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Die Not in Syrien ist das Ergebnis falscher Politik
Westlichen Regierungen und Denkfabriken gilt Syrien als „gescheiterter Staat“, doch Syrien wird daran gehindert, mit eigenen Kräften das Land wiederaufzubauen. Voraussetzung wäre der Rückzug ausländischer Truppen und Kampfverbände aus den ressourcenreichen Gebieten des Landes. Darüber hinaus müssten die einseitig von EU und USA verhängten Wirtschaftssanktionen, die auch Nachbarländer Syriens und nicht-syrische Unternehmen treffen, aufgehoben werden.
Die Europäische Union und auch die USA verweigern das und verlängern damit die humanitäre Krise in Syrien ebenso wie Not und Perspektivlosigkeit von Flüchtlingen in den Nachbarländern. Die Krisensituation wird aufrechterhalten, um die Regierung in Damaskus und die mit ihr verbündeten Partner Russland und Iran unter Druck zu setzen.
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Als der Krieg in Syrien 2011 begann, war das Land schuldenfrei. Niemand musste Hunger leiden, das Tourismusgeschäft boomte. Die Beziehungen Syriens zu den Nachbarländern Irak, Jordanien, Libanon und Türkei waren von wirtschaftlicher und politischer Zusammenarbeit geprägt, die allen nutzte.
Seit Beginn des Krieges hat sich die Lage kontinuierlich verschlechtert, die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in der syrischen Gesellschaft erodieren. Zeichen dafür ist das Verschwinden einer stabilisierenden Mittelschicht, Schwarzmarkthandel und Korruption nehmen zu. Die wichtigen Ressourcen des Landes – Wasser, Öl, Gas, Baumwolle, Weizen – werden von Gegnern der Regierung besetzt gehalten und kontrolliert. Das vertieft die Spaltung im Land und schadet den Menschen.
Ende 2021 galten nach Angaben des Welternährungsprogramms rund zwölf Millionen Menschen – 55 Prozent der syrischen Vorkriegs-Gesellschaft – als arm und waren auf Lebensmittelhilfen angewiesen.
Die Wirtschaftssanktionen gegen Syrien müssen aufgehoben werden!
Leben in der Krise
Der Alte Souk, Al Souk al Adiq sagen die Damaszener zu dem beliebten Markt auf der Al Ammara Straße, am nördlichen Ende der Altstadt. Früher kamen die Bauern aus dem Umland mit ihrem Obst und Gemüse, mit Hühnern, Eiern und Milch, um alles frisch anzubieten. Als der neue Großmarkt, der Souk al Hal in Zablatani gebaut wurde, brachten die Bauern ihre Waren direkt dorthin. Heute werden dort auch die Lastwagen beladen, die Waren in den Irak oder bis nach Saudi-Arabien transportieren.
Der Alte Souk bietet (fast) alles: Erdbeeren, Kräuter aller Art, Datteln aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Es gibt Kiwis aus Tunesien, Ingwer aus China, Datteln und Granatäpfel aus Jordanien. Die Produkte aus dem Ausland sind teuer und werden von Kunden nur in sehr kleinen Mengen gekauft, sagt ein Dattelverkäufer, der früher und vor allem während des Fastenmonats Ramadan deutlich mehr Umsatz hatte. Die Datteln gehören zum Ritual des Fastenbrechens, doch viele Familien verzichten heute aus Kostengründen darauf. An einem gesonderten Stand gibt es Käse und Eier, die aus dem rund 30 km entfernt liegenden Sednaya gebracht werden. Früher kostete eine Palette mit 30 Eiern 250 bis 300 Syrische Pfund (SYP). Heute liegt der Preis pro Palette bei 11.000 SYP. Früher wurden die Eier palettenweise gekauft, heute in geringer Stückzahl. Am Nachbarstand gibt es Obst und Gemüse, das bis auf die ägyptischen Kartoffeln aus Syrien stammt: Große Avocados von der Küste, wo auch die Orangen herkommen. Knoblauch, Kartoffeln, Gurken, Tomaten, Zwiebeln, Aubergine, Salat – alles ist kunstvoll aufgeschichtet und ausgestellt.
Die guten Tomaten aus dem Hauran
Hier verkauft Abu Ahmad, der gerade 15 Jahre alt war, als er 2003 seine Arbeit am Gemüsestand anfing. Der Mittdreißiger arbeitet sieben Tage die Woche von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends, erzählt er und sortiert nebenbei Tomaten aus. Sein Tageslohn beträgt 15.000 SYP, was aber für ihn, die Frau und drei Kinder nicht reiche.
Die Tomaten seien mit 3.000 SYP pro Kilo sehr teuer, weil sie unter Plastikplanen bei Banias, an der Küste gezüchtet worden seien. Von dort müssten sie nach Damaskus transportiert werden und das koste: „Diesel ist teuer, aber auch der Dünger, der im Ausland eingekauft werden muss, ist teuer“, erklärt Abu Ahmad. Was im Ausland gekauft werde, müsse mit US-Dollar bezahlt werden, die das Land kaum noch habe. Das verteuere alles. Die guten, natürlich – nicht unter Plastikplanen – gewachsenen Tomaten gebe es zwischen Mai und Dezember und die kämen aus dem Hauran (Deraa), sagt er. Das sei nicht weit von Damaskus entfernt und so seien die Tomaten von dort nicht nur besser, sondern auch billiger. Als er vor 19 Jahren
anfing, auf dem Markt zu arbeiten, hätten die Leute Fünf-Kilo-Kisten mit Tomaten für 100 SYP gekauft, erinnert er sich. Heute kauften sie ein Viertel oder vielleicht ein halbes Kilo Tomaten – mehr sei zu teuer.
„Vor dem Krieg ging es uns so gut wie nie“
Die Geschichte des Souk von Damaskus ist die Geschichte seiner Händlerfamilien. Die meisten Geschäfte gibt es seit Generationen. Väter haben sie ihren Söhnen vermacht, die sie wiederum an ihre Söhne weitergaben. Nur so konnten die meisten Betriebe zehn Jahre Krieg überstehen und die Beziehungen zu den Zulieferbetrieben außerhalb von Damaskus aufrechterhalten.
Bassam Hawary stammt aus einer Händlerfamilie, sein Vater verkaufte Reifen. Hawary eröffnete Ende der 1990er Jahre seinen eigenen Laden. Er verkauft Netze aus Leinen und Nylon. Netze für den Transport, für Hängematten, aber vor allem Netze für Hand- und Fußballtore.
Die Baumwolle für die Seile, aus denen die grobmaschigen Netze hergestellt werden, kam früher aus Aleppo. Heute würden Baumwolle und Nylonseile aus China geliefert, sagt der Händler. Die Preise seien enorm gestiegen. Nicht nur, weil es schwierig geworden sei, syrische Baumwolle zu bekommen, sondern auch, weil der Transport wegen der Benzin- und Dieselknappheit sehr teuer geworden sei.
„Dabei haben wir genug Öl, um das ganze Land zu versorgen! Wir haben Öl, Baumwolle und Weizen und alles ist in unserem Land“, sagt der Händler und schüttelt den Kopf. Wie könne es sein, dass Syrien nicht mehr über seine Ressourcen verfügen könne! Über die Frage, wen er für die schlechte wirtschaftliche Lage verantwortlich mache, denkt Bassam Hawary lange nach. „Ich bin kein Politiker“, sagt er dann, aber er habe den Eindruck, dass alle – „im Land und außerhalb“ – die Verhältnisse in Syrien ändern wollten. Vor dem Krieg sei es dem Land gut wie nie gegangen, doch jetzt komme es ihm so vor, als sollten „alle Länder hier in der Region, die im Tourismussektor erfolgreich waren, zerstört werden.“ Dabei gehe es nicht nur um Syrien, auch der Libanon, Libyen, Ägypten, Irak, Jemen, Iran – ein Land nach dem anderen, das wirtschaftlich erfolgreich war oder ist, solle zerstört werden. „Ich habe dieses Geschäft für meine beiden Söhne aufgebaut. Jetzt sind beide in Dubai, weil sie hier keine ordentliche Arbeit mehr finden.“
Umm Issa, die Netzknüpferin
Die Netze, die Bassam Hawary in seinem Laden verkauft, werden in Yabroud, rund 80 km nördlich von Damaskus, noch von Hand geknüpft. Verantwortlich für die Produktion ist Umm Issa Barakati, die die Aufträge an weitere fünf Frauen verteilt. Sie selber habe die Arbeit von ihrer Mutter gelernt, damals sei sie sechs Jahre alt gewesen. „Heute bin ich 79 Jahre alt und habe nur einige Probleme mit meinen Knien“, schmunzelt sie. Mehr als 100 Jahre seien die Frauen aus ihrer Familie als Netzknüpferinnen bekannt. Keine Maschine könne diese Arbeit so machen wie sie und die anderen Frauen, ist sie überzeugt. „Ich danke Gott, dass wir gut leben können.“
Ihr einfacher Arbeitsplatz ist im Empfangszimmer der Wohnung. Auf einem Holzbock ist die Baumwolle aufgerollt. Vor ihr auf einem Stuhl ist ein weiterer Bock befestigt, auf dem das fertig geknüpfte Netz aufgerollt ist, das sie mit einem Holzschiffchen knüpft. Am Tag knüpfe sie etwa fünf Meter Netz, sagt Umm Issa. Dafür erhalte sie 2.000 SYP und sei zufrieden. Gerade habe sie von Bassam Hawary einen Auftrag aus Saudi-Arabien erhalten: „Wir sollen Vorhänge für Türen knüpfen. 1,70 Meter breit und 2,25 Meter hoch. Jetzt warten wir auf die Seile, um mit der Arbeit beginnen zu können.“
Karin Leukefeld ist freie Korrespondentin im Mittleren Osten. Sie lebt zur Zeit in Damaskus.