ferne. Die literarischen Dialoge verstärken einen Verfremdungseffekt, der dem Film etwas Parabelhaftes verleiht. Schon Ildikó Enyedis Berlinale-Gewinner KÖRPER UND SEELE erzählte von einer Beziehung auf einer metaphorischen, nicht auf einer naturalistischen Ebene. Vielleicht findet die eigentliche Romanze des Films aber auch gar nicht zwischen Jakob und Lizzy statt, sondern zwischen Jakob und dem Meer: Sie findet sich in einer ruhigen langen Fahrt entlang einer Werft, im Tanz der kleinen Motorboote in den Hamburger Kanälen, im Glitzern des Meeres an einem blauen Tag, im Bild eines jungen Matrosen, der auf Tauwerk in der Sonne döst, im Shanty, den Jakob einmal wie zum Trotz in einem feinen Salon zum Besten gibt. D Toni Ohms

EIN FIL M VON M ARIA SØDAHL

¢ Start am 4.11.2021

Ildikó Enyedi’s adaptation of Milán Füst’s novel alternates between scenes at sea, where routine and great clarity prevail and scenes onshore, where captain Jakob Störr struggles with the depths of human relatonships.

arsenalfilm.de Termine unter www.indiekino.de


INDIEKRITIKEN Deutschland 2021 D 115 min D R: Nancy Camaldo D B: Nancy Camaldo D K: Lukas Nicolaus D S: Nanette Foh D M: Michael Lauterbach D D: Giulia Goldammer, Barbara Krzoska, Thomas Schubert D V: W-Film

Windstill Sturm nach der Ruhe

Zwei Schwestern, die eine in der Stadt, die andere auf dem abgelegenen Bauernhof der verstorbenen Eltern. Zwei Jahre haben sie sich nicht gesprochen. Jede lebt ihr eigenes Leben, beide nicht unbedingt erfüllt. Ida bewirtschaftet den Berghof, füttert die Tiere, kocht Marmelade für den Bauernmarkt ein, sammelt Notizen für den ersten Roman und rutscht in eine Affäre mit dem freiwilligen Hofhelfer aus Berlin. Städterin Lara geht in der Mutterrolle unter statt zu studieren, während ihr Partner Jakob sich einer aufreibenden Karriere als Koch verschreibt. Als Lara das System sprengt, bringt sie die Rollen nicht nur ins Schwanken, sondern inszeniert sie genüsslich neu. Baby Olivia und Jakob bonden, während Lara mit einer Zufallsbekanntschaft feiert, bevor sie betrunken bei ihrer Schwester aufschlägt. Lara nistet sich bei Ida ein, schließlich gehöre das Haus auch ihr, verschweigt aber ihre Lebenssituation oder die Motivation ihrer Rückkehr. Unumgänglich brechen die Konflikte durch, und die Schwestern müssen sich nicht nur ihrer gemeinsamen Vergangenheit, sondern auch ihrer eigenen Zukunft stellen. Nancy Camaldo inszeniert in ihrem Langfilm-Debüt ein atmosphärisches Schwesterndrama. Es herrscht Windstille auf unterschiedlichen Ebenen. Das heiße Wetter, die Lebenssituation der Protagonistinnen, ihr Sexleben, der Konflikt der Schwestern. Alles scheint still. Gefangen in der Zeit, wie der Kirchturm des gefluteten Dorfs Graun, der noch immer aus dem Südtiroler Reschensee ragt. Der See, sensibel gegenüber den Windveränderungen, ist eins der wiederkehrenden Motive, die dem Film seine ästhetische Dichte verleihen. Wie in der Natur folgt auch in der Erzählung auf die Ruhe ein Sturm und sorgt für ein überraschendes Ende. Ein feines Debüt, das auch durch seine Besetzung mit Giulia Goldhammer und Anselm Bresgott überzeugt. D Clarissa Lempp ¢ Start am 11.11.2021 Two sisters, one in the city, the other in their late parent’s isolated farm. Prior to Lara showing up drunk at her sister Ida‘s door, they were not speaking to each other for two years.

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Originaltitel: Plan A D Deutschland/Israel 2021 D 109 min D R: Yoav Paz, Doron Paz D K: Moshe Mishali D M: Tal Yardeni D D: August Diehl, Sylvia Hoeks, Nikolai Kinski, Milton Welsh, Michael Brandner D V: Camino

Plan A

Jüdische Rächer Kurz nach Kriegsende findet Max (August Diehl) bei seiner Rückkehr aus Auschwitz sein Haus besetzt und seine Familie verschollen vor, vermutlich ist sie tot. Statt sich von den Jüdischen Brigaden der British Army nach Palästina bringen zu lassen und dort ein neues Leben anzufangen, schließt er sich „Nakam“ an, einer Partisanengruppe, die plant, die sechs Millionen ermordeter Juden durch den Tod der gleichen Anzahl an deutschen Zivilisten zu vergelten. Der Plan sieht vor, das Trinkwasser deutscher Großstädte zu vergiften. Auf diese Weise verarbeiten Max und die Mitglieder der Nakam-Zelle auch ihr Trauma und ihren Schmerz. Am Schlimmsten ist für Max der Gedanke, dass die Erinnerung an seine Frau und seinen Sohn verblassen könnte, bevor er sie rächen kann. Dabei muss die Gruppe ihren Plan auch vor den Jüdischen Brigaden verstecken, die die Anschläge verhindern wollen, um die Verhandlungen zur Gründung des Staates Israels nicht zu gefährden. Obwohl PLAN A auf historischen Tatsachen basiert und die Racheaktion in der Realität offensichtlich nicht stattfand, ist das Ende des Films nicht vorauszusehen. Das Regieduo Doron und Yoav Paz (JERUZALEM) hat seinen Namen mit visuell intensiven Horrorfilmen gemacht und überträgt diesen Stil auf die Nachkriegsgeschichte. Sie zeigen ein Nürnberg, dessen ungeläutert antisemitische Ruinenbewohner*innen das volle Ausmaß der Vergeltung verdient haben. Emotional intensiver, und ohne die Albernheit von INGLOURIOUS BASTERDS traut man PLAN A und seiner immer sichtlich von Erinnerungen gequälten Hauptfigur Max bis zum Schluss zu, die Geschichte umzuschreiben. PLAN A regt auf jeden Fall dazu an, sich mit den Hintergründen dieser weniger bekannten Episode der Geschichte zu beschäftigen. D Christian Klose ¢ Start am 9.12.2021

Max joins the Jewish partisan group “Nakam” after the war. They plan on poisoning the drinking water of German big cities and killing six million German civilians as revenge for the murdered Jews.

Termine unter www.indiekino.de


INDIEKRITIKEN

Benedetta

Mystisch, sexy und pervers

Frankreich 2021 D R: Paul Verhoeven D B: David Birke, Paul Verhoeven D K: Jeanne Lapoirie D S: Job ter Burg D M: Anne Dudley D D: Charlotte Rampling, Lambert Wilson, Virginie Efira, Olivier Rabourdin D V: Capelight Pictures

BENEDETTA ist auch ein erotischer Nonnen-Schocker, ohne Zweifel. Ein heterosexueller Mann, der lesbische Nonnen filmt, ist zunächst verdächtig, und Verhoevens Blick ist deutlich ein männlicher. Aber in seiner Verfilmung des Lebens der Mystikerin Benedetta Carlini nimmt Paul Verhoeven sowohl deren Visionen als auch die religiöse Bedeutung ihrer sexuellen Beziehung zu der Novizin Bartolomea ernst. Vieles bleibt im Ungewissen, etwa ob sich Benedetta die Stigmata, die immer zu strategisch günstigen Zeitpunkten an ihrem Körper erscheinen, selbst zugefügt hat, ob sie in Trance mit der Stimme eines Engels oder Gottes spricht, oder einfach die Stimme verstellt. Verhoeven ist es egal, ob Benedetta ihre Umgebung täuscht, er interessiert sich für ihre Wahrheit. BENEDETTA is a nunsploitation film, there’s no doubt that about that. However, in his adaptation of the life of mystic Benedetta Carlini, Paul Verhoeven takes her visions and the religious meaning of her sexual relationship with novice Bartolomea seriously.

Termine unter www.indiekino.de

Benedetta Carlini (Virginie Efira) wird mit neun Jahren in ein Kloster gebracht. Unterwegs rettet sie die Familie vor Räubern, indem sie die heilige Jungfrau anruft und behauptet, das Vogelgezwitscher im Baum sei die Stimme der Jungfrau. Ihre Beziehung zu Jesus bleibt auch als Erwachsene intensiv, zugleich privat und öffentlich – und erotisch. Ihr persönlicher Jesus erscheint ihr in Träumen und Visionen, bald als Rächer, der Schurken die Köpfe abschlägt, bald als Schmerzensmann, der die Nähe zu ihr im Leiden sucht. Wenn Benedetta während einer Untersuchung des päpstlichen Probstes sagt, ihre Beziehung zu Bartolomea sei durch die gleiche Liebe geprägt, die sie zu Jesus verspüre, ist das nicht gelogen. Der Genuss der religiösen Ekstase und der sexuellen Verbindung sind für Verhoeven identisch, und gleichermaßen mystisch, sexy und pervers. Aber anders als moderne Mystiker der Transgression wie Georges Bataille findet Verhoeven darin weniger eine existentielle Erfahrung, als Lust und Vergnügen. D Tom Dorow ¢ Start am 2.12.2021 NOVEMBER/DEZEMBER 2021 D

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INDIEKRITIKEN

Adam

Sonnenstrahlen in Ablas Küche

Originaltitel: Adam D Marokko/Frankreich/Belgien 2019 D 98 min D R: Maryam Touzani D B: Maryam Touzani D K: Virginie Surdej D S: Julie Naas D D: Lubna Azabal, Nisrin Erradi, Aziz Hattab, Douae Belkhaouda D V: Grandfilm

Auf der Suche nach Arbeit und Obdach irrt eine junge hochschwangere Frau durch die engen Straßen Casablancas. Überall wird Samia (Nisrin Erradi) abgewiesen, bis sie an die Tür der alleinerziehenden Mutter Abla (Lubna Azabal) klopft. Deren fröhliche, aufgeschlossene Tochter Warda (Douae Belkhaouda) möchte sich sofort mit Samia anfreunden, doch Abla ist so voller Wut und Traurigkeit, dass sie das nicht zulassen will. Zwischen den beiden Frauen stehen viele ungestellte Fragen über ihre Vergangenheit und Zukunft. ADAM, der erste Langspielfilm der Regisseurin und Autorin Maryam Touzani, sticht vom ersten Moment an ins Auge und ins Herz. Er basiert auf einer wahren Begebenheit: In einer Zeit, als es illegal war, unverheiratet schwanger zu sein, nahmen Touzanis Eltern eine schwangere Frau bei sich auf, damit sie ihr Kind nicht auf der Straße gebären musste. Die Autorin spinnt aus dieser Erfahrung eine simple und doch große Geschichte über zwei Frauen, über marokkanische Kultur und die erdrückende Macht patriarchaler Strukturen. Virginie Surdejs unaufgeregte und doch experimentierfreudige Kamera macht den Film zu einem reichen visuellen Erlebnis. D 38

D NOVEMBER/DEZEMBER 2021

Fragmentiert sind die Blicke auf die beiden Frauen, ihr Leben, ihre Arbeit. Beim Backen fokussiert sich die Kamera auf die Hände, beim Gang durch die Medina auf den Hinterkopf, lose vom Kopftuch bedeckt. Sie nimmt sich viel Zeit, um die ausdrucksstarken Gesichter der beiden Hauptdarstellerinnen zu studieren. Unschärfen und Rahmungen sind wichtige Erzählmittel, ebenso wie die typisch marokkanische Architektur von Ablas Haus, ihrem Viertel. Auch wenn es manchmal schmerzhaft ist, freut man sich doch, zu erfahren, was als nächstes passiert, und genießt die Momente, wenn überraschend die Sonnenstrahlen in Ablas Küche fallen. Zugleich wohnt ADAM auch jede Menge Wut inne – darüber, wie das Schicksal und das Patriarchat Frauen zusetzen können, bis ihnen alle Lebensfreude aus den Knochen entweicht. D Eva Szulkowski ¢ Start am 9.12.2021

A young, heavily pregnant young woman wanders around the narrow streets of Casablanca looking for work and shelter. Samia is rejected everywhere, until she knocks on the door of single mom Abla.

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Originaltitel: Délicieux D Frankreich 2021 D 112 min D R: Éric Besnard D B: Éric Besnard, Nicolas Boukhrief D M: Christophe Julien D D: Grégory Gadebois, Isabelle Carré, Benjamin Lavernhe, Guillaume De Tonquedec, Christian Bouillette D V: Neue Visionen Filmverleih

À la Carte!

Revolution auf dem Teller Frankreichs Küche ist weltbekannt, doch wann und wo entstand das erste französische Restaurant? Regisseur Éric Besnard (BIRNENKUCHEN MIT LAVENDEL) erzählt in À LA CARTE! seine Version der Geschichte und nimmt die Filmzuschauer*innen mit auf eine Reise in die Auvergne im Jahr 1789. Die Französische Revolution steht kurz bevor, doch noch lässt es sich der Adel gut gehen. Auf dem Schloss des Ducs von Chamfort genießt man sorglos die Gaumenfreuden, die der talentierte Koch Manceron zubereitet. Ob Schwanenragout, gegrillte Täubchen oder Krebstörtchen – der Herzog findet’s exzeptionell. Doch als dieser eine Gesellschaft empfängt, die Kontakte nach Versailles pflegt, und Manceron sich erlaubt, eine Eigenkreation anzubieten, kommt es zum Eklat, denn die Köstlichkeit „Délicieux“ besteht aus Kartoffeln – und alles, was in der Erde wächst, ist nichts für adelige Münder. Manceron muss das Schloss verlassen und fristet mit Sohn Benjamin ein tristes Dasein auf dem heimatlichen Hof, bis eines Tages die geheimnisumwobene Louise auftaucht, um von Manceron kochen zu lernen. Als der seine Vorurteile gegenüber Frauen in der Küche überwindet und Louise aufnimmt, scheint seine verlorene Lust am Kochen langsam wieder aufzuflammen. In seinem ruhig erzählten Film legt Éric Besnard den Fokus nicht auf die großen Ereignisse im Vorfeld der Revolution, sondern auf die Perspektive eines Kochs. Die Pariser Chefköche Thierry Charrier und Jean-Charles Karmann standen dem Regisseur als kulinarische Berater zur Seite und schufen opulente Gerichte, die an barocke Gemälde erinnern. À LA CARTE! ist ein Film über die simple, aber geniale und vor allem revolutionäre Idee, in Restaurants gutes Essen für alle anzubieten und schmackhafte, pompöse Menüs nicht dem Adel vorzubehalten – Égalité beginnt auf dem Teller! D Stefanie Borowsky ¢ Start am 25.11.2021 Manceron the cook has to leave the court of Duc de Chamfort after a scandal. It’s 1789 and the revolution is imminent. À LA CARTE tells its version of the establishment of the first restaurant in France.

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INDIEKRITIKEN Großbritannien 2021 D 90 min D R: Andreas Koefoed D V: Piece Of Magic Entertainment

Harald Naegeli, der Sprayer von Zürich

The Lost Leonardo Kunst-und-Geld-Thriller

Nur 15 Gemälde weltweit gelten gesichert als echte Leonardo da Vincis. Als Anfang der 10er Jahre zwei US-amerikanische Kunsthändler behaupten, einen weiteren Leonardo entdeckt zu haben, macht die Nachricht eine Welle um die Welt, und „Salvator Mundi“ wird zum teuersten Gemälde aller Zeiten: Bei seinem letzten Verkauf erzielte das Bild 400.000.000 $ (sowie 50.000.000 $ Kommission an Christie’s). Der enorm unterhaltsame und erhellende Dokumentarfilm rekonstruiert die Geschichte des Bildes, oder vielmehr die Geschichte der Kampagne, die das Bild so berühmt und berüchtigt machte. Der Weg führt in die schummrige Unterwelt eines Kunstmarktes, in dem ungeheure Geldsummen von anonymen Geldgebern mit Hilfe dubioser Zwischenhändler verschoben werden, um dann in Form von Kunst in den Hoch­ sicherheits-Kunstdepots internationaler Transiträume vom Radar zu verschwinden. Den Ball ins Rollen gebracht hat ein „sleeper hunter“, ein Kunsthändler, der sich auf die Entdeckung verborgener Schätze spezialisiert hat. Alexandre Parish erwirbt 2012 auf einer Auktion in New Orleans ein ziemlich ramponiertes und mehrfach übermaltes Bild des „Retters der Welt“ für 1.175 $. Die Provenienz, also die für die zweifelsfreie Zuordnung des Bildes so wichtige Geschichte der Vorbesitzer*innen lässt sich nicht rekonstruieren, aber die hinzugeholte Restauratorin Dianne Modestini – eine Ikone – attestiert dem Bild „eine Präsenz“. Ähnlich sieht das eine Gruppe von fünf renommierten internationalen Leonardo-Spezialist*innen, die nach der Restauration hinzugeholt werden. Das wiederum genügt dem damaligen Leiter der National Gallery in London, um das Bild in eine Leonardo-Ausstellung aufzunehmen, und von da an nimmt ein Kunst-und-Geld-Thriller seinen Lauf, bei dem Dealer, Oligarchen, Art Critics, FBI-Agenten und die Weltpolitik mitmischen. D Hendrike Bake ¢ Start am 23.12.2021 The story of the painting “Salvator Mundi”, painted by Leonardo da Vinci, or perhaps not, is a documentary thriller about art, business, and politics.

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Harald Naegeli sprayt seit 1977 Strichfiguren auf graue Fassaden und öffentliche Flächen seiner Schweizer Heimat. Zu einer Zeit, als „Street Art“ noch kein Begriff ist, bringen ihn seine „Schmierereien“ ins Gefängnis. Erst viel später werden sie als rebellische Kunst verstanden. Trotz prominenter Rückendeckung scheitern viele seiner Projekte, wie ein riesiger „Totentanz“, immer noch an der Bürokratie. Von Nathalie David hat sich der zurückhaltende Naegeli porträtieren lassen. Im Dialog erzählt er von seiner Kunst und der Krebserkrankung, die sein Spätwerk inspiriert. ¢ Start am 2.12.2021 Deutschland 2021 D 97 min D R: Nathalie David D D: Andrina Bollinger, Stefan Kurt

Mit eigenen Augen In Zeiten von Queerdenker*innen und Fake News kommt dem Journalismus eine besondere Verantwortung zu. In klassischer Direct Cinema-Manier, zurückhaltend, möglichst neutral und objektiv, beobachtet Regisseur Miguel Müller-Frank die Arbeit der „Monitor“-Redaktion um Redaktionsleiter und Moderator Georg Restle, zufällig in einer journalistisch besonders aufregenden Phase: Während der Dreharbeiten wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke von einem Rechtsradikalen ermordet, ein Ereignis, das die Republik erschütterte und die Nachrichten bestimmte. ¢ Start am 11.11.2021 Deutschland 2020 D 110 min D R: Miguel Müller-Frank

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INDIEKRITIKEN

Kinder der Hoffnung

Schocken – Ein deutsches Leben

Mit Super-8-Aufnahmen eines Schulfests zur Feier des 40. Jahrestages Israels im Jahr 1988 beginnt Yael Reveunys KINDER DER HOFFNUNG. Die jüdische Regisseurin, die heute in Berlin lebt, ist 1980 in Petah Tikva geboren, sie war eine der Schüler*innen, die an diesem Tag stolz von ihrer Liebe zu ihrem jungen, hoffnungsvollen Land sangen. Sie erinnert sich: „Wir versprachen, für immer hier zu bleiben und das Land mit aufzubauen.“ 15 Jahre später spricht sie mit ihren ehemaligen Klassenkamerad*innen darüber, was aus dem Versprechen – und aus ihnen – geworden ist.

In vielen deutschen Städten, vor allem in Sachsen, lassen sich in der Fußgängerzone vereinzelte Ikonen des Neuen Bauens ausmachen. Meistens handelt es sich um die ehemaligen Filialen des Kaufhauskonzerns Schocken, dynamische, einschneidende Tempel des modernen Konsums, gebaut von Moses Mendelssohn. Der Dokumentarfilm erzählt das Leben des Bauherren, des Unternehmers, Autors, Zionisten und Humanisten Salman Schocken, der mit seinem Bruder Simon Anfang des 20 Jahrhunderts ein Kaufhausimperium aufbaute, bevor er nach Palästina emigrierte und Herausgeber der Ha’aretz wurde. ¢ Start am 4.11.2021

¢ Start am 4.11.2021 Deutschland/Israel 2021 D 84 min D R: Yael Reuveny

LÉA SEYDOUX

Israel/Deutschland 2021 D 82 min D R: Noemi Schory

GIJS NABER

LOUIS GARREL

DIE GESCHICHTE MEINER FRAU „Die epische, sinnliche und herzzerreißende Geschichte einer Ehe.“ LE MONDE

Ein Film von

ILDIKÓ ENYEDI „KÖRPER UND SEELE“

AB 4.11. IM KINO


INDIEKRITIKEN

Bloody Nose, Empty Pockets

USA 2020 D 98 min D R: Bill Ross, Turner Ross D K: Bill Ross, Turner Ross D S: Bill Ross D M: Casey Wayne McAllister D V: UCM.One

Gemeinschaft der Trinkenden

„We hold these truths to be self-evident“, so lautet die Einblendung zu Beginn des Films unter Verweis auf die Unabhängigkeitserklärung – tatsächlich zeigt BLOODY NOSE, EMPTY POCKETS ganz unmittelbar ein Stück Ur-Americana: Die letzte Nacht einer amerikanischen Bar, irgendwo am Rande von Las Vegas, in der sich noch einmal, ein letztes Mal all die Rumhänger versammeln, für die sie zum zweiten (oder auch einzigen) Wohnzimmer geworden ist. Ein Kneipenfilm, und was für einer: Wir Zuschauer sitzen als Zaungäste mit an der Theke, wenn die ersten Typen eintrudeln und zu trinken anfangen. Sie kennen sich, haben über die Jahre ein soziales Geflecht gebildet rund um „The Roaring 20s“, die Bar von Marc. Da sitzen sie und reißen Witze und philosophieren und werden immer betrunkener und immer wehmütiger … Und das ist unglaublich witzig und unterhaltsam und sogar auf gewisse Weise spannend! Und es ist nicht echt. Tatsächlich liegt die Bar in New Orleans. Es ist auch nicht ihr letzter Abend. Die Barbesucher sind nicht echte Stammgäste, sondern eingesammelt und gecastet aus verschiedenen Kneipen: D 42

D NOVEMBER/DEZEMBER 2021

Dies ist eine dokumentarisch gefilmte Impro-Inszenierung, ein „Was wäre wenn“, aber auch ein „So ist es, wenn“. Kann diese fehlende „Echtheit“ diesem „Dokumentar“film etwas anhaben? Auf keinen Fall. Denn trotzdem ist alles – bis hin zum grandiosen Soundtrack – authentisch in dieser Doku im Konjunktiv, in der die Wahrheit aus einer destillierten Wirklichkeit kommt. Es geht nicht um eine bestimmte Bar, sondern um den Mythos der Bar an sich, um „comfort, accessability and alcohol“, um die Gemeinschaft der Trinkenden, um die selbstverständliche Wahrheit, die in ihnen liegt. Einer bringt es auf den Punkt: „I pride myself on not having become an alcoholic until after I was already a failure. Ich hab mein Leben nüchtern ruiniert. Und dann bin ich hierher gekommen.“ D Harald Mühlbeyer ¢ Start am 2.12.2021

A piece of old school Americana: the last night of a bar, somewhere in the outskirts of Las Vegas, where all the bar flies hang out in the place that has become their second (or only) living room for one last time.

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Schweiz 2020 D 98 min D R: Pierre Monnard D B: André Küttel, Pierre Monnard D K: Darran Bragg D S: Sophie Blöchlinger D M: Matteo Pagamici D D: Michael Schertenleib, Jeremias Acheampong, Sarah Bühlmann, Melisa Kashiwahara D V: Alpenrepublik

Platzspitzbaby Zwischen Zuneigung und Sucht

Der Platzspitz war ein Park der offenen Drogenszene mitten im Herzen des edlen Zürich. Als man ihn räumte, wurden die Süchtigen und ihre Familien zurück in ihre Heimatgemeinden umgesiedelt. 34 Tage bleibt Mias Mutter Sandrine clean, bevor sie auf einen alten Bekannten trifft und durch ihn den Kleinstadt-Junkietreff kennenlernt. Von da an weiß Mia wieder, dass sie die Liebe ihrer Mutter nur noch unregelmäßig erleben wird. Manchmal hat Mutti sie sehr lieb und sagt Mia, dass sie ihr der wichtigste Mensch der Welt ist, aber öfter ist sie nur der Weg zu neuem Stoff und sauberem Urin für den Drogentest. Die Elfjährige kann gut auf sich aufpassen, aber es ist schwer, in der Schule Freunde zu finden, wo die schnöseligen Klassenkamerad*innen auf das „Junkiebaby“ herabschauen. Erst in der Clique der etwas älteren Lola fühlt sich Mia aufgehoben und findet zwischen Kiffen und Mutproben auch Trost und Anerkennung. Aber selbst mit der Hilfe dieser „großen Schwester“ wird es für Mia daheim immer unerträglicher, denn nach jedem Versprechen aufzuhören, verkauft Sandrine bald wieder alles, was Mia wichtig ist, und bringt beide in Lebensgefahr. Mia träumt von den Malediven, aber eine Flucht scheint unmöglich. Michelle Halbheer, auf deren autobiografischem Buch PLATZSPITZBABY basiert, ist der Absprung gelungen. Der Film konzentriert sich in seiner Umsetzung ihrer Erzählung auf das Mutter-Tochter-Verhältnis als Ausdauerübung im Schmerzertragen: Sarah Spale und Luna Mwezi spielen ihre Charaktere kohärent zerrissen zwischen Zuneigung, Sucht und Selbsterhaltungstrieb. Dank der eingestreuten warmen Momente zwischen ihnen wird der Film dabei nie im gleichen Maße zum Härtetest für das Publikum. D Christian Klose ¢ Start am 18.11.2021

Mia’s mother Sandrine stays clean for a month before she meets an old acquaintence in her home town who introduces her to the smalltown junkie meeting place. From that point on Mia knows that she will only experience her mother’s love sporadically.

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INDIEKRITIKEN Israel 2021 D 97 min D R: Vanessa Lapa D B: Vanessa Lapa, Joëlle Alexis D S: Joëlle Alexis D M: Frank Ilfman D V: Edition Salzgeber

Speer Goes to Hollywood Dekonstruktion einer Nazi-Größe

Vom in Nürnberg verurteilten Kriegsverbrecher zum „guten Nazi“, das muss man erst einmal schaffen. Es erzählt viel über die Verdrängungsmechanismen der alten Bundesrepublik, dass Albert Speer in den 15 Jahren nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis bis zu seinem Tod 1981 zur gesellschaftlichen Elite der Bundesrepublik gehörte, gern gesehener Gast in Talkshows und auf Empfängen war und mit seiner Autobiografie Millionen verdiente. Anfang der 70er Jahre sollte sie sogar von Hollywood verfilmt werden, und hier setzt Vanessa Lapas Dokumentarfilm SPEER GOES TO HOLLYWOOD an. Der damals noch junge Drehbuchautor Andrew Birkin (der später unter anderem die Drehbücher zu DER NAME DER ROSE und DAS PARFÜM schrieb) wurde beauftragt, ein Drehbuch über Speer zu schreiben und interviewte den Architekten, Reichsminister und guten Freund Hitlers 40 Stunden lang. Diese Tonbänder bilden nun die Grundlage für eine weitere ungewöhnliche Dekonstruktion einer Nazi-Größe. Schon in ihrem Film DER ANSTÄNDIGE hatte Lapa mit ambitionierter Gegenüberstellung von Bild- und Tonelementen die Lügen und Manipulationen eines Nazis entlarvt, damals von Heinrich Himmler. Während auf der Tonspur Speer im gelassenen Plauderton über sein Leben erzählt und jegliche Fragen zu seinem Wissen um Deportierungen, Judenverfolgung oder Rekrutierung von Zwangsarbeitern noch nicht einmal abstreitet, sondern vielmehr als irrelevant abtut, erzählt Lapa mit den Bildern eine andere Geschichte. Hier sieht man Speer im Kreis der Führungselite der Nazis, sieht Zerstörung und das Grauen der Vernichtungslager. Wie viel Speer am Ende tatsächlich von den Verbrechen der Nazis wusste, kann Lapa natürlich nicht genau beweisen, dass sein Selbstbild als unbescholtener Mitläufer eine Fiktion war, wird jedoch überdeutlich. D Michael Meyns ¢ Start am 11.11.2021 Albert Speer, who was convicted of being a war criminal in Nürnberg, belonged to the social elite of the federal republic afer his release. In the early 70s, his autobiography was going to be filmed in the US.

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Kanada 2020 D 107 min D R: Bruce LaBruce D B: Martin Girard, Bruce LaBruce D K: Michel La Veaux D S: Hubert Hayaud D M: Christophe LamarcheLedoux D D: Félix-Antoine Duval, Tania Kontoyanni, Alexandra Petrachuk, Andreas Apergis, Gabrielle Boulianne-Tremblay D V: Pro-Fun

Saint-Narcisse Enfant terrible durch und durch

Ein männlicher Schritt in Großaufnahme – eine typische Einstellung von Bruce LaBruce, wie sie auch im neusten Film SAINT NARCISSE des kanadischen Kultregisseurs nicht fehlen darf. Es folgt scheinbar ein Nostalgietrip: LaBruce begleitet den 22-jährigen Dominique auf seiner Spurensuche durch die wilden 1970er, natürlich in Ledermontur auf dem Motorrad und die Polaroidkamera immer griffbereit. Der junge Mann schießt mit großem Eifer Selbstporträts und sucht dabei nicht nur sich selbst, sondern auch einen Teil seiner Familie. Bisher ungeöffnete Briefe und ein Grabstein, der seinen Namen trägt, führen Dominique zu seiner totgeglaubten Mutter. Sie wird im Dorf nur „die Hexe“ genannt und lebt abgeschieden im Wald, zusammen mit einer auffällig jungen Frau, die nicht zu altern scheint. Und dann ist da noch der mysteriöse Schönling im benachbarten Kloster, der Dominique im wahrsten Sinne den Spiegel vorhält. Enfant terrible durch und durch, lässt LaBruce wie gewohnt kein gesellschaftliches Tabu aus: Missbrauch unter Glaubensbrüdern, Liebe unter Geschwistern und vor allem Selbstverliebtheit spielen die eigentlichen Hauptrollen. Doch genau wie in seinem Welterfolg HUSTLER WHITE, in dem LaBruce den männlichen Strich von Los Angeles messerscharf porträtiert, hantiert er auch hier mit schnellen Schnitten und skandalträchtiger Ästhetik, ohne inhaltsleer zu sein. In einer Zeit, in der Missbrauchsskandale die heile Welt der Kirche erschüttern und konservative Werte immer mehr Gegenwind bekommen, hält SAINT NARCISSE mehr bereit als verruchte Nostalgie: Es geht um freigewählte Formen von Familie, Liebe und (Gender)Identität und wie immer bei LaBruce, um einen lustvollen Umgang, der gerne ins Groteske abwandert. D Anna Hantelmann ¢ Start am 25.11.2021

22 year old Dominique isn‘t attracted to anyone as much as he’s attracted to himself. When he discovers that he has a twin who grew up in a monastery, a wild melodrama is set into motion.

Termine unter www.indiekino.de


USA 2019 D 121 min D R: Kelly Reichardt D B: Jonathan Raymond, Kelly Reichardt D S: Kelly Reichardt D M: William Tyler D D: John Magaro, Orion Lee, Ewen Bremner, Toby Jones, Alia Shawkat D V: Peripher Filmverleih

First Cow Anti-Western

Kelly Reichardts Filme wirken, als kämen sie aus einer anderen Zeit, in der sich eine Gegenkultur als solche verstand und in Zirkeln mit gemeinsamen Interessen organisierte. Für ihren unkonventionellen Western FIRST COW arbeitete die New Yorker Regisseurin Reichard wieder mit dem Autoren Jonathan Raymond aus Oregon zusammen, der schon die Drehbücher für OLD JOY, WENDY AND LUCY, MEEK’S CUTOFF, MILDRED PIERCE und NIGHT MOVES geschrieben hat. FIRST COW variiert Motive aus Raymonds Roman HALF LIFE, einer langen Geschichte über Freundschaft und Verrat zwischen einem schüchternen Koch und einem schlitzohrigen Cowboy, die ihr Glück mit einem Pelzgeschäft in China machen wollen, und später zwischen dem Koch und einem chinesischen Emigranten, die erneut versuchen, sich im Kalifornien der 1850er Jahre eine Existenz aufzubauen. In FIRST COW ist der chinesische Emigrant King Lu (Orion Lee) der Trickster und Draufgänger, der den Koch Cookie (John Magaro) trifft und mit ihm gemeinsam ein florierendes Geschäft mit Buttergebäck aufzieht. Dazu müssen sie allerdings die einzige Kuh im Territorium melken, die dem korrupten Bürgermeister der Stadt gehört. FIRST COW ist eine liebevolle Geschichte über Freundschaft zwischen zwei Männern, die anders sind als Hollywood sich die „Pioniere“ des Westens vorstellte. Asiatische Einwanderer gibt es im Western bestenfalls als chinesische Köche, und Western-Film-Köche verrühren Bohnen mit Speck und erfahren kaum Wertschätzung. Hier sind die ungewaschenen Kerle in Frontierstadt begeistert von Cookies Kreationen, die mit Liebe zum Detail zubereitet werden. FIRST COW ist ein Anti-Western, der auch erzählt, dass Rassismus und die Macht des Geldes den gleichen Trail nach Westen genommen haben wie die Habenichtse, die in den Territorien ihr Glück suchten. D Hannes Stein ¢ Start am 18.11.2021

FIRST COW is a tender story about the friendship between two men who are different than the Hollywood image of the “pioneers” of the West.

Termine unter www.indiekino.de

Soundwatch #5 Music Film Festival Berlin November 10–17, 2021 Lichtblick-Kino SO36 (Eröffnung) soundwatch.de


INDIEFEATURE

Die Regisseurin und Drehbuchautorin Shahrbanoo Sadat (31) lebte bis zu ihrem 11. Lebensjahr als Flüchtling im Iran, ehe sie mit ihren Eltern in deren abgelegenes Bergdorf in Zentralafghanistan zurückkehrte. In Kabul und Paris wurde sie zur Filmemacherin. Die Macht­ übernahme der Taliban zwang sie zur Flucht – nach Berlin. Für ihr Langfilmdebüt WOLF AND SHEEP (2016) erhielt sie den Art Cinema Award in Cannes. Mit Eva Szulkowski sprach Sadat über ihren neuen Film KABUL KINDERHEIM, über ihr Verhältnis zum Kino und die Zukunft Afghanistans.

„Im Kino geht es um Geschichten, und ich habe die Geschichten“ INDIEKINO: KABUL KINDERHEIM ist der zweite von fünf Filmen, die Sie basierend auf der unveröffentlichten Autobiografie von Anwar Hashimi drehen wollen. Wie kam es dazu? Shahrbanoo Sadat: Als ich vor fast 12 Jahren zum ersten Mal Anwars Text gelesen habe, war ich sehr erstaunt, denn er ist kein Schriftsteller. Sein Text war sehr ehrlich, poetisch, politisch, persönlich, alles in einem. Ich war sehr bewegt, denn er sprach nicht nur über sein eigenes Leben, sondern auch über die Geschichte des Landes. Für mich war es das erste Mal, dass ich etwas darüber lernen konnte. Das ist in meiner Generation sehr üblich: Wir sind, wie der Rest der Welt, von all den aktuellen Ereignissen so eingenommen, dass wir alle nur einige Stichworte über Afghanistan kennen. Es ist auch nicht einfach, die Realität in Büchern und Texten von afghanischen Autoren zu finden – die sind oft parteiisch. Es war das erste Mal, dass ich etwas las, mit dem ich mich wirklich verbunden fühlte. Man erkennt in KABUL KINDERHEIM heute deutliche Parallelen zu den Geschehnissen in Afghanistan in diesem Jahr. Haben Sie während der Entstehung des Films auch an die Zukunft gedacht? Ja, absolut. Als ich an der Geschichte arbeitete, war ich so ergriffen von all den Ähnlichkeiten: Man musste nur Mudschaheddin durch die Taliban ersetzen und die Sowjets durch Amerika. Ab 1979, in D 46

D NOVEMBER/DEZEMBER 2021

den 80ern und Anfang der 90er Jahre, herrschte 13 Jahre lang afghanisch-sowjetischer Krieg in Afghanistan. Kabul aber war dieser friedliche Ort – wenn man nur die Terroranschläge ignorierte, die manchmal passierten. So war es auch in meiner Zeit dort. Hier lebte die Mittelschicht, Frauen hatten viel mehr Freiheiten und junge Leute schufen sich hier eine Blase: Auf Partys gehen, Dating, Social Media und so weiter. Sie taten so, als lebten sie nicht in einem Kriegsland, sondern wie andere junge Menschen in anderen Teilen der Welt. Während ich recherchierte, dachte ich: Das ist genau so, wie Taliban jetzt manchmal Terroranschläge in Kabul verüben - sie haben viel mehr Macht in den Provinzen, aber ihr Ziel ist es, Kabul einzunehmen, und vielleicht wird das eines Tages auch passieren. Die Geschichte Afghanistans, vor allem im letzten Jahrhundert, ist wie ein Kreis: Alle zwei Jahrzehnte gehen wir an den gleichen Ort zurück, an dem wir waren, es fühlt sich einfach so an, als wären wir in einer Schleife. In KABUL KINDERHEIM spielen Kinofilme eine wichtige Rolle. Konnten Sie als Kind auch ins Kino gehen? Ich wurde in eine konservative und religiöse Familie hineingeboren. Jede Art von Kunst und Musik war in unserem Haus verboten. Selbst bei der Hochzeit meiner älteren Schwester brauchte es einen sehr langen Streit mit meinem Vater, bis er meinem Bruder erlaubte, sich von seinem Freund zwei Stunden lang ein


INDIEFEATURE

Tonbandgerät auszuleihen. Ich war 10 Jahre alt, und das war das erste Mal, dass ich ein Tonbandgerät startete und Musik hörte – das einzige Mal. 2008, als ich 18 war, bin ich nach Kabul gezogen, und da wollte ich so gerne Physik studieren … Physik? Ja, ich habe mich schon immer für Physik interessiert - vielleicht wegen des religiösen Hintergrunds meiner Familie, weil die Wissenschaft in gewisser Weise sagt, dass Religion Quatsch ist - das ist zumindest heute meine Analyse. Als ich nach Kabul ging, musste ich eine Ausrede für mich finden, um dort zu bleiben. Aber ich wusste nicht, wie die Dinge in dieser großen Stadt funktionieren, deshalb habe ich nicht die Prüfung der Naturwissenschaftlichen Fakultät gemacht, sondern für Kunst, Kino, Theater. Gleichzeitig fand ich meinen ersten Job beim beliebtesten Fernsehsender, Tolo TV, als Produzentin für eine Kochshow. In der Kaffeepause traf ich dann Anwar, der für die Nachrichten arbeitete. Und ich nahm an einem französischen Dokumentarfilm-Workshop teil, der uns Grundlagen des Dokumentarfilms vermittelte, mit Fokus auf Cinema Verité/Direct Cinema. Da bin ich diesem Kino total verfallen und drehte meinen ersten kurzen Dokumentarfilm. Im nächsten Jahr googelte ich etwas übers Filmemachen und landete durch Zufall auf der Website der Filmfestspiele von Cannes. Ich bewarb mich für die Script Residency und wurde eingeladen, viereinhalb Monate in Paris zu verbringen, um mein Projekt zu entwickeln. Und dort betrat ich 2010, mit 20 Jahren, zum ersten Mal ein richtiges Kino – die Cinematèque in Paris. Wow. Das ist ja nicht bloß irgendein Kino! Genau! Diese drei Monate im Workshop sind bis heute der einzige akademische Hintergrund, den ich im Film habe, aber sie waren so wichtig für mich. Ein Teil meiner Klassenkameraden war so verliebt in die Regisseure, die großen Autoren und Filme – ich hatte nie dieses Gefühl, weil ich nicht mit Filmen und Filmgeschichte aufgewachsen bin. Ich habe die Filmemacher, deren Filme wir dort schauten, bewundert. Aber ich hatte nie das Gefühl, dass ich genau solche Filme machen möchte. Obwohl ich nichts übers Filmemachen wusste, hatte ich Selbstvertrauen. Es war meine größte Entdeckung in diesem Workshop: Im Kino geht es um Geschichten, und ich habe die Geschichten. Werden die Menschen in Afghanistan jetzt noch Filme sehen können? Und werden afghanische Künstler*innen wie Sie, die jetzt im Exil leben, ihre Kunst mit ihrem Publikum in Afghanistan teilen können? Na ja, es sind nicht mehr die 90er. Auch wenn es öffentlich nicht erlaubt ist: Alle haben Internet und sind mit der Außenwelt verbunden. Mehr als 70 % der afghanischen Bevölkerung sind junge Leute unter 25, ich glaube nicht, dass die Taliban sie isolieren können. Viele Künstler haben jetzt das Land verlassen. Wenn ich der

Situation etwas Positives abgewinnen will: Meiner Meinung nach ist das ganz gut so. Es gab diese Kulturmafia in Afghanistan, die es sehr schwer machte – um überhaupt als Künstler anerkannt zu werden, musste man Mitglied in diesem Club sein. Aber jetzt, wo viele Kulturschaffenden in andere Länder evakuiert wurden, sehe ich ein großes Potenzial. So sind zum Beispiel 270 Kulturschaffende gerade nach Frankreich emigriert – Schriftsteller, Maler, Filmemacher. Ich hoffe daher, dass es in den nächsten 10 oder 15 Jahren einen großen Wandel gibt. D Das Gespräch führte Eva Szulkowski

Originaltitel: Parwareshghah D Dänemark/Afghanistan/Deutschland/Luxemburg 2019 D 90 min D R: Shahrbanoo Sadat D B: Shahrbanoo Sadat D K: Virginie Surdej D S: Alexandra Strauss D D: Hasibullah Rasooli, Masihullah Feraji, Qodratollah Qadiri ,Sediqa Rasuli D V: Steppenwolf

Kabul Kinderheim Fast schon prophetisch

Kabul 1989: Das Ende der sowjetischen Besatzung Afghanistans naht, und damit auch die Machtübernahme durch die Guerillagruppe Mudjaheddin. Noch aber ist das Land geprägt durch die russischen Invasoren, mit denen sich die afghanische Bevölkerung notgedrungen arrangiert hat. Davon bekommt Straßenjunge Quodrat (Quodratullah Qadiri) wenig mit. Das Leben des 15-Jährigen dreht sich ums Kino: Davor verkauft er Schlüsselanhänger und Eintrittskarten zu Wucherpreisen, darin schaut er die populären Bollywoodfilme mit den coolen Actionhelden und hübschen Sängerinnen, die er so bewundert. Alles ändert sich drastisch, als er aufgegriffen wird und in ein Kinderheim kommt. Dort wird er Teil des Systems – mit seinem Leben und dem Erwachsenwerden muss er trotzdem selbst klarkommen. In KABUL KINDERHEIM (THE ORPHANAGE) bricht Regisseurin Shahrbanoo Sadat mit Klischees. Die Lehrer*innen sind nicht perfekt, wollen aber nur das Beste für ihre Schutzbefohlenen. Natürlich gibt es auch Stress – doch selbst die bösesten Jungs sind, wenn keiner hinschaut, bloß unsichere Pubertierende, die sich nach einer besseren Zukunft sehnen. Wie schon ihr Debüt WOLF AND SHEEP (2016) basiert auch dieser Film auf der Autobiografie von Anwar Hashimi, der hier in der Rolle des engagierten Heimbetreuers zu sehen ist. Angesichts der Machtergreifung der Taliban wirkt KABUL KINDERHEIM, der bereits 2019 produziert wurde, fast schon prophetisch, und die Beklemmung beim Schauen ist bestürzend real. Dass Krieg auch vor Kindern nicht Halt macht und irgendwann buchstäblich wie eine Bombe einschlägt, daraus macht Sadats Spielfilm keinen Hehl. So sehr die Kunst auch helfen kann: Ihre Macht ist begrenzt. Oder doch nicht? KABUL KINDERHEIM bleibt mit seinem offenen Ende genau auf der Grenze zwischen Schmerz und Hoffnung. D Eva Szulkowski ¢ Start am 4.11.2021 The late 1980s in Afghanistan. Cinephile Quodat lives on the streets of Kabul before he is picked up by the police and taken to a children‘s home.

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INDIEKRITIKEN Originaltitel: Hogar D Italien/Argentinien 2019 D 91 min D R: Maura Delpero D B: Maura Delpero D K: Soledad Rodríguez D S: Ilaria Fraioli, Luca Mattei D D: Lidiya Liberman, Denise Carrizo, Agustina Malale, Isabella Cilia D V: missingFILMs

Maternal Mutterbilder

Der Tisch ist übersät mit Spielzeug, Bauklötzen und Plastikteilen, dazwischen soll gegessen werden. Kleinkinder und Babies stürmen umher, die Geräuschkulisse ist schrill. In Maura Delperos MATERNAL leben junge Mütter mit älteren Nonnen in einem religiösen Zentrum in Buenos Aires: Die Ordensschwestern leiten das Kloster unter strenger Aufsicht und ermöglichen alleinerziehenden Müttern wie Lu und Fati Unterkunft und Versorgung. Die meisten Frauen dort sind Teenager mit Babies oder schwangere Minderjährige. Die Schwester Paola schließt sich dem Heim an, um dort ihr letztes Gelübde abzulegen: eine junge Frau, die sich dazu entschlossen hat, niemals Kinder zu bekommen. Es prallen sofort Mutterbilder aufeinander: die Schwestern mit ihrer ausgestellten Fürsorge, die in den langen Gängen an Heiligenstatuen entlanghuschen, und die rauchenden Frauen in Hotpants, die lasziv zu Cumbia tanzen. Auf der einen Seite strenge Gesichter und weiße Kleider, auf der anderen gewaxte Beine und Lidstrich. Als die junge Lu verschwindet und ihre Tochter Nina zurücklässt, nimmt sich Paola des kleinen Mädchens an. Delpo, die bisher Dokumentarfilme gemacht hat, erzählt das alles höchst unaufgeregt, in ruhigen Einstellungen, die die langen Flure des Klosters durchstreifen. Der Konflikt zwischen den Verpflichtungen einer Nonne und den doch aufkeimenden Muttergefühlen bei Paola ist überdeutlich gezeichnet. Toll sind die Darstellerinnen, allen voran Agustina Malale als Lu, deren Jugendlichkeit ihr noch ins Gesicht geschrieben steht und nicht ganz zu dem Bild passen mag, das sie von sich selbst hat – keine makellose, aber eine liebende Mutter, die ihre Tochter großziehen kann. Von den Nonnen lernen die Kinder immer wieder von der „Modellfamilie“: Mutter, Vater, Kind, genauer, Maria, Josef, Jesus. Dass es Liebe auch in anderen Modellen gibt, zeigt MATERNAL auf seine Weise. D Lili Hering ¢ Start am 11.11.2021 Motherhood images collide in a religious center in Buenos Aires: the nuns lead the cloister under strict supervision and make it possible for single, often teenage mothers to have housing and care.

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Originaltitel: Billie D Großbritannien 2019 D 96 min D R: James Erskine D K: Frédérique Leroy D M: Hans Mullens D V: Prokino

Billie – Legende des Jazz Komplexe Biografie

Die Journalistin Linda Lipnack Kuehl arbeitete von 1971 bis zu ihrem Tod durch einen mysteriösen Sturz aus dem Fenster ihrer Wohnung 1979 an einer Biografie von Billie Holiday. Rund 200 Stunden Tonband- und Kassettenaufnahmen von Interviews, die Kuehl mit Holidays Freund*innen, Wegbegleiter*innen, darunter zahlreichen Jazz-Größen und sogar den FBI-Agenten, die Holiday verfolgten und verhafteten, führte, bilden die Basis des Dokumentarfilms BILLIE von James Erskine. Das Bild der Sängerin, das aus den oft widersprüchlichen Aussagen entsteht, ist keineswegs geschlossen, aber das ist gerade die Stärke des Films. BILLIE versucht, der Sängerin gerecht zu werden, ohne sie auf ihre Bühnenrolle oder ihre Biografie – sie war die Tochter eine Bordellbesitzerin und prostituierte sich selbst bereits als Teenagerin – festzulegen. Holidays künstlerisches Programm und die Entwicklung ihres Stils werden vor allem von ihren Mitmusiker*innen beschrieben. Holiday sagt, sie sei aus der Band von Archie Shaw ausgestiegen, weil sie dort immer nur Blues singen sollte. Der Film selbst verfällt aber ebenfalls der Verführungskraft von Holidays blues-lastigen, langsamen Songs wie „My Man“, „God Bless the Child“ oder „Fine Mellow“, die auch wegen der brutalen Beschreibung der Geschlechterverhältnisse beeindrucken. Aber Billie Holiday wollte, dass ihre Stimme klingt wie die Trompete von Louis Armstrong. Diesen triumphalen und perkussiven Sound hat Billie Holiday vor allem in schnellen Swing-Nummern wie „Them There Eyes“, die es nicht in den Soundtrack des Films geschafft haben. Anders ihr Meisterwerk, der erschütternde Song „Strange Fruit“ (1939), der Szenen eines Lynchens mit Klischees des „galanten Südens“ kontrastiert und die rassistischen US-Behörden gegen Billie Holiday aufbrachte. BILLIE spürt der Selbstbehauptung der Künstlerin nach. D Tom Dorow ¢ Start am 11.11.2021 A kaleidoscope-like image of Billie Holiday emerges out of around 200 hours of tape and casette recordings of interviews with the singer’s friends and companions.

Termine unter www.indiekino.de


Deutschland 2019 D R: Hans Steinbichler D B: Dominikus Steinbichler D K: Christian Marohl D D: Leonard Scheicher, Johannes Nussbaum, Lisa Vicari, Heiner Lauterbach, Hannelore Elsner, Jeanette Hain D V: STUDIOCANAL

„Eine Bombe von Film“ RADIO SRF 3

„Eine feinfühlige Inszenierung“ Neue Zürcher Zeitung

Hannes

Bedingungslos Bruder Kaum hat der Film seine Augen aufgeschlagen, ist das Unglück schon geschehen. Ein Motoradunfall reißt Hannes (Johannes Nussbaum) aus dem Leben, das er bisher mit seinem besten Freund Moritz (Leonard Scheicher) geteilt hat. Eine Freundin gibt es zwar auch, dazu fürsorgliche Eltern und einen Hund. Aber Hannes und Moritz sind Blutsbrüder, am gleichen Tag geboren und seitdem unzertrennlich. Doch nun liegt der 19-jährige blonde Draufgänger mit einem schweren Schädelhirntrauma im Koma, und Moritz fühlt sich schuldig, weil es seine defekte Maschine war, mit der Hannes von der Straße abrutschte und den Abhang hinunterstürzte. Zudem kommt er ohne seinen besten Freund noch weniger klar mit der Welt, weil er selbst eher der unsichere, introvertierte, komplizierte Typ ist. Aber es hilft nichts. Er muss jetzt alles versuchen, um Hannes zu helfen, den Weg ins Hier und Jetzt zurückzufinden. Dafür nimmt er sich des einstigen Lebens und Alltags von Hannes an, so gut er kann, komplett mit Zivistelle im Pflegeheim, wo er unter anderem auf gut gewillte Schwestern, attraktive Ärztinnen und seine alte Klassenlehrerin trifft. Hans Steinbichler inszeniert den Roman von Rita Falk aus dem Jahre 2012 als leicht überdrehte Tragikomödie mit jugendlichem Charme, die so bedingungslos zwischen Realität und Übersteigerung, Vergangenheit und Gegenwart, Nostalgie und Hoffnung, Humor und Schuldgefühlen oszilliert, dass der Film immer wieder selbst ins Schleudern gerät. Es gelingt es ihm nicht, die heftigen tonalen Sprünge in einen Rhythmus zu überführen, der mit der Geschichte im Einklang steht und emotional bindet. Man hätte Hannelore Elsner für ihre letzte Filmrolle einen etwas stimmigeren Film als HANNES gewünscht. Aber eine Freude ist es doch, die große Schauspielerin hier noch einmal im Einsatz zu sehen.

INSPIRIERT DURCH DIE GLEICHNAMIGE BIOGRAFIE VON MICHELLE HALBHERR & FRANZISKA K. MÜLLER

AB 18. NOVEMBER 2021 IM KINO zuhurs-toechter.de

AB 4. NOVEMBER IM KINO mitra-fi lm.de

D Pamela Jahn ¢ Start am 25.11.2021

An adaptation of the youth novel by Rita Falk. Moritz and Hannes are best friends. Then Hannes is heavily injured in a motorcycle accident and falls into a coma.

Termine unter www.indiekino.de

AB 18. NOVEMBER IM KINO


INDIEKRITIKEN Deutschland 2020 D 110 min D R: Lena Knauss D B: Lena Knauss D K: Katharina Bühler D S: Julia Kovalenko D M: Moritz Schmittat D D: Thomas Niehaus, Sarah Hostettler, Aenne Schwarz, Godehard Giese, Ines Marie Westernströer D V: farbfilm Verleih

Tagundnachtgleiche Geheimnisvolle Unbekannte

Originaltitel: Yö Armahtaa D Finnland 2020 D 90 min D R: Mika Kaurismäki D B: Mika Kaurismäki, Sami Keski-Vähälä D K: Jari Mutikainen D S: Mika Kaurismäki, Eero Tammi D D: Kari Heiskanen, Anu Sinisalo, Pertti Sveholm, Timo Torikka D V: Arsenal Filmverleih

Gracious Night Männer ohne Abstand

Alexander ist ein Schweiger. Eigentlich ein belesener Klassikliebhaber repariert er lieber alleine Fahrräder in seiner Werkstatt, als unter Menschen zu gehen. Ab und an unverbindlicher Sex mit der Kneipenwirtin von nebenan und jede Menge Zigaretten und Schnaps bringen ihn durch die Tage. Im Inneren des nicht mehr ganz jungen Mannes scheint vieles Baustelle zu sein, was Regisseurin Lena Knauss in ihrem Spielfilmdebut aber nur andeutet. Es spiegelt sich beispielsweise im Interieur seiner gewollt unfertig wirkenden Altbauwohnung, von der aus Alexanders Blick immer wieder zum Fenster gegenüber schweift. Dort schwingt Paula, eine geheimnisvolle Varietékünstlerin, des Nachts ihre Reifen. Wie eine Motte dem Licht entgegen, treibt es Alexander aus dem Haus in ihre Arme. Es kommt zu einer Begegnung, die alles verspricht: Leidenschaft, Aufbruch und die große Liebe. Doch schon am nächsten Tag ist die schöne Unbekannte tot und Alexander dreht frei. Mit großer Geste inszeniert Knauss Alexanders obsessive Visionen und spart dabei nicht an Pathos, lässt ihn abgrundtief leiden und lügen – alles um an der Beziehung mit Paula festzuhalten, die es nur in seinem Kopf gibt. Marlen, Paulas Schwester, durchschaut sein Spiel, während ihre Eltern nur zu gerne an den neu gefundenen Schwiegersohn in Spe glauben wollen. Auch sie wollen sich das Bild einer perfekten Tochter rekonstruieren. Ob es Knauss wirklich ernst meint mit ihrer melodramatischen Inszenierung des Martyriums eines Mannes, der nur eventuell durch die geduldige und sehr irdische Marlen errettet werden kann, wird nicht ganz klar. Oder persifliert sie mit dem Jagen nach dem Phantom der wilden, leidenschaftlichen Frau die Besessenheit unserer Zeit mit den Oberflächen der Social-Media-Profile? D Susanne Kim

Nach dem Berlinale-Gewinner BAD LUCK BANGING OR LOONY PORN von Radu Jude, nutzt auch Mika Kaurismäki die Pandemie als Hintergrund für sein Charakterdrama um drei Männer in der Lebenskrise. Mehr als Judes Film merkt man GRACIOUS NIGHT die Entstehung unter Pandemiebedingungen an. Von den eindrucksvollen Aufnahmen des menschenleeren Helsinki unter dem Lockdown, verlagert sich die Handlung schnell in einen abgesteckten Handlungsraum. Wie alle öffentlichen Plätze in der Stadt, ist auch die Kneipe von Heikki geschlossen. Als der Abend beginnt, betritt er die Bar mit einem Kanister Benzin, deckt den Tisch und serviert sich eine Henkersmahlzeit bei Kerzenschein. Doch dann klopft Risto. Der Doktor erhielt am Ende des zermürbenden Arbeitstags in der Klinik die Meldung, dass eine junge Patientin gestorben ist, und sucht Trost und Wein bei seinem Freund. Heikki schenkt ihm ein, und es dauert nicht lange, bis sich ein Dritter zu ihnen gesellt: Juhani will eigentlich nur sein Handy irgendwo aufladen, doch seine Absichten scheinen nicht ganz ehrlich zu sein. Das Kammerspiel kommt weitgehend mit diesen drei Personen aus. Erst später wird die Konstellation aufgebrochen. Ansonsten sind die drei Männer mit ihren Problemen gemeinsam allein. Der Alkohol tut sein Übriges. Eine Offenbarung sorgt für Spannung, doch im Kern konzentriert sich Kaurismäki auf die pointierten Dialoge, die vom überzeugenden Ensemble weitgehend improvisiert wurden. Jeder von ihnen entwickelte seine Figur individuell, und erst in der Kneipe kamen sie zusammen. Über allem leuchtet das Neonschild mit der Corona-Werbung als offensichtliches Augenzwinkern. GRACIOUS NIGHT ist ein dialoglastiges Drama und nicht ohne Längen, aber getragen von seinen Darstellern und finnischen Schlagern voll Sehnsucht.

¢ Start am 18.11.2021

D Lars Tunçay ¢ Start am 16.12.2021

Silent Alexander begins a passionate affair with artist Paula. Shortly after, the beautiful stranger is dead, and Alexander loses it.

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Heikki’s bar has been closed in the pandemic, like all public spaces in Helsinki. But then Risto, who is looking for solace and wine at his friends, knocks on the door. And eventually Juhani joins as well, who actually just wanted to charge his phone …

Termine unter www.indiekino.de



INDIEKRITIKEN

Eiffel In Love

House Of Gucci

Als er unerwartet seiner Jugendliebe Adrienne (Emma Mackey, SEX EDUCATION) begegnet und mit ihr eine Affäre beginnt, findet Gustave Eiffel (Romain Duris) in dieser Liaison die Inspiration für seinen Beitrag zur Pariser Weltausstellung 1889. Die Jugendliebe ist verbürgt, dass der eigentlich mehr an Nutzbauwerken interessierte Eiffel jedoch wegen Adrienne seine anfänglichen Zweifel an der Konstruktion eines riesigen eisernen Turms verwarf und der gemeinsamen Liebe mitten in Paris ein Denkmal setzte, eine Fantasie von Drehbuchautorin Caroline Bongrand und Regisseur Martin Bourbolon. ¢ Start am 18.11.2021

1995 wurde das Oberhaupt des Modehauses Maurizio Gucci von einem Killer vor seinem Büro erschossen. Der Auftrag kam von seiner Exfrau Patrizia. Ridley Scott macht aus dem historischen Mordfall ein stylisches Familiendrama, dessen Trailer ziemlich an einen Mafiafilm erinnert, nur dass natürlich kein Don je so gut gekleidet war wie Lady Gaga als Patrizia und Adam Driver als Maurizio. Salma Hayek, die im realen Leben mit dem Gucci-Besitzer verheiratet ist, spielt auch mit. Daher wird das ehrenwerte Haus wohl nicht zu sehr beschmutzt werden.

Originaltitel: Eiffel D Frankreich 2021 D 108 min D R: Martin Bourboulon D D: Emma Mackey, Romain Duris, Pierre Deladonchamps, Armande Boulanger

USA 2021 D R: Ridley Scott D D: Lady Gaga, Adam Driver, Jared Leto, Al Pacino, Jeremy Irons, Jack Huston

Das Ende des Schweigens

Plötzlich aufs Land

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges galt §175, der männlich-homosexuelle Akte unter Strafe stellte, in seiner 1935 verschärften Fassung weiter, wurde aber kaum angewandt. Dies änderte sich 1950, als in den „Frankfurter Homosexuellenprozessen“ über 100 Männern der Prozess gemacht wurde. Die Namen hatte der Sexarbeiter Otto Blankenstein geliefert, der sich für eine versprochene Straffreiheit instrumentalisieren ließ, und dessen Spur sich nach den Prozessen verliert. DAS ENDE DES SCHWEIGENS rekonstruiert in Spielszenen und Interviews den Fall, der zwei Jahrzehnte der intensiven Schwulenverfolgung in der BRD eröffnete. ¢ Start am 2.12.2021

Für die kühle, introvertierte Alex ist die Sache klar: Nach dem Studium möchte die junge Veterinärin in einem renommierten Labor als Epidemiologin forschen. Doch kaum hat sie ihre Abschlussprüfung bestanden, meldet sich ihr alleinstehender Onkel Michel und gibt vor, dringend Hilfe in seiner Praxis im Burgundischen zu brauchen … Regisseurin und Drehbuchautorin Julie Manoukian stellt in ihrem liebenswerten Erstling Stadt- und Landleben gegenüber, umschifft dabei abgedroschene Klischees und reißt die tragische Familiengeschichte der Protagonistin nur an. Musik: Moriarty. ¢ Start am 2 .12.2021

Deutschland 2020 D 75 min D R: van-Tien Hoang D D: Christoph Stein, Marco Linguri

Originaltitel: Les vétos D Frankreich 2019 D 92 min D R: Julie Manoukian D D: Clovis Cornillac, Noémie Schmidt, Carole Franck

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¢ Start am 2.12.2021

Termine unter www.indiekino.de


INDIEKRITIKEN

Aline – The Voice Of Love

Pankow ’95

Das Biopic nach dem Leben der kanadischen Sängerin Céline Dion und schildert deren Aufstieg vom Kinder- zum Weltstar. Der Name der Sängerin wurde in „Aline Dieu“ geändert, wohl auch, weil der Film das Verhältnis zu ihrem Manager und Ehemann René Angélil verhandelt, der sie mit 12 Jahren „entdeckte“. Regisseurin und Hauptdarstellerin Valérie Lemercier durfte die Originalmusik verwenden. Eine der seltsameren Regie-Ideen der 57 Jahre alten Lemercier ist es, Aline in jedem Lebensalter zu spielen, auch als Fünfjährige.

In einem alternativen 1995 sitzt der aus dem Westen emigrierte Musikwissenschaftler Wolfgang Amadeus Zart (Udo Kier) des Mordes beschuldigt in der Psychiatrie Pankow ein. Flucht scheint unmöglich, bis ihm seine Frau und ein ehemaliges Retortenbaby helfen. Und der Plan wird gelingen, denn sie haben die Jungfrau Maria (Nina Hagen) auf ihrer Seite. Gábor Altorjays extrem seltsame New-Wave-SciFi-Comedy von 1983 hat wenig Budget, aber Musik von The Wirtschaftswunder, und bunte Bilder, die frisch restauriert fast so sehr leuchten wie Udo Kiers Augen.

¢ Start am 23.12.2021

¢ Start am 25.11.2021

Frankreich/Kanada/Belgien 2020 D 124 min D R: Valérie Lemercier D D: Valérie Lemercier, Sylvain Marcel, Danielle Fichaud, Roc LaFortune, Dylan Raffin

Deutschland 1984 D 88 min D R: Gábor Altorjay D D: Udo Kier, Christine Kaufmann, Dieter Thomas Heck

CLOVIS CORNILLAC

NOÉMIE SCHMIDT

PLÖTZLICH AUFS LAND EINE TIERÄRZTIN IM BURGUND

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EIN FILM VON

JULIE MANOUKIAN

Ab 02. Dezember im Kino


INDIEKInder

Lauras Stern

Weihnachten im Zaubereulenwald

Als Laura mit ihrem Bruder Tommy und ihren Eltern in eine neue Stadt umzieht, fühlt sie sich erstmal fremd und einsam. Es fällt ihr schwer, neue Freundinnen und Freunde zu finden, und sie vermisst ihr altes Zuhause. Eines Abends beobachtet sie, wie ein Stern vom Himmel fällt und sich eine Zacke abbricht. Sofort eilt sie zur Hilfe und nimmt den kleinen Stern in ihre Obhut. Laura und der Stern werden Freunde, und die beiden erleben gemeinsam mit dem Nachbarsjungen Max viele Abenteuer. Doch Lauras Stern muss schon bald wieder zurück in den Himmel … ¢ Start am 9.12.2021

Eia freut sich schon sehr auf das Weihnachtsfest mit ihrer Familie, doch ausgerechnet an den Feiertagen haben ihre Eltern keine Zeit für sie, und sie wird zu entfernten Bekannten auf einen abgelegenen, verschneiten Bauernhof geschickt. Zum Glück findet Eia dort schnell neue Freunde und Freundinnen und entdeckt einen magischen Ort: den Zaubereulenwald. Doch der uralte Wald und all die Tiere, die dort leben, sind in Gefahr, denn der fiese Wald-Verwalter will die Bäume abholzen lassen. Eia und ihre Clique müssen den Zaubereulenwald retten. ¢ Start am 2.12.2021

Deutschland 2020 D R: Joya Thome D FSK: 0

Estland 2018 D R: Anu Aun D 95 min D FSK: 0

Ein Junge namens Weihnacht

Elise und das vergessene Weihnachtsfest

Auf der Suche nach seinem Vater, der im mystischen Dorf „Wichtelgrund“ neue Hoffnung für das Königreich finden wollte, trifft der junge Finne Nikolas nicht nur Riesen, Wichtel und Elfen, sondern freundet sich auch mit einer sprechenden Maus und einem fliegenden Rentier an. Ganz sicher wird Nikolas auf seiner Reise durch Schnee und Eis seinen Vater, die Hoffnung und vielleicht auch die Idee für einen neuen Winterfeiertag finden. Verfilmung des gleichnamigen Buches über die Jugendjahre des Weihnachtsmannes von Matt Haig. ¢ Start am 18.11.2021

Elise wohnt mit ihrem Vater und ihrer Tante an einem besonderen Ort. Ausnahmslos alle Bewohner:innen des kleinen norwegischen Dorfes sind sehr, sehr vergesslich. Ihr Vater verlässt das Haus regelmäßig, ohne eine Hose anzuziehen, die Lehrerin verwechselt Montag und Samstag, und an Geburtstage und Namen kann sich ohnehin niemand erinnern. Eines Morgens wacht Elise mit dem komischen Gefühl auf, dass heute ein ganz besonderer Tag ist. Nur wieso? Was sollte am 24. Dezember anders sein als an allen anderen Tagen? Elise begibt sich auf Erkundungsreise. ¢ Start am 11.11.2021

Großbritannien/Tschechische Republik 2021 D R: Gil Kenan D FSK: 6

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Norwegen 2019 D R: Andrea Eckerbom D 70 min D FSK: 0

Termine unter www.indiekino.de


INDIEKInder Deutschland 2021 D 79 min D FSK: 0 D R: Susanne Kim D V: eksystent distribution

Meine Wunderkammern Meerjungfrau und Löwenbezwinger

In letzter Zeit verschwinden immer wieder Kinder vom Erdboden. Und auch Meerschweinchen lösen sich in einem seltsamen blauen Licht auf. Sie landen in einer fremden Welt, der Welt ihrer Fantasie. Jedes Kind hat seine eigenen Orte, an denen es sich zuhause fühlt oder an die es sich wünscht – seine „Wun-derkammer“. Wir Zuschauer dürfen sie an diese Orte begleiten. Im Film erzählt Roja der Kinderreporterin Dorothea von ihrer Flucht aus Afghanistan. Sie berichtet von ihren Ängsten bei der Überquerung des Meeres. In Rojas Wunderkammer ist sie eine Meerjungfrau, die durchs Wasser gleitet. Wisdoms Eltern sind aus Kamerun nach Tübingen gekommen. Ähnlich wie Roja und die anderen Kinder hat er Ausgren-zung und Rassismus erlebt. In seinen Träumen ist er stark wie sein Onkel, der einen Löwen bezwang. Elias wohnt in Dresden. Er begeistert sich für alles was mit Technik zu tun hat. Doch im Unterricht hat er es schwer. Er braucht lange, um Dinge zu begreifen und findet keine Freunde. In Elias Vorstellung gibt es einen Planeten, auf dem er mit seinem Roboter und den Meerschweinchen wohnt. Auch Joline wünscht sich manchmal weg aus ihrem Alltag. Ihre Eltern haben sich getrennt und seitdem wechselt sie immer wieder zwischen zwei Haushalten, dabei will sie eigentlich nur Kind sein. Die Leipziger Regisseurin Susan-ne Kim (TROCKENSCHWIMMEN) hat die Kinder begleitet und mit ihnen den Film gestaltet. Darüber hinaus entstand auch eine Virtual Reality-Erfahrung, in der man unmittelbar in die Welten der Kinder eintauchen kann. So ist MEINE WUNDERKAMMERN ein Filmprojekt, das ehrlich mit den Träumen und Wünschen von Kindern umgeht und damit auch anderen Kindern Mut machen kann. D Lars Tunçay ¢ Start am 4.11.2021

Every child has places where they feel at home or where they make their wishes – their “cabinets of wonder”. Leipzig director Susanne Kim accompanied a number of children and made a film together with them.

Termine unter www.indiekino.de

Niederlande/Belgien/Deutschland 2021 D FSK: 0 D R: Steven de Beul, Ben Tesseur, Jeff Tudor D K: Tristan Oliver D S: Michiel Reichwein D M: Maurizio Malagnini D V: Square One

Coppelia

Ein echter Ballettfilm Während Tanzfilme und Musicals im Kino seit der Einführung des Tonfilms eine lange Tradition haben, sind reine Ballettfilme eher selten. In COPPELIA, einer deutsch-belgisch-niederländischen Koproduktion, wird tatsächlich ausschließlich getanzt und nicht geredet. Die Vorlage ist ein Ballett von Léo Delilbes von 1870, das wiederum Motive von E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“ aufgreift. Das Mädchen Swan (Michaela DePrince) arbeitet in einer Saftbar auf dem Marktplatz und liebt den Fahrradhändler Franz (Daniel Camargo). Als der geheimnisvolle Dr. Coppelius in der Stadt auftaucht und den Bewohner*innen ewige Schönheit und Jugend verspricht, ist Swan misstrauisch. Die Dorfbewohner und auch Franz sind aber so betört von der Schönheit von Coppelia, einer Roboter-Frau, die Dr. Coppelius erschaffen hat, dass sie sich nacheinander in das Labor locken lassen, in dem Coppelius ihnen die Seele aussaugt, um Coppelia zu wirklichem Leben zu verhelfen. Die Menschen, die Coppelius „behandelt“ hat, sehen aus wie zuvor, aber im Spiegel sehen sie sich in einer jüngeren und „verbesserten“ Version. Swan muss ihren Franz aus den Fängen des Dr. Coppelius befreien und den Betrüger entlarven. Die Hauptrolle tanzt Michaela DePrince, die 2011 eine der jungen Tänzerinnen im Dokumentarfilm FIRST STEPS war. Über das Leben der in Sierra Leone zunächst als Waisenkind aufgewachsenen Tänzerin, die wegen ihrer Vitiligo, der Entfärbung einzelner Hautpartien, misshandelt wurde, produziert Madonna gerade einen eigenen Film. Hier tanzt sie mit dem Ensemble in gemalten Kulissen, die durch Computeranimationen ergänzt wurden: Die Kreationen von Coppelius sind alle digitale Roboter, auch die Spiegelbilder der Stadtbewohner. Das Ballett ist eine kleine Parabel auf falsche Schönheitsideale und vor allem etwas für Familien, in denen es kleine Ballett-Fans gibt. D Hannes Stein ¢ Start am 16.12.2021 A real ballet film: there’s just dancing here, no talking. In the modern version of a ballet from 1870 adapted from E.T.A. Hoffmann, the Dutch National Ballet dances with painted backdrops and digital animation.

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INDIEKINOHIGHLIGHTS

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INDIEKINOHIGHLIGHTS

INTERFILM & KUKI Das Interfilm Festival hat sich auch 2021 für ein hybrides Angebot entschieden: Vom 16.–21.11. findet Berlins ältestes und größtes Kurzfilmfestival vor Ort statt. Vom 17.11.–13.12. können ausgewählte Programme in vier unterschiedlichen Wochen-Paketen online geschaut werden. Insgesamt 400 Produktionen wurden in über 50 Programme sortiert. Besonderen Spaß macht immer ein Blick auf die Spezialprogramme, die den internationalen und nationalen Wettbewerb flankieren. Neben Klassikern wie „Green Film Wettbewerb“ oder „Die lange Nacht des abwegigen Films“, versammelt das Programm „Reality Bites“ Filme im Grenzbereich von Dokumentarischem und Fiktion, zeigt „Queer Fever“ Kurzfilme über Liebe und Identität in allen Facetten, nehmen sich in „Genre Now! Slashing the Patriarchy“ Regisseurinnen des Slasher­films an, und untersucht „Mensch Maschine“ die Zukunft

der künstlichen Intelligenz. Länderprogramme sind Ungarn, China und Myanmar gewidmet, und das Programm „Girls* Riot“ haben Teenagerinnen kuratiert. Wie immer haben die Kinderfilm-Programme mit dem KUKI ihr eigenes Festival. Bereits im Vorfeld, ab dem 10.11. läuft der von der Heinrich Böll Stiftung ausgelobte „Eyes Wide Open Online Award“, bei dem das Publikum über neun „gesellschaftspolitische“ Filme abstimmen kann. Die Filme gibt es online zu sehen und der Eintritt ist frei. interfilm.de ¢ Interfilm im Kino: 16.–21.11. ¢ Interfilm online: 17.–13.11. auf interfilm.de/sooner

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INDIEKRITIKEN Originaltitel: Otac D Serbien/Kroatien/Deutschland 2020 D 120 min D R: Srdan Golubović D B: Srdan Golubović, Ognjen Sviličić D K: Aleksandar Ilić D S: Petar Marković D D: Goran Bogdan, Boris Isaković, Nada Sargin, Milica Janevski, Muharem Hamzić D V: barnsteiner-film

Sing Me A Song

Vater – Otac Zu Fuß nach Belgrad

Nikola ist ein Mann um die 40. Sein Aussehen spiegelt die Armut wider, in der er und seine Familie leben. Seine Kleidung ist abgetragen. Seine Fingernägel sind dreckig von der Arbeit als Tagelöhner. Emotionslos hält er seinen Kopf meist gesenkt. Doch trifft sein eindringlicher Blick die Kamera, erkennt man seine Trauer und Verzweiflung, aber auch seine Hartnäckigkeit. Als ihm das korrupte Jugendamt seine beiden Kinder wegnimmt, beschließt er, nach Belgrad zu gehen, um dort Beschwerde einzulegen. 300 Kilometer zu Fuß, denn er hat weder ein Auto noch Geld für den Bus. Das Unterwegssein bestimmt von da an die Handlung. VATER wird zum klassischen Roadmovie. Sein Weg führt Nicola durch die serbische Pampa. Sinnbildlich für die vergessene Peripherie Europas kommt er an ärmlichen Dörfern, stillgelegten Fabriken und verlassenen Häusern vorbei. Immer wieder geht er neben schnellbefahrenen Straßen entlang, wo das laute Brummen der Motoren verheißungsvoll in die moderne Hauptstadt weist. Oder er wandert wie im Western durch menschenleere, karge Landschaften, die die soziale Rohheit und seine Einsamkeit widerspiegeln. Flüchtig begegnet Nikola etlichen Menschen unterwegs. Die meisten haben nicht viel mehr als er selbst. Einige helfen ihm kurzfristig mit einer Mitfahrgelegenheit oder einem Schlafplatz, andere versuchen ihn auszurauben. In der Summe erschrecken jedoch Indifferenz und Tatenlosigkeit der Menschen. Und Nikola bleibt der Willkür der Obrigkeit machtlos ausgeliefert. Auf diese Weise zeichnet der Gewinner des Panorama-Publikumspreises der Berlinale 2020 ein drastisches Sittenbild einer tief zerrütteten post-jugoslawischen Gesellschaft, die geprägt ist von Arbeitslosigkeit, Armut, Korruption und fehlender Solidarität. D Nina Linkel ¢ Start am 2.12.2021

When the corrupt youth welfare office take away both of his children, Nicola decides to go to Belgrade to file a complaint. He‘s going 300 kilometers by foot, since he neither has a car nor the money for a bus.

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2013 hatte der französische Filmemacher Thomas Balmès in seinem Film HAPPINESS den damals acht Jahre alten Mönch Peyanki porträtiert, für den das Internet damals völlig neu war. In SING ME A SONG ist Peyanki ist sechzehn, und das Smartphone ist sein ständiger Begleiter. Über die Plattform WeChat hat er die junge Nguen kennengelernt und sich in sie verliebt. Peyanki verkauft medizinische Pilze, um das Geld für eine Reise in die Hauptstadt Timphu zu verdienen, wo Nguen in einer Bar arbeitet. Eine traurige Liebesgeschichte. ¢ Start am 9.12.2021

Frankreich/Deutschland 2019 D 100 min D R: Thomas Balmes

Krieg und Frieden (1966) Viel monumentaler als Sergei Bondartschuks Verfilmung von KRIEG UND FRIEDEN geht es kaum noch. Der fast acht Stunden lange Film war der teuerste in der Sowjetunion produzierte Film und gewann einen Oscar als bester fremdsprachiger Film. Das explizite Ziel der Produktion war es, die US-Produktion von 1959 zu übertreffen. Tausende Soldaten der Roten Armee kamen als Statisten zum Einsatz, der Film wurde 70mm-Material gedreht. Ins Kino kommt jetzt eine restaurierte digitale Fassung. Es wird bombastisch. ¢ Start am 18.11.2021

UdSSR 1966 D 492 min D R: Sergej Bondartschuk D D: Lyudmila Savelyeva, Vyacheslav Tikhonov, Viktor Stanitsyn, Kira Golovko, Oleg Tabakov

Termine unter www.indiekino.de


INDIEKRITIKEN

Ein Festtag Zeit des Umbruchs

Die britische Countryside 1924, kurz nach dem Ende des großen Krieges. Das Land und die Menschen sind gezeichnet, gleich welcher Klasse sie angehören. Jeder hat irgendwen verloren. Die Verbliebenen rücken näher zusammen. So ist es auch bei den Adelsfamilien. Die Nivens und die Sheringhams haben vier Söhne an den Krieg verloren. Verblieben ist Paul Sheringham (Josh O’Connor), der mit Emma (Emma D’Arcy) vermählt werden soll, um die Familientradition fortzuführen. Doch Paul ist seit Kindheitstagen mit Jane (Odessa Young) zusammen, einem Waisenmädchen, das als Dienstmagd im Hause Niven angestellt ist. Während die Familien und Pauls zukünftige Ehefrau am Muttertag bei einem Picknick zusammenkommen, trifft sich Paul mit Jane. Doch der Tag wird ein schicksalhafter Wendepunkt für alle Beteiligten. Great Britain, 1924. The Niven family lost four boys to the war. Their last son, Paul, is about to get engaged with a girl of their circle. He meets for the last time with Jane who he truly loves.

Originaltitel: Mothering Sunday D Großbritannien 2021 D 120 min D R: Eva Husson D B: Alice Birch D K: Jamie Ramsay D S: Emilie Orsini D M: Morgan Kibby D D: Odessa Young, Josh O’Connor, Olivia Colman, Colin Firth D V: Tobis Film

Der Roman von Graham Swift aus dem Jahr 2016 fängt die Leere jener Zeit ein, in der auch bereits die BBC-Serie „Downton Abbey“ angelegt war. Der Adel verliert an Bedeutung und klammert sich an Traditionen auf der Suche nach Halt in einer Zeit des Umbruchs. Doch die Welt hat sich längst weitergedreht. Eine tiefe Melancholie liegt auf Eva Hussons Verfilmung des Romans, der von Alice Birch (LADY MACBETH) adaptiert wurde. Inmitten der betäubenden Trauer steht ein Liebespaar. Paul und Jane sind füreinander bestimmt, ihre Liebe hat jedoch keine Zukunft. Erzählt wird ihre Geschichte aus der Perspektive von Jane, nuanciert verkörpert von Odessa Young (SHIRLEY). In den Nebenrollen versinnbildlichen Olivia Colman und Colin Firth als nun alleinstehendes Ehepaar Niven eindrucksvoll jenes Trauma, das der Krieg in den Menschen zurückgelassen hat. Jamie Ramsay fängt das Drama in sinnlichen Bildern ein. Der Sommer bricht an, die Welt steht offen. Doch am Horizont ziehen bereits dunkle Wolken auf. D Lars Tunçay ¢ Start am 23.12.2021

Termine unter www.indiekino.de

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INDIESERVICE

Über uns Das INDIEKINO MAGAZIN erscheint alle ein bis zwei Monate und bietet einen Überblick über Neustarts, Festivals und Wiederaufführungen. Unser Herz gehört dem unabhängigen Film und dem unabhängigen Kino.

KINOS Das INDIEKINO MAGAZIN ist bundesweit in folgenden Kinos erhältlich: Alpirsbach: Subiaco Kino Bamberg: Lichtspiel, Odeon Berlin: Acud Kino, b-ware!ladenkino, Bali Kino, Brotfabrik Kino, Bundesplatz-Kino, City Kino Wedding, Eva-Lichtspiele, filmkunst66, Filmrauschpalast, FLB Weissensee, FLK Friedrichshagen, FLK Hasenheide, FLK Insel, fsk-Kino, Hackesche Höfe Kino, Hofkino, Il Kino, Kino Krokodil, Mobile Kino, Sputnik Kino, Tilsiter Lichtspiele, Union Filmtheater, Wolf Kino, Xenon Kino, Z-inema, Zukunft Bielefeld: Lichtwerk im Ravensberger Park, Kamera Filmkunsttheater Bonn: Kino in der Brotfabrik, Neue Filmbühne, Rex Filmtheater Bremen: Atlantis Filmtheater, Gondel Filmtheater, Schauburg Chemnitz: Kino Metropol Dießen am Ammersee: Kinowelt am Ammersee Dresden: Filmgalerie Phase IV Enkenbach-Alsenborn: Provinz Programmkino Erfurt: Kinoclub Erfurt Essen: Essener Filmkunsttheater Fellbach: Orfeo-Programmkino Frankfurt: Mal Seh’n Kino Freudenstadt: Subiaco Kino im Kurhaus Fürstenfeldbruck: Lichtspielhaus Fürstenfeldbruck Göttingen: Lumière Halle: Luchs Kino am Zoo, Puschkino Hamburg: Studio-Kino, Blankeneser Kino, Die Koralle, Elbe Theater Heilbronn: Kinostar-Arthaus

Hillesheim: Eifel Filmbühne Kaiserslautern: Union-Studio für Filmkunst Kassel: Bali, Gloria, Filmladen Kiel: Traumkino Koblenz: Apollo Odeon Köln: Filmpalette, Lichtspiele Kalk, Odeon Kino, OFF Broad­way, Weisshaus Kino Lich: Kino Traumstern Ludwigsburg: Caligari Kino, Luna Lüneburg: Scala Programmkino München: Arena, Monopol Münster: Cinema Münster Nürnberg: Casablanca Filmkunsttheater Oberhausen: Kino im Walzenlager Ochsenfurt: Casablanca Kino Oldenburg: Cine k Pforzheim: Cineplex Pforzheim, Kommunales Kino, Rex Filmpalast Rendsburg: Kommunales Kino e.V., Schauburg Rottweil: Central Kino Schneverdingen: LichtSpiel Schneverdingen Schramberg: Subiaco Kino Templin: Multikulturelles Centrum Weimar: Kommunales Kino mon ami Sie möchten das INDIEKINO MAGAZIN in Ihrem Kino auslegen? Wir beliefern Sie gerne kostenfrei. Sprechen Sie uns an: Telefon 030-209 89724, Mail: info@indiekino.de

ABONNEMENT Sie können das INDIEKINO MAGAZIN per Post direkt nach Hause bekommen. Eine Bestellung ist online möglich: www.indiekino-shop.de

Impressum Herausgeber: INDIEKINO BERLIN UG (haftungsbeschränkt) Rudolfstr. 11, 10245 Berlin Telefon: 030 – 209 897 24, info@indiekino.de, www.indiekino.de Geschäftsführung: Hendrike Bake Redaktion: Hendrike Bake, Thomas Dorow redaktion@indiekino.de Filmtexte: Thomas Abeltshauser, Hendrike Bake, Yorick Berta, Stefanie Borowsky, Tom Dorow, Anna Hantelmann, Lili Hering, Christian Klose, Clarissa Lempp, Elinor Lewy, Nina Linkel, Claus Löser, Michael Meyns, Harald Mühlbeyer, Pamela Jahn, Toni Ohms, Hannes Stein, Eva Szulkowski, Lars Tunçay

Bildnachweis: Filmbilder/Plakatmotive: Filmverleiher/Filmfestivals Frame by Frame (S. 9): Deutsche Kinemathek - Museum für Film und Fernsehen Kurzfilmtag (S. 9): AG Kurzfilm e.V. / Kurzfilmnacht Augustusburg, Fotograf: Konrad Behr Interfilm (S. 56/57): interfilm Berlin Der Kampf ums Dach über dem Kopf (S. 60)

Texte Kinohighlights: INDIEKINO MAGAZIN und Kinos Grafik: Michael Zettler, Nora Wiesner (Zett Media) Akquise/Marketing: Hendrike Bake, info@indiekino.de Druck: Bonifatius Druck, Paderborn Auflage: 25.000

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D NOVEMBER/DEZEMBER 2021

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... We love each other so much We love each other so much Counterintuitive, baby And yet we remain We love each other so much Counterintuitive, baby And yet we remain We love each other so much ...

In Ländern, in denen ANNETTE bereits gestartet ist, haben sich Zuschauer*innen, aber auch einige Kritiker*innen über die „simplen“ Texte der Sparks beschwert: „Ungefähr 10 Textzeilen, welche die Schauspieler immer wieder singen“. Das ist nicht ganz falsch, tatsächlich arbeitet Ron Mael, der Songwriter von Sparks häufig mit Wiederholungen. Im Song „We Love Each Other So Much“ etwa wird die Titelzeile 14-mal gesungen, und das Lied klingt mit sechs Wiederholungen von „so much“ aus. Maels Technik erinnert an konkrete Poesie, die im deutschsprachigen Raum, wo Dichter wie Ernst Jandl oder Eugen Gomringer eine gewisse Popularität besitzen (oder besaßen) noch eher verstanden wird als in den USA, wo Fluxus und verwandte moderne Kunst rein akademische Themen sind. Hier weiß man immerhin, dass „Ottos Mops kotzt“. Im Liebesthema von AnNette wird der Liebesschwur so oft wiederholt, dass sich zwei Fragen stellen: 1. „Warum müssen die das immer wieder beteuern?“ und 2. „Was heißt hier so much?“. Entweder sie lieben sich, oder sie lieben sich nicht. Die Quantifizierung „so sehr“ stellt die Liebe selbst in Frage und verlangt nach einer genaueren Bestimmung: Wieviel ist denn „so much“? Genug, um was zu überwinden, was nicht? Die Aussage wirkt mit jeder Wiederholung verzweifelter und zerbrechlicher.

NachbildKLANG

vorschau INDIEKINO im JANUAR

D LAMB Seltsames Kind D Was sehen wir, wenn wir zum ­Himmel schauen? Georgisch Träumen D SPENCER Prinzessin D LA FRACTURE Verletzte Gelbwesten D PARALLELE MÜTTER Almodovar! D THE BLACK PHONE Kinderhorror D BIS WIR TOT SIND ODER FREI Anwältin und Ausbrecher D NIGHTMARE ALLEY ­Guillermo del Toros Manipulatoren D NIEMAND IST BEI DEN KÄLBERN Landleben und Leere D CYRANO Peter Dinklage romantisch D AN IMPOSSIBLE PROJECT Analog-Revival D Willkommen in Siegheilkirchen Nach Manfred Deix D IN LIEBE LASSEN Der Sohn stirbt D PLEASURE Porno-Industrie D IM NACHTLICHT Gestaltwandler*innen D Licorice Pizza Paul Thomas Anderson D Schmetterlinge im Ohr Hörschaden D MONOBLOC Stapelstuhl-Doku D 62

D NOVEMBER/DEZEMBER 2021



A DA M

DRIVER

M ARIO N

COTILLARD

UN D

SIM O N

HELBERG

„Ein Erlebnis, auf das man sich unbedingt einlassen sollte.“

„Ein wildes, ungestümes Werk, das sich jeder Einordnung entzieht.“

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EIN FILM VON

LEOS CARAX ( H O LY M O T O R S )

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AB 16. DEZEMBER IM KINO! www.annette-derfilm.de


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