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Atomanlagen im Ukrainekrieg
DIE AKW-RUINE VON TSCHERNOBYL (2018)
Mit jedem Kriegstag steigt die Wahrscheinlichkeit einer atomaren Katastrophe
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Am 26. April 2022, dem Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl besuchte der Direktor der IAEO Rafael Mariano Grossi die Anlage des havarierten Kraftwerksblocks, der inzwischen von einem Sarkophag ummantelt ist. Vor 36 Jahren hatte sich der bis dahin größte Reaktorunfall in der Geschichte der Atomenergie ereignet. Durch einen misslungenen Versuch war es zu einer unkontrollierten Kettenreaktion, dann zu einer Kernschmelze und zu einer Explosion des Reaktordaches gekommen. Das im Reaktor als Moderator befindliche Graphit mitsamt den freigewordenen Radionukliden brannte elf Tage, so dass große Gebiete in der Ukraine, in Belarus und in Russland sowie in Europa radioaktiv kontaminiert wurden. Seit dem Jahr 2000 ist auch der letzte Kraftwerksblock von Tschernobyl stillgelegt. Auf dem Gelände werden die abgebrannten Kernbrennstäbe der drei stillgelegten Reaktorblöcke in oberirdischen Abklingbecken gelagert und müssen weiter gewartet werden.
In den Bodenschichten der Sperrzone befinden sich außerdem langlebige Radionuklide wie Plutonium 239 und Plutonium 240, die durch Truppenbewegungen mit schweren Fahrzeugen oder durch Artilleriebeschuss freigesetzt werden können.
Russische Truppen hatten gleich zu Beginn des Ukrainekrieges die Atomruine von Tschernobyl eingenommen und die Sperrzone besetzt. Satellitenbildern zufolge hatten russische Soldaten ohne jede Schutzausrüstung in der Sperrzone Schützengräben ausgehoben. Eine Verstrahlung der Soldaten wird aufgrund der radioaktiven Bodenbelastung vermutet. Zeitweilig wurden in der Umgebung erhöhte Strahlenwerte gemessen, ein Hinweis auf das Aufwirbeln von radioaktivem Staub durch die Militäraktion.
Die Sicherheitslage infolge der vierwöchigen Besatzung durch die russischen Truppen war prekär: Der Schichtbetrieb kam zum Erliegen. Die Arbeiter*innen waren fast vier Wochen ununterbrochen im Dienst, wichtige Instandhaltungsarbeiten wurden nicht durchgeführt. Zeitweilig mussten sogar Notstromaggregate anspringen, da die Atomruine vom Stromnetz abgekoppelt war. In der Zeit der Besatzung gab es über einen Monat keinen Kontakt zwischen der ukrainischen Aufsichtsbehörde und der IAEO. Dieser konnte jetzt wiederhergestellt werden. Nachdem die russischen Truppen von dort abgezogen waren, reiste Grossi mit seinem Team an, um sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen. „Ich weiß nicht, ob wir kurz vor einer Katastrophe standen, aber die Situation war absolut anormal und sehr, sehr gefährlich“, so der IAEO-Direktor.
Das Atomkraftwerk Saporischja in der Ostukraine ist mit seinen sechs Reaktorblöcken und einer Kapazität von 5700 MW das größte Europas und befindet sich seit Anfang März unter Kontrolle des russischen Militärs. Wegen beschädigter Stromversorgungsleitungen sind momentan nur zwei Reaktorblöcke im Betrieb. Am 2. März 2022 wurde das AKW bei Kampfhandlungen von russischen Truppen beschossen. Es kam zum Brand in einem Schulungsgebäude, zu Schäden am Reaktorgebäude 1 und in einem Trockenlager für abgebrannte Brennelemente. Radioaktivität war nicht ausgetreten.
In der Ukraine decken 15 Reaktorblöcke an vier Standorten circa 50 Prozent des Strombedarfs des Landes. Knapp die Hälfte davon sind im Moment in Betrieb.
Gab es schon Angriffe auf Atomkraftwerke?
Krieg in einem Land mit laufenden Atomreaktoren ist ein Novum und ein Tabubruch. Am 7. Juni 1981 zerstörten israelische Jagdbomber das irakische Atomkraftwerk Osirak. Es war der erste Angriff in der Geschichte auf einen Atomreaktor. Während des iranisch-irakischen Krieges bombardierte der Irak mehrfach den iranischen Reaktor in Busher. In all diesen Fällen befanden sich die Anlagen noch im Bau und sie enthielten noch kein spaltbares Material. Ein Angriff auf ein im Betrieb befindliches Atomkraftwerk fand bisher noch nie statt, da es auch für einen Angreifer unkalkulierbare Risiken birgt.
Wie gefährdet sind Atomanlagen in einem Krieg?
Dennoch warnte Grossi vor Kurzem: „Der militärische Konflikt bringt die Atomkraftwerke der Ukraine und andere Ein-
richtungen mit radioaktivem Material in eine beispiellose Gefahr“. Selbst ohne militärische Absicht sind Atomanlagen im Krieg durch versehentlichen Beschuss oder durch Brände erheblich gefährdet. Schon im Jahr 2020 drohte ein Waldbrand in der Tschernobylzone das Kraftwerksgelände zu erreichen. Atomkraftwerke sind auch schon dann gefährdet, wenn wegen der Kampfhandlungen oder durch Sabotageakte das versorgende Stromnetz lahmgelegt wird. Dadurch kann eine Kernschmelze ausgelöst werden. Ebenso sind Cyber-Angriffe eine immense Gefahr. Für die Kühlung sind AKWs auf eine ununterbrochene Stromzufuhr angewiesen. Auch ein abgeschaltetes Atomkraftwerk muss weiter gekühlt werden.
Das gilt insbesondere für die mit Wasser gefüllten Lagerbecken für abgebrannte Kernbrennstäbe, in denen gegenüber einem Atomkraftwerk ein Vielfaches an Radioaktivität gelagert ist. Für das Betreiben der Notstromaggregate wird Diesel in einer Größenordnung eines Tanklastzuges pro Tag benötigt. In der Regel reichen die Dieselvorräte an den Atomanlagen für 1-3 Tage. Scheitert der Treibstoffnachschub und fällt die Kühlung aus, kommt es zur Kernschmelze.
Eine intakte Infrastruktur ist im Krieg häufig nicht gewährleistet. In noch stärkerem Maße wäre eine funktionierende Infrastruktur für den Umgang mit einer Reaktorkatastrophe erforderlich. Befände sich ein Reaktor inmitten einer chaotischen, umkämpften Zone, gäbe es wahrscheinlich noch nicht einmal Ersthelfer*innen, die den radioaktiven Fallout eindämmen könnten und die aus Angst vor Schüssen und Bombardierungen eher fliehen würden.
Kraftwerke werden in modernen Konflikten häufig zur Zielscheibe, da ihre Zerstörung die Fähigkeit eines Landes beeinträchtigt, den Kampf fortzusetzen. Aber Atomreaktoren sind nicht wie andere Energiequellen. Sie enthalten enorme Mengen an radioaktivem Material, das auf unterschiedlichste Weise freigesetzt werden kann. Grundsätzlich fallen Atomkraftwerke nach der Genfer Konvention (Art. 56, Abs. 1, S. 1 des 1. Zusatzprotokolls) unter den besonderen Schutz „gefährlicher Anlagen“ wie Staudämme, um die Zivilbevölkerung zu schützen. Da Atomkraftwerke immer auch Dual-use-Objekt sind, die der zivilen und militärischen Nutzung zeitgleich dienen, konnten sich die Vertragsparteien in den 70-er Jahren nicht darauf einigen, Atomkraftwerke grundsätzlich aus Kriegshandlungen herauszunehmen.
Im Art. 56 des 1. Zusatzprotokolls der Genfer Konvention wird in Absatz 2 das Verbot eines Angriffes auf Atomanlagen teilweise wieder eingeschränkt. Es heißt dort: „Wenn sie elektrischen Strom zur regelmäßigen, bedeutenden und unmittelbaren Unterstützung von Kriegshandlungen liefern und wenn ein solcher Angriff das einzige praktisch mögliche Mittel ist, um diese Unterstützung zu beenden.“ Prof. Dr. Norman Paech schreibt dazu: „Es gibt im Völkerrecht derzeit nur eine Regelung in der Haager Landkriegsordnung und dem ersten Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen, einen Ort als ‚unverteidigt‘ zu erklären. Er muss selbst demilitarisiert sein und darf dann nicht angegriffen werden.“
Im Völkerrecht gibt es bisher keine klaren Regelungen, was Abstands- und Sicherheitszonen betrifft. Es ist zu hoffen, dass dieser Krieg Anlass genug ist, diese Lücke im Völkerrecht zu füllen. Dringend notwendig ist, dass sich die russischen Truppen um die Atomanlagen zurückziehen und diese zum Schutz der Zivilbevölkerung zu vollständig entmilitarisierten Zonen werden. Eine erneute Reaktorkatastrophe wie in Tschernobyl oder Fukushima ist jederzeit möglich. Mit jedem Tag, den der Ukrainekrieg andauert, steigt die rein statistische Wahrscheinlichkeit, dass es zu einer nuklearen Katastrophe kommt.
Weiterlesen: Internationales IPPNWBriefing: „Am Rande einer humanitären Katastrophe“ – ippnw.de/bit/briefing Völkerrechtsblog: „Wie sind Atomkraftwerke im Krieg durch das Recht geschützt?“ – ippnw.de/bit/vb
Ute Rippel-Lau ist Mitglied des Vorstandes der deutschen IPPNW.