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Feindbilder und Kriegslogik
Ein Beitrag zur psychosozialen Dimension
Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist erneut Krieg ausgebrochen – diesmal wieder auf europäischem Boden. Je länger der Krieg dauert, desto komplexer werden politische Antworten, ob friedenspolitische oder militärlogische. Zwar ist der Exit aus Afghanistan erst ein dreiviertel Jahr her, doch schon wird erneut die Macht der Stärke heraufbeschworen, werden militärische Aufrüstung und Waffenlieferungen eingefordert.
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Dieser Beitrag ist eine Erinnerung an die psychosozialen Funktionen des Krieges, wie sie unter anderem von dem Psychoanalytiker Stavros Mentzos (1930–2015) dargelegt wurden.
1. Feindbilder aufbauen:
Zuvorderst werden Feindbilder geschaffen, Dämonen an die Wand gemalt. Feindbilder werden meist von allen Seiten bedient. Es geht darum, andere zu entmenschlichen, das Antlitz der Anderen auszulöschen, sie als Persönlichkeiten zu negieren. Diese beklemmende Logik finden wir bei allen politischen Verfolgungen, bei der Ausgrenzung ethnischer oder religiöser Gruppen, aber auch bei internationalen Schuldzuweisungen (wie „den Russen“ oder „der Achse des Bösen“).
Beispiele:
» Der deutsche Bundespräsident wird wegen seiner fehlenden Russlandfeindlichkeit selbst zur Zielscheibe – er wird von der Ukraine wieder ausgeladen.
» Ein russischer Patient, der wegen einer schweren Depression in Behandlung ist, fordert von seiner Therapeutin eine klare Positionierung für Russland. Nachdem dies nicht geschieht, beendet der Patient wütend die Therapie, die er aber wegen seiner seelischen Probleme dringend weiter bräuchte.
» Niemand im Westen will den Krieg. Trotzdem fallen verschiedene Parteien übereinander her, zum Teil mit verächtlichem Spott und Abwertung. Russische Musiker werden mit einem Auftrittsverbot im Westen belegt.
2. Wash-Out der Werte:
„No animal shall kill any other animal.“ (Chapter 2) „No animal shall kill any other animal without a cause.“ (Chapter 8)
George Orwell: Animal Farm
Das grundsätzliche Tötungsverbot findet sich nicht nur in Art. 3 der Allgemeinen Menschenrechte als Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit wieder, sondern ist auch Kernelement allen religiösen Empfindens. Dennoch wird mit Begriffen wie Verteidigung von Demokratie und Freiheit, Sicherung der Handelswege oder Recht auf Selbstbestimmung militärische Gewalt erneut gerechtfertigt, hört man zusätzlich nationalistische Töne. Gemeinsam ist den Scharfmachern, dass das Tötungsverbot von anderen Geboten verdrängt wird. „The cause“ kann beliebig gedehnt werden, wie nicht nur die mediale Deutungsmacht in Russland bitter zeigt. In der „Schule der Nation“ bedarf es gezielter Propaganda und einer Synchronisierung des Gewissens, damit Soldat*innen bereit sind, in den Krieg zu ziehen. Tötungshemmungen müssen überwunden, das Über-Ich transformiert, biologische Versöhnungsmuster gelöscht werden. Diesen Prozess hat Yishai Sarid in seinem Roman „Siegerin“ beklemmend dargestellt. Werden Kriegsgräuel unmittelbar erlebt, können sie eine Verrohung bewirken, die „wie ein Schuss Heroin“ wirkt und den Rausch für weitere Gräueltaten absichert (so der Neuropsychologe Thomas Elbert in der SZ vom 09.04.2022). Oder das Resultat ist Traumatisierung. Doch wer will eher Opfer als Täter sein?
3. Heldentum und Katharsis:
„Krieg ist nicht der Vater aller Dinge, sondern ihr Verhinderer und Vernichter.“
Stavros Mentzos, Die psychosoziale Dimension des Krieges
Krieg löst Konflikte durch Unterwerfung und Zerstörung. Kompromissbildung und Kreativität sind Kriegsparteien fremd. Krieg ist nicht die Folge von Aggression, sondern Aggression ist das Instrument des Krieges. Menschen, die ungelöste Konflikte in sich tragen, sind anfällig dafür, diese Spannung nach außen abzuführen. Besonders kritisch wird es, wenn Freiheit/Selbstbestimmung oder Bindung/ Liebe fehlen, um eine Balance herzustellen. Interessenkonflikte können nicht als sachliche Widersprüche ausgehalten werden, sondern müssen in der Person des anderen vernichtet werden. Die Verdrängung von Mitgefühl und Mitleid steht im Vordergrund.
Tierschicksale, Franz Marc (1913): „Die Bäume zeigten ihre Ringe, die Tiere ihre Adern“, so untertitelte der Maler das Bild.
Der Maler Franz Marc (1880–1916) zum Beispiel hat sich noch vor Ausbruch des ersten Weltkrieges zunächst glorifizierend mit einem erlösenden Heldentum auseinandergesetzt. Im Kampf würden alle Konflikte aufgelöst, Europa gereinigt. Auf dem großformatigen Gemälde „Tierschicksale“ von 1913 zucken rote Blitze wie Artilleriefeuer. Im Fokus steht ein blaues Reh, Symbol für die Unschuld der ganzen Tierwelt. Als Soldat war Marc bald angewidert von den Gräueltaten, die er erlebte. 1916 fiel er bei Verdun herumfliegenden Granatsplittern zum Opfer.
4. Ziel von Kriegen sind vorrangig wirtschaftliche Großmachtinteressen.
Die narzisstischen Interessen von Machthabern sind kriegstreibend, nicht ihr Aggressionstrieb. Ökonomische und politische Vormachtstellung, Kampf um Rohstoffe und egoistisches Gewinnstreben bestimmen die Dynamik. Kriege werden nicht von den Hungrigen, sondern von den Reichen und Satten initiiert. Der Blick auf die ökonomischen Zusammenhänge droht in der Ukraine verloren zu gehen, stattdessen werden Angriffs-, Verteidigungs- oder Vernichtungsparadigmen in den Vordergrund gestellt. Nichtsdestotrotz begünstigen gerade patriarchale Gesellschaftsstrukturen die Militarisierung von Konflikten. Die hegemonialen Ansprüche der Machtelite finden Resonanz im „Fußvolk“ und in dessen Minderwertigkeitsgefühlen. Gesunde Schuld- und Schamgefühle werden um des eigenen Vorteils willen oder zugunsten eines selbstüberhöhenden Nationalbewusstseins verdrängt. Im Krieg wird alles erlaubt, was im Frieden sanktioniert ist: Gier, Neid und Rache; Rauben, Töten und Zerstören. Im Krieg schwingt man sich auf zum Herrn über Leben und Tod – narzisstische und patriarchale Allmachtsfantasien.
5. Friedenslogik statt Abschrekkungsdoktrin
Erschreckend viele Menschen haben nie gelernt, mit Konflikten, Widersprüchen und gegensätzlichen Interessen konstruktiv umzugehen, das heißt, verhandeln und Kompromisse eingehen zu können. Gewalt ist immer sekundär, Folge von Sprachlosigkeit. Die Sprache der Gewalt trägt die Narben von erlebter Gewalt, von Lieblosigkeit und Hilflosigkeit. Wer Gewalt anwendet, versucht eine passive in eine aktive Erfahrung zu transformieren – Täter statt Opfer zu sein, Identifikation mit dem Aggressor. Hass und Zorn wirken identitätsstiftend bei selbstunsicheren Menschen.
Um all dem entgegenzuwirken, brauchen wir stabile Institutionen, welche auf humanistischen und demokratischen Werten beruhen. Kompromissbildung und Akzeptanz müssen gelehrt und gelernt, Friedenslogik schon in der Schule eingeübt werden. Hierbei handelt es sich um langfristig angelegte Prozesse. Ob kurzfristig Waffenlieferungen zur Selbstverteidigung oder Milliardenangebote zur anderweitigen Befriedung des Konfliktes geboten sein können, vermag derzeit niemand mit Gewissheit zu beurteilen. Die Stärke der Friedensbewegung liegt darin, dass sie grundsätzliche Überzeugungen in schwierigen Konfliktlagen nicht einfach über den Haufen wirft. Damit Frieden und Sicherheit lebbar wird, brauchen wir die Orientierung an verlässlichen Werten. Verlässliche Friedensarbeit wiederum braucht endlich eine hoheitliche Finanzierung. Milliardeninvestitionen in aktive Friedenspolitik schaffen mit Sicherheit mehr Frieden als Milliarden in Aufrüstung.
Josef Raab ist IPPNW-Mitglied und aktiv in der Regionalgruppe München.