ENTERPRISE RESOURCE PLANNING
Standard oder massgeschneidert? Die Gretchenfrage bei der ERP-Auswahl
Berthold Wesseler
«N
ever change a running system», lautet eine uralte CIO-Devise. Dennoch kommt auf Dauer kein Unternehmen um die Modernisierung seines ERP-Systems herum. Sonst türmen sich irgendwann so grosse «technische Schulden» auf, dass als Radikalkur nur der Austausch des kompletten ERP-Systems bleibt – statt einer risikoärmeren und meistens auch kostengünstigeren schrittweisen Ergänzung und/oder Überarbeitung der vorhandenen Software. Technische Schulden entstehen, sobald bewusst oder unbewusst falsche oder suboptimale technische Entscheidungen getroffen werden. Die Gefahr ist gerade dann besonders gross, wenn ein ERP-System «super» läuft. Warum sollte man dann Änderungen vornehmen?
Auf zu neuen Ufern Werden aber notwendige Änderungen versäumt, führt das später immer zu Mehraufwand, der dann Weiterentwicklungen, Erweiterungen und die normale Wartung teurer macht als eigentlich nötig. Zu dem Zeitpunkt der falschen Entscheidung hat man also technische Schulden aufgenommen, die man mit ihren Zinsen irgendwann abbezahlen muss, falls man nicht irgendwann überschuldet im Chaos enden will. Die technischen Schulden zeigen sich z. B. in schlechtem Programm-Code mit der Folge von Test- und Wartungsproblemen, fehlender Dokumentation, mangelnder Benutzerfreundlichkeit, Skalierbarkeits- und/oder Performance-Problemen sowie in regelmäsIT business 2/2020
Berichte über spektakulär gescheiterte ERP-Projekte sorgen regelmässig für Schlagzeilen. Auch im Mittelstand führen ERPUmstellungen oft zu Problemen. Die Metall Zug Gruppe, Revlon, Haribo und Liqui Moly sind nur ein paar eklatante Beispiele von vielen; hier kam es zu Lieferengpässen, Umsatzeinbussen und Riesenstress für alle Mitarbeiter und Kunden. Das muss aber nicht sein, falls im Vorfeld die Gretchenfrage zu ERP-Systemen richtig beantwortet wird: Angepasste Standardsoftware oder massgeschneiderte Individuallösung? sig wiederkehrenden Hardware-Engpässen. Das Design der Programmpakete, Subsysteme und Module ist uneinheitlich, komplex und passt nicht mehr mit der geplanten Anwendungsarchitektur zusammen.
Keine technischen Schulden auftürmen Diese technischen Schulden sind durch einfaches Zählen nicht zu ermitteln und deshalb auch nur schwerer zu vermitteln. Diese Schulden können ERP-Hersteller ebenso auftürmen wie Mittelständler, die ihre Anwendungssysteme selbst entwickelt haben und in Eigenregie – vielleicht gemeinsam mit einem Systemhaus – betreiben. Gut geführte IT-Abteilungen bzw. Softwarehäuser vermeiden tunlichst, dass ihre technischen Schulden ausufern, und investieren deshalb regelmässig in die Modernisierung, Weiterentwicklung und Ergänzung ihrer ERP-Software. Allerdings ist selbst dann manchmal ein mehr oder weniger radikaler Schnitt notwendig, wie die Beispiele der Marktführer SAP, Microsoft und Oracle deutlich machen. So entstand bei SAP aus den Anfängen der «Standard-Anwendungs-Programmierung» in den 70er-Jahren über die Systeme R/2 und später R/3 das 2015 vorgestellte aktuelle System S/4 Hana. Microsoft, erst kurz nach der Jahrtausendwende über die Zukäufe von Axapta/Navision und Greatplains/Solomon Software in den ERP-Markt eingestiegen, hatte danach im Jahr 2003 mit dem Projekt «Green» die vollständige Neuentwicklung eines ERP-Systems angekündigt, sich aber
später wieder umentschieden und alle vier Systeme weiterentwickelt. Heute bietet Microsoft unter dem Dach der ERP-Produktfamilie mit Dynamics 365 deren cloudbasierte Weiterentwicklungen an. Und auch Oracle will seinen durch zahlreiche Firmenkäufe entstandenen Produkt-Zoo zusammenführen und hat zu diesem Zweck die Oracle ERP Cloud lanciert.
ERP-Oldtimer haben ausgedient Vergleichbare Initiativen gibt es auch bei den meisten mittelständischen ERP-Herstellern. Abacus, Bison, Comarch oder OPAG bieten ebensowenig «Oldtimer» aus den 80er-Jahren an wie die Gus Group, Opacc oder Soreco. Sie alle haben längst moderne Nachfolger für die Ära von «Cloud Computing», E-Commerce und «Mobile Business» entwickelt. Diese Entwicklungen der ERP-Hersteller werden natürlich nicht nur davon angetrieben, die technischen Schulden zu tilgen bzw. zu vermeiden. Sie investieren ihre Wartungseinnahmen in die Entwicklung völlig neuer Produkte, die der Kunde dann (nicht immer, aber in der Regel) neu erwerben muss; nur in Ausnahmefällen ist ein Umstieg im Rahmen des Wartungsvertrages möglich. Das sorgt immer wieder für Unmut bei den ERPKunden, die vom ERP-Hersteller verlangen, ihre Wartungsgebühren einzig und allein in die Tilgung der technischen Schulden ihrer Anwendungssysteme zu investieren. Nutzt das Unternehmen selbst entwickelte Software, gibt es diese Problematik nicht.
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