UKRAINEKRIEG
Atomanlagen im Ukrainekrieg Mit jedem Kriegstag steigt die Wahrscheinlichkeit einer atomaren Katastrophe
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m 26. April 2022, dem Jahrestag der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl besuchte der Direktor der IAEO Rafael Mariano Grossi die Anlage des havarierten Kraftwerksblocks, der inzwischen von einem Sarkophag ummantelt ist. Vor 36 Jahren hatte sich der bis dahin größte Reaktorunfall in der Geschichte der Atomenergie ereignet. Durch einen misslungenen Versuch war es zu einer unkontrollierten Kettenreaktion, dann zu einer Kernschmelze und zu einer Explosion des Reaktordaches gekommen. Das im Reaktor als Moderator befindliche Graphit mitsamt den freigewordenen Radionukliden brannte elf Tage, so dass große Gebiete in der Ukraine, in Belarus und in Russland sowie in Europa radioaktiv kontaminiert wurden. Seit dem Jahr 2000 ist auch der letzte Kraftwerksblock von Tschernobyl stillgelegt. Auf dem Gelände werden die abgebrannten Kernbrennstäbe der drei stillgelegten Reaktorblöcke in oberirdischen Abklingbecken gelagert und müssen weiter gewartet werden. In den Bodenschichten der Sperrzone befinden sich außerdem langlebige Radionuklide wie Plutonium 239 und Plutonium 240, die durch Truppenbewegungen mit schweren Fahrzeugen oder durch Artilleriebeschuss freigesetzt werden können. Russische Truppen hatten gleich zu Beginn des Ukrainekrieges die Atomruine von Tschernobyl eingenommen und die Sperrzone besetzt. Satellitenbildern zufolge hatten russische Soldaten ohne jede
Schutzausrüstung in der Sperrzone Schützengräben ausgehoben. Eine Verstrahlung der Soldaten wird aufgrund der radioaktiven Bodenbelastung vermutet. Zeitweilig wurden in der Umgebung erhöhte Strahlenwerte gemessen, ein Hinweis auf das Aufwirbeln von radioaktivem Staub durch die Militäraktion.
tan nur zwei Reaktorblöcke im Betrieb. Am 2. März 2022 wurde das AKW bei Kampfhandlungen von russischen Truppen beschossen. Es kam zum Brand in einem Schulungsgebäude, zu Schäden am Reaktorgebäude 1 und in einem Trockenlager für abgebrannte Brennelemente. Radioaktivität war nicht ausgetreten.
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In der Ukraine decken 15 Reaktorblöcke an vier Standorten circa 50 Prozent des Strombedarfs des Landes. Knapp die Hälfte davon sind im Moment in Betrieb.
ie Sicherheitslage infolge der vierwöchigen Besatzung durch die russischen Truppen war prekär: Der Schichtbetrieb kam zum Erliegen. Die Arbeiter*innen waren fast vier Wochen ununterbrochen im Dienst, wichtige Instandhaltungsarbeiten wurden nicht durchgeführt. Zeitweilig mussten sogar Notstromaggregate anspringen, da die Atomruine vom Stromnetz abgekoppelt war. In der Zeit der Besatzung gab es über einen Monat keinen Kontakt zwischen der ukrainischen Aufsichtsbehörde und der IAEO. Dieser konnte jetzt wiederhergestellt werden. Nachdem die russischen Truppen von dort abgezogen waren, reiste Grossi mit seinem Team an, um sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen. „Ich weiß nicht, ob wir kurz vor einer Katastrophe standen, aber die Situation war absolut anormal und sehr, sehr gefährlich“, so der IAEO-Direktor. Das Atomkraftwerk Saporischja in der Ostukraine ist mit seinen sechs Reaktorblöcken und einer Kapazität von 5700 MW das größte Europas und befindet sich seit Anfang März unter Kontrolle des russischen Militärs. Wegen beschädigter Stromversorgungsleitungen sind momen28
Gab es schon Angriffe auf Atomkraftwerke? Krieg in einem Land mit laufenden Atomreaktoren ist ein Novum und ein Tabubruch. Am 7. Juni 1981 zerstörten israelische Jagdbomber das irakische Atomkraftwerk Osirak. Es war der erste Angriff in der Geschichte auf einen Atomreaktor. Während des iranisch-irakischen Krieges bombardierte der Irak mehrfach den iranischen Reaktor in Busher. In all diesen Fällen befanden sich die Anlagen noch im Bau und sie enthielten noch kein spaltbares Material. Ein Angriff auf ein im Betrieb befindliches Atomkraftwerk fand bisher noch nie statt, da es auch für einen Angreifer unkalkulierbare Risiken birgt.
Wie gefährdet sind Atomanlagen in einem Krieg? Dennoch warnte Grossi vor Kurzem: „Der militärische Konflikt bringt die Atomkraftwerke der Ukraine und andere Ein-
Foto: Urbex Hungary / CC BY 2.0
DIE AKW-RUINE VON TSCHERNOBYL (2018)