JMB Journal Nr. 11

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JMB

2014 / Nr. 11

+ INSIDE JMB Aktuelle Ausstellungen Preis f端r Verst辰ndigung und Toleranz Current Exhibitions Prize for Understanding and Tolerance

J端disches Museum Berlin / Jewish Museum Berlin

JOURNAL Micha Brumlik Inge G端nther Verena Schneider Amos Oz & Fania Oz-Salzberger Olga Mannheimer Rafiqa Younes Iris Blochel-Dittrich Sabine Haack & Marie Warburg Mirjam Bitter Ljudmila Belkin

ISSN 2195-7002

Daniela Schmid

Frauen Women



Editorial Editorial

Peter Schäfer, Direktor des Jüdischen Museums Berlin Peter Schäfer, Director, Jewish Museum Berlin

October 2014 marked the opening of our exhibition Snip it! Stances on Ritual Circumcision, which deals solely with men. In contrast, we are dedicating this issue of the JMB Journal to the other gender and are presenting you a wide variety of aspects on the subject of women. An article by Fania Oz-Salzberger and Amos Oz is about strong female figures in the Bible. Micha Brumlik has written about Regina Jonas, the first woman to be ordained as a rabbi, and shows that scholarly women have existed since antiquity. A very current report on women who are active in the Israeli peace movement and who in part identify themselves explicitly as feminists was contributed by Inge Günther. Verena Schneider deals with sexualized violence in war and areas of crisis, describing the problem that women are often victimized twofold: first by violence, and then by being forgotten. The two most clichéd images of the secular Jewish woman, the Yiddishe Mama, on the one hand, and the Jewish American Princess, on the other, are the subject of Olga Mannheimer’s article. Rafiqa Younes examines how the apparently antireligious concept of feminism fits together with Islam, and shows that a new exegesis of the Qur’an can offer alternative interpretations of Islam. Iris BlochelDittrich wonders about the role of women in Christian churches. Ljudmila Belkin describes her very personal path from orthodox Christianity to liberal Judaism. The profession of the shadchanit, or Jewish matchmaker, is explored by Daniela Schmid. Sabine Haack and Marie Warburg, both board members of the Friends and Supporters of the Jewish Museum Berlin, speak about women in professional life, feminism, and fundraising. Mirjam Bitter makes a case for genderneutral language, and the art of stumbling. As always, we hope you enjoy reading our new JMB Journal.

Im Oktober 2014 hat unsere Ausstellung „Haut ab! Haltungen zur rituellen Beschneidung“ eröffnet, in der es ausschließlich um Männer geht. Als Kontrast dazu widmen wir diese Ausgabe des JMB Journals dem anderen Geschlecht und stellen Ihnen ganz unterschiedliche Aspekte zum Thema „Frauen“ vor. Um starke Frauenfiguren in der Bibel geht es in einem Artikel von Fania Oz-Salzberger und Amos Oz. Micha Brumlik schreibt über die erste ordinierte Rabbinerin Regina Jonas und zeigt, dass schon aus der Antike gelehrte Frauen überliefert sind. Inge Günther stellt in einer ganz aktuellen Reportage Frauen vor, die in der israelischen Friedensbewegung aktiv sind und die sich zum Teil explizit als feministisch verstehen. Mit sexualisierter Gewalt in Kriegen und Krisengebieten befasst sich Verena Schneider und beschreibt das Problem, dass Frauen oft doppelte Opfer werden: zuerst der Gewalt, dann des Vergessens. Die zwei klischeehaftesten Ausprägungen der säkularen jüdischen Frau, nämlich einerseits die jiddische Mamme, andererseits die Jewish American Princess, thematisiert Olga Mannheimer. Rafiqa Younes untersucht, wie das scheinbar antireligiöse Konzept des Feminismus mit dem Islam zusammenpasst und zeigt, dass eine Neuauslegung des Korans alternative Interpretationen des Islam bieten kann. Iris Blochel-Dittrich fragt, wo die Frauen in den christlichen Kirchen bleiben. Ihren sehr persönlichen Weg vom orthodoxen Christentum zum liberalen Judentum beschreibt Ljudmila Belkin. Daniela Schmid stellt den Beruf der Schadchanit, der jüdischen Heiratsvermittlerin, vor. Sabine Haack und Marie Warburg, beide im Vorstand des Freundeskreises des Jüdischen Museums Berlin, sprechen über Frauen im Berufsleben, Feminismus und Fundraising. Und Mirjam Bitter hält ein Plädoyer für geschlechtergerechte Sprache und die Ästhetik des Stolperns. Bei der Lektüre unseres neuen JMB Journals wünschen wir Ihnen, wie immer, viel Freude.

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Weisheit Wisdom Regina Jonas (Berlin 1902 – Auschwitz 1944) war 1935 die weltweit erste Frau, die zur Rabbinerin ordiniert wurde. Von der Kanzel predigen durfte sie dennoch nicht. Eine kleine Geschichte emanzipierter Frauen im Judentum. In 1935, Regina Jonas (Berlin 1902—Auschwitz 1944) became the first woman in the world to be ordained a rabbi. She was still not allowed to preach from the pulpit. A glimpse into the history of emancipated women in Judaism.

Regina Jonas, 18. Februar 1936 Regina Jonas, 18 February 1936

8 S. / p. 11


Friedensbewegung Peace Movement Die Nashim be-Shahor, die Frauen in Schwarz, demonstrieren seit 26 Jahren jede Woche in Jerusalem. Nashim be-Shahor, the Women in Black, have protested in Jerusalem every week for twenty-six years.

Auf ganz unterschiedliche Weise zeigen Frauen in Israel ihren Widerstand gegen die Besatzung des Westjordanlandes: Sie demonstrieren stumm oder provozieren durch gezielte Aktionen. Manche dieser Gruppen freuen sich 체ber die Unterst체tzung von M채nnern, andere verstehen sich explizit als feministische Vereinigungen. Eine Reportage. Women in Israel protest the occupation of the West Bank in very different ways, whether demonstrating silently or carrying out deliberately provocative acts. Some of these groups welcome male support; others explicitly define themselves as feminists. A reportage.

8 S. / p. 15


Vergessene Opfer Forgotten Victims Die Fotoserie „Sonderbauten“ von Quintan Ana Wikswo entstand auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau. Quintan Ana Wikswo’s photo series Sonderbauten/The Special Block was made in the grounds of the former concentration camp Dachau.

Lange Zeit wurden sexuelle Ausbeutung, Objektivierung und Erniedrigung von Frauen als Begleiterscheinungen von Kriegen und Gewaltkonflikten angesehen. Nur langsam entwickelt sich ein Bewusstsein für diese spezifisch weibliche Opferperspektive. Über die andere Seite von Kriegen. For a long time, the sexual exploitation, objectification, and humiliation of women was regarded as little more than collateral damage in wars and violent conflicts. Public awareness of the victims’ specifically female perspective is only just beginning to grow. A report on the other side of wars.

8 S. / p. 19


Selbstbestimmung Self-determination Junge deutsche Aktivistinnen protestierten mit ihrer Kampagne MuslimaPride im Frühjahr 2013 vor der Wilmersdorfer Moschee gegen die Bevormundung durch die Gruppe FEMEN.

Islam und Frauenrechte oder gar Feminismus, das scheint ein unüberwindbarer Widerspruch. Dabei lässt sich durchaus die Herausbildung einer islamisch-feministischen Bewegung beobachten, die sich selbst als Teil der globalen Frauenbewegung betrachtet.

Spring 2013: With their MuslimaPride campaign, young German activists protest the FEMEN group’s patronizing stance in front of the Wilmersdorfer mosque.

Islam and women’s rights, even Islam and feminism—that may sound like a contradiction in terms. Yet at present, an Islamic feminist movement is emerging that defines itself as part of the global women’s movement.

8 S. / p. 46


Konversion Conversion Die Großmutter und die Tante der Autorin in der Küche, im Hintergrund die „Rote Ecke“ mit Heiligenikonen, Russland 1960er Jahre. The author’s grandmother and aunt in the kitchen; in the background is the “red corner” with its icons, Russia 1960s.

„An einem Sonntag stieß ich auf das Neue Testament meiner ukrainischen Großmutter. Mit der Erkenntnis, dass die Geschichten des Buches von einer Realität berichten, denn bloße Fantasy hätte meine Oma nie gelesen, flog ich unbedacht in die vierte Dimension des Glaubens ein.“ “One Sunday, I came across my Ukrainian grandmother Natasha’s New Testament. As soon as I realized that the stories in her book recounted a reality—grandma would never read mere fantasy—I hurtled into the fourth dimension of belief.”

8 S. / p. 60


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Editorial...................................................................................3

Editorial .................................................................................................... 3

Daten und Fakten...................................................................1 0

Facts and Figures .................................................................................. 1 0

Gelehrte Frauen. Regina Jonas und ihre Vorgängerinnen........1 1 Micha Brumlik

Learned Women: Regina Jonas and Her Predecessors.................1 1 Micha Brumlik

Freitag ist Pflichttag. Israelische Frauen für den Frieden ........1 5 Inge Günther

Friday is Mandatory: Israeli Women for Peace................................1 5 Inge Günther

Sexualisierte Gewalt in Kriegen und Krisen............................1 9 Verena Schneider

Sexualized Violence in Wars and Crises ...........................................1 9 Verena Schneider

Frauen mit Stimme.................................................................24 Amos Oz, Fania Oz-Salzberger

Vocal Women......................................................................................... 24 Amos Oz, Fania Oz-Salzberger

Die jüdische Frau. Ein Segen und eine Nervensäge. ...............4 4 Olga Mannheimer

The Jewish Woman: A Blessing and a Nag......................................4 4 Olga Mannheimer

Gibt es einen islamischen Feminismus? ..................................4 6 Rafiqa Younes

Is There an Islamic Feminism?...........................................................4 6 Rafiqa Younes

Kinder, Küche, Kirche? ..........................................................48 Iris Blochel-Dittrich

Children, Kitchen, Church? ................................................................ 48 Iris Blochel-Dittrich

Mädelbriefe ............................................................................51

Girls’ Letters .......................................................................................... 51

Wenn Du eine Frau wärst … Interview mit Sabine Haack und Marie Warburg ..................5 4

If You Were a Woman … Interview with Sabine Haack and Marie Warburg..........................5 4

Schöner stolpern ....................................................................58 Mirjam Bitter

The Art of Stumbling........................................................................... 58 Mirjam Bitter

Glaubensübergänge................................................................6 0 Ljudmila Belkin

Transitions of Faith .............................................................................. 6 0 Ljudmila Belkin

Schadchanit. Die weibliche Perspektive der Heiratsvermittlung ..................6 4 Daniela Schmid

Shadchanit: The Female Perspective on Marriage Brokerage ..........................6 4 Daniela Schmid

INSIDE JMB

Aktuelle Ausstellungen...........................................................28 Veranstaltungen .....................................................................32 Preis für Verständigung und Toleranz ....................................3 4 Direktion ...............................................................................36 Medien ..................................................................................38 Bildung ..................................................................................4 0 Vorschau................................................................................4 2

Current Exhibitions.............................................................................. 29 Events..................................................................................................... 33 Prize for Understanding and Tolerance...........................................35 Management ......................................................................................... 37 Media ...................................................................................................... 39 Education ............................................................................................... 41 Preview .................................................................................................. 4 2

Impressum © 2014, Stiftung Jüdisches Museum Berlin Herausgeber / Publisher: Stiftung Jüdisches Museum Berlin Redaktion / Editor: Mariette Franz, Christine Marth, Marie Naumann Email: publikationen@jmberlin.de Übersetzungen ins Englische / English Translations: Adam Blauhut (S. 11ff., 15ff., 31, 35, 39, 41, 54ff.), Allison Brown (S. 19ff., 29, 33, 35, 44f., 51ff., 58f., 64ff.), Kate Sturge (S. 42, 46f., 48ff., 60ff.) Übersetzungen ins Deutsche / German Translations: Michael Ebmeyer (S.36) Englisches Lektorat und Korrektorat / English Copy Editing and Proof Reading: Rebecca Schuman Gestaltung / Design: Eggers + Diaper Druck / Printed by: Medialis

Bildnachweis / Copyright: Wir danken dem Suhrkamp Verlag für die Abdruckgenehmigung des Textauszuges aus: Amos Oz und Fania Oz-Salzberger, „Juden und Worte“, S. 92–96. Aus dem Englischen von Eva-Maria Thimme. © Amos Oz und Fania Oz-Salzberger 2012. © der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2013. / We’d like to thank Yale University Press, New Haven & London, for the permission to publish an extract of the book Jews and Words by Amos Oz and Fania Oz-Salzberger, p. 71–75. © by Amos Oz and Fania Oz-Salzberger. Wir danken der / With many thanks to the Stiftung Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum, für die Abdruckgenehmigung aus den/ for the permission to publish parts of the Briefen der Kameraden. (Signatur: Bestand CJA, 1, 75 C Wa 1, Nr. 2, H 13204, Bl. 128-130).

Gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien. / Sponsored by the Federal Commissioner for Cultural and Media Affairs.

Cover: Joana Vasconcelos, Esther, 2012. (Fayance von Rafael Bordalo Pinheiro, mit Keramikglasur bemalt, mit azorianischer Spitze / Rafael Bordalo Pinheiro faience painted with ceramic glaze, Azores crocheted lace) / 14 x 50 x 67 cm. Courtesy Phoenix Capital Investments, Los Angeles, Photo credit: © Unidade Infinita Projectos. Wir danken der Künstlerin für die Bereitstellung des Bildes. / With many thanks to the artist for providing us with the image of her work.

Stiftung Jüdisches Museum Berlin Lindenstraße 9–14, D-10969 Berlin Tel.: +49 (0)30 25993 300, www.jmberlin.de

Falls Rechte (auch) bei anderen liegen sollten, werden die Inhaber gebeten, sich zu melden. Should rights (also) lie with others, please inform the publisher.

Abonnements und Bestellungen / Subscriptions and ordering Janine Lehmann, Tel.: +49 (0)30 25993 410, info@jmberlin.de

© Betül Ulusoy S. /p. 7, 46 © bpk / Hamburger Kunsthalle / Elke Walford S. /p. 49 © Centrum Judaicum S. /p. 4, 11 © DKJS/D.Ibovnik S. /p. 40 © Dmitrij Belkin S. /p. 63 © HBM/Bock-Schröder, Foto: Ingeborg Bock-Schröder, 25.09.2001 S. /p. 35 © Henning Christoph / Soul of Africa Museum S. /p. 28 © Ilja C. Hendel / BMF S. /p. 34 © Inge Günther S. /p. 17 © JMB, Foto: Anna Mirtschin S. /p. 30, 31 © JMB, Foto: Ernst Fesseler S. /p. 58, 59 © JMB, Foto: Jens Ziehe S. /p. 24, 26, 27, 29, 43, 65, 66 © JMB, Foto: Jule Roehr S. /p. 32, 33 © JMB, Foto: Svea Pietschmann S. /p. 41, 54, 56, 57 © JMB, Foto: Yves Sucksdorff S. /p. 3, 36 © Jüdisches Museum Hohenems S. /p. 44 © KNA-Bild S. /p. 48 © Larry Towell / Magnum Photos / Agentur Focus S. /p. 5, 15 © privat S. /p. 8, 60 © privat / WIB S. /p. 16 © Quintan Ana Wikswo, S. /p. 6, 19, 21 © ullstein bild – Gueffroy S. /p. 64 © Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt S. /p. 13

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Daten und Fakten Facts and Figures

Erste ordinierte Rabbinerin weltweit

Regina Jonas in Deutschland (1935)

Anzahl der Rabbinerinnen in Deutschland heute

5

Erste belegte Bat-Mizwa in Deutschland

1817

Erste belegte Bat-Mizwa in den USA

um 1907

Durchschnittlicher Stundenlohn (brutto) in Deutschland von Männern

19,84 €

Durchschnittlicher Stundenlohn (brutto) in Deutschland von Frauen

15,56 €

Hauptgründe für das geringere Durchschnittseinkommen von Frauen

Tätigkeit in schlechter bezahlten Berufen, mehr Teilzeitbeschäftigung, weniger Führungspositionen

Anteil der Frauen in der EU, die Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt wurden

33% (entspricht 62 Millionen)

Jahr, in dem der UN-Sicherheitsrat sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Frauen als Kriegswaffe einstufte

2008

Erstes Gebiet, in dem ein dauerhaftes Frauenwahlrecht eingeführt wurde

10

Pitcairn (Insel im Südpazifik und britische Kronkolonie) im Jahr 1838

Letztes westeuropäisches Land, in dem das Frauenwahlrecht eingeführt wurde

Liechtenstein im Jahr 1984

Professorinnen in Deutschland

20%

Professorinnen in den USA

23%

Professorinnen in der Türkei

40%

World’s first ordained female rabbi

Regina Jonas in Germany (1935)

Number of female rabbis in Germany today

5

First documented Bat Mitzvah in Germany

1817

First documented Bat Mitzvah in the United States

ca. 1907

Average hourly pay for men (before deductions), in Germany

€ 19.84

Average hourly pay for women (before deductions), in Germany

€ 15.56

Main reasons for women’s lower average income

Concentration in lower-paid occupations, more part-time work, fewer senior positions

Proportion of women in the European Union who have experienced physical or sexual violence

33% (= 62 million women)

Year in which the UN Security Council classified sexual violence against girls and women as a weapon of war

2008

First territory to introduce women’s suffrage permanently

Pitcairn Islands (a British crown colony in the South Pacific) in 1838

Last Western European country to introduce women’s suffrage

Liechtenstein in 1984

Female professors in Germany

20%

Female professors in the United States

23%

Female professors in Turkey

40%

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Gelehrte Frauen Regina Jonas und ihre Vorgängerinnen Learned Women Regina Jonas and Her Predecessors

Micha Brumlik

The oppression of women by patriarchal structures has been condemned not only in secular society, but also within the Jewish communities. This condemnation goes back further than the 1970s, when Sally Priesand was ordained a rabbi.1 Priesand was long considered the first female rabbi in Jewish history—until research carried out by the Berlin-based Protestant theologian Katharina von Kellenbach in the 1990s revealed that another woman, Regina Jonas, had been ordained a rabbi as early as 1935.2 Born in the Scheunenviertel neighborhood of Berlin in 1902, Jonas enrolled in the Berlin Academy of Jewish Studies in 1922 and graduated there in 1930— with Leo Baeck, among others, on her examination committee. Her thesis was entitled Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden? (“Can a Woman Hold the Office of Rabbi?”). After she had worked for several years as a traveling lecturer and a religion teacher, the Offenbach rabbi Max Dienemann finally agreed to ordain her in 1935. Nevertheless, as a female rabbi she faced many restrictions. After her ordination, she was permitted to lead religious festivals and celebrations in Berlin and even wear a robe and a biretta while doing so, but she was never allowed to preach from the pulpit or perform a wedding ceremony.3 Although Jonas had been ordained by a liberal rabbi, she did not regard herself as a feminist or a Reform Jew.4 Thus, in her thesis, she attempted to demonstrate the suitability of women for the office of rabbi not by citing liberal arguments, but by referring back to the halachic tradition, which she believed did not contain such a prohibition. In her thesis, Regina Jonas pointed out that Jewish women had long served as teachers and interpreters of the law, if not as rabbis. They included Asenath Barzani, a Kurdish Jewish woman who had lived in Mosul in present-day Iraq from 1590 to 1670, and had run the yeshiva of her father, Samuel Nathan HaLevi, as a tannait.5 Asenath was her father’s daughter in 1 Born into a conservative Jewish family in 1946, Priesand was sixteen when she decided that she wanted to be a rabbi. After initial difficulties, she was accepted as a student at Hebrew Union College in Cincinnati and finally ordained in 1972. See http://en.wikipedia.org/wiki/Sally_Priesand, retrieved August 21, 2014. 2 See Katharina von Kellenbach, “Fräulein Rabbiner Regina Jonas (1902–1944): Lehrerin, Seelsorgerin, Predigerin,” in Yearbook of the European Society of Women in Theological Research 2 (1994), 97–102. 3 Regina Jonas was sentenced by the Nazis to perform forced labor in the Lichtenberg district of Berlin in 1942 and deported to Theresienstadt with her mother that same year. On October 12, 1944, after the Allies had landed in Normandy, Regina Jonas was taken to Auschwitz and murdered there, probably in December. 4 See Elisa Klapheck, Regina Jonas: Die weltweit erste Rabbinerin. Berlin: Hentrich & Hentrich 2003. 5 See Renée Levine Melammed, “Barazani, Asenath,” Michael Berenbaum and Fred Skolnik, ed. Encyclopaedia Judaica, vol. 3, 2nd edition, Detroit: Macmillan 2007, 138.

Nicht nur in der säkularen Gesellschaft, sondern auch innerhalb jüdischer Gemeinden wird die durch patriarchalische Strukturen geprägte Unterdrückung von Frauen angeprangert. Und das nicht erst seit den 1970er Jahren, als Sally Priesand zur Rabbinerin ordiniert wurde.1 Lange Zeit galt sie als erste Rabbinerin in der jüdischen Geschichte. Allerdings nur, bis Forschungen der Berliner evangelischen Theologin Katharina von Kellenbach in den 1990er Jahren ergaben, dass schon 1935 eine Frau, nämlich Regina Jonas, Rabbinerin wurde.2 1902 im Berliner Scheunenviertel geboren, trat Jonas 1922 in die Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums ein, um dort 1930 – unter anderem von Leo Baeck geprüft – ihren Abschluss mit einer Arbeit zum Thema „Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?“ zu erlangen. Nach mehrjähriger Tätigkeit als Vortragsreisende und Religionslehrerin erklärte sich schließlich 1935 der Offenbacher Rabbiner Max Dienemann bereit, sie auch förmlich zu ordinieren. Einschränkungen gab es für die Rabbinerin dennoch: Nach ihrer Ordination durfte Regina Jonas zwar religiöse Feste und Feiern in Berlin leiten, dabei auch Talar und Barrett tragen, aber niemals von einer Kanzel predigen oder gar eine Trauung vornehmen.3 Obwohl von einem liberalen Rabbiner ordiniert, verstand sich Jonas selbst weder als Feministin noch als Reformjüdin.4 Entsprechend war sie in ihrer Abschlussarbeit bemüht, die Eignung von Frauen für das Rabbinatsamt nicht durch liberale Argumente, sondern durch Rückgriff auf die halachische Tradition zu begründen – die nach ihrer Überzeugung kein derartiges Verbot enthielt. Regina Jonas konnte in ihrer Qualifikationsarbeit aus dem Jahr 1930 darauf hinweisen, dass jüdische Frauen schon lange vorher, wenn nicht als Rabbinerinnen, so doch als Lehrerinnen und Gesetzesinterpretinnen bekannt waren. Dazu gehörte Asenat Barzani, eine jüdische Frau aus Kurdistan, die von 1590 bis 1670 in Mossul, im heutigen Irak, lebte und dort als Tannait die Jeschiwa ihres Vaters, Samuel Nathan HaLevi, leitete.5 Asenath Barzani war ganz und gar 1 1946 als Tochter einer konservativ-jüdischen Familie geboren, wollte Priesand schon mit sechzehn Jahren Rabbinerin werden. Nach einigem Hin und Her am Hebrew Union College in Cincinnati als Studentin angenommen, wurde sie schließlich 1972 ordiniert. Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Sally_Priesand, abgerufen am 21. August 2014. 2 Vgl. Katharina von Kellenbach: Fräulein Rabbiner Regina Jonas (1902–1944). Lehrerin, Seelsorgerin, Predigerin. In: Yearbook of the European Society of Women in Theological Research 2 (1994), S. 97-102. 3 Von den Nationalsozialisten in Berlin Lichtenberg 1942 zu Zwangsarbeit verurteilt, wurde sie im selben Jahr mit ihrer Mutter nach Theresienstadt deportiert. Am 12. Oktober 1944 – die Alliierten waren bereits in der Normandie gelandet – wurde Regina Jonas nach Auschwitz deportiert und dort wahrscheinlich im Dezember desselben Jahres ermordet. 4 Vgl. Elisa Klapheck, Regina Jonas. Die weltweit erste Rabbinerin, Berlin 2003. 5 Vgl. Renée Levine Melammed: Barazani, Asenath. In: Michael Berenbaum/ Fred Skolnik (Hg.): Encyclopaedia Judaica, Band 3, 2. Ausgabe, Detroit 2007, S.138.

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every way, and later in life remained grateful to him for instructing her in divine matters as soon as she could read and, above all, for formally releasing her in her marriage certificate from having to fulfill the traditional obligations of a Jewish housewife and mother. According to legend, she possessed magical powers. In the Hasidic movement there were also erudite women who performed the tasks normally assigned to rabbis—not legal transactions, but the art of scriptural interpretation. One example is Hannah Rachel Verbermacher (1805—1888), known as the “Maiden of Ludmir.”6 Verbermacher’s work is historically well established, and in 1840 a document was discovered in the St. Petersburg Archives referring to a “Jewish rabbanit Haya Rochel.” A gifted girl who lost her mother at an early age, she was only a teenager when she began fulfilling all the commandments—the mitzvot— traditionally reserved for men. Known for her erudition and charisma, she soon began accepting prayer request notes—until then the sole responsibility of male rabbis—and also presided over a tish, a ritual meal at which she presented her theological interpretations to guests. For reasons of chastity she did not show herself to the people gathered at her table, but sat behind a mechitza, or curtain. Her activities, which were unusual for a woman, disturbed and confused the Jewish community, and the Maggid of Chernobyl, Mordechai Twersky, convinced her to discontinue them. Later, Hanna Rachel emigrated to Ottoman Palestine, where she once again attracted a group of female followers, including Arab women. After her death, her grave became a pilgrimage site. Despite the fact that all the women mentioned above lived in the modern era, anyone who believes that the pursuit of scholarship and the performance of rabbinic duties by Jewish women is a phenomenon of modernity is mistaken. In fact, Jewish women took up the fight for equality in late antiquity, in an age when rabbinic Judaism was first developing7—a process in which women also played an important role. Moreover, the wealth of documentation from the Hellenistic period around two centuries earlier reveals that at this time women had equal status not only in individual cases, but also in everyday and festive liturgical life. 6 See Nathaniel Deutsch, The Maiden of Ludmir: A Jewish Holy Woman and Her World. Berkeley and Los Angeles: University of California Press 2003. 7 See Pnina Navè Levinson, Was wurde aus Saras Töchtern? Gütersloh: Güterloher Verlagshaus 1989.

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die Tochter ihres Vaters, dem sie noch Jahre später dafür dankbar war, dass er sie, sobald des Lesens kundig, in himmlischen Dingen unterrichtet hatte und sie – vor allem – in ihrer Heiratsurkunde förmlich davon befreit hatte, den traditionellen Pflichten einer jüdischen Hausfrau und Mutter nachgehen zu müssen. Die Legende dichtete ihr später magische Kräfte an. Sogar die chassidische Bewegung kennt gelehrte Frauen, die einem Rabbiner zukommende Aufgaben wahrnahmen – zwar keine Rechtsgeschäfte, wohl aber die Kunst der Schriftauslegung. So etwa Hanna Rochel Verbermacher (1805–1888), die als „Jungfrau von Ludmir“ bekannt wurde.6 Ihr Wirken ist historisch bestens belegt, und 1840 wurde in Petersburger Archiven ein Dokument gefunden, das eine „jüdische Rabbanit Haya Rochel“ bezeugt. Begabt und früh ohne Mutter, begann sie schon als Jugendliche all jene Gebote, all jene Mizwot zu erfüllen, die traditionell ausschließlich Männern vorbehalten waren. Ob ihrer Gelehrsamkeit und ihres Charismas bekannt, nahm sie bald – was bis dahin nur Rabbiner taten – schriftliche Anfragen entgegen und unterhielt zudem einen Tisch, d.h. eine rituelle Mahlzeit, bei der sie den Gästen theologische Auslegungen mitteilte. Aus Gründen der Keuschheit war sie den Gästen an ihrem Tisch freilich nicht sichtbar, sondern saß hinter einem Vorhang, einer Mechizah. Gleichwohl verstörte und irritierte ihre Tätigkeit die jüdische Gemeinschaft, und der Maggid von Tschernobyl, Moshe Twersky brachte sie von diesen für eine Frau ungewöhnlichen Tätigkeiten ab. Später emigrierte Hanna Rochel in das damals osmanische Palästina, wo sie wieder eine Reihe von Anhängerinnen, darunter auch arabische Frauen, um sich scharte. Nach ihrem Tod wurde ihr Grab zu einer Pilgerstätte. Wer nun freilich meint, dass das Streben jüdischer Frauen nach Gelehrsamkeit und rabbinischen Taten ein Phänomen der Moderne sei – schließlich lebten alle erwähnten Frauen in Neuzeit und Moderne – irrt. Tatsächlich nahmen jüdische Frauen den Kampf um Gleichberechtigung schon seit der späten Antike, in der Zeit des entstehenden rabbinischen Judentums auf.7 So spielten Frauen auch und gerade in der Formation des rabbinischen Judentums eine bedeutende Rolle – und die historisch gut verbürgte, mindestens zwei Jahrhunderte früher anzusiedelnde hellenistische Periode zeigt, dass Frauen nicht 6 Vgl. Nathaniel Deutsch, The Maiden of Ludmir. A Jewish Holy Woman and Her World, Berkeley/Los Angeles 2003. 7 Vgl. Pnina Navè Levinson, Was wurde aus Saras Töchtern?, Gütersloh 1989.


Die Darmstädter PessachHaggada aus dem späten 13. Jahrhunderts zeigt Frauen beim Studium. The Darmstadt Pesach Haggadah (late thirteenth century) shows women studying.

Hellenistic Judaism, to which emerging Christianity was linked, came to an end no later than the third century. A large number of communities became Christian in one form or another, and those that did not have the desire or were unable to do so adopted the rabbinic form of Judaism evolving in Palestine and Persia—a form of Judaism that, analogous to the Christianity of the Orthodox and Catholic Church Fathers, was taking shape as a patriarchal religion. What was the role of women in this patriarchal religion, founded on a kind of intellectual aristocracy? The names listed in the Talmud undoubtedly point to an overwhelming majority of men, but here, too, we find hints at the involvement of women. Yalta is one woman mentioned by name.8 The wife of Rabbi Nachman and the daughter of a Jewish community leader living in Babylon in the late third century, Yalta became known as a combative critic of the ultra-Orthodox rabbis who ostracized women from society on the basis of the purity laws.9 She openly questioned the rabbis about her period, and asked them to determine whether it was menstrual blood in every case—the sole reason for refraining from sexual intercourse. Among other things, she pointed out to the famous Rabbi Nachman: “Observe, for everything that the Divine Law has forbidden us it has permitted us an equivalent: it has forbidden us blood but it has permitted us liver; it has forbidden us intercourse during menstruation but it has permitted us the blood of purification … it has forbidden us the married woman but it has permitted us the divorcee during the lifetime of her former husband; it has forbidden us the brother’s wife but it has permitted us the levirate marriage; it has forbidden us the non-Jewess but it has permitted us the beautiful woman [taken in war]. I wish to eat flesh in milk, [where is its equivalent?]”10 Of course, statements such as these by individual women did not lead to any significant amendment of rabbinic law, but it is striking that, with Yalta, a woman is introduced into the discourse who at first glance appears to contradict all the ideals of a civilized, restrained lifestyle focused solely on learning. Yalta behaves irascibly and in uncontrolled fashion, and puts her obvious intelligence in the service of a sophistry whose purpose is to undermine existing customs.

nur in Einzelfällen, sondern auch im all- und festtäglichen liturgischen Leben gleichberechtigt waren. Spätestens im dritten Jahrhundert ging das hellenistische Judentum, an welches das entstehende Christentum anschließen konnte, seinem Ende entgegen. Während ein großer Teil der Gemeinden in der einen oder anderen Form christlich wurde, nahmen jene, die das weder wollten noch konnten, nun die in Palästina und in Persien entstehende rabbinische Form des Judentums an – ein Judentum, das sich analog zum Christentum der orthodoxen oder katholischen Kirchenväter als eine patriarchalische Religion konstituierte. Wie war es in dieser geistesaristokratischen, patriarchalen Religion um die Rolle der Frauen bestellt? Unzweifelhaft verweisen die im Talmud aufgeführten Namen auf eine überwältigende Anzahl von Männern – und doch haben sich auch hier Hinweise auf weibliche Weise gehalten. Namentlich bekannt ist unter anderem Jalta.8 Die Tochter eines im späten dritten Jahrhundert in Babylon lebenden Gemeindeoberhaupts und Gemahlin von Rabbi Nachman wurde als streitlustige Kritikerin ultraorthodoxer und Frauen aufgrund der Reinheitsvorschriften aus der Gesellschaft ausgrenzender Rabbiner bekannt.9 Jalta unterbreitete Rabbinern offen Fragen über ihre Blutungen und ließ feststellen, ob es sich in jedem Fall um Menstruationsblut handele, war doch nur dieses Grund dafür, den Sexualverkehr zu unterlassen. Sie hielt dem berühmten Rabbi Nachman unter anderem entgegen: „Beachte, dass die Tora uns für alles Verbotene einen Ausgleich gestattet: Wir dürfen kein Blut essen, aber Leber ist erlaubt. Wir haben

8 Ibid., 90f. 9 Harry Freedman: „Yalta.“ In: Encyclopaedia Judaica, vol. 16, Jerusalem: Keter-Publ. House n.d., C. 710. 10 bChullin 109b.

8 Ebd., S. 90f. 9 Harry Freedman: Yalta. In: Encyclopaedia Judaica, Bd. 16, Jerusalem o.J., Sp. 710.

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The references to a rudimentary rabbinical respect shown to individual women can of course not eliminate the suspicion that discrimination against women due to their supposed special corporeality is typical of the Jewish religion—and that it was rooted not exclusively in the purity laws in the Old Testament, which impose upon women the obligation to withdraw from public life during menstruation and to undergo a purification ceremony afterward. The scholars who founded rabbinic Judaism in Persia and the Roman province of Palestine (formerly Judea) between the second and the sixth century were men who expressed themselves quite clearly and radically on matters of sexuality and marriage. By today’s standards, their pronouncements were more or less misogynistic, like those of their contemporaries, the Church Fathers, and those of the founder of Islam, Muhammad, and the first caliphs two hundred years later. All three religions that emerged in late antiquity— rabbinic Judaism, Christianity, and Islam—are distinguished not only by their monotheism and their high moral sensibility, but unfortunately also by the fact that they were essentially patriarchal and often enough hostile to women, if not ways to sexuality. Micha Brumlik is professor emeritus of Education at the Goethe University of Frankfurt/Main, where he was director of the Fritz Bauer Institute for the Study and Documentation of the History of the Holocaust from October 2000 to 2005. Since autumn of 2013 he is Senior Advisor at the Center for Jewish Studies Berlin-Brandenburg.

keinen Verkehr während der Menstruation, aber nach der Geburt [...] Der Verkehr mit einer Verheirateten ist verboten, aber mit einer Geschiedenen zu Lebzeiten des früheren Mannes erlaubt. Die Brudersfrau ist verboten, aber die Ehe mit seiner Witwe erlaubt. Nichtjüdinnen sind verboten, aber die schöne Kriegsgefangene ist erlaubt. Ich habe Appetit auf Fleisch mit Milch – wo ist der Ausgleich?“10 Selbstverständlich haben derlei Einlassungen einzelner Frauen nicht zu einer wesentlichen Änderung der rabbinischen Legislation geführt – auffällig ist gleichwohl, dass mit Jalta eine Frau in den Diskurs eingeführt wird, die auf den ersten Blick allen Idealen eines gesitteten, beherrschten, alleine aufs Lernen ausgerichteten Lebens zu widersprechen scheint: Jalta verhält sich jähzornig und unkontrolliert und stellt ihren zweifelsohne vorhandenen Scharfsinn vermeintlich in den Dienst einer Rabulistik, die auf die Aushöhlung der bestehenden Sitte zielt. Die Hinweise auf eine in Ansätzen vorhandene rabbinische Hochachtung vor einzelnen Frauen kann freilich den Verdacht nicht tilgen, dass eine Diskriminierung von Frauen aufgrund ihrer angeblich besonderen Körperlichkeit für die jüdische Religion typisch ist, nicht nur wegen der bereits im Alten Testament erwähnten „Reinheitsgebote“, die es Frauen auferlegen sich in den Tagen ihrer Menstruation aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen und sich anschließend einer Reinigungszeremonie zu unterziehen. Jene Gelehrten, die zwischen dem zweiten und dem sechsten Jahrhundert in der römischen Provinz Palästina, vormals Judäa, und in Persien das rabbinische Judentum gründeten, waren Männer, die sich deutlich und drastisch zu Fragen von Sexualität und Ehe äußerten – nach heutigen Begriffen mehr oder minder frauenfeindlich, ganz wie ihre Zeitgenossen, die Kirchenväter – und um zweihundert Jahre versetzt – die Gründer des Islam, Mohammed und die ersten Kalifen. Alle drei in der späten Antike entstandenen Religionen – rabbinisches Judentum, Christentum und Islam – zeichnen sich nicht nur durch ihren Monotheismus und ihre hohe moralische Sensibilität, sondern leider auch dadurch aus, dass sie grundsätzlich patriarchalisch und oft genug frauen-, wenn auch nicht immer sexualfeindlich waren. Micha Brumlik, emeritierter Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaften an der Johann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt am Main, leitete dort von 2000 bis 2005 das Fritz Bauer Institut, Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust. Seit Herbst 2013 ist er Senior Advisor am Zentrum Jüdische Studien BerlinBrandburg. 10 bChullin 109 b.

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Friday is Mandatory Israeli Women for Peace Freitag ist Pflichttag Israelische Frauen für den Frieden

Inge Günther

Ihre Farbe ist schwarz, ihr Symbol eine hochgehobene Hand. „Stop the Occupation.“ Mehr steht auf den Pappschildern in Hebräisch, Arabisch und Englisch nicht, die zumeist ältere Damen bei ihrer Mahnwache hochrecken. Um sie herum staut sich der Verkehr an diversen Ampeln. Der Paris Square, nur wenige hundert Meter von der israelischen Premierresidenz entfernt, ist eine der meistbefahrenen Straßenkreuzungen in Jerusalem. Dort demonstrieren sie unerschütterlich jeden Freitagmittag mit ihren handgemalten Stoppzeichen gegen die Besetzung der Palästinensergebiete. Schweigend, ohne ein Wort. An dieses Prinzip halten sich die Nashim be-Shahor, die Frauen in Schwarz, schon seit 26 Jahren, Woche für Woche, bei brütender Hitze wie bei strömendem Regen. „Unsere Stimme ist stumm“, sagt Tamar Lehahn, „aber gerade das hebt unsere Aussage hervor.“ Auf beleidigende Rufe wie „ihr Verräter“, die ihnen schon mal aus offenen Autofenstern zufliegen, wird nicht reagiert. An ihrer Überzeugung, die Lehahn mit ihren Mitstreiterinnen teilt, ist eh nicht zu rütteln. „Israel wird erst in Frieden leben können, wenn es sich in die Grenzen von 1967 zurückzieht“, sagt die 72-Jährige beim Treffen in einem Café im West-Jerusalemer Vorort Ein Kerem, wo die Textil-Designerin mit ihrem Mann lebt. Der kommt gelegentlich zu den wöchentlichen Protesten auch mit. Männliche Unterstützer sind den Frauen in Schwarz durchaus willkommen. „Bei uns kann jeder mitmachen, ob religiös oder säkular, solange er an gleiche Menschenrechte für alle glaubt“, betont Lehahn. Dennoch legen die Nashim be-Shahor Wert darauf, in erster Linie eine Frauenorganisation zu sein. Einige verstehen sich als Feministinnen, andere wie Lehahn überhaupt nicht. „Auch wenn unsere Ideen sehr feministisch klingen“, räumt sie lächelnd ein. Alles begann im Januar 1988, einen Monat nach Ausbruch der ersten Intifada. Frauen in anderen israelischen Städten taten es ihnen bald nach. Als Inspiration dienten die Black-SashWomen in Südafrika, sechs weiße Mittelschichtfrauen, die aus Protest gegen das Apartheid-Regime mit schwarzen Armbinden auf die Straße gingen. Ein weiteres Vorbild waren die Madres de Plaza de Mayo in Buenos Aires, die auf ähnliche Weise auf das Verschwinden von 30.000 Argentiniern aufmerksam machten. Tamar Lehahn sagt, sie sei schon „vom siebten Tag des Sechs-Tage-Krieges an“ gegen die Besatzung gewesen. „Damals war ich noch ein verträumtes Ding. Aber als ich den Leuten zuhörte, wie sie die Einnahme der palästinensischen Gebiete als göttliche Fügung hinstellten, begriff ich, dass das auf nichts Gutes hinausläuft.“ Heute ist sie noch viel pessimistischer als damals. „Die Siedler denken, das sei ihr Zuhause, und die Regierung glaubt, alle Probleme lassen sich durch die Macht der Armee lösen.“ Plagen sie nicht mitunter Zweifel, ob es

Their color is black and the symbol they use is a raised hand. “Stop the Occupation,” printed in Hebrew, Arabic, and English, is all that can be seen on the cardboard signs that the mostly elderly women hold in the air on their vigil. Cars are at a standstill at the traffic lights all around them. Paris Square, just a few hundred yards from the Israeli prime minister’s residence, is one of the busiest intersections in Jerusalem. Every Friday afternoon the women stoically demonstrate here with their hand-painted “Stop” signs to end the occupation of the Palestinian territories. And they do so in silence— a principle to which the Nashim be-Shahor, or Women in Black, have been adhering for twenty-six years, week after week, in both sweltering heat and pouring rain. “Our voices are mute,” says Tamar Lehahn, “but our muteness only adds emphasis to our message.” The insulting shouts of “You traitors!” occasionally flung at them from open car windows elicit no response. Nothing can shake the conviction that Lehahn shares with her fellow activists. “Israel will be able to live in peace only if it withdraws to the 1967 borders,” says the seventy-two-year-old textile designer at a cafe in the West Jerusalem suburb of Ein Kerem, where she lives with her husband. He sometimes takes part in the weekly protests as well. The Women in Black welcome male supporters. “Everyone can participate, whether they’re religious or secular, as long as they believe in equal human rights for all,” emphasizes Lehahn. Nevertheless, the Nashim be-Shahor attach importance to being mainly a women’s organization. Some regard themselves as feminists; others, like Lehahn, do not—“even if our ideas sound very feminist,” she says with a smile. It all began in January 1988, one month after the outbreak of the first Intifada. Women in other Israeli cities soon followed suit. Inspiration came from the Black Sash Women in South Africa, six white middle-class women who draped themselves in black sashes and took to the streets to protest the apartheid regime. Another role model was the Madres de Plaza de Mayo in Buenos Aires, who used similar methods to call attention to the disappearance of 30,000 Argentines. Lehahn says she was against the occupation “from the seventh day of the Six-Day War.” As she explains, “At the time I was just a dreamy young woman, but when I listened to the people describing the capture of the Palestinian territories as an example of divine

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Tamar Lehahn von den Nashim be-Shahor Tamar Lehahn of Nashim be-Shahor

noch sinnvoll ist, sich mit ein, zwei Dutzend Frauen schweigend an eine lärmige Verkehrskreuzung mit ein paar Protestschildern zu stellen? „Na hören Sie“, erwidert Lehahn da. „Freitag ist Pflichttag, das ist keine Belastung, sondern ein Muss.“ Ohne hohe Frusttoleranz kommen auch die 250 Frauen von Machsom Watch nicht aus. Sie passen auf, was an den Militärcheckpoints im Westjordanland geschieht (hebräisch Machsom). Zum Beispiel in Kalandia, dem Nadelöhr zwischen Ramallah und Jerusalem, das Palästinenser nur nach akribischer Kontrolle und Vorlage einer israelischen Identitätskarte oder Sondererlaubnis passieren können. An diesem Sonntag ist die Abfertigung besonders schleppend, notiert Roni Hammermann, eine der Gründerinnen von Machsom Watch, in ihr Büchlein. Stoßstange an Stoßstange drängen sich die Autos in schier endloser Warteschleife. Die Stimmung ist gereizt, seit dem Gaza-Krieg noch mehr als gewöhnlich. Auch die drei Machsom-Frauen bekommen das zu spüren, als palästinensische Jungs aus dem Flüchtlingslager Kalandia sie weglocken, hinter den Sperrwall, um sie dort mit Steinwürfen zu traktieren. Einer trifft die 74-jährige Hammermann im Rücken. So etwas ist ihr in all den Jahren, in denen sie zu den Checkpoints geht, noch nie passiert. Die meisten Palästinenser schätzen Machsom Watch als Anlaufstelle, wo sie Beistand finden und wo ihre Klagen etwa über die Arroganz oder die Willkür mancher Soldaten ernst genommen werden. Sichtlich mitgenommen hockt Roni Hammermann in der Wartehalle mit dem Drehkreuz zur Kontrolle der Fußgänger. „Wenn ich der ganzen Sache müde bin“, sagt die pensionierte Bibliothekarin leise, „höre ich meinen Großvater, der nach Auschwitz deportiert wurde. Der hat mir ein Testament hinterlassen: ,Wann immer Unrecht in deiner Umgebung passiert, berichte darüber.‘“ Hammermanns Motiv, bei Machsom Watch weiterzumachen, beschreibt zugleich das Selbstverständnis ihrer Organisation. Nur die Schikanen an den Checkpoints zu dokumentieren, ohne selber groß helfen zu können, ist nicht allen Aktivistinnen genug. Viele empfinden ein starkes Bedürfnis zu intervenieren. „Aber ich bin nicht dafür, zum Oberkommandanten zu gehen und ein Schattendach zu fordern“, sagt Hammermann. „Wir sind in erster Linie Staatsbürgerinnen, die ein Recht darauf haben, zu wissen, was die Besatzung in unserem Namen anrichtet. Wir stehen an den Checkpoints aus Protest.“ Machsom Watch ist eine reine Frauenorganisation. Die Mitglieder sind ausschließlich israelisch und viele auch feministisch. „Das Prinzip Frauengesellschaft ist uns wichtig“, meint Hammermann, schon um deutlich zu machen, „dass wir überhaupt nichts mehr mit dem Militär zu tun haben.“ Im Unterschied zu den Männern müssen Frauen in Israel nach der Wehrpflicht keinen Reservedienst leisten. Die Armeezeit liegt bei den meisten

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intervention, I realized that nothing good would come of it.” Today she is much more pessimistic than she was back then. “The settlers think it’s their home, and the government thinks it can solve all the problems by military force.” Doesn’t she ever wonder whether there is still any sense in standing at a loud traffic intersection in Jerusalem with two dozen silent women and a few placards? “Look here,” replies Lehahn indignantly. “Friday is mandatory—it’s not a burden, it’s a must.” The 250 women from Machsom Watch require a similarly high tolerance for frustration. The organization observes activities at the military checkpoints (machsom in Hebrew) on the West Bank. One such checkpoint is located in Qalandia, the bottleneck between Ramallah and Jerusalem, where Palestinians are permitted to pass only after submitting to a meticulous inspection and presenting an Israeli identity card or a special permit. Progress this Sunday is particularly slow, as Roni Hammermann, one of Machsom Watch’s founders, notes in her booklet. The cars wait bumper-to-bumper in a seemingly endless line. The atmosphere is tense—and it has been tenser than usual since the start of the Gaza war. The three Machsom women are made to feel the brunt of it when Palestinian boys from the Qalandia refugee camp lure them behind the security wall and pelt them with stones. One hits Roni Hammermann, who is seventy-four, in the back. Nothing like this has ever happened to her in all the years she’s visited the checkpoints. Most Palestinians appreciate the work of Machsom Watch, seeing it as an organization that gives them support and takes seriously their complaints about the arrogance and despotism of some of the soldiers. Visibly upset, Hammermann sits in the waiting room containing the turnstile that is used to check the travelers going through on foot. “When I’m tired of the whole thing,” the retired librarian says quietly, “I hear the voice of my grandfather, who was deported to Auschwitz. He imposed an obligation on me: ‘Whenever injustice occurs in your surroundings, tell others about it.’” Hammermann’s motivation for continuing her work with Machsom Watch, reflects the organization’s mission. Merely documenting the harassment at the checkpoints without offering assistance is not enough for all the activists. Many feel a strong need to intervene. “But I’m not in favor of going to the chief commander and asking for a


Ilana Hammerman und ihre Kusine Roni Hammermann von Machsom Watch Ilana Hammerman and her cousin Roni Hammermann of Machsom Watch

Machsom-Frauen Jahrzehnte zurück. Stundenlang an Checkpoints auszuharren, kann sich in der Regel nur erlauben, wer Kindererziehung und berufliche Karriere hinter sich hat. „Aber unser Großmutterimage“, wie es Hammermann selbstironisch ausdrückt, kann ein Vorteil sein. „Die Soldaten hören in mir die Stimme ihrer Mutter oder Oma.“ Ein Faible für provokantere Aktionen hat ihre Kusine Ilana Hammerman, die mit nach Kalandia gekommen ist. Sie hat vor einigen Jahren mit Aktionen des zivilen Ungehorsams Aufsehen erregt, als sie palästinensische Frauen und Kinder in ihrem Auto aus dem Westjordanland schmuggelte, um mit ihnen einen Tag am Meer in Tel Aviv zu verbringen. Ganz bewusst hat die Herausgeberin eines Literaturmagazins dies anschließend in Haaretz publik gemacht. „Nur humanistisch handeln ist nicht genug“, sagt sie. „Ich wollte eine öffentliche Debatte über ungerechte Gesetze, die gezielt die Reisefreiheit von Palästinensern beschränken.“ Ihrer Initiative, Motto: „Wir gehorchen nicht“, schlossen sich eine Reihe Nachahmerinnen an. Die Polizei lud Ilana Hammerman dreimal vor. Zu einem Gerichtsverfahren kam es nicht. Die Behörden wollten der zivilcouragierten Rebellin offenbar nicht noch mehr Aufmerksamkeit verschaffen. Bitachon, die nationale Sicherheit, gilt in der israelischen Mehrheitsgesellschaft als Maxime, die man besser nicht in Frage stellt. Aber genau das und zwar ganz grundsätzlich tut die Gruppe New Profile, die ebenfalls wie Machsom Watch und Nashim be-Shahor zur „Koalition der Frauen für einen gerechten Frieden“ gehört. Ihr Name leitet sich ab von dem Militärprofil, das bei jeder Musterung angelegt wird und anhand dessen darüber entschieden wird, wer etwa das Format für eine Kampfeinheit hat. „Wir wollen das Profil der israelischen Gesellschaft verändern, weg von einem militärischen zu einem zivilen Profil“, beschreibt Rela Mazali das Anliegen der von ihr 1996 mitgegründeten Organisation. Hinter dem Begriff Bitachon verberge sich zu oft eine Politik, die sich auf Krieg und Konflikt stützt und damit, so Mazali, „dem Machterhalt jüdisch-aschkenasischer Männer der Mittelschicht dient.“ New Profile versteht sich ausdrücklich als feministische Bewegung. Und keine Frage, feministisch denkt in Israel nur eine kleine radikalkritische Minderheit. Eine Ausstellung über den militarisierten Alltag, die New Profile 2012 in Kooperation mit Universitäten initiierte, stieß allerdings auf großes Publikumsinteresse. Selbst die Reklame, wird dort gezeigt, nutzt die gesellschaftliche Wertschätzung der Armee: Etwa wenn eine Mutter ein Beruhigungsmittel anpreist, weil ihr Sohn doch gerade als Kampfsoldat diene, oder Maccabee-Bier als der richtige Durstlöscher für Soldaten beworben wird. Zudem unterstützt New Profile Wehrdienstverweigerer, egal aus welchen Gründen sie nicht in die Armee

roof for shade,” she says. “We are primarily a group of citizens who have a right to know what the occupation is causing in our name. We’re present at the checkpoints to protest.” Machsom Watch is exclusively a women’s organization. All of its members are Israelis and many are feminists. “The principle of a ‘women’s society’ is important to us,” says Hammermann—if only to make clear that “we have nothing to do with the military anymore.” Unlike men, Israeli women are not required to serve in the reserves after doing military service. It’s been decades since most of the Machsom women were in the army. As a rule, the only people who can afford to spend long hours at checkpoints are those that have put child-rearing and careers behind them. However, this “grandmother image,” as Hammermann puts it ironically, can have an advantage. “The soldiers hear the voices of their mothers or grandmothers in me,” she says. Her cousin Ilana Hammerman, who has accompanied her to Qalandia, favors more provocative protests. A few years ago, she caused a sensation with an act of civil disobedience when she smuggled Palestinian women and children out of the West Bank in her car and spent a day with them at the beach in Tel Aviv. The editor of a literary magazine, Ilana Hammerman deliberately published an account of the day in Haaretz. “Humanistic actions alone are not enough,” she says. “I wanted to start a public debate on the unjust laws that deliberately restrict Palestinians’ freedom of movement.” Her initiative, whose motto is “We do not obey,” has inspired many copycats. The police summoned Ilana Hammerman to its offices three times, but legal proceedings were never initiated. The authorities apparently did not want to generate any more publicity for the rebel, who has the moral courage to stand by her beliefs. For the majority of Israelis, bitachon, or national security, is a principle that is best not questioned. But this is exactly what the group New Profile is doing in quite fundamental ways. Like Machsom Watch and the Nashim be-Shahor, New Profile belongs to the Coalition of Women for a Just Peace. Its name comes from the military profile that is created for every conscript during a military exam and that is used to decide, among other things, who is suited for a combat unit. “We want to change the profile of

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wollen. In Israel gibt es kein Recht auf Verweigerung, aber Möglichkeiten, per Attest den Militärdienst zu umgehen. Härter ist der Weg, den einige junge Israelis gehen, die aus Prinzip den Einsatz in den besetzten Gebieten ablehnen und dafür monatelange Disziplinarstrafen in Militärgefängnissen absitzen müssen. „Wir informieren über die diversen Erfahrungen“, sagt Mazali. Das Netzwerk von New Profile jedenfalls haben bereits zehntausende Israelis, darunter viele Eltern, angeklickt, um sich zu erkundigen, wie man oder frau um den Militärdienst herumkommt. Staatliche Vorwürfe, New Profile stifte die Leute zu Gesetzesbrüchen an, lassen Mazali kalt. Sie ist eine Nonkonformistin, die neben experimenteller Literatur kritische Gesellschaftsanalysen verfasst hat. „Die israelischen Frauen sind stark“, sagt sie, „aber es gibt eine Menge Bereiche, wo sie unterdrückt werden, gerade auch in der Armee.“ Achtzig Prozent der weiblichen Wehrdienstleistenden sind laut einer Untersuchung während ihrer Militärzeit sexuell belästigt worden. „Wenn wir uns gegen die Militarisierung stellen“, findet die 65-jährige Mazali, „bekämpfen wir zugleich Sexismus.“ Vielleicht sind gerade deshalb die Treffen der New Profile-Gruppen, die es in fast allen großen israelischen Städten gibt, so attraktiv für junge Israelinnen. Inge Günther ist Journalistin und arbeitet seit vielen Jahren als Korrespondentin für die Berliner Zeitung und die Frankfurter Rundschau in Israel und den palästinensischen Gebieten.

Israeli society, to move from a militarized to a civil society,” says New Profile founder Rela Mazali, describing her organization’s goal. All too often the term bitachon stands for a policy that relies on war and conflict—and thus on “the preservation of the power of middle-class Jewish Ashkenazi men.” The members of New Profile see the group explicitly as a feminist movement. To put this into perspective, only a small critical minority is feminist-minded in the country. However, an exhibition on the militarization of daily life that New Profile organized in 2012 in cooperation with a variety of universities aroused significant public interest. As the exhibition showed, even advertisements attempt to use the social prestige of the army. In one, for example, a mother praises a sedative she is taking to cope with the stress of having a son in a combat unit, and in another Maccabee beer is promoted as the perfect thirst quencher for soldiers. New Profile also supports Israelis who refuse to serve in the military, regardless of their motives. There is no general right to refuse military service in the country, but it is possible to get around it with a medical certificate. The path taken by other young Israelis, who refuse out of principle to serve in the occupied territories, and are forced to serve month-long disciplinary sentences in military prisons, is much more difficult. “We provide information about different experiences,” says Mazali. Tens of thousands of Israelis, including many parents, have already clicked on the organization’s website to acquire further information. The charges by the government that New Profile incites people to break the law have little impact on Mazali. She is a nonconformist by nature who has written critical social analyses as well as experimental literature. “Israeli women are strong,” she says, “but there are a lot of areas where they are oppressed, particularly in the army.” According to one study, a total of 80 percent of female conscripts are sexually harassed during their military service. “When we oppose militarization,” says the sixty-five-year-old, “we also fight sexism.” Perhaps that is the reason the meetings of the New Profile groups, which exist in almost all Israeli cities, attract so many young Israeli women. Inge Günther is a journalist who has been working for several years in Israel and the Palestinian territories as a correspondent for the Berliner Zeitung and the Frankfurter Rundschau.

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Sexualisierte Gewalt in Kriegen und Krisen Frauen als Opfer von Gewalt und Vergessen Sexualized Violence in Wars and Crises Women as Victims of Violence and Invisibility

Verena Schneider

Sexualized violence against women in times of war, genocide, and political crisis has always been part and parcel of wartime and criminal practices. For many years, sexual exploitation in brothels, mass rapes, and the objectification and humiliation of women were viewed by society as side effects—collateral damage— of military conflicts. Those affected and their stories received hardly any attention. Even efforts in the early 1990s to reappraise and research the effects within the scope of women’s and gender studies did little to change this. Not until sexualized violence against women received more widespread coverage in the media in the context of the war in Yugoslavia did mainstream perceptions and interests start to change. Sexualized violence is a crucial element in waging war: Violent practices are exercised, which the fighter, the male soldier, forces upon the female subject, the “accessible victim.” This serves various purposes: confirmation of soldierly masculinity and gratification of aggressive-sexual needs; humiliation and degradation of the enemy collective, attempts to drive a population away through intimidation; as a means of torture and a forced reproduction measure to strengthen the aggressors’ own collective. Inextricably linked with these intentions is the assumption that women are perpetually accessible: “The cultural construction of gender comprises the construction of the female body as being susceptible to injury, that is, as being always penetrable in general and exposed to the risk of being raped.”1 Systematic observation and reflection was necessary before researchers could begin to grasp the individual and collective impact of sexualized violence in warlike conflicts. Research long failed to take gender and sexualized violence into account. Holocaust research clearly shows a continuity with the way scholarship and the politics of memory have dealt with other war- and genocide-related events, such as the inadequate attention given to the “Comfort Women” under Japanese occupation or the mass rape of women in Nanking, the Congo, Bosnia, and Rwanda. Regardless of gender, all forms of violence used in genocide and war lead to humiliation, psychological and physical injury, and often death. Not until these practices are examined through the analytical 1 Ruth Seifert, “Rape—The Female Body as a Symbol and a Sign: Gender-Specific Violence and the Cultural Construction of War.” Ilkka Taipale, in association with Physicians for Social Responsibility (Finland) and International Physicians for the Prevention of Nuclear War (Cambridge, MA), ed. War or Health: A Reader, London and New York: Zed Books 2002 [German original Münster: Lit Verlag, 1995], 280–294, here: 286.

Sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen in Kriegen, Genoziden und politischen Krisen war schon immer Teil kriegerischer und verbrecherischer Praxen. Lange Zeit wurden sexuelle Ausbeutung in Bordellen, Massenvergewaltigungen, Objektivierung und Erniedrigung von Frauen von der Gesellschaft als Begleiterscheinungen militärischer Konflikte angesehen. Den Betroffenen und ihrer Geschichte wurde kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Auch die Aufarbeitungs- und Forschungsprozesse seit den frühen 1990er Jahren durch Frauenforschung und Gender Studies änderten daran zunächst wenig. Erst seit sexualisierte Gewalt an Frauen im Kontext des Jugoslawienkrieges umfassender von den Medien thematisiert wurde, veränderten sich die Wahrnehmung und das Interesse der Mehrheitsgesellschaft. Diese Verschiebung sollte schließlich den Anstoß geben für eine allmählich entstehende Gedenkpolitik der Opfer sexualisierter Gewalt in Kriegen und Krisen. Sexualisierte Gewalt ist ein zentrales Element der Kriegsführung: Es werden Gewaltpraktiken angewandt, die der Kämpfer, der männliche Soldat, dem weiblichen Subjekt, dem ,verfügbaren Opfer‘, aufzwingt. Das kann unterschiedliche Intentionen haben: die Bestätigung soldatischer Männlichkeit und die Befriedigung aggressiv-sexueller Bedürfnisse, die Erniedrigung des feindlichen Kollektivs, die Vertreibung durch Abschreckung der betroffenen Bevölkerungsgruppe, als Foltermethode und als erzwungene Reproduktionsmaßnahme, um das eigene Kollektiv zu stärken. Untrennbar verbunden mit all diesen Absichten ist die Annahme, dass über Frauen permanent verfügt werden kann: „Zur kulturellen Konstruktion von Gender gehört die Konstruktion des weiblichen Körpers als verletzungsoffen, d.h. als prinzipiell immer penetrierbar und vergewaltigungsgefährdet.“1 Erst eine systematische Beobachtung und Reflexion ermöglichte es Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, sich den individuellen und kollektiven Auswirkungen sexualisierter Gewalt in kriegerischen Konflikten anzunähern. Lange Zeit wurden Gender und sexualisierte Gewalt in der Forschung ausgeblendet. Von der Holocaustforschung zeigt sich dabei eine deutliche Kontinuität zum wissenschaftlichen und erinnerungspolitischen Umgang mit anderen kriegerischen und genozidalen Ereignissen wie 1 Ruth Seifert: Der weibliche Körper als Symbol und Zeichen. Geschlechtsspezifische Gewalt und die kulturelle Konstruktion des Krieges. In: Andreas Gestrich (Hg.): Gewalt im Krieg, Münster 1995, S. 13–33, hier S. 23.

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category of gender does (sexualized) violence in gender relations become visible. Holocaust research shall be mentioned here as an example illustrating the conventional omission of the gender category, and thus also of sexualized violence. There was a great increase in this research in the 1980s, but it showed little interest in the specific experiences of female survivors. Instead of taking advantage of the opportunity to close up research gaps, women’s lives were reduced to stereotypical background stories and subordinated to a universal story of the Holocaust. This perspective not only served almost entirely to ignore women’s participation in the resistance and active combat, but gender-specific persecution and violence against women usually remained unnamed, as men were rarely victims of this form of violence. The significance and systematic use of sexualized violence remained completely undetected. The social construction of gender is generally neglected not only in research, but also in historical memory. This permits supposedly “natural” qualities to be ascribed on the basis of biological sex. When “female” life experience and fates are presented, they are fed by “stereotype repertoires,” characterizing women as caring mothers, self-sacrificing wives, or loving sisters. Women who do not satisfy these expectations usually remain unheard and unseen, as do, consequently, their stories, so they long are not part of the “remembered community.” In interviews, female survivors do in fact mention their specific experiences of violence and their sexual vulnerability as women, reporting of sexual degradation, forced sexual labor, rapes, unwanted pregnancies, and forced abortions. Some early survivor literature on the Holocaust by women was quite good, but is currently out of print, or not easily accessible. Reports on experiences of sexualized violence were much more direct and explicit immediately after the war, but these disappeared in the mid-1960s from women’s survivor stories. Here as well, the descriptions of living conditions in camps, ghettos, and also in the resistance were predominantly those of male prisoners. In particular the stories of “political” prisoners received widespread public attention after the war. Typical of this one-sided narrative is the forced sex work in the camp brothels. To date there are only four women who have reported about their time doing forced labor in the brothels. The representations of the slave labor and the living conditions in the camp brothels, therefore, came primarily from

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der unterkomplexen Aufarbeitung des Schicksals der Comfort Women unter japanischer Besatzung, den Massenvergewaltigungen an Frauen in Nanking, im Kongo, in Bosnien und Ruanda. Alle Formen der in Genoziden und Kriegen angewandten Gewalt haben geschlechtsunabhängig Erniedrigung, psychische und physische Verletzungen, und oft auch Tod zur Folge. Erst durch die Untersuchung dieser Praxen mittels der Analysekategorie Gender werden (sexualisierte) Gewalterfahrungen im Geschlechterverhältnis sichtbar. Exemplarisch für die gängige Ausblendung der Kategorie Gender, und damit auch sexualisierter Gewalt, soll hier die Holocaust-Forschung genannt werden, die sich zwar in den 1980er Jahren stark ausweitete, aber meist wenig Interesse an den Erfahrungswelten weiblicher Überlebender hatte. Anstatt diese zu nutzen, um Forschungslücken zu schließen, wurde das Leben der Frauen auf eine stereotype Hintergrunderzählung reduziert und einer Universalgeschichte des Holocaust untergeordnet. Durch diesen Blickwinkel gerieten nicht nur ihre Partizipation an Widerstand und Kampf fast vollständig in Vergessenheit, sondern es blieben auch geschlechtsspezifische Verfolgung und Gewalt gegen Frauen oft unbenannt, da Männer kaum Opfer dieser Gewaltform wurden. Die Systematik und Bedeutung der Anwendung sexualisierter Gewalt blieb völlig im Dunkeln. Nicht nur in der Forschung, sondern auch in der Erinnerung von Geschichte wird der soziale Konstruktionsprozess von Gender meist ausgeblendet. Auf diese Weise werden Zuschreibungen vermeintlich natürlicher Eigenschaften aufgrund eines ,biologischen Geschlechts‘ möglich. Geht es um die Darstellungen ,weiblicher‘ Lebenswelten und Schicksale, werden diese aus so genannten Stereotypenrepertoires gespeist und charakterisieren die Frauen als fürsorgende Mütter, sich aufopfernde Ehefrauen oder liebevolle Schwestern. Frauen, die dieser Erwartungshaltung nicht entsprachen, blieben mit ihrer Geschichte meist ungehört und ungesehen – und zählten somit lange Zeit nicht zur ,erinnerten Gemeinschaft‘. Weibliche Überlebende gehen in Interviews durchaus auf ihre spezifische Gewalterfahrung, auf ihre sexuelle Verletzlichkeit als Frauen ein und berichten von sexuellen Erniedrigungen, sexueller Zwangsarbeit, Vergewaltigungen, ungewollten Schwangerschaften und Zwangsabtreibungen. Sehr gute, frühe Zeuginnen-Literatur zum Holocaust ist mittlerweile vergriffen oder nur schwer zugänglich. Berichte über


Aus der Fotoserie „Sonderbauten“: Die Künstlerin Quintan Ana Wikswo arbeitete gegen das Vergessen, indem sie den Ort des „Sonderbaus“ in Dachau, des KZ-Bordells, fotografisch erforschte. Sie verwendete dafür Kameras, die von Zwangsarbeiterinnen in Dachau für AGFA hergestellt wurden. From the photo series Sonderbauten/The Special Block: Artist Quintan Ana Wikswo worked against forgetting by researching the site of Dachau’s “special block”—the concentration camp brothel—through photography. She used cameras made for Agfa by women forced laborers in Dachau.

male prisoners, which then received widespread attention. This resulted for decades in the social stigmatization of the women involved. The story of the Holocaust remains incomplete if questions dealing expressly with women, their actions, and their experiences in those years are not raised and answered. From this perspective the Holocaust clearly shows—and this applies for other crimes as well—that suffering, too, is experienced differently depending on one’s gender. Having experienced other forms of violence did not and does not make these women “greater victims.” Instead, it is a matter of acknowledging the unique character of sexualized violence within the context of war and genocide, and recognizing the existing gaps in knowledge and the consequences for the women affected. Starting in the mid-1970s, the women’s movement fought to break the taboo surrounding sexualized violence, and especially to raise consciousness in society

sexualisierte Gewalterfahrungen waren unmittelbar nach Kriegsende noch wesentlich direkter und expliziter, seit Mitte der 1960er Jahre verschwanden diese jedoch aus den Zeugnissen überlebender Frauen. Aber auch hier gilt wieder, dass die Beschreibungen der Lebensbedingungen in Lagern, Ghettos und auch im Widerstand vor allem von männlichen Häftlingen geprägt wurden. Besonders die Erzählungen politischer Häftlinge erhielten nach dem Krieg Aufmerksamkeit. Beispielhaft für dieses einseitige Narrativ ist die Sex-Zwangsarbeit in Häftlingsbordellen. Bis heute gibt es nur vier Frauen, die als ehemalige Sex-Zwangsarbeiterinnen über ihre Zeit im Bordell berichteten. Die Darstellungen der Zwangsarbeit und der Lebensbedingungen in den Lagerbordellen wurden daher vor allem von männlichen Häftlingen geprägt und sind anschließend vielfach rezipiert worden. Sie führten über Jahrzehnte zur gesellschaftlichen Stigmatisierung der betroffenen Frauen.

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to feel a sense of wrongdoing with respect to this form of violence. Women’s efforts brought the first changes in how society as a whole deals with this subject, and at the same time triggered a steady rise in media attention for women and the violence they are subjected to. This preliminary work made it possible for the statements by women who were victims of violence in the war in Bosnia to be received by a larger circle of readers, introducing them to gendered experiences of captivity, degradation, and fear, as well as the reality of sexual exploitation or the loss of gender identity. These women reported on brothels and “rape camps,” which were usually the final station of their captivity. In abandoned homes, schools, and hotels, women were held as sex slaves and abused, tortured, and raped over an extended period of time by Serbian soldiers. This violence included impregnating Muslim women, forcing them to give birth to “Serbian” children after the end of their captivity. Society’s increased interest in the existence and consequences of sexualized violence as part of genocidal practices, as well as the new focuses of research in this area have served to change the historical appraisal and current discourse on memory. When the war in Bosnia and Herzegovina began, society’s growing media influence increased awareness that rape played an essential role in destroying and degrading the enemy in military conflicts. From then on, sexual violence was acknowledged in Western media and research as a war strategy and a means of terror and genocide. In order to give space in collective memory to the violence that women experience, it is necessary that awareness be created for the fact that violence against women is not always expressed through sexuality. Light needs to be shed on different levels, including sexualized ones. The concept of “sexualized violence” thus characterizes a violation of physical and psychological boundaries, elucidating the goal that this form of violence aims to satisfy: the demonstration of power and domination in order to exploit, humiliate, and degrade. Sexualized violence was not an isolated strategy in the Holocaust, in the Bosnia War, or in Rwanda; instead, it was part of a violent space in which annihilation took place. It is especially important that this space is not viewed as pertaining exclusively to rape, but also includes other sexualized physical and psychological violations of a person’s integrity. The function of sexualized violence is not only misogynist, but also ideological, making it also a politi-

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Die Geschichte des Holocaust bleibt unvollständig, wenn jene Fragen, die sich explizit mit Frauen, ihren Handlungen und Erfahrungen jener Jahre beschäftigen, nicht gestellt und beantwortet werden. Dass auch Leid je nach Gender unterschiedlich erfahren wird, zeigt der Holocaust aus dieser Perspektive und stellvertretend für andere Verbrechen überdeutlich. Durch das Erfahren anderer Gewaltformen wurden und werden Frauen aber nicht zu ,größeren‘ Opfern. Vielmehr geht es um die Anerkennung der singulären Beschaffenheit sexualisierter Gewalt innerhalb kriegerischer und genozidaler Kontexte, der vorhandenen Wissenslücken sowie der Konsequenzen für die Betroffenen. Die Frauenbewegung kämpfte ab 1975 für die Enttabuisierung des Themas der sexualisierten Gewalt und vor allem dafür, dass ein Unrechtsempfinden für diese Form der Gewalt ins Bewusstsein der Gesellschaft rückte. Ihre Bemühungen veränderten erstmals den gesamtgesellschaftlichen Umgang mit diesem Themenkomplex und stießen gleichzeitig eine sich stetig vergrößernde mediale Aufmerksamkeit für Frauen und deren Gewaltschicksale an. Diese Vorarbeit ermöglichte es erst, dass die Aussagen betroffener Frauen des Bosnienkrieges überhaupt eine größere Leserinnen- und Leserschaft mit genderrelevanten Erfahrungen wie Gefangenschaft, Demütigung und Furcht sowie mit der Realität der sexuellen Ausbeutung oder dem Verlust der Genderidentität bekannt machten: Diese Frauen berichteten über Bordelle und rape camps, die meist die letzten Stationen der Gefangenschaft bedeuteten. In verlassenen Häusern, Schulen oder Hotels wurden Frauen als Sexsklavinnen gehalten und über einen langen Zeitraum von serbischen Soldaten missbraucht, gefoltert und vergewaltigt. Teil dieser Gewaltpraxis war das Schwängern muslimischer Frauen, damit diese nach Ende der Gefangenschaft ‚serbische‘ Kinder zur Welt bringen mussten. Sowohl das gestiegene gesellschaftliche Interesse an der Existenz und den Folgen sexualisierter Gewalt als Teil genozidaler Praxen als auch die darauf neu ausgelegten Forschungsschwerpunkte veränderten die historische Aufarbeitung und die gegenwärtigen Erinnerungsdiskurse. Mit Kriegsbeginn in Bosnien und Herzegowina wurde einer zunehmend medialisierten Gesellschaft deutlich gemacht, dass Vergewaltigungen wesentlich zur Zerstörung und Erniedrigung des Feindes in militärischen Konflikten beitragen können. Sexuelle Gewalt wurde ab diesem


cal act. This distinction is necessary in order to do justice to the women’s experience of violence and injury, to expand knowledge, and thus to influence today’s politics of memory. The Allied forces failed to acknowledge the victims of this form of violence either directly after the war in 1945 or in the postwar trials, as rape was not included as a crime against humanity. That was done for the first time in 2001, and not until seven years later did the UN Security Council pass Resolution 1820, which recognizes sexual violence as a war crime. In all cases of sexualized violence, female victims are always affected at several levels: as women, as members of a supposedly inferior group, and as stigmatized people who live in societies that often do not acknowledge this form of violence. Verena Schneider is researching on modes of remembering the forced sex work in prisoner brothels and works as a freelance writer in Berlin and Hamburg.

Zeitpunkt im Westen in Medien und Wissenschaft als Kriegsstrategie, als Mittel des Terrors und des Genozids anerkannt. Um den Gewalterfahrungen betroffener Frauen einen Platz im kollektiven Gedächtnis zu geben, ist es notwendig, ein Bewusstsein zu schaffen, dass Gewalt gegenüber Frauen nicht immer über Sexualität ausgeübt wird. Es gibt verschiedene, auch sexualisierte Ebenen, die aufgezeigt werden müssen. ,Sexualisierte Gewalt‘ markiert dabei als Begriff sowohl eine Verletzung der körperlichen als auch der psychischen Grenzen und verdeutlicht das Ziel, das mit dieser Gewaltform erreicht werden soll: die Demonstration von Macht und Dominanz, um das Gegenüber zu benutzen, zu erniedrigen, zu degradieren. Sexualisierte Gewalt war keine losgelöste Strategie im Holocaust, im Bosnienkrieg oder in Ruanda, sondern Teil des Gewaltraums, in dem Vernichtung stattfand. Es ist von besonderer Wichtigkeit, dass dieser Raum nicht nur auf Vergewaltigung beschränkt wird, sondern auch andere sexualisierte körperliche sowie psychische Integritätsverletzungen einschließt. Die Funktion sexualisierter Gewalt ist aber nicht nur frauenfeindlich, sondern auch immer ideologisch geprägt, so dass sie zur politischen Tat wird. Diese Differenzierung ist notwendig, um den Gewalterfahrungen und Verletzungen der Frauen gerecht zu werden, den Wissensbestand zu erweitern und auf diese Weise Einfluss auf die Gedächtnispolitik der Gegenwart zu nehmen. Die Alliierten schenkten den Opfern dieser Gewaltform weder unmittelbar nach 1945 noch in den Nachkriegsprozessen Aufmerksamkeit, da Vergewaltigung nicht unter die Verbrechen gegen die Menschlichkeit fiel. Das erste Mal war dies 2001 der Fall und erst weitere sieben Jahre später verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1820, die sexuelle Gewalt als Kriegsverbrechen einstufte. In allen Fällen sexualisierter Gewalt sind weibliche Opfer mehrfach betroffen: als Frauen, als Mitglieder einer vermeintlich minderwertigen Gruppe und als Stigmatisierte, die in Gesellschaften leben, die diese Form der Gewalt oft nicht anerkennen. Verena Schneider forscht über die Erinnerung an Sex-Zwangsarbeit in Häftlingsbordellen und arbeitet als freie Texterin in Berlin und Hamburg.

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Vocal Women Frauen mit Stimme

Amos Oz, Fania Oz-Salzberger

Eva, Mutter alles Lebendigen. Sie kommt gleich am Anfang, doch ist ihre Herkunft einigermaßen unklar. Gott erschafft sie, namenlos und ihrem Partner ebenbürtig in Genesis 1, wo der Lebenshauch dem männlichen Adam zusammen mit dem weiblichen Adam eingeblasen wird. Falls man uns nicht glaubt, empfiehlt sich ein Blick in Vers 27. Aber dann folgt Genesis 2, und da erschafft Gott die Frau noch einmal, diesmal aus der Rippe des nunmehr einsamen Adam. In Genesis 3, nach der Geschichte mit dem Baum und der Schlange, gibt Adam ihr den Namen Eva. Gerade als das Paar etwas zum Anziehen erhält, bevor es den Garten Eden verlassen muß. Unschwer zu erkennen, daß hier mehr als ein biblischer Verfasser am Werk war und jeder einzelne eine unterschiedliche Ansicht hinsichtlich der Gleichgewichtigkeit von Mann und Frau durchzusetzen versuchte. Bis eines schönen Tages ein der Sache überdrüssiger Redaktor beschloß, zum Kuckuck, nehmen wir eben beide Geschichten, soll doch der Leser die beste Version aussuchen und sich die Unstimmigkeit selbst erklären. Hinter Evas nacktem Rücken lauert Lilith, eine Dämonin, die zu talmudischer Zeit in die Geschichte eingeführt wurde, wahrscheinlich von einem misogynen Mann mit Bart. Doch wir machen Gebrauch von unserer dichterischen Freiheit und nehmen Lilith ausdrücklich in unsere Parade biblischer Frauen mit auf. Niemals ging die Hebräische Bibel so weit, daß eine Lilith die Sexualität samt und sonders von den „richtigen“ weiblichen Protagonisten abzog. Wie Eva selbst verbinden viele starke Frauen in der Bibel sexuelle Ausstrahlung mit mächtigen Begierden und einem hellen Kopf: Im Fall von Eva ist das die Wißbegierde. Uns scheint, daß die meisten großen biblischen Frauengestalten etwas von Lilith an sich haben, es ist gleichsam in sie eingebaut: Ehrgeiz, Verve und Verlangen. Sara, matronenhaft und Ränke schmiedend. Rebekka, zunächst liebreizend und entgegenkommend, später matronenhaft und Ränke schmiedend. Rachel, geliebt, sexuell raffiniert und Ränke schmiedend. Das sind vier ganz unterschiedliche Urmütter. Wir halten uns mit ihnen hier nicht weiter auf, aber – wie bereits bemerkt – wir finden ihre numerische Überzahl gegenüber den Patriarchen interessant. Es ist ja nicht nur ein Aspekt antiker Polygamie; diese vier Frauen haben Persönlichkeiten, die zusammengenommen ihre drei gottgesegneten Ehemänner in den Schatten stellen. Alle vier sind stark und auf je eigene Weise penetrant, aber jede ist eine Welt für sich. Mag schon sein, daß man ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind großzuziehen, aber man braucht mehr als eine Mutter (oder einen Muttertyp), um eine Nation zu gründen. Dann kommt das wunderbare Team im Buch Exodus. Nicht weniger als sechs geniale Frauen bahnten Moses

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Eve, Mother of All that is Living. She was at the very start, but her own beginning is ambiguous. God creates her, nameless and equal to her mate, in Genesis 1, where life is blown into a male-Adam and a female-Adam together. If you don’t believe us, please revisit verse 27. But then comes Genesis 2, and God creates Woman again, this time from the rib of a now-only-male Adam. In Genesis 3, after the tree and the snake, Adam names her Eve. Just as the couple is getting dressed to leave the Garden of Eden. You can tell that more than one biblical author was at work, pushing differing views on the man-and-woman equilibrium. Until one day, oh well, a tired editor must have decided, let’s keep both stories and let the reader choose the best version or explain away the discrepancy. Behind Eve’s naked back hovers Lilith, a female demon inserted into the story in Talmudic times, probably by a bearded misogynist. But we will use our poetic license and insist on mentioning Lilith in our parade of biblical women. The Hebrew Bible never allowed a Lilith to whisk away all sexuality from the “proper” female protagonists. Like Eve herself, many of its strong women combine a sexual presence with powerful appetites and a brainy punch: in Eve’s case, curiosity. We think that most of the Bible’s great women have a Lilith in them, built into them: ambition, verve, and desire. Sarah, matronly and manipulative. Rebecca, at first sweet and accommodating, later matronly and manipulative. Leah, unloved, sexually sophisticated, and manipulative. Rachel, beloved, sexually sophisticated, and manipulative. They make four very different matriarchs. We will not dwell on them here, but—as already mentioned—their numeric advantage over the patriarchs is interesting to us. It is not merely an aspect of ancient polygamy; these four women have personalities that cumulatively outshine their three hallowed husbands. All four are strong and pushy in their ways, but each is a world unto herself. It may take a village to raise a child, but it takes more than one mother (or one type of mother) to raise a nation. Then comes the wonderful team of Exodus. No fewer than six resourceful women brought Moses into the world and kept him there. Mother Jochebed and sister Miriam, of course. Also the midwives Shifrah and Puah, who are not on record as delivering


Fritz Lederer, aus der Mappe „Ruth“, Berlin 1920 Fritz Lederer, from the portfolio Ruth, Berlin 1920

den Weg in die Welt und bewahrten ihn dort. Mutter Jocheved und Schwester Miriam natürlich. Dann auch die Hebammen Schifra und Pua, von denen zwar nicht berichtet wird, daß sie bei Mose Geburt zugegen waren, aber möglicherweise brachten sie seine Familie auf die Idee, sich eisern dem Befehl Pharaos, dem zufolge alle männlichen Babys umgebracht werden sollten, zu widersetzen. Das dritte Paar bilden Pharaos Tochter und ihre aufgeweckte Dienerin. Mütterlich und menschlich couragiert, umsichtig vorgehend und klug zusammenwirkend, überlistete dieses ungleiche Sextett grausame Herrscher und brutale Verordnungen. Zusammen retteten sie den Jungen, der Retter einer Nation werden sollte. Wie viele jüdische Männer werden wohl über lange Jahrtausende hinweg bemerkt haben, daß wir den größten Sohn und Lenker unseres Volkes dem Einfallsreichtum und dem Mut von vier hebräischen und zwei ägyptischen Frauen verdanken? Und wo war eigentlich Vater Amram? Mal kurz außer Haus, einen heben? Wir werden noch einigen anderen passiven Ehemännern und abwesenden Vätern im Lauf der biblischen Erzählung begegnen. Moses selbst, dem Furcht und Fliehen keineswegs fremd waren, schaffte es glücklicherweise im Lauf der Zeit, das Niveau seiner Mutter und Schwester zu erreichen. Doch anders als sie rettete er nicht nur, sondern er nahm auch Leben. Da wir Schifra und Pua nannten, wollen wir sie gebührend würdigen: Als Hebammen sind sie die ersten weiblichen Berufstätigen, die in der Bibel erwähnt werden. Sie tauchen nicht als Töchter oder Ehefrauen von irgendwem auf. Indem sie einfach ihrem Beruf nachgingen, fanden sie sich auf einmal in der Rolle von politischen Aufständigen wieder, welche sie mit Bravour meisterten. Es wurde ihnen befohlen, alle männlichen Neugeborenen der Hebräer umzubringen, doch dieser Anweisung des Königs kamen sie dreist einfach nicht nach. Die hebräischen Frauen sind nicht so wie die Ägypterinnen, schwatzten Schifra und Pua dem blutdürstigen Pharao vor, sie sind kräftig und lebensvoll, und sie gebären, bevor wir überhaupt zur Stelle sind. Nun war Sokrates’ Mutter Phaenarete ebenfalls Hebamme im Athen des 5. Jahrhunderts vor der Zeitenwende. Ihr Name bedeutet „sie, die Tugend zum Licht bringt“, und Sokrates war stolz auf seine „sehr berühmte und wackere“ Mutter. Aber in Platos Bericht besteht ihre Rolle lediglich darin, als Metapher für die „Hebammenkunst“ ihres Sohnes zu dienen, welche wiederum darin bestand, Ideen aus den Köpfen der Menschen ans Licht der Welt zu bringen.1 Wir lassen uns weiter durch das Buch Exodus treiben und begegnen wiederum Miriam, nunmehr erwachsen und charismatisch: Anführerin, Prophetin, Sängerin, 1 Plato spricht über Sokrates‘ Mutter, Phaenarete, im Theaitetos, 149a ff.

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die kunst zu hören

Moses, but must have inspired his family by brazenly resisting Pharaoh’s orders to kill all male Hebrew babes. The third pair are Pharaoh’s daughter and her alert maid. Maternally and humanly brave, carefully planning and cleverly cooperating, this unlikely sextet outwitted bad government and brutal laws. Together they saved the boy who would become the savior of a people. How many Jewish men have noticed, over those long millennia, that we owe the nation's greatest son and leader to the ingenuity and courage of four Hebrew and two Egyptian women? And where exactly was father Amram? Out for a drink? We will be meeting a few other passive husbands and absentee fathers as the biblical narrative flows on. Moses himself, no stranger to fear and fleeing, fortunately grew to meet the standards set by his mother and sister. But unlike them, he took lives as well as saving lives. Since we mention Shifrah and Puah, let us give them due credit: as midwives, they are the first female professionals ever mentioned in the Bible. They do not go on record as anyone’s daughters or wives. Merely by plying their trade, they found themselves in the role of political rebels, which they performed with great panache. Commanded to kill all the male Hebrew newborns, they cheekily ignored the king’s orders. Those Hebrew mothers are not like the Egyptians, Shifrah and Puah chattily

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Lesser Ury, Rahel. Aus der Mappe „Biblische Gestalten“, Berlin 1921. Ankauf aus Mitteln der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin Lesser Ury, Rahel. From the portfolio Biblische Gestalten (Biblical Figures), Berlin 1921. Purchased with funds provided by Stiftung DKLB

Lieddichterin, der Lebensgeist der zwölf Stämme. Aber wir wollen nicht in Nationalismus verfallen: Große Frauengestalten, die nicht israelitisch waren, ziehen an uns vorüber und haben mit ihren Fingernägeln tiefe Spuren auf der Haut der jüdischen Geschichte hinterlassen. Hagar, Potiphars Frau, Zippora (bei ihr ging es um die Vorhaut), Rahab, Jael, Jezebel und – eine ganz liebe – Ruth. Wir kommen auf einige von ihnen noch einmal zurück. Dann war da noch die Königin von Saba, wobei sie durch das erste Buch der Könige mehr wie ein exotischer Sturmwind oder eine PR-Managerin braust. Zwei weibliche Anführerinnen sind belegt, die beide herrschaftliche Macht ausübten: Debora, die Prophetin, und Königin Athalia, die böse Thronräuberin (war sie es wirklich? Wer weiß …). Jeder dieser beiden Regentinnen ist eine zweite Frau in der Geschichte beigestellt, ein Gegenpart oder eine Erzfeindin. Debora gewann einen Krieg gegen die Kanaaniter, doch der gegnerische General wurde auf der Flucht von einer anderen Frau umgebracht. Jael gehörte einem anderen Volk an, den Kenitern. Zwar wird sie durchweg als „Weib Hebers“ genannt, gleichwohl setzt sie ihr eigenes Programm durch. Sie trifft die politische Entscheidung, sich auf die Seite der siegreichen Israeliten zu schlagen, und ermordet unbarmherzig ihren Gast, Sisera, den glücklosen Flüchtling. Insofern war Jael sowohl Strategin wie Kämpferin und Debora durchaus ähnlich. Der arme Heber saß derweil vermutlich in der Kneipe. Ähnlich verhält es sich mit der bösen Athalia: Sie „brachte das ganze königliche Geschlecht um“, bis auf das Baby Joasch, der von der Prinzessin Jehoscheva gerettet und versteckt wurde. Das erinnert ein wenig an die Geschichte mit Moses und überhaupt an zahlreiche Königschroniken so mancher Kulturen. Doch kommen derlei Geschichten, in denen eine Frau eine andere aussticht, ziemlich selten vor. Sie heben das breite Spektrum an weiblichen Protagonisten in der Bibel noch einmal hervor. 2 Dieser Text stammt aus dem Buch „Juden und Worte“, erschienen 2013 im Suhrkamp Verlag. Amos Oz ist Schriftsteller und lehrte Literatur und Philosophie an der Ben-Gurion-Universität des Negev. Seine Tochter Fania Oz-Salzberger ist Professorin für Geschichte an der Universität Haifa.

informed the bloodthirsty Pharaoh; they are strong and lively, giving birth quickly, before we even show up. Now Socrates’ mother, Phaenarete, was a midwife too, in Athens of the fifth century BCE. Her name means “She who brings virtue to light,” and Socrates took pride in his “noble and burly” mother. But her role in Plato’s account is merely to deliver a metaphor for her son’s own philosophical “art of midwifery,” bringing ideas forth from men’s minds. Sail on through the book of Exodus and it is Miriam again, grown up and full of charisma: leader, prophet, singer-songwriter, the lively spirit of the twelve tribes. But let us not get too nationalistic: great non-Israelite women are marching past, leaving the deep marks of their fingernails on the skin of Jewish history. Hagar, Potiphar’s wife, Zipporah (in her case it’s foreskin), Rahab, Jael, Jezebel, and—rather more gently—Ruth. We shall return to some of them. There was also the queen of Sheba, although she passes through the first book of Kings more like an exotic breeze or a public-relations agent. Two female leaders exercising full sovereign powers are on record: Deborah the prophetess and Queen Athaliah the wicked usurper (or was she? Who can tell?). Each of these rulers has a second woman in her story, a counterpart or nemesis. Deborah won a war against the Canaanites, but the fleeing enemy general was murdered by another woman, Jael, belonging to another people, the Kenites. Though constantly on record as “Heber’s wife,” Jael runs the show on her own. Making the political decision to side with the triumphant Israelites, she ruthlessly kills her houseguest, Sisera, the ill-starred escapee. So Jael was both a strategist and a combatant, rather akin to Deborah herself. Poor Heber was probably in the pub. Similarly, the evil Athaliah managed to “destroy all the seed royal” except for baby Joash, saved and hidden by princess Jehosheba. This is a bit reminiscent of the Moses story, as well as many royal chronicles of many cultures. Still, such woman outsmarting-woman stories are relatively rare. They underscore the broad human spectrum of biblical female protagonists. This text stems from the book Jews and Words, published by Yale University Press in 2012.

2 Debora, Jael uns Sisra führen ihr blutiges Drama in Richter 4 auf. Athalia, Jehoscheva und Baby Joasch kommen in 2 Könige 11:1,2 vor.

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Amos Oz is a writer who taught literature and philosophy at Ben Gurion University of the Negev. His daughter Fania Oz-Salzberger is a history professor at Haifa University.


INSIDE JMB A KT U E L L E AU SST E L LU N G E N P R E I S F Ü R V E R ST Ä N D I G U N G U N D TO L E RA N Z CU R R E N T E X H I B I T I O N S P R I Z E FO R U N D E R STA N D I N G A N D TO L E RA N C E Das traditionelle türkische „Karagöz“-Schattentheater war im Osmanischen Reich fester Bestandteil des Unterhaltungsprogramms bei Beschneidungsfesten. In the Ottoman Empire, traditional Turkish Karagöz shadow puppetry was an integral part of the entertainment at circumcision festivities.


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24. O KTO B E R 20 1 4 B I S 1 . M Ä RZ 20 1 5

Haut ab! Haltungen zur rituellen Beschneidung 2012 wurde völlig unerwartet von einem Kölner Landgericht die rituell begründete Knabenbeschneidung als „einfache Körperverletzung“ deklariert. Das Urteil löste eine Debatte aus, die Muslime und Juden erheblich unter Druck setzte. Sie sahen sich gezwungen, ein Ritual zu verteidigen, das in unterschiedlicher Ausprägung und Bedeutung zu ihrer religiösen Identität gehört, und das von der Öffentlichkeit in oft denunziatorischer und polemischer Form als veraltet und gefährlich kritisiert und kriminalisiert wurde. Juden wie Muslime fühlten sich in der Ausübung ihrer religiösen Gebräuche gefährdet, während viele Kritiker der Beschneidung den staatlichen Schutz für die körperliche Integrität von Kindern forderten. Verbittert bekämpften Atheisten religiöse Positionen, attackierten Kinderärzte die Beschneidungspraxis als Körperverletzung und traumatisierenden Einschnitt, stritten Juristen über die Frage, ob Religionsfreiheit als Freibrief für Gewalt ausgelegt werden könne. Das Anliegen der Ausstellung „Haut ab! Haltungen zur rituellen Beschneidung“ ist es, dem Thema der religiös motivierten Knabenbeschneidung in den drei monotheistischen Religionen Tiefe zu geben und am Beispiel von historischen Quellen und anderen Exponaten zu zeigen, welchen essenziellen Stellenwert dieses Ritual sowohl für das Judentum als auch für den Islam bis heute hat. Daher ist das Zentrum der Ausstellung die Gegenüberstellung der unterschiedlichen Bedeutungen der Be-

schneidung in den drei Religionen, die gleichzeitig das gemeinsame religiöse Fundament der abrahamitischen Religionen hervorhebt. Zur jüdischen Beschneidung werden Objekte aus dem liturgischen ebenso wie aus dem praktisch-medizinischen Bereich gezeigt: ToraVorhänge, die nur während einer Beschneidungszeremonie verwendet werden, sowie Beschneidungsinstrumente, die früher oft künstlerisch gestaltet waren, im Laufe der Zeit standardisiert und an die heutigen klinischen Vorgaben angepasst wurden. Auf die Modernisierungsbestrebungen im 19. Jahrhundert verweist ein amtsärztliches Zeugnis, das einem Mohel, dem Beschneider, seine entsprechende medizinische Ausbildung attestiert. Etliche der Objekte beziehen sich auf die Bedeutung der Brit Mila – der Beschneidung – im Brauchtum. Schwerpunkt der Präsentation der muslimischen Perspektive ist das Beschneidungsfest, wie es vor allem nach der osmanischen Tradition in der Türkei und in Deutschland gefeiert wird. Gezeigt wird unter anderem ein Korankommentar aus dem 18. Jahrhundert sowie eine zeitgenössische Gruppe von Schattenspielfiguren, mit denen eine Beschneidungsgeschichte erzählt wird. Im Christentum wurde bis Ende der 1960er Jahre am 1. Januar das Fest der Beschneidung Jesu gefeiert. Für die christliche Position zur Beschneidung wird daher ein Kirchenkalender in einer Version aus dem Jahr 1573 ausgestellt. Mehrere Meisterwerke der christlichen Kunst zeigen die Beschneidung Jesu als Teil der Heilsgeschichte, wie etwa das Tafelbild eines süddeutschen Meisters aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts oder das Gemälde „Die Beschneidung Christi“ von Peter Paul Rubens aus dem Jahr 1605. Die Beschneidung wurde aber auch immer wieder antijüdisch interpretiert. Ein Beispiel für die Dämonisierung der Beschneidung, die sich mit vorgeblichen jüdischen Ritualmorden an Knaben und Hostienschändungen verbindet, ist ein Kupferstich aus den 1620er Jahren. Derartige Bilder fanden nicht nur Eingang in die propagandistisch-antisemitische Bildsprache der NS-Zeit, Spuren

dieser Ressentiments finden sich auch im Sprach- und Argumentationsduktus der gegenwärtigen Debatte. Die Ausstellung ist ein Beitrag zur Frage, wie kulturelle Differenzen wahrgenommen und von der säkularen Gesellschaft bewältigt werden. Pluralität im Umgang mit Religionen ist nicht ohne strittige Auseinandersetzungen zu haben. Wie sich diese vollzieht, sagt etwas über die Fähigkeit aus, die eigenen Werte und Prinzipien sinnvoll artikulieren zu können ohne sich den Argumenten anderer zu verschließen – das Anerkennen des Denkens und der Praxis anderer nicht ausgeschlossen. Felicitas Heimann-Jelinek, Cilly Kugelmann

> B EG L E I T P RO G RA M M Z U R AU SST E L LU N G (AU SWA H L)

D I E N STAG, 4. D E Z E M B E R 20 1 4, 1 9 U H R A K A D E M I E , SA A L ; E I N T R I T T F R E I H AU T A B? ! Vorstellung einer Studie zur Beschneidungsdebatte mit anschließender Diskussion im Rahmen des JüdischIslamischen Forums Dr. Kerem Öktem stellt die Ergebnisse vor und diskutiert im Anschluss mit jüdischen und muslimischen Gesprächsteilnehmern der Studie. Moderation: Dr. Yasemin Shooman

M O N TAG, 1 0. N OV E M B E R 20 1 4, 1 9 : 30 U H R A LT BAU EG, AU D I TO R I U M ; E I N T R I T T F R E I M O N TAGS K I N O : C I RCO N C I S I O N Dokumentarfilm von Nurith Aviv (Frankreich 2000, 52 Min., Französisch mit deutschen Untertiteln) Welche Rolle spielt die Entscheidung für oder gegen Beschneidung in einem säkularen Leben? Nurith Aviv lässt in ihrem Dokumentarfilm Elternpaare aus unterschiedlichen Kulturen zu Wort kommen, die sich mit dieser Frage auseinandergesetzt haben.

Aus der Fotoserie „Türken im Ruhrgebiet“ von Henning Christoph, Köln 1983 From the photo series Turks in the Ruhr Region by Henning Christoph, Cologne 1983

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CU R R E N T E X H I B I T I O N S

24 O C TO B E R 20 1 4 TO 1 M A RC H 20 1 5

Snip it! Stances on Ritual Circumcision In an absolutely unexpected decision, in 2012, a Cologne regional court declared the ritual circumcision of boys to be “minor bodily injury.” The ruling triggered a debate that put Muslims and Jews under considerable pressure. They felt compelled to defend a ritual that in the specific manifestations and meanings was part of their respective religious identity. In an often denunciatory and polemical manner, the ritual was being criticized as antiquated and dangerous, and then criminalized. Jews and Muslims alike felt threatened in their ability to practice their religious customs, whereas many critics of circumcision demanded state protection for the physical integrity of children. Atheists bitterly challenged religious positions, pediatricians attacked the practice of circumcision as bodily injury and a traumatic incision, and legal scholars argued over whether religious freedom could be interpreted as a license to commit violence. The objective of the exhibition Snip it! Stances on Ritual Circumcision is to offer in-depth insight into the subject of religiously motivated circumcision of boys in the three monotheistic religions, and based on historical sources and other exhibits to demonstrate the essential significance to the present day of this ritual in both Judaism and Islam. The main part of the exhibition therefore focuses on the juxtaposition of the different meanings of circumcision in the three religions, which at the same time emphasizes the common religious foundation of the Abrahamic religions.

With respect to Jewish circumcision, objects from the liturgical as well as the practical, medical fields will be displayed: Torah curtains that are used only during a circumcision ceremony, as well as circumcision instruments that were often artistically decorated. Over time these tools were standardized and adapted to today’s clinical requirements. A medical officer’s document certifying that a mohel, a ritual circumciser, had completed the necessary medical training attests to nineteenth-century modernization efforts. Numerous objects make reference to the significance of the brit milah, the circumcision, in traditional customs. The presentation of the Muslim perspective focuses on the circumcision festivity as it is celebrated especially according to Ottoman tradition in Turkey and Germany. Among the objects displayed will be a Qur’an commentary from the eighteenth century, and a contemporary group of shadow puppets, which serves to tell a story of circumcision. In Christianity, the circumcision of Jesus was celebrated on January 1 until the late 1960s. In depicting the Christian stance on circumcision, a church calendar from 1573 will be displayed. A number of masterpieces of Christian art depict the circumcision of Jesus as part of the Christian history of salvation, such as the panel painting by a South German master from the first half of the fifteenth century and the 1605 painting The Circumcision of Christ by Peter Paul Rubens. However, painters often also interpreted circumcision in an anti-Jewish manner. A copper engraving from the 1620 offers an example of the demonization of circumcision, linking it to blood libel, allegations of ritual murder committed against boys, and host desecration by Jews. Such images were not only used in the propagandistic, anti-Semitic imagery of the Nazi period, but traces of this ressentiment can also be identified in the language and argumentation of the present debate. The exhibition is a contribution toward resolving the question as to how cultural differences are perceived and dealt with by secular society. Plurality with respect to religions is not possible

without controversial debate. How this debate is carried on says a lot about the ability to articulate one’s own values and principles without closing oneself off to the arguments of others— which does not rule out the possibility of gaining insight into the thinking of others and accepting their practices. Felicitas Heimann-Jelinek, Cilly Kugelmann

> ACCO M PA N Y I N G P RO G RA M (S E L EC T I O N )

T H U R S DAY, 4 D EC E M B E R 20 1 4, 7 P M AC A D E M Y, H A L L ; A D M I SS I O N F R E E SNIP IT?! Presentation of a study on the circumcision debate followed by a discussion (part of the Judeo-Islamic Forum) Dr. Kerem Öktem presents the results and concludes with a discussion with Jewish and Muslim study participants. Moderated by Dr. Yasemin Shooman

M O N DAY, 1 0 N OV E M B E R 20 1 4, 7: 30 P M O L D B U I L D I N G, G RO U N D L E V E L , AU D I TO R I U M A D M I SS I O N F R E E M O N DAY C I N E M A : C I RCO N C I S I O N Documentary by Nurith Aviv (France 2000, 52 min., French with German subtitles) Which role is played by the decision for or against circumcision in secular life? In her documentary, Nurith Aviv gives a voice to parents from different cultures who have considered this question.

Zur Ausstellung erscheint ein Begleitband im Wallstein Verlag. 176 Seiten, 75 Abb., 24,90 € The catalog accompanying the exhibition is published by Wallstein Verlag. 116 pages, 75 illustrations, 24,90 € German version only

Beschneidungsbank aus der Mitte des 18. Jahrhunderts Circumcision bench, mid-eighteenth century

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4. D E Z E M B E R 20 1 4 B I S 31 . M A I 20 1 5 RA FA E L ROT H L E A R N I N G C E N T E R

Sammelwut und Bilderflut Werbegeschichte im Kleinformat Mit einer Schau zum Thema Reklame setzt das Jüdische Museum Berlin seine Serie von Kabinettausstellungen der letzten Jahre zur Konsumund Wirtschaftsgeschichte fort. Ausgangspunkt ist eine umfangreiche, in ihrer Art einzigartige Sammlung von Reklamemarken, die dem Museum von Peter-Hannes Lehmann großzügig als Schenkung überlassen wurde. Die briefmarkengroßen Reklamebilder dienten vor allem der Firmen- und Produktwerbung und kursierten in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg millionenfach unter dem kauffreudigen Publikum. Sie wurden Produkten beigelegt, auf Briefe geklebt und in Alben gesammelt. Kurzzeitig lösten sie – vor allem unter Schulkindern – ein regelrechtes „Sammelfieber“ aus. Handel und Gewerbe boomten in den Jahren nach der Reichsgründung 1871. Unternehmerisches Handeln und Wirken hatten einen hohen Stellenwert in einer Zeit, in der sich das Deutsche Kaiserreich innerhalb weniger Jahre zu einer führenden Wirtschaftsmacht entwickelte. Wettbewerb und Markenqualität wurden in Zeiten von Massenkonsum und Konsumkultur immer wichtiger – und damit auch die „Propaganda“ zur Produktwerbung und Kundenbindung. Juden waren in diesen gesellschaftlichen Veränderungsprozessen wichtige Akteure, sowohl als Auftraggeber, als auch als Hersteller und Gestalter von Reklame, deren Aufgabe und

Bedeutung in der zeitgenössischen Publizistik breit und kontrovers diskutiert wurde. Neben der Produktwerbung verfolgten viele Zeitgenossen, die von der Wirkung künstlerischer Werbung überzeugt waren, mit ihr auch Ziele der ästhetischen Geschmacksbildung breiter Konsumentengruppen. Die kleinformatigen Reklamemarken hatten in der Hierarchie der Werbemittel nicht dieselbe Bedeutung wie z. B. Plakate, doch viele Hersteller hatten sie im Programm und machten damit Werbung. Die Qualität der Marken reichte von einfachen Bildern zu aufwändigen Künstlermarken – ihre motivische und gestalterische Vielfalt spiegelt die Bandbreite der Produkte und Auftraggeber. Besonders viele Marken sind aus der Textil- und Bekleidungsbranche, von Waren- und Kaufhäusern oder Schuh- und Lederwarenfirmen erhalten. In diesen Sparten waren jüdische Gewerbetreibende besonders zahlreich vertreten. Explizit jüdische Kundschaft wurde jedoch nur von wenigen Firmen angesprochen, die beispielsweise koschere Margarine, Mazzen oder Objekte des religiösen Gebrauchs produzierten. Die Ausstellung nimmt das Phänomen Reklamemarke unter verschiedenen Aspekten in den Blick. Beleuchtet werden ihre Genese von der Siegelmarke zum millionenfach verbreiteten Werbemittel sowie das Sammeln der Marken als kurzzeitiges Massenphänomen. Die Besucher erfahren etwas über die Herstellung der Marken und Branchen, in denen jüdische Unternehmer prominent vertreten waren. Künstlermarken, Marken mit explizit jüdischem Bezug und die ganze Fülle des Motivspektrums der Marken sind zu erkunden. Heute sind die kleinen Werbemarken vielfach die einzigen visuellen Zeugnisse florierender Firmen und Geschäfte, die nach zwei Weltkriegen und der Schoa erhalten geblieben sind. Für die Spurensuche im Kontext von Konsumund Wirtschaftsgeschichte sind sie ein nützliches Hilfsmittel mit etlichen Anknüpfungspunkten für die firmengeschichtlichen Sammlungsbestände des Jüdischen Museums Berlin. Und sie ermöglichen uns, mit einer Ausstellung

zur sinnenfreudigen Erkundung eines bunten Kapitels deutscher Werbegeschichte einzuladen. Zur Ausstellung erscheint eine Begleitbroschüre, die im Museumsshop zu erwerben sein wird. Leonore Maier

Reklamemarke der Firma Hermanns & Froitzheim, ca. 1911, nach einem Entwurf von Julius Klinger Poster stamp for Hermanns & Froitzheim, ca. 1911, based on a design by Julius Klinger

Reklamemarke des Bekleidungsgeschäfts S. Adam, Berlin 1911, nach einem Entwurf von Louis Oppenheim Poster stamp for the clothing store S. Adam, Berlin 1911, based on a design by Louis Oppenheim

Reklamemarke für koschere Margarine der Marke Hadassah, ca. 1910 Poster stamp for Hadassah kosher margarine, ca. 1910

Reklamemarke für koschere Margarine der Marke TOMOR, Motiv: „Das Wochenfest“; nach dem Gemälde von Prof. M. Oppenheim, ca. 1910 Poster stamp for TOMOR brand kosher margarine, showing the Festival of Weeks, based on the painting by Prof. M. Oppenheim, ca. 1910

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CU R R E N T E X H I B I T I O N S

4 D EC E M B E R 20 1 4 TO 31 M AY 20 1 5 RA FA E L ROT H L E A R N I N G C E N T E R

Pictures Galore and Collecting Mania Advertising in Miniature A show devoted to the theme of advertising will continue the series of showcase exhibitions on economic history and the history of consumerism that the Jewish Museum Berlin has organized in recent years. The point of departure is a comprehensive, one-of-a-kind collection of poster stamps generously donated to the museum by Peter-Hannes Lehmann. The stamp-sized pictures were used primarily to promote companies and products. In the years

before the First World War, millions circulated among a public eagerly embracing consumer culture. They were enclosed with products, affixed to letters, and collected in albums. For a short time they spawned a veritable “collecting fever,” especially among schoolchildren. After the founding of the German Empire in 1871, trade and commerce boomed. Entrepreneurship was prized in a period that saw Germany rapidly emerge as one of the world’s leading economic powers. In an age of mass consumption and consumer culture, competition and brand quality were becoming increasingly important—as was the “propaganda” used to promote both products and customer loyalty. In this changing social environment, Jews played an important role, not only in commissioning advertisement, but also as illustrators and producers thereof, whose purpose and significance were widely and hotly debated in contemporary publications. In addition to product promotion, the goal of many advertising professionals of the day—who were convinced of the effectiveness of artistic advertising—was the cultivation of the aesthetic taste of broad groups of consumers. In the hierarchy of advertising media,

the tiny poster stamps did not have the same status as, for example, posters, but many manufacturers included them in their repertoire and used them for promotional purposes. In terms of quality, they ranged from simple pictures to sophisticated art stamps. The diversity of the subjects and designs reflects the wide range of products and companies involved. An especially large number of stamps have survived from the textile and clothing industry, from department stores, and from shoe and leather goods companies—all branches in which Jewish businesspeople were particularly well represented. However, an explicitly Jewish clientele was targeted only by a small number of companies, especially those producing kosher margarine, matzos, and religious objects. This exhibition examines the phenomenon of poster stamps from various angles. It sheds light on their evolution from simple seals to highly popular promotional items, and describes the short-lived mass phenomenon of poster stamp collection. Visitors will learn about stamp production and some of the industries in which Jewish businesspeople were prominently represented. They will also be able to explore art stamps and stamps with an explicitly Jewish link, as well as the stamps’ broad range of subjects. Today, these small poster stamps are often the only visual evidence to have survived two world wars and the Shoah that documents once-flourishing companies and stores. For anyone searching for information on economic history and the history of consumerism, they are a useful resource with many links to holdings of the Jewish Museum Berlin that are bound up with the history of individual companies. And they allow us, by way of an exhibition, to offer an entertaining exploration of a colorful chapter of German advertising history. A German booklet accompanying the exhibition will be available at the museum shop. Leonore Maier

Reklamemarke der Handschuhfirma Potolowsky, Berlin 1897; nach einem Entwurf von Emil Orlik, gedruckt von Selmar Bayer Poster stamp for the glove sellers Potolowsky, Berlin 1897, based on a design by Emil Orlik, printed by Selmar Bayer

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V E RA N STA LT U N G E N

Israelis in Berlin Der Kultursommer 2014 im Jüdischen Museum Berlin In Berlin leben derzeit etliche tausend Menschen mit israelischem Pass. Wie viele es genau sind, lässt sich schwer ermitteln. Die Israelische Botschaft gibt 15.000 an, andere im Raum stehende Zahlen reichen bis zu 30.000. Sicher ist jedoch, dass viele von ihnen jung sind und aktiver Teil der verschiedensten Kunstund Kultursparten. Sie gründen Zeitschriften, eröffnen Restaurants, zeichnen Comics, schreiben Bücher, begründen Tanzstudios, betreiben Klubs und machen Musik. Sie sind damit Teil jener internationalen Kreativszene, die Berlin seit einigen Jahren so anziehend macht. Und gleichzeitig heben sie sich durch die besondere historische Verquickung mit Deutschland von ihr ab. Dieser Tatsache und den mit ihr verbundenen speziellen künstlerischen Schaffensbedingungen widmete sich das Jüdische Museum in seinem Kultursommer 2014. Unter dem Titel „Israelis in Berlin“ stellten israelische Künstler, die derzeit ihren Lebens- und Schaffensmittelpunkt in Berlin haben, ihre Arbeiten vor. Dabei wurde ausgelotet, ob und wie das Spannungsfeld zwischen dem Leben in Berlin und der israelischen Herkunft im künstlerischen Schaffen seinen Niederschlag findet – in lyrischen und belletristischen Texten, Briefen und Theater und in vielfältigen Jazzvariationen. Alle diese Künstler eint ein zeitgenössisches Phänomen: Es gibt für sie keine gemeinsame Antwort mehr auf die Frage nach dem Niederschlag ihrer Herkunft, den Fragen, die reflexhaft allen Israelis gestellt werden. Wie ist

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das Verhältnis zu deutscher Geschichte, wie der Umgang mit dem nicht seltenen Unverständnis in den Familien für die Wahl des Ortes Berlin, gibt es Raum für das Leid der Großeltern? Und nicht zuletzt: Wie gehen sie mit dem gerade wieder aufbrandenden gewalttätigen Konflikt in ihrem Heimatland um? Sie alle haben individuelle Antworten. Als Privatmensch, als Künstler. Und vielleicht ist die Individualisierung der Lebensentwürfe und die Vielseitigkeit der Antworten am ehesten das typisch Israelische der Berliner Israelis. Es ist schwieriger für israelische Künstler in Berlin unpolitisch zu sein, als für andere; dennoch ist auch israelische Kunst in Berlin nicht per se politisch. Man muss sich also einlassen auf die Antworten eines jeden. Um das breite Spektrum dieser Sichtweisen einzufangen, stellte der Kultursommer erstmalig der bereits etablierten Veranstaltungsreihe „Jazz in the Garden“ eine neue an die Seite: „Words beneath the Trees“. In dieser „wortbe-

tonten“ Reihe kamen ein Journalist und Romancier, drei Lyriker, drei Theatermacher und drei Kammermusiker zu Wort. In den seit vielen Jahren erfolgreichen sonntäglichen Matinee-Konzerten „Jazz in the Garden“ waren vier sehr unterschiedliche israelische Musiker und Bands zu hören. Ganz besonders intensiv durfte den Variationsreichtum erleben, wer am 1. Juni zum Auftakt der Reihe beim Kultursommer-Fest im Museumsgarten zu Gast war: Als besonderes Highlight gaben dort alle Musiker bzw. Bands auf der Bühne Ausblicke auf ihre Konzerte im Laufe des Sommers. Nadja Mau


EVENTS

Israelis in Berlin The 2014 Cultural Summer in the Jewish Museum Berlin Many thousands of people with Israeli passports are presently living in Berlin. It is difficult to determine a precise figure. The Israeli Embassy reports 15,000, other figures circulating are as high as 30,000. To be sure, many of them are young, active members of the most diverse art and cultural scenes. They start up magazines, open restaurants or dance studios, draw comics, write

books, run clubs, and make music. They are thus part of the international creative scene that has made Berlin such a magnet in recent years. And at the same time, they set themselves apart from that scene through their particular historical relationship to Germany. The Jewish Museum dedicated its Cultural Summer to this relationship, and the related special working conditions of the artists. Under the title “Israelis in Berlin,” Israeli artists whose life and creative work are currently centered in Berlin presented their work. The project sounded out if, and how, the tension between their lives in Berlin and their Israeli backgrounds is expressed in their artistic work—in lyrical and belletristic texts, letters, and theater, and in diverse jazz variations. All these artists are united by a contemporary phenomenon: They no longer all have the same answer to the question as to how their background finds expression in their work, nor to the questions that all Israelis are automatically

asked: What is your relationship to German history? How do you deal with the commonly expressed lack of understanding in your family regarding your decision to live in Berlin? Is there enough space to acknowledge the suffering of your grandparents? And finally: How do you deal with the violent conflict that is presently flaring up again in your homeland? They all have different answers, as private individuals and as artists. And perhaps what can best be considered “typically Israeli” about the Berlin Israelis is precisely the individualization of their life plans, and the wide range of their answers. It is more difficult for Israeli artists in Berlin to remain apolitical than it is for other artists—and yet Israeli art in Berlin is not political per se. The best approach is simply to open oneself up to the answers each artist offers. In order to capture the wide range of these perspectives, for the first time the museum’s Cultural Summer added a new series, “Talks Beneath the Trees,” to the already established Jazz in the Garden series. In this series focused on words, a journalist and novelist, three poets, three theater artists, and three chamber musicians had a chance to speak. The Jazz in the Garden concerts on Sunday mornings, which have been very popular for years, featured four very different Israeli musicians and bands. Anyone who attended the kick-off festival to the Cultural Summer in the museum garden on 1 June had the opportunity to experience this extremely rich variety all at once: As a special highlight, all musicians/bands came on stage and offered a sample of what audiences would hear in their concerts over the course of the summer. Nadja Mau

Beim Kultursommer-Fest konnten die Besucher alle Musiker der Reihe „Jazz in the Garden“ kennenlernen. At the Cultural Summer party, visitors had the chance to meet all the musicians from the Jazz in the Garden program.

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P R E I S F Ü R V E R ST Ä N D I G U N G U N D TO L E RA N Z

Am 8. November 2014 verleiht das Jüdische Museum Berlin im festlichen Rahmen erneut den „Preis für Verständigung und Toleranz“. In diesem Jahr sind die Preisträger Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble MdB und der Verleger Prof. Dr. Hubert Burda.

Wolfgang Schäuble Wolfgang Schäuble wurde 1942 in Freiburg im Breisgau geboren, wo er später Rechts- und Wirtschaftswissenschaften studierte. Der promovierte Jurist trat noch während seines Studiums der CDU bei und ist seit 1972 Mitglied des Deutschen Bundestages. 1984 wurde er im Kabinett von Helmut Kohl zum Bundesminister für besondere Aufgaben ernannt und Chef des Bundeskanzleramts. Als Bundesminister des Innern (1989–1991) handelte er 1990 den Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands aus. Von 1991 bis 2000 war er Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, 1998 bis 2000 auch Vorsitzender der CDU Deutschlands. 2005 wurde Wolfgang Schäuble im Kabinett von Angela Merkel erneut zum Bundesminister des Innern ernannt. In dieser Funktion rief er 2006 die Deutsche Islam Konferenz ins Leben, mit dem Ziel, einen institutionellen Rahmen für den Dialog zwischen Menschen muslimischen Glaubens und Vertretern aller Ebenen des Gemeinwesens zu schaffen. „Der Islam ist Teil Deutschlands und Teil Europas, er ist Teil unserer Gegenwart und er ist Teil unserer Zukunft. Muslime sind in Deutschland willkommen. Sie sollen ihre Talente entfalten und

sie sollen unser Land mit weiter voranbringen. […] Ich hoffe, dass es mit der Deutschen Islam Konferenz gelingt, nicht nur praktische Lösungen zu finden, sondern auch mehr Verständnis, Sympathie, Friedlichkeit, Toleranz und vor allen Dingen mehr Kommunikation und Vielfalt zu schaffen und damit zur Bereicherung in unserem Land beizutragen“, sagte Schäuble in seiner Regierungserklärung zur Deutschen Islam Konferenz vor dem Deutschen Bundestag. Vertreter muslimischer Verbände begrüßten die Auftaktveranstaltung der Konferenz als historischen Durchbruch. Heute gilt die Deutsche Islam Konferenz als Beginn eines neuen Kapitels im Verhältnis zwischen den in Deutschland lebenden Muslimen und dem deutschen Staat. Seit 2009 ist Wolfgang Schäuble Bundesminister der Finanzen. 2012 wurde er als großer Europäer für seine historischen Verdienste um die Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas und für seinen bedeutenden Beitrag zur Stabilisierung der Währungsunion und zur Vertiefung des europäischen Einigungsprozesses mit dem Internationalen Karlspreis zu Aachen geehrt.

Hubert Burda Hubert Burda, 1940 als dritter Sohn des Verlegerehepaars Aenne und Franz Burda in Heidelberg geboren, studierte Kunstgeschichte, Archäologie und Soziologie. Nach der Promotion 1966 stieg er in das Familienunternehmen ein, zunächst als Verantwortlicher des Anzeigenbereichs der Burda GmbH und als Verlagsleiter von Bild und Funk. Schon bald steigerte er den Umsatz der Zeitschrift um fast 20% – sein verlegerisches Gespür war bewiesen. Nur sieben Jahre später war er als geschäftsführender Gesellschafter der Burda GmbH für den Bereich Verlag zuständig, und 1975 übernahm er zunächst die Redaktionsleitung und ein Jahr später die Chefredaktion der Bunten. 1985 übertrug Franz Burda sen. seine Anteile des Unternehmens auf seine drei Söhne. Unter Hubert Burda, weiterhin für den Bereich Verlag

verantwortlich, wurde die Titelpalette konsequent erweitert, was innerhalb von zehn Jahren zu einer Umsatzsteigerung von 81% führte. 1993 gründete er das Nachrichtenmagazin Focus. Gleichzeitig besaß der junge Verleger bereits früh ein Gespür für neue Medien –, was sich sowohl in seinem Engagement bei verschiedenen Fernseh- und Radiosendern zeigte, als auch in den frühen 1990er Jahren, in denen Burda in eigener Regie begann, internetbasierte Onlinedienste aufzubauen, darunter Focus Online, TraXXX und Health Online Service. Seit 1997 ist Hubert Burda Präsident des Verbandes Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ). Dass es Hubert Burda bei aller Innovationsfreude keineswegs allein um Umsätze geht, sondern auch und vor allem um die Möglichkeiten von Kommunikation, zeigt sein kulturelles und internationales Engagement: 2001 wurde die gemeinnützige Hubert Burda Stiftung gegründet, die verschiedene Stiftungen zu medizinischen und sozio-kulturellen Schwerpunkten vereint. Dazu gehört die Burda Akademie zum Dritten Jahrtausend ebenso wie das „Hubert Burda Center for Innovative Communications“ an der Ben Gurion University of the Negev in Beer Sheva. Das Ziel dieser Institution ist, neben Forschung und Lehre, die Förderung des interdisziplinären Austauschs zwischen israelischen und europäischen Wissenschaftlern, Hightech-Unternehmern und Politikern zu gesellschaftlich relevanten Zukunftsthemen – wie z. B. dem Iconic Turn. Der Träger des Großen Verdienstkreuzes mit Stern der Bundesrepublik Deutschland setzt sich jedoch auch außerhalb von Medien und Wissenschaft für ein tolerantes Miteinander ein und wurde für sein Engagement mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Leo BaeckPreis. Ende der 1980er Jahre unterstützte er die Jerusalem Foundation. Danach war er Mitgründer der Initiative „Partner für Toleranz“, der unter anderem großzügige Spenden für die Shoah-Foundation und für das Zentrum der Israelitischen Kultusgemeinde in München zu verdanken sind.

P R E I S F Ü R V E R ST Ä N D I G U N G U N D TO L E RA N Z Mit dem Preis für Verständigung und Toleranz werden seit 2002 Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Kultur und Politik ausgezeichnet, die sich auf herausragende Weise für Bildung, Menschenwürde und Völkerverständigung einsetzen. Einmal jährlich verleiht die Gesellschaft der Freunde und Förderer der Stiftung Jüdisches Museum Berlin e.V. den Preis gemeinsam mit dem Museum.

P R I Z E FO R U N D E R STA N D I N G A N D TO L E RA N C E

Bundesfinanzminister Dr. Wolfgang Schäuble German Federal Minister of Finance Dr. Wolfgang Schäuble

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Since 2002, the Prize for Understanding and Tolerance has honored individuals from business, culture, and politics who showed an outstanding commitment to education, human dignity, and international understanding. The Prize is awarded annually by the Society of Friends and Supporters of the Jewish Museum Berlin together with the museum.


P R I Z E FO R U N D E R STA N D I N G A N D TO L E RA N C E

On 8 November 2014, the Jewish Museum Berlin will once again host a gala dinner to award the annual Prize for Understanding and Tolerance. This year’s laureates are German Federal Minister of Finance and member of the Bundestag Dr. Wolfgang Schäuble, and the publisher Prof. Dr. Hubert Burda.

Wolfgang Schäuble Wolfgang Schäuble was born in Freiburg im Breisgau in 1942. He studied law and economics in his hometown and went on to earn a Ph.D. in law. Schäuble joined the CDU during his studies, and has been a member of the German Bundestag since 1972. In 1984 he was appointed to Helmut Kohl’s cabinet as Minister for Special Affairs and head of the Federal Chancellery. In 1990, as Minister of the Interior (1989—1991), he negotiated the treaty between the Federal Republic of Germany and the German Democratic Republic on the establishment of German unity. From 1991 to 2000 he headed the CDU/CSU parliamentary group in the Bundestag, and from 1998 to 2000 he also served as CDU chairman. In 2005 Wolfgang Schäuble was once again appointed Interior Minister, this time in Angela Merkel’s cabinet. It was in this capacity that he initiated the German Islam Conference in 2006, with the goal of creating an institutional framework for the dialogue between people of Muslim faith and representatives in all levels of government. “Islam is part of Germany and Europe, it is part of our present and also our future,” Schäuble explained in the statement he made before the Bundestag on the conference.

“Muslims are welcome in Germany. They are encouraged to develop their talents and advance our country. […] I hope that with the German Islam Conference we will succeed not only in finding practical solutions, but also in creating more understanding, sympathy, peace, tolerance, and, above all, dialogue and diversity— and thus in enriching our country.” Representatives of Muslim organizations celebrated the conference’s opening event as a historic breakthrough. Today the German Islam Conference is seen as promoting a new chapter in relations between the Muslims living in Germany and the German government. Wolfgang Schäuble has served as Finance Minister since 2009. In 2012 he received the International Charlemagne Prize of Aachen and was honored as a great European for his historic achievement in overcoming the division of both Germany and Europe and for his important contributions to stabilizing the monetary union and deepening European integration.

Hubert Burda Hubert Burda was born in 1940 as the third son to publishers Aenne and Franz Burda in Heidelberg. He studied art history, archaeology, and sociology. After completing his Ph.D. in 1966, he joined the family business, initially as head of the advertising department of the Burda corporation and as publishing director of Bild und Funk. He quickly increased the magazine’s sales volume by almost 20 percent, which confirmed his intuition for publishing. Only seven years later he became managing partner of the Burda corporation, in charge of the publishing sector; in 1975 he became the managing editor and a year later the editor-in-chief of the magazine Bunte. In 1985 Franz Burda Sr. transferred his shares of the company to his three sons. Hubert Burda, who continued to be in charge of publishing, consistently expanded the spectrum of publications, which led to an 81 percent increase in sales over ten years. In 1993 he founded Focus

news magazine. At the same time, the young publisher already displayed a good feel for the new media, which was evident in his involvement with various television and radio stations, as well as in his initiative in the early 1990s to build up Internet-based online services, including Focus Online, TraXXX, and Health Online Service. Burda has been the president of the Association of German Magazine Publishers (VDZ) since 1997. His innovativeness notwithstanding, Burda is by no means concerned only with sales volume, but in particular also with the potential of communication. This is evident on the basis of his cultural and international dedication: the nonprofit Hubert Burda Foundation started in 2001 is an umbrella for various foundations with medical and sociocultural focuses. This includes the Burda Academy for the Third Millennium as well as the Hubert Burda Centre for Innovative Communications at Ben Gurion University of the Negev in Beer Sheva. This institution is involved in research and teaching, as well as promoting interdisciplinary exchange between Israeli and European scientists, high-tech companies, and politicians on socially relevant themes of the future, such as the Iconic Turn. A recipient of the Grand Order of Merit with Star of the Federal Republic of Germany, Burda has championed the cause of tolerant coexistence also outside of the world of media and science, and has received numerous distinctions for his efforts, including the Leo Baeck Award. In the late 1980s he supported the Jerusalem Foundation and later co-founded the “Partners for Tolerance” initiative, which among other things has made generous donations to the Shoah Foundation and the Center of the Jewish Religious Community in Munich.

Prof. Dr. Hubert Burda INSIDE JMB

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D I R E KT I O N

Berlin – Princeton – Berlin Peter Schäfer stellt sich vor Im Sommer 2013, nach 15 glücklichen Jahren an der Universität Princeton, beschloss ich mich von meinem Lehrstuhl für Judaistik zurückzuziehen. Meine Frau Barbara und ich kehrten zurück nach Berlin, wo wir vor unserem Umzug nach Princeton viele Jahre gelebt hatten. Sosehr ich mich darauf freute, die Kinder und Enkel nun öfter zu sehen, so wenig Lust hatte ich auf das europäische Verständnis von „Ruhestand“. Zu den vielen wichtigen Dingen, die mich die USA gelehrt haben, zählt, dass es so etwas wie „Ruhestand“ nicht gibt: Solange das Leben weitergeht und solange man fit ist, hört man nicht auf zu lernen und das auszuüben, was man gelernt hat. Dennoch ist es eine gewaltige Herausforderung, Direktor des Jüdischen Museums Berlin zu werden. Als ich einwilligte, Michael Blumenthals Nachfolge anzutreten, kam ich mir mehr als kühn vor. Wobei ich nicht sagen kann, dass ich mir die Entscheidung leicht gemacht hätte. Aber schließlich tröstete ich mich damit, dass ohnehin niemand in seine Fußstapfen treten könnte. Unter Michael Blumenthals herausragender Leitung ist das Jüdische Museum Berlin zu einem der größten und beliebtesten jüdischen Museen Europas geworden und zu einem Leuchtturm innerhalb der reichen Museumsszene Deutschlands. Die deutsch-jüdische Geschichte und Kultur, die fast 2.000 Jahre umspannen, sind wieder im Herzen der Hauptstadt der neuen deutschen Republik angekommen. Es wird nicht leicht sein, dieses Vermächtnis zu pflegen und weiterzuführen, und ich bin sehr dankbar, dass Michael Blumenthal sich bereit

erklärt hat, mich während der nächsten zwei Jahre mit seiner unschätzbaren Erfahrung zu unterstützen. Zwei große Aufgaben stellen sich dem neuen Direktor. Zum einen die Neugestaltung der Dauerausstellung. Nach 15 Jahren ist es an der Zeit, die bisherige Ausstellung zu ersetzen, denn viel hat sich seither geändert, sowohl was unsere Sicht auf die jüdische Geschichte betrifft als auch die Möglichkeiten, sie zu visualisieren und in einem Museum darzustellen. So sind viele altbewährte Stereotype ins Wanken geraten: sei es die allzu statische Vorstellung von andauernden Feindseligkeiten zwischen Christen und Juden, oder jene von den angeblich tief verwurzelten Gegensätzen zwischen Ostjuden und Westjuden oder auch zwischen Stadtjuden und Landjuden. Die Rolle, die die jüdische Religion über Jahrhunderte innerhalb einer sich stetig wandelnden Gesellschaft gespielt hat, ist neu zu bewerten. Auch die Auswirkungen des Zionismus und der Gründung des Staates Israel auf die deutsch-jüdische Geschichte gilt es genauer zu beleuchten. Und was Präsentationsweisen angeht, hat die digitale Revolution Möglichkeiten eröffnet, die vor 15 Jahren noch gar nicht vorstellbar waren und die die neue Dauerausstellung auf jeden Fall prägen werden. Die zweite Hauptaufgabe besteht darin, die erst kürzlich eingerichtete Akademie des Jüdischen Museums Berlin als Forum der öffentlichen Debatte über Gegenwartsfragen auszubauen. Zusätzlich zu den Programmen zu Migration und Diversität sehe ich die Akademie des Museums als einen Schauplatz lebhafter Diskussion über die Geschichte der drei monotheistischen Religionen und darüber, wie diese besondere Geschichte mit all ihren politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen heute unser Leben prägt. In den letzten Wochen bin ich oft gefragt worden: Sie haben noch nie für ein Museum gearbeitet – wie kommt es, dass Sie nun das Angebot annehmen, Direktor des Jüdischen Museums Berlin zu werden? Ganz richtig, antwortete ich, aber als Universitätsprofessor habe ich vor langer Zeit gelernt, dass Forschen und Lehren

Prof. Dr. Peter Schäfer trat im September die Nachfolge von Prof. W. Michael Blumenthal als Direktor des Jüdischen Museums Berlin an. In September, Prof. Dr. Peter Schäfer succeeded Prof. W. Michael Blumenthal as Director of the Jewish Museum Berlin.

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zusammengehören und dass gute und erfolgreiche Forschung immer durch die Lehre überprüft und korrigiert werden muss. Zu lehren heißt, das zu vermitteln, was man selbst gelernt hat und zu wissen hofft; es für eine breitere Öffentlichkeit relevant und verfügbar zu machen. Es heißt auch, genau auf die Rückmeldungen des Publikums – also der Menschen, die bei uns lernen wollen – zu hören und unsere Lehre entsprechend anzupassen. Das ist die wesentliche Tätigkeit eines Universitätslehrers, und ich glaube, es ist auch für den Direktor eines jüdischen Museums der Kern seiner Aufgabe. Die zweite Frage, die mir gestellt wurde, ist heikler: Sie sind kein Jude, meinen Sie nicht, der Direktor eines jüdischen Museums sollte ein Jude sein? Diese Frage hat mich als Judaist mein ganzes Berufsleben lang begleitet. Bevor der zuständige Wissenschaftssenator mir den Lehrstuhl für Judaistik an der Freien Universität Berlin anbot, fragte er zwei Menschen in Deutschland, was sie von meiner Ernennung hielten: den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, der keine Einwände hatte, und den israelischen Botschafter, der antwortete: Peter Schäfer, ja, ernennen Sie ihn auf jeden Fall, er hat in Israel studiert und spricht Hebräisch! Mein Vorgänger auf dem Lehrstuhl, Jacob Taubes, gab eine sehr prägnante Antwort auf diese Frage: Ein Mathematiker muss kein Dreieck sein. Und ich bin tatsächlich der Meinung, dass weder ein Judaistikprofessor noch der Direktor eines jüdischen Museums unbedingt Jude sein muss. Was zählt, ist die berufliche Kompetenz, und eben diese Kompetenz hoffe ich zum Wohle des Jüdischen Museums Berlin einsetzen zu können. Natürlich weiß ich um die besondere Bedeutung, die darin liegt, dieses so wichtige Museum einem nichtjüdischen Deutschen anzuvertrauen, und ich nehme die Herausforderung nicht ohne Bangen, aber auch mit viel Energie für die bevorstehenden Aufgaben an. Und ich weiß, ich kann dabei auf die Unterstützung eines großartigen, höchst sachkundigen und engagierten Teams zählen. Peter Schäfer


M A N AG E M E N T

Berlin – Princeton – Berlin Peter Schäfer Introduces Himself In the summer of 2013, after 15 happy years at Princeton University, I decided to retire from my chair in Jewish Studies. My wife Barbara and I wanted to be closer to our children and grandchildren living in London and Berlin, and we were weary of transatlantic travels. So we relocated to Berlin where we had lived for many years before moving to Princeton. I was glad about the prospect of seeing my children and grandchildren more often, but I was not looking forward in particular to the European notion of “retirement.” Among the many important things I learned in the US is the fact that there is no such thing as “retirement:” as long as life goes on, and one is fit, one continues to learn and to practice what one has learned. But still, to become the Director of the Jewish Museum Berlin is an enormous challenge. To begin with, to accept the offer to succeed Michael Blumenthal felt more than bold. I cannot say that I did this lightheartedly—quite the contrary, I spent several sleepless nights—but finally took comfort in the fact that, as nobody is fit to fill his shoes, I might as well give it a try. Under Michael Blumenthal’s exceptional leadership, the Jewish Museum Berlin is today one of Europe’s largest and most popular Jewish museums and a beacon of the rich museum scene in Germany. German Jewish history and culture, a history of almost 2,000 years, has once again arrived at the very heart of the capital of the new German republic. It won’t be easy to cultivate and develop this heritage, and I am grateful that Michael Blumenthal has agreed to assist me for the next two years with his incredible experience. Two major tasks

await the new director. The first is the design and implementation of a new permanent exhibition. After 15 years the present exhibition has matured, and the time has come to renew it. Much has changed during these years, both in our perception of Jewish history, and in the possibilities to present and visualize it in a museum. As to the perception, many cherished stereotypes have begun to falter, such as the all too static opposition of an eternal hostility between Christians and Jews, the allegedly ingrained opposition between Ostjuden and Westjuden, or the opposition between Stadtjuden (Jews living in cities) and Landjuden (Jews living in the countryside). The role the Jewish religion played over hundreds of years within a constantly changing society needs to be reconsidered. And not least of all, the impact of Zionism and of the establishment of the State of Israel on German-Jewish history deserves to be reassessed. As to the new possibilities, the digital revolution has made possible display techniques that couldn’t have been imagined 15 years ago, and that will definitely shape the new exhibition. The second major task is to build the recently established Academy of the Jewish Museum Berlin as a forum of public debate about present-day issues. Its current nucleus is a program on migration and diversity that aims at fostering the discussion about immigration and an emerging pluralistic society in Germany—a more than timely subject. Another timely subject is the Jewish-Muslim dialogue. Such a dialogue has been inaugurated at the Academy, and this topic clearly deserves further attention and thought, and should probably be supplemented with Christianity as the third monotheistic religion. In time, I envision the museum’s Academy as a place of vibrant debate about the history of the three monotheistic religions, and how this particular history, with all its political and social implications, shapes our life today. Over the last few weeks, I have frequently been asked: You have never worked for a museum before—why did you accept the position of the director of the Jewish Museum Berlin? Or, the less benevolent version of the question: What makes you believe that you are qualified for this

job? Quite correct, I answered, but as a university professor, I long ago learned that research and teaching belong together, and that good and successful research always needs to be tested on— and corrected by—teaching. Teaching means to communicate what one has learned and hopes to know into the public domain—that is, to make it relevant for and accessible to a wider public. It is also to listen carefully to feedback from the public (our students) and adapt our teaching accordingly. This is, in essence, what a university professor does, and I think is also at the heart of the job description of the director of a Jewish museum. The other question I have been asked is more delicate: You’re not Jewish. Don’t you think the director of a Jewish museum should be Jewish? This question has accompanied me all my life as a professor of Jewish Studies. Before he offered me the chair of Jewish Studies at the Freie Universität Berlin, the senator of the State of Berlin responsible for the appointments of university professors asked two people in Germany what they thought about my appointment. He asked the head of the Jewish community in Berlin—who didn’t have any objections—and the Israeli ambassador, who answered: Peter Schäfer, yes, by all means, do appoint him, he studied in Israel and he speaks Hebrew! My predecessor at this Chair, Jacob Taubes, had a very succinct response to this question: A mathematician doesn’t need to be a triangle. So indeed, I am of the opinion that neither a professor of Jewish Studies nor the director of a Jewish museum need to be Jewish. What counts is their professional expertise, and it is this expertise that I hope to utilize for the benefit of the Jewish Museum Berlin. But, of course, I am aware of the significance of entrusting this vitally important museum to a non-Jewish German, and I accept that challenge with some trepidation and much energy for what lies ahead. And I know that I have a splendid, knowledgeable, and dedicated team to support me with this task. Peter Schäfer

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„Höre die Wahrheit, wer sie auch spricht“ als Motto die Fassade der Akademie des Jüdischen Museums ziert.

MEDIEN

VON DER HAUPTSTADTPOSSE ZUR ERFOLGSGESCHICHTE

Die Entstehung des Jüdischen Museums Berlin 1971–2001

Schriften des Jüdischen Museums Berlin Als im Jahr 2012 die Akademie des Jüdischen Museums Berlin eröffnete, entstand der Wunsch, dem erweiterten Forschungsspektrum auch im Publikationsbereich Rechnung zu tragen. Zwei Jahre später erscheinen nun die ersten „Schriften des Jüdischen Museums Berlin“. Die neue Publikationsreihe thematisiert die Vielfalt der jüdischen Erfahrung vor dem Hintergrund allgemeiner historischer und kultureller Entwicklungen in Deutschland und Europa. Sie widmet sich Fragen nach der Darstellung von Geschichte und reflektiert die Bedeutung von Diaspora im Hinblick auf die jüdische Tradition und die gesellschaftspolitischen Veränderungen der Gegenwart. Die einzelnen Bände richten sich an ein breites, wissenschaftlich interessiertes Publikum und umfassen sowohl Forschungen zu historischen Themen als auch kultur- und sozialwissenschaftliche Bestandsaufnahmen unserer Gesellschaft. Um eine möglichst große Leserschaft zu erreichen, werden unsere Schriften auch als EBooks, in vielen Fällen sogar open access veröffentlicht und damit kostenlos zum Download zur Verfügung stehen. Möglich wird das durch die Zusammenarbeit mit dem international renommierten Wissenschaftsverlag Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen. Die ersten „Schriften des Jüdischen Museums“, die online, in Buchläden und Bibliotheken zu finden sein werden, umfassen zwei Bände: Eine Abhandlung zur Entstehungsgeschichte des Museums sowie Untersuchungen zur Einflussund Rezeptionsgeschichte des jüdischen Philosophen Moses Maimonides, dessen Sentenz

Daniel Bussenius beschreibt in diesem Buch, wie es zur Ergänzung des ehemaligen Kammergerichtsgebäudes in der Kreuzberger Lindenstraße um den berühmten Bau von Daniel Libeskind kam. Wie konnte sich das Projekt, das Berlin Museum um ein Gebäude – unter anderem für seine jüdische Abteilung – zu erweitern, in ein Projekt für ein nationales Museum zur deutsch-jüdischen Geschichte verwandeln? Welche Kontroversen gingen damit einher? Der Autor rekonstruiert die Entstehungsgeschichte des Jüdischen Museums Berlin von 1971 bis 2001. Er erzählt eine Westberliner Geschichte der 1970er und 1980er Jahre und beschreibt deren Fortsetzung im ersten Jahrzehnt nach der deutschen Wiedervereinigung. Seine Ausführungen berühren viele Themenfelder, darunter das deutsch-jüdische Verhältnis, die Entwicklung des geteilten Berlin zur Hauptstadt eines geeinten Deutschlands sowie die Auseinandersetzungen um eine adäquate Erinnerung an die nationalsozialistische Vergangenheit.

Stationen des Werks von Moses Maimonides vom islamischen Spanien bis ins moderne Berlin Der jüdische Arzt, Philosoph und Rechtsgelehrte Moses Maimonides (1135–1204) ist einer der bedeutendsten Gelehrten des Judentums. Seine Werke sind nicht nur von zentraler Bedeutung für die jüdische Tradition, sondern wurden auch von Christen und Muslimen rezipiert. Charakteristische Aspekte von Maimonides’ Schriften wie etwa die Kodifizierung religiöser Literatur und die Popularisierung philosophi-

Daniel Bussenius

F RO M A B E R L I N FA RC E TO A STO RY O F S U CC ESS. On the Origins of the Jewish Museum Berlin 1971–2001 With a foreword by W. Michael Blumenthal Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 224 pages with 15 illustrations hardcover, € 39.99 German version only

INSIDE JMB

Mirjam Wenzel

„ H Ö R E D I E WA H R H E I T, W E R S I E AU C H S P R I C H T “

Daniel Bussenius VON DER HAUPTSTADTPOSSE ZUR ERFOLGSGESCHICHTE Die Entstehung des Jüdischen Museums Berlin 1971–2001 Mit einem Vorwort von W. Michael Blumenthal Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 224 Seiten mit 15 Abbildungen Gebunden, € 39,99

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scher Bildung werden in diesem Band vorgestellt und unter Bezugnahme auf die almohadische Bewegung in Spanien und Nordafrika reflektiert. Auch bislang unbekannte muslimische und christliche Lesarten vom arabischen Mittelalter bis ins moderne Berlin finden Erwähnung. Die von Lukas Muehlethaler herausgegebene Aufsatzsammlung folgt den Spuren von Moses Maimonides’ Aufforderung „Höre die Wahrheit, wer sie auch spricht“ und betrachtet das Werk des Gelehrten nicht in einem Kontinuum jüdischer Philosophie, sondern als Teil der jeweiligen kulturellen und geistesgeschichtlichen Strömungen.

KO M M E N D E V E R Ö F F E N T L I C H U N G : B E I T R Ä G E Z U R R U SS I S C H -J Ü D I S C H E N G EG E N WA RT I N D E U TS C H L A N D Hg. von Karen Körber, mit Beiträgen von Melanie Eulitz, Alina Gromova, Meron Mendel, Darja Klingenberg, Lena Gorelik, Karen Körber Der Sammelband befasst sich mit aktuellen Fragen und Forschungen zur jüdischen Gegenwart in Deutschland. Die Beiträge zeigen exemplarisch auf, in welcher Weise Phänomene von Mobilität und Migration sowie Prozesse der Pluralisierung von Identitäten und kulturellen Praktiken kennzeichnend für das jüdische Leben in Deutschland sind.


MEDIA

F RO M A B E R L I N FA RC E TO A STO RY O F S U CC ESS.

On the Origins of the Jewish Museum Berlin

Studies of the Jewish Museum Berlin When the Academy of the Jewish Museum Berlin was opened in 2012, the desire arose to accommodate the expanded range of research in the field of publications. Now, two years later, the first volumes of the series Schriften des Jüdischen Museums Berlin (Studies of the Jewish Museum Berlin) are being published. This new series examines the diversity of the Jewish experience within the context of general historical and cultural developments in Germany and Europe. It is dedicated to questions revolving around the representation of history, and reflects upon the meaning of diaspora with respect to Jewish tradition and the sociopolitical changes of the present. The individual volumes are aimed at a broad audience with an interest in scholarship, and include studies of historical topics, as well as social and cultural analyses of society. In order to reach the largest possible audience, the studies will also be available as e-books, in many cases in open access format and thus as free downloads. This has been made possible by the collaboration with Vandenhoeck & Ruprecht, an internationally renowned academic publisher in Göttingen. The first two volumes in the series, which will be available online, in bookstores, and in libraries, consist of a work on the origins of the Jewish Museum Berlin and a collection of essays on the influence and reception of the Jewish philosopher Moses Maimonides, whose maxim “Hear the truth, whoever speaks it” is inscribed on the facade of the Academy of the Jewish Museum Berlin.

In this work Daniel Bussenius describes the circumstances leading to the construction of the famous structure by Daniel Libeskind as an extension of the former appeals court building in Lindenstrasse in the Berlin district of Kreuzberg. The original goal of the project was to expand the Berlin Museum to include a building that housed, among other things, a department devoted to Jewish history and culture. How did this project end up producing a national museum of German Jewish history? What controversies were associated with it? The author reconstructs the history of the origins of the Jewish Museum between 1971 and 2001, recounting a true West Berlin story from the 1970s and 1980s and describing its sequel during the first decade after German reunification. His account touches upon many issues, including German-Jewish relations, the evolution of once-divided Berlin into the capital of a united Germany, and the debate on appropriate forms of remembrance regarding the country’s Nazi past.

takes as its cue Moses Maimonides’ appeal to “Hear the truth, whoever speaks it” and considers the scholar’s work not within a continuum of Jewish philosophy, but as part of various cultural and intellectual movements. Mirjam Wenzel

“ H E A R T H E T R U T H , W H O E V E R S P E A K S I T. “

Milestones in the Work of Moses Maimonides from Islamic Spain to Modern Berlin Moses Maimonides (1135–1204) was a Jewish physician, philosopher, and Torah expert who is considered one of the most important scholars in Judaism. His works are not only of central importance to the Jewish tradition, but were also read and interpreted by Christians and Muslims. This essay collection not only introduces characteristic aspects of Maimonides’ writings, such as the codification of religious literature and the popularization of philosophical education, but also reflects upon these elements with respect to the Almohad movement in Spain and North Africa. In addition, it presents previously unknown Muslim and Christian interpretations from a period spanning the Arab Middle Ages to modern Berlin. Edited by Lukas Muehlethaler, it

F O RT H CO M I N G P U B L I C AT I O N : CO N T E M P O RA RY R U SS I A N -J E W I S H L I F E I N G E R M A N Y ed. Karen Körber, with contributions by Melanie Eulitz, Alina Gromova, Meron Mendel, Darja Klingenberg, Lena Gorelik, Karen Körber German version only This anthology examines current issues and research related to contemporary Jewish life in Germany. The contributions show how Jewish existence in Germany is characterized by the phenomena of mobility and migration, as well as by pluralization processes affecting identities and cultural practices.

Lukas Muehlethaler (Hg.) „ H Ö R E D I E WA H R H E I T, W E R S I E AU C H S P R I C H T “ Stationen des Werks von Moses Maimonides vom islamischen Spanien bis ins moderne Berlin Mit Essays von Lukas Muehlethaler, Sarah Stroumsa, Maribel Fierro, Gregor Schwarb, Görge K. Hasselhoff, Yitzhak Melamed und George Kohler 96 Seiten, mit 5 Abbildungen und Glossar Deutsch und Englisch Print on demand, € 29,99; als kostenlose Open Access-Version hier abrufbar: http://www.vr-elibrary.de/isbn/9783525300671 Lukas Muehlethaler, ed.

“ H E A R T H E T R U T H , W H O E V E R S P E A K S I T. “ Milestones in the Work of Moses Maimonides from Islamic Spain to Modern Berlin With Essays by Lukas Muehlethaler, Sarah Stroumsa, Maribel Fierro, Gregor Schwarb, Görge K. Hasselhoff, Yitzhak Melamed and George Kohler 96 pages with 5 illustrations and glossary German and English Print on demand € 29.99; available as an open access publication at http://www.vr-elibrary.de/isbn/9783525300671

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BILDUNG

Vielfalt in Schulen Für eine interkulturelle Öffnung von Schulen und diskriminierungsfreie Bildung Im Februar 2012 hat das Jüdische Museum Berlin in Zusammenarbeit mit der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) das dreijährige Projekt „Vielfalt in Schulen“ gestartet. Ziel des von der Stiftung Mercator geförderten Projekts war es, die interkulturelle Öffnung von drei Berliner Schulen zu unterstützen. Gemeinsam mit den Schulen wollten wir die Entwicklung einer wertschätzenden Schulkultur befördern sowie gezielt Diskriminierung aufgrund von Migrationsgeschichte und sozialer Herkunft abbauen.1 Der Ansatz des Projekts ergibt sich aus den Bedingungen der Migrationsgesellschaft, in der sich alle gesellschaftlichen Institutionen auf die vielfältigen Biografien, Zugehörigkeiten und sozialen Hintergründe ihrer Mitglieder einstellen müssen. Dazu gehören auch und vor allem Bildungsinstitutionen, die in besonderem Maße der individuellen Förderung jedes und jeder Einzelnen verpflichtet sind. Das JMB und die DKJS arbeiteten dabei erstmals zusammen und brachten ihre jeweilige Expertise aus der kulturellen und historischpolitischen Bildung sowie der Schulentwicklung und Prozessbegleitung ein. Alle drei Partner – Stiftung Mercator, DKJS und JMB – setzen sich mit dem Projekt dafür ein, für Schülerinnen und Schüler unabhängig von ihrer Herkunft gleiche Bildungschancen zu schaffen. Ausgehend von dem Gedanken, dass Veränderungen an Schulen vor allem von Lehrerinnen und Lehrern umgesetzt werden, haben wir die 1 Siehe JMB Journal Nr. 6 (2012), S. 36–37.

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Fortbildungsreihe „Klischees reflektieren – Individuen stärken“ konzipiert und umgesetzt. Wir beschäftigten uns zunächst mit den Herausforderungen, die sich für Schulen aus der Tatsache ergeben, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist: Sie müssen sich stärker als bisher der Heterogenität der Bevölkerung anpassen. In den Fortbildungen wurden konkrete Handlungsspielräume für sukzessive Veränderungen aufgezeigt und diskutiert. In weiteren Veranstaltungen befassten wir uns zum Beispiel mit den Sozialen Medien, die im Alltag vieler Jugendlicher eine große Rolle spielen, thematisierten Antisemitismus und Israelfeindlichkeit und beschäftigten uns mit dem Thema Diversität in der Jugendliteratur. Wir griffen dabei aktuelle Diskussionen auf, etwa über eine möglichst diskriminierungsfreie Lektüre für Kinder und Jugendliche und über die angemessene Repräsentanz der heterogenen Bevölkerung Deutschlands in Lernmedien. Eine besondere Erfahrung war im Sommer 2013 die erste Ausstellung im Jüdischen Museum, die von Schülerinnen und Schülern erarbeitet wurde, mit dem Titel „ZeitDinge“. Dabei ging es einerseits darum, museumsspezifisches Wissen über Objektarbeit und Ausstellungsgestaltung an Lehrerinnen und Lehrer weiterzugeben. Andererseits sollte die Umsetzung die Schülerinnen und Schüler unmittelbar in Kontakt mit der praktischen Museumsarbeit bringen. In den zweieinhalb Jahren der Projektlaufzeit war die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung eine wichtige Kooperationspartnerin. Durch ihre langjährige Erfahrung war die DKJS dem Team des JMB eine gute Unterstützung in der Umsetzung von Fortbildungsinhalten, aber auch in der konkreten Arbeit mit den Schulen. Eine von der DKJS engagierte Prozessbegleiterin moderierte die Zielfindungsprozesse und Vernetzungstreffen und unterstützte die Schulen bei der Umsetzung ihrer Vorhaben. Ziel der Abschlusstagung „Schule und Museum in der Migrationsgesellschaft“ am 13. und 14. Oktober 2014 war es, den Austausch unter den Akteuren der unterschiedlichen Arbeits-

felder Schule, Museum sowie diskriminierungskritische Pädagogik in freier Trägerschaft anzuregen und durch eigene Impulse, Erfahrungen und Reflexionen zu bereichern. Im Vordergrund stand hierbei die praktische Arbeit mit den drei Partnerschulen des Projekts „Vielfalt in Schulen“ sowie mit weiteren Partnerschulen des Museums. Es wurden Erfahrungen präsentiert und zur Diskussion gestellt. Auf zwei Panels ging es um folgende Fragen: Was ist gemeint, wenn von Migrationsgesellschaft, Vielfalt und diskriminierungskritischer Pädagogik gesprochen wird? Wie können Schulen und Museen im Feld Diversität und Antidiskriminierung zusammenkommen und wie können Politik und Gesellschaft die interkulturelle Öffnung von Schulen unterstützen? In den Arbeitsgruppen wurde diskutiert, wie sich beispielsweise das Sprechen über Diskriminierung in den Schulalltag integrieren lässt oder wie heterogenitätsorientiertes und individualisiertes Lernen ganz praktisch umgesetzt werden kann. Ein Ergebnis der guten Zusammenarbeit im Projekt ist der Wunsch der Schulen, mit dem Jüdischen Museum Berlin auch in Zukunft eng zusammenzuarbeiten. Zwei der insgesamt drei Schulen haben einen Kooperationsvertrag von vier Jahren mit dem Museum unterzeichnet. Vorschläge, wie der Umgang mit Vielfalt im Rahmen schulischer Entwicklungsprozesse gelingen kann, werden Ende Januar 2015 in einer Broschüre zum Projekt und auf der Homepage des JMB zusammengestellt. Damit wollen wir unsere Erfahrungen auch anderen Schulen, Museen und weiteren Interessierten zur Verfügung stellen. Nach zweieinhalb Jahren „Vielfalt in Schulen“ hat sich für uns klar gezeigt, dass vor allem eine konsequente diskriminierungskritische Perspektive und eine die Heterogenität wertschätzende Haltung für eine erfolgreiche interkulturelle Öffnung von Schulen wichtig sind. Meral El, Rosa Fava


E D U C AT I O N

Diversity in Schools A Project to Promote Intercultural Awareness in Schools and Discrimination-free Education In February 2012, the Jewish Museum Berlin launched a three-year project entitled “Diversity in Schools,” in cooperation with the German Children and Youth Foundation (DKJS). The goal of this initiative, which was funded by the Stiftung Mercator, was to promote intercultural awareness in three Berlin schools. Working together with the schools, we aimed to encourage the development of a respectful school culture and, specifically, to reduce discrimination due to migration status and social origin. 1 The approach adopted by the project reflects conditions in a society shaped by migration, in which all social institutions need to adapt to the different biographies, affiliations, and social backgrounds of the population. Prominent among these institutions are educational facilities, which have a special obligation to support and advance each and every individual. This was the first time that the JMB and the DKJS worked together, and both organizations contributed their own expertise in cultural and historico-political education, school development, and facilitation. In the project, all three partners—Stiftung Mercator, the DKJS, and the JMB—championed the creation of equal educational opportunities for all students, regardless of their origins. Proceeding from the belief that it is mainly teachers who effect change at schools, we developed and implemented a series of training courses entitled “Reflecting on Stereotypes, Strengthening Individuals.” We initially focused 1 See JMB Journal No. 6 (2012), 36–37.

on the challenges that schools face in Germany as an immigration country: To a greater extent than in the past, schools must adapt to the heterogeneity of the population. In the individual training courses, the scope for gradual change was shown and discussed. At additional events, we dealt with social media (which play a large role in the daily lives of many young people), addressed anti-Semitism and hostility toward Israel, and examined the theme of diversity in young-adult literature. We also took up the current discussion of discrimination-free reading material for children and young people, and appropriate ways to represent the heterogeneous population of Germany in learning media. One special highlight was ZeitDinge (“TimeThings”), the first exhibition at the Jewish Museum to be developed by school students, which ran in summer 2013. On the one hand, this project aimed to impart to teachers museumspecific knowledge about exhibition design and the work with objects. On the other, it sought to give students a direct experience of practical museum work. During the two-and-a-half year duration of the project, the DKJS was an important partner. Thanks to its many years of experience, it provided the JMB team with excellent support, not only in implementing the content of the training courses, but also in the actual work with schools. A facilitator engaged by the DKJS moderated both the goal-definition process and the network meetings, and assisted the schools in carrying out their projects. The objective of the final conference, “Schools and Museums in a Migration Society”—held on 13 and 14 October 2014—was twofold: to foster an exchange of ideas among the representatives of the different fields (schools, museums, and independent anti-discrimination educational organizations), and to allow participants to contribute their own experiences, observations, and impetus. The conference focused on the practical work with the three schools in the Diversity in Schools project, and with other schools with which the museum has partnered. Experiences were presented and discussed. Two

panel discussions centered on the questions, “What is meant by migration society, diversity, and anti-discriminatory education?” and “How can schools and museums join together to support diversity and anti-discrimination, and how can government and society promote the intercultural openness of schools?” The working groups discussed how, for example, talks on discrimination can be integrated into daily school life and how individualized, heterogeneity-oriented learning can be implemented in practical ways. One result of the fruitful cooperation in the project was the schools’ wish to continue working closely with the Jewish Museum Berlin in the future. Two of the three schools have signed a four-year cooperation agreement with the museum to that end. In late January 2015, tips on how the topic of diversity can be successfully tackled in school development processes will be presented in a booklet about the project, and on the homepage of the Jewish Museum Berlin. Using these media, we hope to make our expertise available to other schools and museums and additional interested parties. After two and a half years of Diversity in Schools, we have seen quite clearly that a systematic combination of an anti-discriminatory perspective and a respectful attitude toward heterogeneity is crucial for successfully promoting intercultural awareness at schools. Meral El, Rosa Fava

Die Ausstellung „ZeitDinge“ war Lehrerfortbildung und Schülerprojekt zugleich. The exhibition ZeitDinge (TimeThings) combined teacher training with student project work.

INSIDE JMB

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VO R S C H AU

PREVIEW

> V E RA N STA LT U N G E N

> E V E N TS

1 1 . U N D 1 2 . D E Z E M B E R 20 1 4

1 1 A N D 1 2 D EC E M B E R 20 1 4

Jüdische Gegenwart in der globalisierten Moderne

Contemporary Jewish Life in a Global Modernity

Vergleichende europäische Perspektiven auf eine Diaspora im Wandel Internationale Konferenz

Comparative European Perspectives on a Changing Diaspora International Conference

Nach dem großen Einschnitt durch den Holocaust kann im vereinten Europa des 21. Jahrhunderts heute wieder von einem „europäischen Judentum“ gesprochen werden. Neue Formen jüdischer Existenz lassen sich beobachten, die von einem urbanen jüdischen „Lifestyle“ über Patchwork-Identitäten bis hin zu einer wachsenden religiösen Vielfalt reichen. Diese Prozesse geben nicht nur Auskunft über eine Pluralisierung jüdischer Identitäten und Praktiken, sie werfen auch Fragen auf in Hinblick auf das künftige Selbstverständnis einer jüdisch-europäischen Diasporagemeinschaft. Das Jüdische Museum Berlin nimmt den geschilderten Wandel zum Anlass, sich im Rahmen einer internationalen Konferenz jenen Fragen, Konflikten und Herausforderungen zuzuwenden, die sich für die jüdische Gegenwart in Europa stellen.

After the great rupture of the Holocaust, in the twenty-first century’s unified Europe it has once again become possible to speak of “European Jewry.” We are seeing new forms of Jewish existence that range from urban “lifestyle Judaism,” to patchwork identities, to a growing diversity of religious orientations. These processes reveal a pluralization of Jewish identities and practices, but they also raise new questions about the future identity of a Jewish-European diaspora community. In response to such developments, the Jewish Museum Berlin is hosting an international conference to discuss the issues, conflicts, and challenges that face contemporary Jewish life in Europe.

1 8 . B I S 23. A P R I L 20 1 5

1 8 TO 23 A P R I L 20 1 5

intonations

intonations

Das Jerusalem International Chamber Music Festival im Jüdischen Museum Berlin

The Jerusalem International Chamber Music Festival at the Jewish Museum Berlin

Das Jerusalem International Chamber Music Festival unter der Leitung der renommierten Pianistin Elena Bashkirova ist eines der bedeutendsten Kulturereignisse in Israel und vereint exzellente Musiker aus der ganzen Welt. Seit 2012 ist es in jedem Frühjahr auch im Jüdischen Museum Berlin zu Gast. Hier findet das Festival eine zweite Heimat und mit dem Glashof eine außergewöhnliche Bühne für seine Idee: Junge vielversprechende Talente, Mitglieder internationaler Spitzenorchester und namhafte Solisten feiern gemeinsam mit dem Publikum den Dialog der Kulturen und die Liebe zur Kammermusik.

The Jerusalem International Chamber Music Festival under the direction of the renowned pianist Elena Bashkirova is one of the most important cultural events in Israel, uniting excellent musicians from all over the globe. Every spring since 2012, it has also been a welcome guest at the Jewish Museum Berlin. Here the festival has found a second home and in the Glass Courtyard an extraordinary stage for its concept—young promising talents, members of top international orchestras, and renowned soloists celebrate the dialog of cultures and the love of chamber music together with the audience.

> KO M M E N D E AU SST E L LU N G

> U P CO M I N G E X H I B I T I O N

22 . M A I B I S 1 3. S E PT E M B E R 20 1 5

22 M AY TO 1 3 S E PT E M B E R 20 1 5

Die Akeda – Die Opferung Isaaks

The Akedah—The Sacrifice of Isaac

Die Erzählung von Urvater Abraham, der bereit ist, auf Gottes Befehl seinen Sohn zu opfern, ist eine der umstrittensten Episoden der Bibel. In den drei monotheistischen Religionen gehört sie zu den bedeutenden und zugleich populärsten Geschichten und zu den ersten, die überhaupt bildlich dargestellt wurden. Der Text, der im Judentum als Bindung Isaaks überliefert ist, wirft bis heute theologische, historische und moralische Fragen auf, die von den drei Religionen unterschiedlich beantwortet werden. Der britische Filmemacher Peter Greenaway und die Theater- und Medienkünstlerin Saskia Boddeke bereiten für das Jüdische Museum Berlin die große Ausstellung über den Gottesgehorsam des Stammvaters und die Gefährdung Isaaks vor. Mit Gemälden, historischen Objekten, mit Zeitdokumenten und medialen Installationen entwerfen sie eine erlebnisreiche Inszenierung, die sich ausdrücklich der aktuellen Bedeutung dieses Themas öffnet.

The story of the patriarch Abraham and his willingness to sacrifice his son at God’s command is one of the Bible’s most controversial episodes. In the three monotheistic religions, it is among the most notable and also most popular stories, and was one of the first to be represented in pictorial form. Even today, the narrative—referred to in Jewish tradition as the “Akedah” or “Binding of Isaac”—raises theological, historical, and moral questions that have been answered differently by Judaism, Christianity, and Islam. British filmmaker Peter Greenaway and Dutch theater director and media artist Saskia Boddeke are preparing a large-scale exhibition for the Jewish Museum Berlin on Abraham’s obedience to God and the endangerment of Isaac. Using paintings, historical artifacts, documents, and media installations, they will stage an exciting exhibition that opens up space for the contemporary relevance of the Akedah theme.

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INSIDE JMB


Jakob Steinhardt, Eva und die Schlange, 1953. Ankauf aus Mitteln der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin Jakob Steinhardt, Eva und die Schlange (Eve and the Serpent), 1953. Purchased with funds provided by Stiftung DKLB


The Jewish Woman A Blessing and a Nag Die jüdische Frau Ein Segen und eine Nervensäge

Olga Mannheimer

„Du sollst dir kein Bildnis machen“ – der Allmächtige wusste, warum dieses Verbot nottut. Genutzt hat es nichts: Sein auserwähltes Volk pauschalisiert und karikiert auf Teufel komm raus, nicht einmal Er bleibt von den Vorurteilen verschont. Umso weniger die jüdische Frau. Fasst man die Vorstellungen über sie zusammen, erscheint sie als Synthese aus Segen und Nervensäge. Worin genau sie sich als Säkulare von einer Nichtjüdin unterscheidet, ist schwer zu sagen. Gleichwohl werden ihr spezifische Klischees zugeschrieben: Die Abstammung, der Bezug zur Religion oder zur Tradition, die Generation, das Alter, der Beruf, der soziale Status – all das sind stereotypträchtige Anhaltspunkte. Es gibt Gemeinplätze über die aschkenasische oder die sephardische Jüdin, über die Fromme, die Assimilierte und die (woher auch immer) Neueingewanderte. Doch die zwei populärsten Klischees, welche die gegensätzlich zugespitzten Pole der jüdischen Mythologie bilden, karikieren die Frauen anhand ihres Familienstands: als Mutter oder Tochter. Die jiddische Mamme verkörpert tiefste Güte und heroisches Durchhaltevermögen. Sie rackert sich zeitlebens ab, um Familie und Tradition vor dem Untergang zu retten. Aus den erbrachten Opfern gewinnt sie ihr Prestige. In der jüdischen Kitschkultur wird sie zum Herzpunkt des Judentums verklärt – und in den Anekdoten als Despotin karikiert. Kult- und Spottfigur zugleich, gewährleistet die Mutter nicht nur dem Religionsgesetz nach die jüdische Identität: Komplexe, Schuldgefühle, Paranoia, innere Zerrissenheit – alle Neurosen, die erfahrungs- und literaturgemäß einen mit sich und der Welt hadernden Juden ausmachen, sind, wenn nicht dem Antisemiten, dann der Mamme geschuldet. Die Selbstaufopferung, Daseinsgrund der jiddischen Mamme, begründet nämlich ihre moralische Überlegenheit und die (latent?) vorwurfsvollen Ansprüche an dankbare Fürsorge, die die erwachsenen Kinder nie vollends zu erfüllen vermögen. Also plagen sie sich fortwährend mit schlechtem Gewissen, das sie durch Ironie abzuwehren versuchen. Deshalb ist die folkloristische Bedeutung der Mamme noch größer als die familiäre. Ihre übermächtige Gestalt – eine Mischung aus Sisyphus und Mossad-Agent – inspiriert zahllose Geschichten. Gründlicher als jede andere Figur der jüdischen Welt erzeugt sie das „Leiden unter dem Mischpochalen“ (Anton Kuh), das die Juden hinauftreibt. Die Rolle der Mutter geht mit der der Ehefrau bestens einher, steht diese doch ebenfalls unter terroristischem Generalverdacht. Der Kernunterschied liegt darin, dass das weibliche Machtstreben hier nicht unbedingt der Kinder bedarf – der Ehemann tut’s auch. Der Überlieferung nach regiert die Frau über die Familie, führt den Haushalt und tyrannisiert hauptberuflich den Gatten, der sich ihrem Regime mit gutmütiger Resignation fügt. Die „beste aller Ehefrauen“ (Ephraim Kishon) steht mit

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“Thou shalt not make unto thee any graven image”—the Almighty knew why this commandment was necessary. But to no avail. His chosen people generalize and caricature come hell or high water; not even He is spared the preconceptions, much less the Jewish woman. If all the preconceived notions are amalgamated, she appears to be a synthesis of a blessing and a nag. It is hard to say how a secular Jewish woman differs from a non-Jewish woman. All the same, specific clichés are attributed to her: relating to her ancestry, religion and tradition, her generation, her age, her profession, her social status—all of these are points of reference burdened by stereotypes. However, the two most popular clichés form the opposing, overstated poles of Jewish mythology, caricaturing women on the basis of their familial position: mother or daughter. The Yiddishe Mama toils away her entire life to save family and tradition from disaster. And her sacrifice is rewarded with prestige: In the Yiddish kitsch culture, she is glorified as the heart and soul of Judaism, and caricatured in anecdotes as a despot. Thereby the mother is a guarantor of the Jewish identity, not only according to religious law: complexes, feelings of guilt, paranoia, inner turmoil. Who is to blame for all of these literary and real neuroses that constitute a Jew at odds with himself and the world? If not the anti-Semite, then the mama. Self-sacrifice, the Yiddishe Mama’s raison d’être, forms the basis for her moral superiority and the (latent?) accusatory demands for grateful care. Perpetually plagued by guilt, the grown children try to stave it off with irony. This is why the folkloristic significance of the mama is even greater than the familial one. Her overpowering figure, a mixture of Sisyphus and Mossad agent, has inspired countless stories. The role of the mother corresponds very well with that of the wife, as she, too, is under general suspicion of terrorism. The main difference lies in the fact that the feminine pursuit of power does not necessarily require children—the husband suffices. According to tradition, the woman rules over the family, runs the household, and tyrannizes her spouse as her full-time occupation. In return, he good-naturedly resigns himself to her regime. Because the husband praises God in his daily prayers for not making him a woman, and


Sophie Tucker ist eine der bekanntesten Interpretinnen von „My Yiddische Momme“. Sophie Tucker was one of the best-known performers of My Yiddishe Mama.

beiden Beinen in der Welt und hat immer recht, selbst wenn sie sich irrt. Weil der Mann im täglichen Segensspruch Gott dafür preist, dass er ihn nicht als Weib erschaffen hat und die Frau nach altisraelitischem Recht ihm untergeordnet war, gilt das Judentum nach außen hin als Patriarchat. Aus der Binnenperspektive wird es aber als Matriarchat empfunden. Ein Beispiel für dieses widersprüchliche, im Grunde durchaus ausgewogene Machtverhältnis findet sich in dem Film „Geliebte Aphrodite“ von Woody Allen: Auf die Frage seines Sohnes, „Wer ist hier der Boss?“, ruft der Vater aus: „Wie kannst du das fragen? Ich bin der Boss! Die Mama trifft nur die Entscheidungen.“ Die in solchen Verhältnissen aufwachsende Tochter wünscht verständlicherweise, nicht so zu werden wie die Mutter. Diesem Wunsch wird sie am besten als jüdische Prinzessin gerecht. Der in den USA als Jewish American Princess gezüchtete Frauentypus gedeiht mittlerweile auch in der Partyszene europäischer Metropolen. In der Regel stammt die Princess von Eltern ab, die sich ihren Wohlstand hart erarbeitet haben und später ihre verpfuschte, entbehrungsreiche Jugend durch maßloses Verwöhnen der eigenen Kinder kompensieren wollen. Als Antipode zur jiddischen Mamme charakterisiert, hat die Prinzessin durchaus einiges mit ihr gemeinsam – etwa die Selbstüberschätzung, die Anspruchshaltung, die Wichtigtuerei und ihren hohen Parodiewert. Beide Figuren verdanken ihre Bekanntheit nicht zuletzt der Songindustrie: Der alte amerikanische Hit „My Yiddishe Momme“ inspirierte eine Reihe europäischer Schnulzen, während Frank Zappa der Jewish Princess ein sarkastisches Lied widmete. In zahlreichen Anekdoten wird sie als ein verzogenes, konsumgieriges Luder gezeichnet, das nicht kochen kann und auch für sonstige Aufgaben im Haushalt nichts übrig hat. Zu ihrem Erscheinungsbild gehören falsche Fingernägel, gefärbte Haare, Designklamotten und eine chirurgisch korrigierte Nase. Nicht unbedingt hübsch, aber immer gestylt, gilt sie als sexy, wenn auch selten lustvoll. Ist die Selbstaufopferung das Wesensmerkmal der jiddischen Mamme, so kennzeichnet die Selbstsucht ihre egomanische Gegenfigur. Eitel, überheblich, faul und sittlich verdorben, ist die Prinzessin ihr fleischgewordener Alptraum. Wir kennen den Unterschied zwischen Erkenntnis und Mythologie. Ob Mamme oder Princess – es handelt sich jeweils um Stilisierungen, die der Rollendistanzierung oder der Abhängigkeitsabwehr dienen und keineswegs ein wahrhaftiges Bild der jüdischen Frau abgeben. Genau genommen sind alle jüdischen Frauen gleich. Nur ich bin anders. Olga Mannheimer studierte Romanistik und Slawistik. Sie arbeitete als Dolmetscherin, Übersetzerin und Lektorin. Heute ist sie Journalistin und interkulturelle Trainerin.

according to ancient Israelite law the wife was subordinate to him, Judaism appears outwardly to be very patriarchal. From an internal perspective, however, it feels matriarchal. This paradoxical power relationship, which is in fact rather balanced, is illustrated in Woody Allen’s film Mighty Aphrodite, when the son Max asks his father: “Who is the boss between you and mommy?” to which the father Lenny calls out: “Who is the boss? You have to ask that? I’m the boss. Mommy is only the decision maker.” The daughter raised under such conditions understandably wishes not to be like her mother when she grows up. She can best fulfill this wish as a “Jewish Princess.” The type of woman bred in the United States to be a “Jewish American Princess,” meanwhile, also thrives in the party scene in major European cities. The Princess generally comes from a family in which the parents worked hard for their prosperity and now they try to compensate for their botched, deprived youth by spoiling their own children beyond all measure. Characterized as an antipode to the Yiddishe Mama, the Princess nevertheless does share some common ground with her—for instance, the hubris, entitlement mentality, the self-righteousness, and her high parody value. Both figures owe their renown not least to the song industry. The old American hit My Yiddishe Mama inspired a series of European tear-jerkers, and Frank Zappa dedicated a sarcastic song to the Jewish Princess. Countless anecdotes describe her as a spoiled, consumer-crazy brat who cannot cook. Her appearance is marked by fake fingernails, dyed hair, designer clothes, and a surgically corrected nose. Not always beautiful, yet always styled, she is considered sexy, albeit rarely lustful. If self-sacrifice is the essential feature of the Yiddishe Mama, it is selfishness that characterizes her egomaniacal antipode. The Princess is the mama’s nightmare incarnate. We know the difference between knowledge and mythology. Whether Mama or Princess, each one is a stylization that serves to create a distance to the role or to fight off dependence; in any case, it does not present a true picture of the Jewish woman. Strictly speaking, all Jewish women are the same. Except for me. Olga Mannheimer majored in Romance and Slavic studies, worked as an interpreter, translator, and editor, and is currently pursuing a career as a journalist and intercultural trainer.

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Gibt es einen islamischen Feminismus? Is There an Islamic Feminism?

Rafiqa Younes

Islam and women’s rights, even Islam and feminism— that may sound like a contradiction in terms. Islam is regarded as a patriarchal religion, and thus irreconcilable with emancipation and female autonomy. For many Western feminists, therefore, emancipation means women dissociating themselves from religion. Yet at present, an Islamic feminist movement is emerging that defines itself as part of the global women’s movement. Islamic feminism aims to reread and reinterpret the Qur’an from a woman’s perspective. However, the term feminism is perceived as an antireligious concept, and attracts harsh criticism in Muslim circles. Even those Muslim women who are committed to rereading the Qur’an do not always describe themselves as feminists. Many dismiss the word as a political slogan—after all, the liberation of Muslim women is often cited to justify military interventions, as in Afghanistan. Islamic feminism defines its own approach, without casting doubt on the status of the Qur’an as its foundational sacred text. On the contrary, Islamic feminists focus mainly on the interpretation of the Qur’an, viewing other Islamic sources—especially those of Islamic jurisprudence—as far less important. The reason they give for this emphasis on Qur’anic interpretation is their view that Islamic jurisprudence, which began to develop in its classical form in the ninth century, is deeply permeated with patriarchal ways of thinking and acting. Along with general questions on the role of the sexes in society, family law plays a particularly crucial role for Muslim women and men, concerning issues around marriage, divorce, and inheritance. Islamic family law and its regulation of gender relations is applied in many predominantly Muslim societies as a component of civil law. Amina Wadud, a US professor of Islamic studies, is widely considered an icon of Islamic feminism. She reads the Qur’an in a new way regarding equal status of women within the family, in Islamic family law, and in the performance of religious offices. She speaks of a “gender jihad,” a religiously motivated battle for gender equality. Wadud caused an international stir in March 2005 when she took on the role of prayer leader, traditionally reserved for men, and led a Friday prayer in which women and men participated together. The methods applied by Islamic feminists in reading religious sources differ from those of Islamic tradition, and this is often criticized. The skeptics reject the practice of interpreting religious texts without drawing

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Islam und Frauenrechte oder gar Feminismus, das scheint ein unüberwindbarer Widerspruch. Denn der Islam gilt als patriarchale Religion und damit als unvereinbar mit Emanzipation und weiblicher Selbstbestimmung. Für viele westliche Feministinnen geht Emanzipation daher mit einer Distanzierung von Religion einher. Dabei lässt sich durchaus die Herausbildung einer islamisch-feministischen Bewegung beobachten, die sich selbst als Teil der globalen Frauenbewegung betrachtet. Der islamische Feminismus zielt auf eine Re-Lektüre und -Interpretation des Korans aus weiblicher Sicht ab. Der Begriff Feminismus als vermeintlich antireligiöses Konzept stößt jedoch innerhalb muslimischer Kreise auf starke Kritik. Selbst muslimische Frauen, die sich für eine Re-Lektüre des Korans einsetzen, bezeichnen sich nicht immer als Feministinnen. Der Begriff wird als politische Terminologie abgelehnt, da militärische Einsätze, wie zum Beispiel in Afghanistan, mit der Befreiung muslimischer Frauen legitimiert werden. Der islamische Feminismus definiert einen eigenen Zugang, wobei die grundlegende religiöse Schrift, der Koran, als Quellentext nicht infrage gestellt wird. Stattdessen beschäftigen sich islamische Feministinnen vorrangig mit dessen Auslegung. Andere islamische Quellen betrachten sie als nachrangig, insbesondere die Hadith-Sammlungen zu den Aussprüchen und Handlungen des Propheten Mohammed oder die der islamischen Rechtswissenschaft, mit der Begründung, dass diese tief von patriarchalen Denk- und Verhaltensweisen durchdrungen seien. Als Galionsfigur des islamischen Feminismus gilt die USamerikanische Professorin für Islamwissenschaft Amina Wadud. Sie liest den Koran neu in Hinblick auf die Gleichstellung von Frauen in der Familie, im islamischen Familienrecht und in der Ausübung religiöser Funktionen. Dabei spricht sie vom „Gender Jihad“, vom religiös motivierten Kampf für Geschlechtergleichheit. Internationales Aufsehen erregte sie im März 2005, als sie die traditionell einem männlichen Vorbeter vorbehaltene Rolle übernahm und ein Freitagsgebet leitete, an dem sowohl Frauen als auch Männer teilnahmen. Die Methoden islamischer Feministinnen für eine Re-Lektüre religiöser Quellen unterscheiden sich von denen der islamischen Tradition und ziehen deshalb Kritik auf sich. Die Interpretation religiöser Quellentexte ohne die Hinzunahme weiterer relevanter


on other relevant sources that are important to the process of reaching judgment; they believe it reflects a superficial understanding of the production of Islamic knowledge, and see this break with classical scholarship as akin to the methods of “purist” or reformist forces. For this reason, some Muslims categorize Islamic feminism as part of the modernist reform movement in Islam, a spectrum that also includes Islamist thinking. Because the debates around family law are mainly conducted by Muslim elites, these approaches to theological questions, methodologies, and findings seem to be rather exclusive. In fact, however, international and local NGOs across the world—in the United States and Europe as well as in North Africa, the Near and Middle East, and Southeast Asia—are currently working for women’s rights on the basis of Islamic law. For example, Wadud joined with like-minded women in Malaysia to found the organization “Sisters of Islam,” which calls for women’s rights within the framework of Islamic discourse. In Germany, too, there are women examining the Islamic sources, especially the Qur’an, from a gendered perspective, looking at gender justice and equality and offering alternative exegeses. An important voice is the Center for Islamic Women’s Studies and Women’s Promotion (ZIF) in Cologne, which draws most clearly on feminist thought in its analyses. But the ZIF’s interpretations are not part of the Muslim mainstream, and receive little attention within the Muslim communities. For the coming years, a more lasting impact on the discussion of gender justice and equality in Germany looks likely to come from the newly established professorships of Islamic theology, with their research into gender perspectives on Islamic sources. How much influence these research groups will have on Islamic debate and Muslim communities will depend on how they choose to approach their study of religious writings. The discourse of Islamic feminism, and the encounter with its different actors and regional accentuations, reveals the great diversity of viewpoints held by Muslim women. This makes it very clear that in gender issues, as in others, “Islam” is by no means the monolithic entity it is so often assumed to be. Rafiqa Younes is a scholar of Islamic Studies and a member of the Academy Programs Department of the Jewish Museum Berlin, where she is in charge of the Jewish-Islamic Forum. Her dissertation deals with Muslim interest groups in Germany.

Quellen, die maßgeblich sind für den Prozess der Urteilsfindung, wird von den Kritikern als ein zu oberflächliches Verständnis der islamischen Wissensproduktion zurückgewiesen. Dieser Bruch mit der klassischen Gelehrsamkeit ähnele dabei den Methoden puristischer bzw. reformerischer Kräfte. Deshalb gibt es muslimische Stimmen, die den islamischen Feminismus als eine Form des modernen Reformislam kategorisieren, in dessen Spektrum auch islamistische Ansätze fallen. Obwohl die Auseinandersetzungen mit dem Familienrecht insbesondere von muslimischen Eliten geführt werden und daher die Zugänge zu den theologischen Fragestellungen, Methoden und Ergebnissen exklusiv wirken, setzen sich internationale aber auch lokale Nichtregierungsorganisationen in den USA und Europa ebenso wie in Nordafrika, dem Nahen und Mittleren Osten bis hin nach Südostasien für Frauenrechte auf Basis des islamischen Rechts ein. Auch in Deutschland lassen sich Akteurinnen finden, die mit geschlechtsbezogener Perspektive die islamischen Quellen, insbesondere den Koran, auf Geschlechtergerechtigkeit und -gleichheit hin untersuchen und alternative Interpretationen anbieten. Hier ist vor allem das Zentrum für islamische Frauenforschung und Frauenförderung (ZIF) in Köln zu nennen, das sich am deutlichsten auf feministische Diskurse in ihrer Analyse bezieht. Allerdings sind auch ihre Interpretationen nicht Teil des muslimischen Mainstream und bleiben deshalb kaum beachtete Auslegungen innerhalb der Gemeinden. Eine Chance, die Diskurse zu Geschlechtergerechtigkeit und -gleichheit in den nächsten Jahren in Deutschland maßgeblich zu prägen, stellen die Forschungen zu geschlechtsbezogenen Perspektiven auf islamische Quellen an den neu eingerichteten islamischen Theologielehrstühlen dar. Entscheidend für das Ausmaß des Einflusses auf innerislamische Diskurse und die Gemeinden wird hier auch der gewählte methodische Zugang zu den religiösen Schriften sein. Im Diskurs des islamischen Feminismus und in der Auseinandersetzung mit seinen Akteurinnen und regionalen Differenzen zeigen sich die sehr diversen Sichtweisen muslimischer Frauen. Und es wird deutlich, dass „der Islam“ auch in Geschlechterfragen nicht die monolithische Einheit ist, als die er von außen gerne gesehen wird. Rafiqa Younes ist Islamwissenschaftlerin und als Mitarbeiterin der Akademieprogramme des Jüdischen Museums Berlin zuständig für das Jüdisch-Islamische Forum. Ihr Dissertationsprojekt befasst sich mit Interessensvertretungen muslimischer Akteure in Deutschland.

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Kinder, Küche, Kirche? Children, Kitchen, Church?

Iris Blochel-Dittrich

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Kinder, Küche, Kirche—until the mid-twentieth century, and in West Germany well into the postwar period, the famous triad of “children, kitchen, church” defined the life set out for women by conservative worldviews.1 Does that mean the church is a women’s matter? And if these “three Ks” form the cornerstones of women’s oppression in a patriarchal society, then what is the route to a new freedom? Clearly, even emancipated women have children, cook, and believe—even if it’s with less intensity than in earlier epochs. So what is the situation of women and the church today? That question has received little coverage in the media in recent years. Not surprising, perhaps, because the topic of women in Christianity seems rather unspectacular. Many years have passed since the last scandals: the ordination of seven Roman Catholic women on a Danube steamer in 2002, or the resignation from all her leadership roles of Margot Käßmann, formerly chair of the Council of the German Protestant Church (EKD). Day-to-day life in the country’s own Christian congregations is often quite relaxed, offering little material for the press. But even dramatic developments abroad, such as the decision to ordain women as bishops in the Church of England, take only a marginal place in the German media. Has the “woman question” become obsolete, now that the era of feminist activism in the 1970s and 1980s is over? Everyday religious practice in Christianity does not distinguish between men and women. In domestic life, there are no special regulations or binding customs that go beyond regionally and historically accumulated convention, and women and men are treated equally when it comes to the important stations of life: baptism, communion, confirmation, marriage, burial. It is only in admission to spiritual offices that more profound distinctions are made between men and women, since the Christian Church traditionally restricts priesthood to men. In the present day, however, a broad spectrum of situations exists. In the Orthodox churches, the notion of impurity excludes women of childbearing age from entering the sanctuary, yet in some cases women are admitted to the diaconate. In the Roman Catholic Church, women’s ordination is ruled out on principle. The various Protestant denominations handle the “woman question” in rather different ways, on the basis of an

Kinder, Küche, Kirche – bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts, in der alten Bundesrepublik sogar weit in die Nachkriegszeit hinein, beschrieb diese Trias den Lebensraum, den eine konservative Sichtweise Frauen zumaß.1 Ist Kirche etwa Frauensache? Wenn diese drei K’s die Eckpfeiler der Unterdrückung der Frau in einer patriarchalen Gesellschaft darstellen – was ist der Weg in die neue Freiheit? Ganz offensichtlich haben auch emanzipierte Frauen Kinder, kochen und glauben – wenn auch nicht in der Intensität früherer Zeiten. Wie steht es also heute mit der Frau und der Kirche? Aus den Medien ist in den letzten Jahren zu diesem Thema nicht viel zu hören. Verständlich, denn das Thema Frau im Christentum erscheint wenig spektakulär. Die letzten Skandale – die Priesterweihe von sieben römisch-katholischen Frauen auf einem Donauschiff im Jahr 2002 oder der Rücktritt von Margot Käßmann, der ehemaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche, von allen kirchlichen Leitungsämtern – liegen Jahre zurück. Die oft recht entspannte Lebenspraxis in den Gemeinden bietet wenig Stoff für Berichte, aber auch aufsehenerregende Neuentwicklungen wie die Zulassung von Frauen zum Bischofsamt in der Church of England werden eher am Rande erwähnt. Ist die „Frauenfrage“ nach der Zeit feministischen Aufbruchs in den 1970er und 80er Jahren obsolet geworden? Die religiöse Alltagspraxis macht im Christentum keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen. Für den häuslichen Bereich gibt es keine Festlegungen oder verbindlichen Sitten, die über regional und historisch gebundenes Brauchtum hinausgehen und in den wichtigen Lebensstationen – Taufe, Eucharistie, Aufnahme in die Gemeinde, Eheschließung, Beerdigung – werden Männer und Frauen gleich behandelt. Gravierende Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt es lediglich im Zugang zu geistlichen Ämtern, denn traditionell ist das Priesteramt in der christlichen Kirche Männern vorbehalten. Mittlerweile sehen wir uns einem breiten Spektrum gegenüber: In den orthodoxen Kirchen schließt einerseits das Konzept der Unreinheit Frauen im gebärfähigen Alter aus dem Altarraum aus, andererseits wird aber teilweise ein Diakonat der Frau verwirklicht. In der römisch-katholischen Kirche wird die Frauenordination grundsätzlich abgelehnt. Die verschiedenen evangelischen Denomi-

1 Sylvia Paletschek, “Kinder—Küche—Kirche,” Etienne Francois, ed. Deutsche Erinnerungsorte, Munich: Beck 2001, vol. 2, 419–33.

1 Sylvia Paletschek: Kinder – Küche – Kirche. In: Etienne Francois (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 2, München 2001, S. 419-433.

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Eine Frau liest beim Gottesdienst das Evangelium. Ökumenischer Kirchentag, 2010 A woman reading the gospel during church service. Ecumenical church assembly, 2010.

essentially secular understanding of the priestly office. Worldwide, around 15 percent of the Christian churches permit women’s ordination, with a clear emphasis on Western Europe and North America. In Germany the figure is around 50 percent. This means most church leadership roles are reserved for men. The radio station Deutschlandfunk puts the criticism in a nutshell: “Given this, what highly qualified woman would decide to make her career in the Church?”2 However, that question overlooks something at the very core of a Christian life. In Christian teaching, personal fulfillment and the striving for social success are regarded as obstacles on the path to salvation. Even Calvinism, for which high social status is a sign of being chosen by God, sees humility and obedience as crucial values. From the perspective of spirituality, it is our own position toward God that counts, not our position in society. Especially in the Orthodox and Catholic churches, the most important divide is not between women and men, but between the laity and the clergy. Ideally, the decision to pursue a spiritual life grows from a feeling of vocation. Aspiration to office does not make a saint—and it is no coincidence that so many saints’ legends involve an attempt to avoid the next step on the career ladder. The best known is the story of St. Martin, who hid in a goose pen to escape being made Bishop of Tours. In this case, the critical view from outside—the view of the moderately religious or nonreligious surrounding society, for which free development of the individual is among the highest values—misses the key point. Someone who decides to serve does not simply renounce, and neither does he plan a career in the secular sense; he senses that his path is set out for him. From this point of view, striving for higher office would be an act of individual self-realization, and as such incompatible with Christian values.3 According to a recent study by the Cologne Institute of Economic Research, this situation does not seem to cause any particular hardship. In fact, in statistical terms Roman Catholic women are Germany’s happiest

2 Markus Bleistein, “Nur ein kleiner Schritt. Katholische Kirche, Frauen und die ‘Pille danach,’” Deutschlandfunk, 23 February 2013, http://www.deutschlandfunk.de/nurein-kleiner-schritt.720.de.html?dram:article_id=238297 (accessed 20 August 2014). 3 “Where else are we excluded, apart from in the administration of the sacraments? … I’d probably think differently if I were directly concerned with the dearth of priests—but even then, if I opted for the ordination of women it would be because of the needs of the congregation, not because of a backed-up demand for emancipation.” Ruth Pfau, “Es war, wie wenn man seine große Liebe trifft,” Marianne Dirks, ed. Glauben Frauen anders? Erfahrungen, Freiburg: Herder 1985, 113–14.

Wilhelm Leibl, Drei Frauen in der Kirche, 1882 Wilhelm Leibl, Drei Frauen in der Kirche (Three Women in Church), 1882

nationen behandeln auf Grundlage eines wesentlich säkulareren Verständnisses des Priesteramtes die „Frauenfrage“ recht unterschiedlich. Weltweit erlauben ca. 15% der christlichen Kirchen die Frauenordination mit einem deutlichen Schwerpunkt auf Westeuropa und Nordamerika, in Deutschland sind es etwa 50%. Damit sind auch die meisten leitenden Funktionen Männern vorbehalten. Der Deutschlandfunk bringt die Kritik auf den Punkt: „Welche hoch qualifizierte Frau wird sich dann entscheiden, in der Kirche Karriere machen zu wollen?“2 Diese Frage übersieht allerdings, was den Kern eines christlich geprägten Lebens ausmacht. Selbstverwirklichung und das Streben nach gesellschaftlichem Erfolg gelten in der christlichen Lehre als Hindernisse in der Erringung des Heils. Selbst im Calvinismus, der gesellschaftlichen Erfolg als Zeichen der Auserwähltheit interpretiert, sind Demut und Gehorsam zentrale Werte. Aus dem Blickwinkel der Spiritualität ist die eigene Position zu Gott entscheidend, nicht die gesellschaftliche Stellung. Die entscheidende Trennung insbesondere in den orthodoxen und katholischen Kirchen verläuft nicht zwischen Frauen und Männern, sondern zwischen Laien und Geistlichen. Die Entscheidung für ein geistliches Leben fällt idealerweise aus einem Gefühl der Berufung heraus. Ein Streben nach Ämtern macht keinen Heiligen – nicht umsonst ist der Versuch, dem nächsten Karriereschritt zu entkommen, Bestandteil zahlreicher Heiligenlegenden. Am bekanntesten ist die Flucht des heiligen Martin in den Gänsestall, als er zum Bischof von Tours berufen werden soll. Der kritische Blick von außen, nämlich der der mäßig bis nicht religiösen Umgebungsgesellschaft, die die freie Entfaltung des Individuums für einen der höchsten Werte hält, geht hier am Kern der Sache vorbei. Denn wer sich zum Dienst entschließt, verzichtet nicht nur, er plant auch keine 2 Markus Bleistein, „Nur ein kleiner Schritt. Katholische Kirche, Frauen und die ‚Pille danach‘ “, Deutschlandfunk vom 23. Februar 2013, http://www.deutschlandfunk.de/nur-ein-kleiner-schritt.720.de.html?dram:article_id=238297, abgerufen am 20. August 2014.

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population group.4 The “woman question” does not result in higher numbers of women than men leaving the church,5 nor do significantly more women convert from more restrictive denominations into ones with a greater degree of equality for women. The figures speak for themselves: in Germany’s Lutheran Church, there are 21,000 pastors (33 percent of them women), 220,000 employees of the church administration (75 percent women), and more than a million volunteers (70 percent women). However, in its leadership roles the gender ratio is approximately the same as in society as a whole. In the Roman Catholic clerical professions (monks and nuns, deacons, priests, curates, and pastoral assistants taken together), there is a slight preponderance of women despite the absence of female priests, and the grass roots membership is so female-dominated that the phrase “a women’s church led by men” has become common parlance within the church. Politically committed Catholics in Germany are fighting the battle for participation at the point where it is truly located: the chasm between lay people and clergy. Among Protestants, the conflicts are not dissimilar to those familiar from the secular professions.6 So where are the women? Even if they are underrepresented in leadership positions, they have long since arrived in the churches and are making their own vital contributions there. Iris Blochel-Dittrich studied art history, Slavic studies, and East European studies in Munich, Moscow, and Berlin. She earned her doctorate with a dissertation on the Russian history painter Aleksander Ivanov. She has been working at the Jewish Museum Berlin as a research associate since 1999.

Karriere im weltlichen Sinne, sondern empfindet seinen Weg als vorgegeben. Ein herausgehobenes Amt anzustreben wäre aus dieser Sicht ein Akt individueller Selbstverwirklichung und als solcher nicht mit den christlichen Werten vereinbar.3 Eine aktuelle Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft zeigt auch, dass diese Situation offenbar nicht mit Leid verbunden ist: Ausgerechnet römisch-katholische Frauen sind statistisch gesehen die glücklichste Bevölkerungsgruppe der Bundesrepublik.4 Die Frauenfrage generiert auch weder eine gegenüber den Männern erhöhte Kirchenaustrittsrate,5 noch konvertieren signifikant mehr Frauen von restriktiveren Konfessionen in solche, die die Gleichstellung der Frau bereits stärker verwirklichen. Die Zahlen sprechen für sich: In der evangelischen Kirche Deutschlands kommen auf 21.000 Theologinnen und Theologen (mit 33% Frauenanteil) 220.000 Beschäftigte der verfassten Kirche (Frauenanteil 75%) und über 1 Millionen Ehrenamtliche (Frauenanteil 70%). In leitenden Positionen entspricht das Geschlechterverhältnis jedoch etwa dem in der Gesamtgesellschaft. In geistlichen Berufen der römisch-katholischen Kirche (Ordensleute, Diakone, Priester, Pastoral- und Gemeindereferenten zusammengenommen) herrscht trotz der Nichtexistenz weiblicher Priester ein leichtes Übergewicht der Frauen und die Basis ist so weitgehend weiblich, dass das Schlagwort der „von Männern geleiteten Frauenkirche“ mittlerweile innerkirchlicher Konsens geworden ist. Die Schlacht um Beteiligung wird von den politischer engagierten katholischen Christen dort geschlagen, wo sie eigentlich verortet ist: an der tiefen Kluft zwischen Laien und Klerus. In der evangelischen Kirche Deutschlands ähneln die Konflikte dem, was aus säkularen Berufen bekannt ist.6 Wo bleiben also die Frauen? Auch wenn sie in Führungspositionen unterrepräsentiert sind: Sie sind längst da und prägen die Kirchen entscheidend mit. Iris Blochel-Dittrich promovierte nach dem Studium der Kunstgeschichte, Slawistik und Osteuropastudien in München, Moskau und Berlin über den russischen Historienmaler Aleksandr Ivanov und ist seit 1999 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Jüdischen Museums Berlin.

4 Dominik Enste and Mara Ewers, “Lebenszufriedenheit in Deutschland. Entwicklung und Einflussfaktoren,” IW-Trends—Vierteljahresschrift zur empirischen Wirtschaftsforschung aus dem Institut der deutschen Wirtschaft 41, no. 2 (2014). 5 See Klaus Birkelbach, “Die Entscheidung zum Kirchenaustritt zwischen Kirchenbindung und Kirchensteuer. Eine Verlaufsdatenanalyse in einer Kohorte ehemaliger Gymnasiasten bis zum 43. Lebensjahr” (5 September 2001), http://www.klaus-birkelbach.de/Veroffentlichungen/kirchenaustritte.pdf (accessed 20 August 2014). 6 See Petra Bahr, “Auf der Räuberleiter nach oben,” Christ und Welt 15 (2011). In Catholic bodies with a strong lay presence, such as the Central Committee of German Catholics, the proportion of women is also somewhat more than 30 percent.

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3 „[W]o sonst sind wir ausgeschlossen, außer von der Sakramentenspendung? [...] Vermutlich würde ich anders denken, wenn der Priestermangel mir direkt auf den Nägeln brennte – aber auch dann wäre meine Option für die Ordination der Frau nicht erklärt mit einem Emanzipations-Nachhol-Bedarf, sondern mit den Erfordernissen der Gemeinden.“ Aus: Ruth Pfau: Es war, wie wenn man seine große Liebe trifft. In: Marianne Dirks (Hg.), Glauben Frauen anders? Erfahrungen. Freiburg 1985, S. 113f. 4 Dominik Enste/Mara Ewers: Lebenszufriedenheit in Deutschland. Entwicklung und Einflussfaktoren. In: IW-Trends – Vierteljahresschrift zur empirischen Wirtschaftsforschung aus dem Institut der deutschen Wirtschaft 41, Heft 2 (2014). 5 Vgl. Klaus Birkelbach, Die Entscheidung zum Kirchenaustritt zwischen Kirchenbindung und Kirchensteuer. Eine Verlaufsdatenanalyse in einer Kohorte ehemaliger Gymnasiasten bis zum 43. Lebensjahr. 5. September 2001, http://www.klaus-birkelbach.de/Veroffentlichungen/kirchenaustritte.pdf, abgerufen am 22. August 2014. 6 Vgl. Petra Bahr: Auf der Räuberleiter nach oben. In: Christ und Welt 15 (2011). Auch in katholischen Gremien mit starker Laienbeteiligung wie dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken liegt die Frauenquote bei etwas über 30%.


Mädelbriefe Girls’ Letters The German-Jewish youth movement Kameraden brought together various hiking, youth, and sports clubs, whose members sought a path of their own between anti-Semitism and Jewish nationalism. Around 1920, about one-third of the roughly 3,000 members of the Kamaraden were girls. In principle, the girls had equal rights in the often mixed-sex groups, but they were not permitted to hold the office of Bundesleiter (league manager). Within the Kameraden league, which loved debate in any case, the “woman question”—or rather the “girl question”—played an important role. In 1924, some of the girls started exchanging letters on their role as females, and their own view of themselves within the league. These letters give insight both into the life of the youth league and also into the views of the girls on their own status.1

Die deutsch-jüdische Jugendbewegung „Kameraden“ war ein Zusammenschluss verschiedener Wander-, Jugend- und Sportbünde, deren Mitglieder einen eigenen Weg zwischen Antisemitismus und Nationaljudentum zu finden suchten. Von den etwa 3.000 Mitgliedern waren um 1920 etwa ein Drittel Mädchen, die in den häufig gemischten Gruppen zwar prinzipiell gleichberechtigt waren, vom Amt des Bundesleiters jedoch ausgeschlossen blieben. Innerhalb der diskussionsfreudigen Kameraden spielte auch die „Frauen-“ beziehungsweise „Mädelfrage“ eine wichtige Rolle. 1924 begannen sich einige Mädchen in Briefen über ihre weibliche Rolle und ihr eigenes Selbstverständnis im Bund auszutauschen. Diese Briefe geben einen Einblick sowohl in das Leben des Jugendbundes als auch in die Ansichten der Mädchen zur ihrer eigenen Stellung.1

To the Girls in the Youth League! Dear Girls! The new central leadership has agreed to give the girls in the youth league special status. Up to now, the League was just a youth league, as was apparent in the outside life of the League. In the struggle for the idea of the League (Bundesidee), the girls hardly participated; the girls’ interest in the local groups was and is rather minimal. It is up to the girls to change this for the better. Along these lines I am presenting you here with some questions, which I will first answer for myself, and then ask you to do likewise and respond. Radical honesty is necessary; we do not need

Den Mädels im Bund! Liebe Mädels! Die neue Bundesleitung ist gewillt, den Mädels im Bund eine gewisse Stellung zuzuerteilen. Der Bund war bisher nur ein Jugendbund, das zeigte sich am äußeren Leben des Bundes. Im Kampf um die Idee des Bundes nahmen die Mädels kaum innerlich teil, in den Ortsgruppen war und ist das Interesse der Mädels am Bund sehr gering, daß das besser werde, ist Sache der Mädels. In diesem Gedankengange stelle ich Fragen an Euch, die ich zunächst selbst beantworte u. Euch eurerseits bitte, zu beantworten. Rücksichtslose Ehrlichkeit ist erforderlich, vor den

1 See Stefanie Schüler-Springorum, “Die ‘Mädelfrage’: Zu den Geschlechterbeziehungen in der deutsch-jüdischen Jugendbewegung.” Marion Kaplan and Beate Meyer, ed. Jüdische Welten. Juden in Deutschland vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Göttingen: Wallstein 2005, 136–154.

1 Vgl.: Stefanie Schüler-Springorum: Die „Mädelfrage“. Zu den Geschlechterbeziehungen in der deutsch-jüdischen Jugendbewegung. In: Marion Kaplan, Beate Meyer (Hg.): Jüdische Welten. Juden in Deutschland vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Göttingen 2005, S. 136–154.

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to be embarrassed in front of the boys. They don’t need to know anything about our correspondence. 1. What are the interests of the girls in the league? 2. How can we pique the interest of girls in the league? Girls rarely have their own ideas. Check to see if your ideas and views are something you once read or, more often and more importantly, if you got them from boys. This is important, as you can see by the fact that there are hardly any creative women in art, history, and politics. If we admit that, then we must also acknowledge that our girls can only be recruited for the League idea indirectly. This fact leads to the demand that boys and girls work together. The older girls, from about seventeen on, have to get in touch with the older boys. In a lot of places this is not possible. I believe the reason for this is because the boys and girls have little in common. This common ground is, for me, simply being comrades. Common interests and ideas have to emerge from this. We have to try to bring the boys and girls together for joint social evenings. There, the boys will have a chance to tell (not literally, but in their entire way of being) the girls, who are easily influenced by them, about their love of the League and about the League idea. If the girls also feel fulfilled by the League, they will share their entire approach to life with the boys and then camaraderie will be possible between boys and girls. This camaraderie should not be only between one boy and one girl—this will become friendship—but instead every girl can be a comrade of many boys, and every boy can be a comrade of many girls. In reality this camaraderie already exists in many places. And with God’s help it will emerge everywhere! Hail! Lisa Freund, Hanover, presently Hamburg, Laufgraben no. 37, Paulinenstift

--------------------------------------------------------Dear Lisa Freund, What you wrote in your letter about the status of girls vis-à-vis boys does not apply to our group at all. You can see that by the fact that we have now convened the first only girls’ evening in order to answer your questions. We agree with you that the thoughts of girls are mainly influenced by the boys. But you completely failed to consider that the boys also need the girls. The boys represent the League externally, whereas the girls do the internal work. A girl’s task is to use her essence to train every individual in local groups to be a decent person. Thus her work is also League work. In order to give boys and girls an opportunity to get to know each other and to work together on the league idea, we have joint social evenings. At these events, we have spoken primarily about the new society, as the only firm image of the League is that of the youth movement. And so we spoke about nicotine and alcohol, vegetarianism, clothing, dance, Palestine, French Revolution, the emergence of the proletariat, etc. Here we practice completely free discussion between the boys and the girls. […] We have tried to point a way for you to spur the interest of you girls in the League. This way has brought us a good deal further and [thus] we would like

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Jungens brauchen wir uns nicht zu genieren; die brauchen von unserem Briefwechsel nichts zu wissen. – 1.) Welches Interesse haben die Mädels am Bund? 2.) Wie sind die Mädels am Bund zu interessieren? Mädels haben selten eigene Ideen. Prüft Euch, ob die Ideen und Ansichten, die Ihr habt, nicht angelesen sind, oder, was häufiger und wesentlich ist, nicht von Jungens auf Euch übertragen sind. Daß das wichtig ist, seht Ihr daran, daß es in der Kunst, Geschichte, Politik kaum Frauen gibt, die schöpferisch sind. Wenn wir das einsehen, dann müssen wir auch erkennen, daß unsere Mädels für die Bundesidee nur mittelbar gewonnen werden können. Aus dieser Tatsache ergibt sich die Forderung der Zusammenarbeit der Jungens und Mädels. Die älteren Mädels, etwa von 17 Jahren an, müssen in Fühlung mit den älteren Jungen stehen. Das ist heute vielerorten nicht möglich. Das liegt meiner Meinung nach daran, daß die Jungen und Mädels wenig Gemeinsames haben. Dieses Gemeinsame ist für mich das bloße Kameradsein. Daraus müssen sich gemeinsame Interessen und Ideen ergeben. Wir müssen versuchen, die Mädels und Jungen zu gemeinsamen Heimabenden zusammenzurufen. Dort ist es möglich, daß die Jungen den Mädels, die sich nun mal leicht von ihnen beeinflussen lassen, mitteilen (nicht wörtlich gemeint, sondern in ihrem ganzen Sein) von ihrer Liebe zum Bund u. von ihrer Bundesidee. Wenn die Mädels dann auch vom Bund erfüllt sind, dann haben sie ihre ganze Lebenseinstellung mit den Jungens gemeinsam u. dann ist auch zwischen Jungen u. Mädels [Kameradschaft] möglich, die nicht nur zwischen einem Jungen und einem Mädel sein soll – diese Kameradschaft wird zur Freundschaft – sondern jedes Mädel kann die Kameradin vieler Jungen und jeder Junge der Kamerad vieler Mädel sein. In Wirklichkeit ist diese Kameradschaft vielerorten schon vorhanden, daß sie überall entstehe, das walte Gott! Heil! Lisa Freund, Hannover, z. Zt. Hamburg, Laufgraben 37, Paulinenstift

------------------------------------------------------------------------------------Liebe Lisa Freund, was Du in Deinem Brief über die Stellung der Mädchen zu den Jungen schreibst, davon kann bei uns keine Rede sein. Das ersiehst Du schon daraus, daß wir heute den ersten gemeinsamen Mädchenheimabend einberufen haben, um Deine Fragen zu beantworten. Deine Ansicht, daß der Gedankenkreis der Mädchen in der Hauptsache durch die Jungens beeinflußt wird, halten wir für richtig. Dabei hast Du aber ganz außer Acht gelassen, daß der Junge auch das Mädel braucht. Der Junge vertritt nach außenhin den Bund, während das Mädel die Innenarbeit zu leisten hat. Sie hat jeden einzelnen in O-Gruppen durch ihr Wesen zum Menschen zu erziehen und so wird ihre Arbeit zur Bundesarbeit. – Um Jungen und Mädels Gelegenheit zu geben, sich untereinander kennenzulernen u. sich gemeinsam mit der Bundesidee zu


to expand our League and work directly on it. This means especially that we girls need to learn to think logically in order to speak. We do not wish to talk in platitudes, and if it ever sounded that way in our letters, then we would like to make an effort to free ourselves from that. Hail! A girl for all Königsbergers. Lilly Lassar-Cohn, Königsberg, Vogelweide no. 6

--------------------------------------------------------For the next girls’ letters we propose the following topics: Clothing and nudity, gymnastics, leadership, dance, choice of profession, and then, as you wrote, girls in Jewish family life and marriage. Maybe someone would also write something political, such as about pacifism. I don’t think it is necessary for all local groups to write about the same things […] Else Goldstand, Brösenstrasse no. 2/3

--------------------------------------------------------Dear Lisa, In your responses you have tried to prove that girls have thus far not shown any interest in the League. I would like to challenge that. First I want to tell you that I am interested in the League and I’ll tell you what sort of interest, since of course I can only speak for myself. […] The second question, “How can we pique the interest of the girls in the League?” you answered by saying “Cooperation between boys and girls.” That is impossible for us in Minden, because we don’t have any boys any more. […] But you are right that a good way is for boys and girls to work together. And all of you in the local groups should invest all your will to make that possible. Exchange! Women are naturally uncreative; women have never done pioneering work in any areas. However, a woman is not incapable by nature of sensing something intellectually. It is the task of the boys, with respect to us, to eliminate the harmful influence of the intellect having been oppressed for so long. We, on the other hand, can expand and deepen the emotional life of the boys. If this exchange takes place, then the life of the League is assured and there will be interest in the League. Hail to you, hail to the League! Irma Ginsberg, Minden, presently in Rahden, Westphalia, Marktstrasse no. 234

beschäftigen, haben wir die gemeinsamen Heimabende. An diesen haben wir in der Hauptsache über die neue Gesellschaft gesprochen; denn das einzig feste Bild des Bundes ist das der Jugendbewegung. So sprachen wir über Nikotin u. Alkohol, Vegetarismus, Kleidung, Tanz, Siedlung, frz. Revolution, Entstehung des Proletariats usw. Hier herrscht vollständig freie Aussprache zwischen Jungen u. Mädels. […] Wir haben hier versucht, Euch einen Weg zu weisen, der bei Euch Mädels Euer Interesse am Bund wecken soll. Dieser Weg hat uns ein ordentliches Stück weitergebracht u. [daher] wollen wir heute unseren Bund erweitern u. direkt am Bund mitarbeiten. Dazu gehört vor allem, daß wir Mädchen logisch denken lernen, um dann reden zu können. Wir wollen keine Phrasen dreschen u. wenn es manchmal so in unseren Briefen geklungen hat, so wollen wir uns Mühe geben, uns davon frei zu machen. Heil! Ein Mädel für alle Königsberger. Lilly Lassar-Cohn, Königsberg, Vogelweide 6

------------------------------------------------------------------------------------Für die nächsten Mädelbriefe schlagen wir folgende Themen vor: Kleidung und Nacktheit, Gymnastik, Führertum, Tanz, Berufswahl, dann wie Du schon schreibst, das Mädel im jüd. Familienleben u. Ehe. Vielleicht schreibt auch jemand etwas Politisches z. Bsp. über Pazifismus. Ich halte es nicht für notwendig, daß alle Ortsgruppen über dasselbe schreiben […] Else Goldstand, Brösenstraße 2/3

------------------------------------------------------------------------------------Liebe Lisa! In Deinen Antworten hast Du zu beweisen gesucht, daß Mädels bislang kein Interesse am Bund haben. Ich möchte das anzweifeln. Vorerst will ich Dir sagen, daß ich Interesse am Bund habe u. welches Interesse ich daran habe; denn ich kann natürlich nur von mir sprechen. […] Die zweite Frage: Wie sind die Mädels am Bund zu interessieren? hast Du damit beantwortet, daß Du sagst: „Zusammenarbeit von Jungen und Mädels.“ Das ist bei uns in Minden unmöglich; denn wir haben keine Jungen mehr. […] Aber recht hast Du: Ein guter Weg ist die Zusammenarbeit von Jungen u. Mädels. Und Ihr alle in den Ortsgruppen solltet Euren ganzen Willen einsetzen, das zu ermöglichen. Austausch! Die Frau ist von Natur unschöpferisch – nie hat eine Frau auf irgendeinem Gebiete bahnbrechend gewirkt. Sie ist von Natur aber nicht unfähig zu geistigem Nacherleben. Aufgabe der Jungen uns gegenüber ist es, den schädlichen Einfluß der langen Unterdrückung des Geistes zu beseitigen, wir hingegen können das Gefühlsleben der Jungen erweitern und vertiefen. Findet dieser Austausch statt, dann ist das Bundesleben gesichert, das Interesse am Bund da. Heil Dir, heil dem Bund! Irma Ginsberg, Minden, z. Zt. Rahden, Westf., Marktstr. 234

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Wenn Du eine Frau wärst … Interview mit Sabine Haack und Marie Warburg If You Were a Woman … Interview with Sabine Haack and Marie Warburg

Sabine Haack and Marie Warburg have been active board members of the Jewish Museum Berlin’s Society of Friends and Supporters for many years. Events curator Signe Rossbach spoke with them about fundraising, women and work, and feminism.

Marie Warburg und Sabine Haack sind seit vielen Jahren im Vorstand des Freundeskreises des Jüdischen Museums Berlin aktiv. Signe Rossbach, Kuratorin für Veranstaltungen, hat mit ihnen über Fundraising, Frauen im Berufsleben und Feminismus gesprochen.

Signe Rossbach: What motivates you to work with the Friends and Supporters of the Jewish Museum in addition to your many professional commitments? Do you consider civic engagement a personal responsibility?

Signe Rossbach: Was ist Ihre Motivation, sich neben Ihren zeitintensiven Berufen noch im Freundeskreis des Jüdischen Museums zu engagieren? Ist das auch eine persönliche Verpflichtung für Sie?

Marie Warburg: The Jewish Museum is not a Holocaust museum, but a cultural museum that has a historical focus extending from the past to the present—this is why working with the Friends and Supporters of the Jewish Museum Berlin is especially rewarding for me. And because this involvement is linked to so many issues that are important to me personally: human rights, tolerance and integration. Philanthropy is one of the traditions I grew up with. And, of course, it’s also an important aspect of Jewish tradition. Sabine Haack: I’ve felt a close affinity to the museum since its inception because I closely followed the events leading to its opening—at the time I was Chief of Staff of the German government’s first State Minister for Cultural Affairs. I also feel it is a fundamental duty to do volunteer work in society. Often it’s impossible for me to strictly separate my professional work in the cultural sphere from my private civic engagement. S.R.: What roles do you see the Friends and Supporters of the Jewish Museum Berlin playing in the future of the museum? M.W.: The circle of friends has become much more active in recent years. I particularly enjoyed the open house for the museum’s tenth anniversary, where board members were asked to present their favorite pieces in the permanent exhibition to visitors. An important direction for the future of the museum are projects such as the events of the Darfur-week or the conference on International Justice, as well as the new Academy Programs for Migration and Diversity—such projects that deal with human rights and tolerance in a very concrete way. S.H.: Friends’ societies are first and foremost fundraising enterprises. And that’s how it should be. Everyone who has a network of friends they can draw upon should inspire others to open up their hearts and wallets for the good work of the museum. This is one reason, I’m very pleased that the Friends fund, for example, the buses used for on.tour—the JMB Tours Schools,

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Marie Warburg: Für mich ist das Engagement im Freundeskreis eine sehr schöne Aufgabe, weil das Jüdische Museum kein Holocaust-Museum ist, sondern ein kulturelles Museum mit historischen Bezügen von der Vergangenheit bis zur Gegenwart. Und weil ich damit Themen verbinden kann, die mich persönlich sehr interessieren: Menschenrechte, Toleranz und Integration. Sich ehrenamtlich zu betätigen ist die Tradition, in der ich aufgewachsen bin. Und es ist natürlich auch ein wichtiger Teil der jüdischen Tradition. Sabine Haack: Ich fühle mich seit der Geburt des Jüdischen Museums befreundet mit dem Haus, weil ich dessen Entstehung sehr eng mitverfolgt habe – damals als Büroleiterin des ersten Staatsministers für Kultur in der Bundesregierung. Ich fühle mich außerdem ganz grundsätzlich zu ehrenamtlichem Engagement in der Gesellschaft verpflichtet. Da kann ich meine berufliche Tätigkeit im Kulturbereich häufig nicht streng von meinem privaten Engagement trennen. S.R.: Wie sehen Sie die Rolle des Freundeskreises, das Museum in der Zukunft zu begleiten? M.W.: Der Freundeskreis ist sehr viel aktiver geworden in den letzten Jahren. Ganz besonders hat mir der Tag der offenen Tür zum zehnjährigen Jubiläum des Museums gefallen, an dem Mitglieder des Vorstands des Freundeskreises aufgefordert waren, Besuchern ihre „Lieblingsstücke“ im Museum vorzustellen. Richtungsweisend für die Zukunft des Museums finde ich Projekte wie die Darfur-Woche oder die Konferenz zur Internationalen Gerichtsbarkeit und vor allem auch die neuen Akademieprogramme zu Migration und Diversität – eben solche Projekte, die sich ganz konkret mit Menschenrechten und Toleranz beschäftigen. S.H.: Freundeskreise sind in ihrer gegebenen Aufgabe oft Geldsammelstellen. Das ist gut und richtig. Da sollen alle, die dazu in der Lage sind und ihre Netzwerke öffnen können, die


Weitere Informationen zu den Freunden des Jüdischen Museums Berlin finden Sie unter www.jmberlin.de/freunde Please find more information about the Friends of the Jewish Museum here: www.jmberlin.de

providing concrete support for this important and highly popular program. I also really like the cultural program designed for the society’s members. In the future I hope we will have a larger number of active members who feel a special bond with the museum and demonstrate their involvement in many ways. I will gladly continue to work for this goal. S.R.: How do you deal with the fact that fundraising in Germany is frequently still associated with the bias that “they’re just after our money”? And that it’s often looked down upon as women’s work—the “ladies who lunch”? M.W.: I encounter that a lot, both in the Jewish Museum and other foundations and organizations. It’s a very complex issue because, on the one hand, there is indeed a donor culture in Germany. And it’s an old culture, if you look at foundations in Hamburg that have existed since the sixteenth century. On the other hand, the general culture of giving is not as firmly rooted in German civil society as it is in other countries, because the state provides a great deal of funding. Today there is also a larger number of alternative fundraising approaches, such as crowdfunding. S.H.: I think the development you mention also points to a possible solution. It is always easier to raise funds for concrete causes – the more concrete, the better. Spontaneous donations for disaster victims are a case in point, but young artists, for example, have also had increasing success in raising money through crowdfunding, say for experimental films. However, when more fundamental issues are involved and the relevance for social or cultural policy becomes evident, people discreetly distance themselves. That’s a shame—and also a problem, especially for the larger institutions that are involved in important social processes. Here, too, we need to mobilize that great willingness that generally exists in the population to donate money or time for concrete projects. S.R.: Madeleine Albright once said: “There’s a special place in hell for women who do not help other women.” Do you pay particular attention to women who are just starting out in their careers? M.W.: Frequently young people turn to me with questions about their lives or their careers, when they find themselves in a conflict or face difficult professional decisions. I take this very seriously, particularly regarding the desire to find a balance between work and family. In Germany in the early 1990s, working AND having

Herzen und die Portemonnaies von vielen zugänglich machen für die guten Taten des Museums. Deswegen freue ich mich zum Beispiel wirklich sehr, dass der Freundeskreis die Busse von „on.tour – Das JMB macht Schule“ auf ihren Reisen finanziert und damit eine wichtige und stark nachgefragte Aktivität des Museums ganz konkret fördert. Auch das Kulturprogramm für die Freundeskreis-Mitglieder gefällt mir sehr gut. Für die Zukunft wünsche ich mir noch mehr aktive Mitglieder, die sich dem Museum verbunden fühlen und das auf verschiedenste Weisen zeigen. Dafür werde ich mich gerne weiter engagieren. S.R.: Wie gehen Sie mit dem Vorurteil um, dass Fundraising in Deutschland immer noch ein bisschen als „na, die wollen ja nur Geld“ angesehen wird? Und häufig als Frauenjob – die „ladies who lunch“ – belächelt wird? M.W.: Ich habe viel damit zu tun, in diesem Museum sowie in anderen Stiftungen und Organisationen. Das ist ein sehr komplexes Gebiet, weil in Deutschland eine Geberstruktur zwar vorhanden und zum Teil auch sehr alt ist, wenn man an die Hamburger Stiftungen denkt, die es schon seit dem 16. Jahrhundert gibt. Aber die Geberkultur ist allgemein in der Zivilgesellschaft in Deutschland nicht so verwurzelt wie in anderen Ländern, weil der Staat hier sehr viel zahlt. Es gibt heute auch viel mehr alternative Möglichkeiten des Fundraisings, wie das Crowdfunding. S.H.: Ich glaube, dass die Richtung, die du gerade aufgezeigt hast, zugleich die Lösung in sich birgt: Das Spendensammeln funktioniert immer besser im Konkreten – je konkreter, umso besser. Das gilt für Ad-hoc-Spenden bei Katastrophen, aber es gelingt zum Beispiel vermehrt auch jungen Künstlern, mit Crowdfunding Geld zusammenzukriegen für einen Experimentalfilm. In dem Moment, wo es grundsätzlicher wird, wo gesellschafts- oder kulturpolitische Relevanz angenommen wird, geht man gleich dezent ein paar Schritte zurück. Das ist schade. Und gerade für größere Institutionen, die an wichtigen gesellschaftlichen Prozessen mitwirken, ein Problem. Das grundsätzlich hohe Maß an Bereitschaft in der Bevölkerung, Geld oder Zeit für konkrete Hilfen und Projekte zu geben, müssen wir auch für diese Arbeit mobilisieren. S.R.: Es gibt das schöne Zitat von Madeleine Albright, dass es einen besonderen Platz in der Hölle für Frauen gibt, die anderen

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Marie Warburg, M.D., ist Internistin. Sie hat als Fund Managerin und Beraterin für verschiedene Firmen und Fonds im Bereich der Life Sciences gearbeitet. Sie ist Mitglied des Vorstands des American Council on Germany, des Kuratoriums der Roland Berger Stiftung sowie des internationalen Vorstands von Human Rights Watch. Seit 2003 ist sie in den Vorständen der Friends of the Jewish Museum Berlin in the U.S. sowie der Freunde des Jüdischen Museums Berlin.

children was a major disaster. It was seen disapprovingly not only by men but also by other women … S.H.: … Rabenmutter—the uncaring, heartless mother. M.W.: Yes, “Rabenmutter,” “the poor children”—and all the other things I heard! A lot has changed since then, particularly in terms of acceptance in society. But one area where there’s been little progress—not only in Germany—is equal pay for women and men doing the same work. This applies to the issue of women in leadership positions as well. That will only happen when there is a quota for women. The topic of women and work is broad, and I think every woman has to address these questions. One book I enjoyed reading was Lean In by Sheryl Sandberg. In it, Sandberg quotes the question “What would you do if you were not afraid?” She points to a problem that I believe affects women more than men. S.H.: I see women increasingly taking on more and more responsibility because they are still automatically responsible for most of the work that goes into organizing family life—even with the best balance of roles within their partnerships. But I also believe that the different incomes are no accident. Take university degrees in the social sciences. Here women are in the majority, but they also make up the majority of people willing to work in the low-paying cultural sphere. It is not only fundraising that ends up in women’s laps, but anything that is difficult, requires a lot of work, and doesn’t guarantee recognition; anything that calls for extensive personal skills and communication expertise. The entire organizational structure of cultural institutions is female—though the bosses are still mostly men. When I look at companies where the executives are mainly male, I often think to myself: well, if you were a woman, you wouldn’t be here. It may be a platitude, but it’s true nonetheless: women have to be better qualified than men ... that’s still very much the case today. S.R.: I think it was Alice Schwarzer who once said that emancipation will only really be achieved when there are just as many mediocre women in leadership positions as mediocre men. M.W.: Wonderful! S.H.: Exactly! Like Marie Warburg, I don’t think the system is capable of changing on its own. I was once a “quota woman” myself. My position couldn’t be filled with a man. I was the first to crack jokes about it and that kept it from becoming an issue.

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Marie Warburg, M.D., is an internist. She has served as a fund manager and consultant for several companies and funds specializing in the life sciences. She is a member of the boards of the American Council on Germany, the Roland Berger Foundation, and of the international board of Human Rights Watch. Since 2003, she has served as a board member of the Friends of the Jewish Museum Berlin in the U.S. and the Friends and Supporters of the Jewish Museum Berlin.

Frauen nicht helfen. Richten Sie ein spezielles Augenmerk auf Frauen, die am Anfang ihres Berufslebens stehen? M.W.: Mir strömen immer wieder Menschen zu, die eine Art Berufs- oder Lebensberatung suchen, oder die in dem Konflikt stehen, sich zwischen zwei Aufgaben nicht entscheiden zu können. Das nehme ich sehr ernst, auch den Wunsch nach der Vereinbarkeit von Arbeit und Familie. In Deutschland Anfang der 1990er Jahre war das eine größere Katastrophe, zu arbeiten UND Kinder zu haben. Das wurde nicht nur von Männern, sondern auch von anderen Frauen sehr abschätzend betrachtet… S.H.: … die Rabenmutter. M.W.: „Rabenmutter“, „die armen Kinder!“, und was ich da sonst noch alles gehört habe! Da hat sich inzwischen sehr viel getan, auch in Blick auf die Akzeptanz in der Gesellschaft. Was aber noch immer rückständig ist – nicht nur in Deutschland – ist die Gleichbezahlung von Frauen und Männern für dieselbe Arbeit. Das gilt auch für das Thema Frauen in Führungspositionen. Die werden erst existieren, wenn es die Frauenquote gibt. Frauen im Beruf ist ein weites Feld, und ich finde, dass jede Frau sich mit diesen Fragen beschäftigen muss. Ein Buch, das ich sehr gerne gelesen habe, ist „Lean In“ von Sheryl Sandberg. Sie zitiert darin das Motto: „What would you do if you were not afraid?“. [„Was würdest Du tun, wenn Du keine Angst hättest?“]. Sie spricht damit etwas an, was, glaube ich, Frauen mehr betrifft als Männer. S.H.: Ich sehe auch, dass Frauen immer mehr Verantwortung zu tragen haben, weil sie immer noch automatisch für den Großteil der Familienorganisation verantwortlich sind – selbst bei den schönsten Rollenverteilungsprozessen in der Partnerschaft. Ich nehme aber auch wahr, dass die Situation der unterschiedlichen Einkommen kein Zufall ist. Schauen wir uns die universitären Abschlüsse in den gesellschaftswissenschaftlichen Fächern an: Hier sind die Frauen in der Mehrheit. Aber sie sind ebenfalls in der Mehrheit unter jenen, die bereit sind, im schlecht bezahlten Kulturbereich zu arbeiten. Nicht nur Fundraising landet bei den Frauen. Sondern alles, was Mühe macht, viel Arbeit kostet und wo Anerkennung nicht garantiert ist. Was viel persönliche Kompetenz braucht und viel vermittelnde Kraft. In der Kultur ist das gesamte Skelett, das die Institutionen trägt, weiblich. Die Chefs sind trotzdem meist Männer. Wenn ich in Firmen schaue, in denen das leitende Personal durchgehend männlich ist, denke ich


Sabine Haack ist ausgebildete Journalistin und betreibt seit 2001 die Agentur Büro für Kultur und Konzept. Zuvor war sie Büroleiterin des ersten Staatsministers für Kultur und Medien in der Bundesregierung sowie Sprecherin der Niedersächsischen Landesregierung. Sabine Haack ist Gründungsmitglied des Vereins Gesicht Zeigen! Für ein weltoffenes Deutschland. Seit 2009 ist sie im Vorstand der Freunde des Jüdischen Museums Berlin.

S.R.: Nevertheless, one thing I repeatedly see is that many women—confident professional women—always begin with “I’m no feminist, BUT …” when they talk about issues of women in society. M.W.: Sheryl Sandberg discusses that in her book. “Feminist” has become a derogatory term used to describe women who assert their rights—the women’s libbers. “Feminist” has been denigrated as something awful, overly intellectual, unattractive, sharp-tongued, ideological, and fanatical. This idea has gained acceptance and a number of women subscribe to it themselves. But the women who make such statements are not really aware of what they’re saying. S.R.: One final question: what advice would you give young women? M.W.: You need a profession. Education is all-important. And you have to be independent. S.H.: To that I would add: think for yourself. And also think of others. Empathy shouldn’t be neglected. I would also advise young people that in times of selfoptimization and self-promotion they should focus on authenticity instead of mere appearances. M.W.: Yes, it’s great when those revised and optimized résumés actually bear some resemblance to reality! S.R.: Ms. Warburg, Ms. Haack, thank you for the interview!

Sabine Haack is a trained journalist. In 2001, she started the agency Büro für Kultur und Konzept. She previously worked as the Chief of Staff of the German government’s first State Minister for Cultural Affairs and as the spokeswoman for the regional government of Lower Saxony. She is a founding member of the association Gesicht Zeigen! Für ein weltoffenes Deutschland (Show Your Face! For a Cosmopolitan Germany). She has served on the board of the Friends and Supporters of the Jewish Museum Berlin since 2009.

mir oft: Also, wenn Du eine Frau wärst, wärst Du nicht hier. Es ist eine Binse und trotzdem wahr: Frauen müssen besser qualifiziert sein als Männer ... das ist immer noch so. S.R.: Es war, glaube ich, Alice Schwarzer, die gesagt hat, die Emanzipation ist erst dann wirklich erreicht, wenn genauso viele mittelmäßige Frauen in Führungspositionen sind, wie mittelmäßige Männer. M.W.: Wunderbar! S.H.: Genau! Ich glaube genauso wenig wie Marie Warburg, dass eine Änderung dieses Systems allein freiwillig gelingen kann. Ich bin auch mal eine „Quotenfrau“ gewesen, meine Position durfte nicht mit einem Mann besetzt werden. Ich war die erste, die darüber Scherze gemacht hat, und so habe ich abfällige Kommentare einfach komplett ausgebremst. S.R.: Gleichzeitig beginnen, das fällt mir immer wieder auf, viele Frauen – professionelle, selbstbewusste Frauen – wenn sie über die Position der Frau in der Gesellschaft reden, mit den Worten: „Ich bin ja gar keine Feministin, ABER ...“ M.W.: Das spricht Sheryl Sandberg in ihrem Buch auch an. „Feministin“ ist zu einem abschätzigen Begriff für Frauen geworden, die gerne ihre Rechte durchsetzen – die Emanze. „Feministisch“ wurde diffamiert als irgendwie schrecklich, blaustrümpfig, unattraktiv, bissig, ideologisch, fanatisch. Diese Vorstellung hat sich durchgesetzt, und einige Frauen haben sie sich angeeignet. Dabei sind sich die Frauen, die das sagen, nicht wirklich bewusst, was sie sagen. S.R.: Zum Abschluss die Frage: Was würden Sie jungen Frauen mit auf den Weg geben? M.W.: Sie brauchen eine Profession. Bildung ist sehr wichtig. Und sie müssen unabhängig sein. S.H.: Selber denken und an die anderen denken, Empathie darf nicht zu kurz kommen. Außerdem in Zeiten von Selbstoptimierung und Selbstvermarktung nicht den Schein, sondern das Sein in den Vordergrund zu stellen. M.W.: Ja, es ist schön, wenn die redigierten und optimierten Lebensläufe auch noch etwas mit der Realität zu tun haben! S.R.: Frau Warburg, Frau Haack, ich danke Ihnen für das Gespräch!

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Spielwiese By the Bye

Schöner stolpern The Art of Stumbling

Mirjam Bitter

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Boy, oh boy, everything today is so complicated. When writing in German, you used to be able to just write “museum guests,” using the male form of the German noun, and it was clear that women were “of course included as well.” All right, being “included as well” was always a bit more complicated for readers who weren’t straight white men. It could turn out, for example, by the end of a text, that “the visitor can bring his wife with him on certain days at no extra charge.” Where could I quickly find a suitable wife, especially since in Germany she and I could at most have a “registered partnership” and not a “real marriage” anyway? But surely we shouldn’t have to do away with the generic masculine, which is so practical, just because of the occasional “ha-ha-you’re-not-included-after-all” effect. It’s too bad that its existence has been challenged by psycholinguistic studies. Gygax et al. (2008), for example, discovered that sentences having to do with men—which followed a sentence using the generic masculine—were understood more often and faster than follow-up sentences dealing with women.1 That means whoever manages to interpret such expressions generically at all needs at least a bit more time to change gears. Nevertheless: those are luxury problems! The MiddleEast conflict will certainly not be resolved with gendersensitive language, at least not directly. But surely it wouldn’t hurt—with respect to numerous problems—to practice consideration, through language, of those who are affected, and those who should be included. And why not deal with both issues? I don’t refrain from a friendly “Good morning!” at the start of the day in the office just because there are serious problems in the world. To be sure, letting female listeners feel good by expressly including them would be a nice compromise. Especially because, ever since the dual act of Creation in the Bible, it is not entirely clear whether women are themselves people, or simply some derivative of men. Even the Duden dictionary’s usage examples for Mensch (“person,” “human being”) leave open the matter of the humanness of women: “He is a person with a confident manner,” that is, clearly “he” is human, whereas “she” is mentioned only in relation to other people: “she finally found a person she could relate to” and “she does not like to socialize with people.”

Mann, mann, mann, ist heutzutage alles kompliziert. Einst konnte man einfach von „dem Museumsbesucher“ schreiben und allen war klar, dass Frauen „natürlich mitgemeint“ sind. Na gut, das mit dem Mitgemeintsein war für Lesende schon immer ein bisschen komplizierter, wenn sie keine heterosexuellen weißen Männer waren. Es könnte sich ja am Ende des Textes herausstellen, dass „der Besucher“ an bestimmten Tagen seine Ehefrau kostenlos mitnehmen darf. Wo dann auf die Schnelle eine Frau auftreiben, zumal ich mich mit ihr nur „verpartnern“ dürfte, statt eine „richtige Ehe“ einzugehen? Aber nur wegen des gelegentlichen Ätsch, doch nicht mitgemeint!-Effekts auf das so praktische generische Maskulinum verzichten? Blöd nur, dass dessen Existenz durch psycholinguistische Studien in Frage gestellt wird. Gygax et al. fanden beispielsweise heraus, dass einem Satz im generischen Maskulinum Folgesätze, in denen es um Männer ging, öfter und mit viel kürzerer Reaktionszeit zugeordnet wurden, als Folgesätze mit Frauen.1 Wer es also überhaupt schafft, solche Formulierungen generisch zu interpretieren, braucht mindestens eine gewisse Zeit zum Umdenken. Trotzdem, Luxusprobleme! Der Nahost-Konflikt wird durch geschlechtersensible Sprache bestimmt nicht gelöst – jedenfalls nicht unmittelbar. Schaden würde es für viele Probleme wohl nicht, über die Sprache das Nachdenken einzuüben, wer alles betroffen ist und einbezogen werden sollte. Und was spricht eigentlich dagegen, sich um beides zu kümmern? Ein freundliches „Guten Morgen“ zu Beginn eines Bürotages lasse ich ja auch nicht weg, nur weil es dringendere Probleme auf der Welt gibt. Zuhörerinnen das gute Gefühl zu geben, tatsächlich gemeint zu sein, wäre sicher ein netter Ausgleich. Dafür z.B., dass seit der doppelten Schöpfungsgeschichte in der Bibel nicht ganz klar ist, ob Frauen eigentlich selbst Menschen sind oder bloß irgendwie vom Mann abgeleitete Wesen. Auch bei den Beispielen im Duden-Eintrag „Mensch“ bleibt die Menschlichkeit der Frau unsicher: „er ist ein Mensch mit sicherem Auftreten“, also eindeutig selbst einer, während „sie“ nur in ihrer Beziehung zu Menschen erwähnt wird: „sie hat endlich einen Menschen gefunden“ und „sie geht nicht gern unter Menschen“. Nur wie das aussieht: Besucher/innen, Journalist(inn)en, KuratorInnen, Künstler_innen, Museumspädagog*innen … Da zeigt einer sein Ästhetikbewusstsein durch die Wahl der passenden

1 See Pascal Gygax, Ute Gabriel, Oriane Sarrasin, Jane Oakhill, and Alan Garnham, “Generically intended, but specifically interpreted: When beauticians, musicians, and mechanics are all men.” Language and Cognitive Processes 23 (3, 2008), 464–485.

1 Vgl. Pascal Gygax, Ute Gabriel, Oriane Sarrasin, Jane Oakhill und Alan Garnham: Generically intended, but specifically interpreted: When beauticians, musicians, and mechanics are all men. In: Language and Cognitive Processes 23 (3, 2008), S. 464–485.

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But, OMG, how it looks when you attempt to create inclusive language in German! Trying to combine the masculine (“-en” or “-ier”) and feminine (“-innen”) endings leads to words like Besucher/innen, Journalist(inn)en, KuratorInnen, Künstler_innen, Museumspädagog*innen. It’s like those awkward efforts to combine “she” and “he” into a single pronoun: s/he, (s)he, sHe, s_he, s*he! Someone might try to express his aesthetic awareness by selecting the proper socks to his sandals, and then by skillfully combing his thinning hair to avoid any visible gaps—and then he has to look at such untidy word-monstrosities full of gaps! Capital letters in iPhone or EuroCity might be tolerable, and with the hashtag, we all managed to learn the meaning of a new symbol rather quickly. But when 10 % of feminists attempt to force the internal capital “I,” or funny slashes and dashes, onto the rest of the population in order to “assert particular interests,” then maybe it is better, after all, to write an open letter to demand a return to “the traditional use of generalizing word forms” (as signed by 800 people this past July in Austria). It would actually be a shame to prohibit so many creative options through some top-down ordinance. Especially since there are even more of them. Just as an asterisk and an underscore are an attempt to mark the space between (and beyond) the binary construction of gender, thereby preventing people who identify neither as male nor female from once again being “included as well,” there are also other exciting, alternative ideas for neutralizing gender-marking. For example: “Professx” (pronounced: professix), avoiding both the German “Professor” (male) and “Professorin” (female), as proposed by Lann Hornscheidt, one of suchx at Berlin’s Humboldt University. In the interest of generalizing grammatical gender, Luise F. Pusch, the pioneer of feminist linguistics in Germany, has suggested using the neuter, third gender in German— something like: “After the new chancellor is elected it will give an acceptance speech.” Is it in fact true that “the writer is often distracted from the essence of the content through strained attempts at substitute forms,” as claimed in the aforementioned open letter on ÖNORM A 1080, a proposed Austrian standard for written communication? Actually, it can certainly be nothing but beneficial for my text if, while writing, I think: What exactly do I want to say? Who is affected— i.e., who should be mentioned explicitly? With respect to aesthetics: In Argentine tango, in particular the rhythmic milonga style, the traspié (Spanish “stumble”) figure brings in the aesthetics of stumbling. A short pause—an intimation, a change of mind, consideration of another equivalent option— which reveals that these are advanced, experienced dancers. Why not let our language (and the circumstances it expresses) dance now and then? Mirjam Bitter wrote her dissertation on the connection between memory and gender in contemporary Jewish literature. She is a website editor for the Jewish Museum Berlin and a literary translator from Italian into German.

Tangoabend im Glashof des Jüdischen Museums Berlin im August 2010 Tango evening in the Jewish Museum Berlin’s glass courtyard, August 2010

Socken zu den Sandalen und geschicktes Kämmen, das im schütteren Haupthaar keine Lücken entstehen lässt, – und dann muss er sich solche unordentlichen Wortungeheuer voller Lücken anschauen! Großbuchstaben in iPhone oder EuroCity mögen ja noch angehen und beim Hashtag haben wir die Bedeutung eines neuen Symbols schnell gelernt. Doch wenn 10 % Feministinnen dem Rest der Bevölkerung das Binnen-I oder komische Striche zur „Durchsetzung partikulärer Interessen“ aufdrücken wollen, dann lieber schnell einen offenen Brief schreiben, um „die traditionsgemäße Anwendung verallgemeinernder Wortformen“ zurückzufordern (so 800 Unterzeichnende im Juli dieses Jahres in Österreich). Bei so vielen kreativen Möglichkeiten wäre es aber eigentlich schade, diese von oben wegzuverordnen. Zumal es derer noch mehr gibt. Wollen Sternchen und Unterstrich den Raum zwischen und jenseits der Zweigeschlechtlichkeit markieren und damit verhindern, dass Menschen, die sich weder als Mann noch als Frau identifizieren, wieder bloß ‚mitgemeint‘ sind, so gibt es alternativ noch spannende Ideen zur Neutralisierung der Geschlechtermarkierung: etwa Professx (sprich: Professix), vorgeschlagen von Lann Hornscheidt, eben solchx an der Humboldt-Uni. Die Pionierin der feministischen Linguistik, Luise F. Pusch, wiederum schlägt vor, perspektivisch verallgemeinernd das Neutrum des Deutschen zu verwenden: „Wer wird das nächste Bundeskanzler?“ Denn wird tatsächlich „der Schreiber durch krampfhaftes Suchen nach Ersatzformen häufig vom Wesentlichen des Inhalts abgelenkt“, wie im oben erwähnten offenen Brief zur ÖNORM A 1080 behauptet? Eigentlich kann es meinem Text doch nur nutzen, wenn ich mir beim Schreiben überlege: Was will ich genau sagen? Wer ist davon alles betroffen, wen will ich also erwähnen? Und was die Ästhetik betrifft: Im argentinischen Tango, besonders im rhythmischen Stil Milonga, wird mit der Figur des traspié (span. = Stolpern) die Ästhetik des Stolperns in den Tanz eingebaut. Ein kurzes Innehalten, eine Andeutung, man habe sich doch anders entschieden, ziehe die andere Schrittrichtung gleichwertig in Betracht, verrät, dass es sich um fortgeschrittene Tänzer_innen handelt. Warum nicht auch unsere Sprache (und die Verhältnisse, die sie ausdrückt) öfter mal zum Tanzen bringen? Mirjam Bitter schrieb ihre Dissertation über den Zusammenhang von Gedächtnis und Geschlecht in neuerer jüdischer Literatur und arbeitet als Website-Redakteurin im Jüdischen Museum Berlin sowie als Literaturübersetzerin aus dem Italienischen.

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Glaubensübergänge Transitions of Faith

Ljudmila Belkin

In my family, nobody took much interest in giving me a religious education. Nevertheless, my childhood was not godless. In an atheist age, I grew up on the margins of religion. I was born in the late Soviet period into a culturally fractured Eastern Ukrainian family, and learned to make do with the smallest of many surfaces. My religious upbringing was a women’s matter. The Soviet Ukrainian satirical magazine Pepper summarized it well in a cartoon: young parents offload the little one onto granny, who takes her straight to church. My religious awakening, too, took place in my leisure hours, grandma time. One Sunday, I came across my Ukrainian grandmother Natasha’s New Testament—the dark leather binding embossed with the Byzantine cross, the yellowed pages, the beetling Church Slavonic letters, and the marginal notes giving the dates our cows were due to calve. An eager school library reader, as soon as I realized that the stories in her book recounted a reality— grandma would never read mere fantasy—I hurtled into the impalpable fourth dimension of belief. My sense of time in those days divided history into the years “before” and “after” the 1917 Revolution. The fact that my grandmother had been taught to read by a nun placed her on the far side of my own era, which did not allow for any nuns at all. Natasha kept a church calendar, an emblem of how traditional culture is passed on through individual care. Her youngest son, my father, worshipped her, and accordingly addressed her with the formal personal pronoun. It’s probably from him that I inherited my respectful distance from her faith. In my other, Russian grandmother’s village, religiosity was direct, emotional, and colorfully variegated. Neighbor Marishaka whispered the Apocalypse in my ear. While I saw the shining lakes of gold and the thirsty people wandering through suffocating smoke, she scratched the nail polish from my fingers to save me from the temptation to sin. The abyss was Marishaka’s life; she was a mystic of mourning. When she abstained from apples before the Savior of the Apple feast (19 August) so that her departed daughters could enjoy the fruit in Paradise, I did not think of superstition, but felt the proximity of heaven. In my grandmother’s house, too, the cycle of the peasant year was firmly interwoven with the Christian festivals. Most important for me was the prohibition on playing in the village lake after 23 August. That is the day when the Prophet Elijah pees in the water and closes the bathing season. When my family moved to Moscow in the late 1980s, the revival of pagan Slavic belief was in full flow there.

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In meiner Familie war niemand darauf bedacht, mich religiös zu erziehen. Dennoch verlief meine Kindheit nicht gottlos. Ich bin in der atheistischen Zeit am Rande der Religion aufgewachsen. Die spätsowjetische Geburtszeit und die kulturell durchschnittene ostukrainische Herkunft lehrten mich, mit dem Kleinsten vieler Oberflächen auszukommen. Meine religiöse Erziehung war Frauensache. Das sowjetischukrainische, satirische Magazin Pfeffer fasste es in einer Karikatur passend zusammen: Junge Eltern schieben ihr Kind zur „Alten“ ab; diese geht mit ihm geradewegs in die Kirche. Auch mein religiöses Erwachen fiel auf die Freizeit, die Zeit der Omas. An einem Sonntag stieß ich auf das Neue Testament meiner ukrainischen Großmutter Natascha – der dunkle Lederumschlag mit dem aufgedruckten byzantinischen Kreuz, die vergilbten Seiten, die kirchenslawischen Buchstaben-Käfer und Randnotizen zu den Terminen, wann die Kühe kalben sollten. Mit der Erkenntnis, dass die Geschichten des Buches von einer Realität berichten – bloße Fantasy würde die Oma nie lesen – flog die aktive Schulbibliotheksleserin unbedacht in die ungreifbare vierte Dimension des Glaubens ein. Mein damaliges Zeitempfinden teilte die Historie in die Jahre „vor“ und „nach“ der Revolution von 1917. Die Tatsache, dass die Großmutter das Lesen bei einer Nonne gelernt hatte, versetzte sie hinter die Grenze „meiner“ Zeitrechnung, in deren Bild keine Nonnen passten. Natascha führte einen Kirchenkalender: Ein Sinnbild dafür, wie die tradierte Kultur, individuell gepflegt, weitergeführt wird. Ihr jüngster Sohn, mein Vater, vergötterte sie und siezte sie deswegen. Wahrscheinlich habe ich von ihm die respektierende Distanz zu ihrem Glauben übernommen. Die Religiosität im Dorf der russischen Großmutter war direkt, emotional und buntscheckig. Die Apokalypse flüsterte mir die Nachbarin Marischaka ins Ohr. Während ich glänzende Goldseen und irrende, durstende Menschen in stickigem Rauch sah, kratzte sie den Nagellack von meinen Nägeln, um mich vor der Versuchung zur Sünde zu retten. Der Abgrund war Marischakas Lebensgefühl, sie war eine Mystikerin des Trauerns. Wenn sie vor dem „Äpfel-Erlöser“ (19. August) keine Äpfel aß, damit ihre verstorbenen Mädchen diese im Paradies genießen könnten, dachte ich nicht an Aberglauben sondern spürte die Nähe zum Himmlischen. Auch im Hause meiner Großmutter


I could very much identify with it: my experiences of my grandmother’s village had attuned me to the integration of nature and religion. Post-atheist faith after the end of the Soviet age embodied modernity and freedom. Now you were allowed to believe, and to choose which religious orientation would be yours. Some people went to church as they would go to the theater, curious and noncommittal. Others hoped religion would help them find a way to weld together a life that was crumbling apart. In a form of extreme tourism, I ventured into rigorous Old Orthodoxy and joined the congregation of the Cathedral of Protection of Our Lady in the Rogozhskaya Zastava district, the spiritual heart of Moscow’s Old Belief. The austerity of that faith made no mark in my everyday life. What did leave deep traces was the disputatious attitude of the Old Believers, always with a weather eye on the rival exegete. In the churchyard, debate was rife on whether the Modern Orthodox three-finger sign of the cross or the Old Orthodox two-finger one reflected the being of God—it was my first exercise in theological hermeneutics. This passionate style of argument, burrowing into the tiniest detail, came back to me when I picked up the Talmud for the first time. From 1989 to 1994 I studied history in Dnepropetrovsk. Was it my first city as an adult—a noisy tapestry of religions, sects, and esoteric teachings—or was it the yearning for Moscow that drove me to seek out what I had left and, finding nothing there, to distract myself with mystificatory exoticism? I took a course in astrology, studied the theosophy of Madame Blavatsky, and performed white magic on Komsomolsky Island (named after the Communist youth league). When my father died in 1992, mysticism helped me to loosen the noose of grief. The experience of religiosity remained essential to me even as I increasingly learned to appreciate reflection on God and on belief. Although—or perhaps because—I only grazed the surface of religion on both counts, it was no simple matter to combine religious feeling with my tendency to philosophize. In 1991, when I was working at the Pechersky Monastery in Pskov as a freelance archaeologist, Brother S. courted me like a gentleman, but upon finding me reading a philosophy book, he sarcastically called me “Abramovna” (daughter of Abraham). As an “active” Christian believer, the monk was alluding to the cliché that Jews love to read, and thus expressing his sense of difference from me as—in his eyes, a “learned” Jew.

wuchs der bäuerliche Jahreszyklus mit den christlichen Feiertagen fest. Mich betraf vor allem das Verbot, nach dem 23. August im Dorfsee zu plantschen. An diesem Tag pinkelt der Prophet Elias ins Wasser und schließt damit die Badesaison. Als meine Familie Ende der 1980er Jahre nach Moskau zog, fand dort gerade die Wiederbelebung des slawischen heidnischen Glaubens statt. Mit diesem Trend konnte ich mich sehr wohl identifizieren, da mich die Erfahrung aus Großmutters Dorf für die Einbindung der Natur in den Glauben empathisch machte. Der postatheistische Glaube nach dem Ende der sowjetischen Ära verkörperte Modernität und Freiheit. Man durfte nun glauben und die Glaubensrichtung wählen. Manche gingen in die Kirche wie ins Theater: schaulustig und unverbindlich. Die anderen hofften, im Glauben das auseinanderbröckelnde Leben zusammenzufinden. Als Extremtouristin begab ich mich in die Strenge der Altorthodoxie und schloss mich der Gemeinde der Maria-Schutz-Kathedrale im Stadtteil Rogoschskaja Zastawa an, dem geistigen Zentrum der Altgläubigen Moskaus. Der strenge Glaubensstil hinterließ keine Spuren in meinem Alltag. Tief wirkte dagegen die polemisierende Haltung der Altgläubigen, die einen konkurrierenden Interpreten im Auge behält. Die im Kirchhof diskutierte Frage, ob das modernorthodoxe DreiFinger-Kreuzzeichen oder das altorthodoxe Zwei-Finger-Kreuzzeichen das Wesen Gottes wiedergebe, war meine erste Übung in der theologischen Hermeneutik. An das leidenschaftliche Streiten, das ins kleinste Detail hineinkriecht, erinnerte ich mich, als ich den Talmud zum ersten Mal in die Hand nahm. Von 1989 bis 1994 studierte ich Geschichte in Dnepropetrowsk. War es meine erste erwachsene Stadt, laut und geflochten aus Religionen, Sekten und geheimen Lehren, oder die Sehnsucht nach Moskau, die mich trieb, das Verlassene zu suchen, und – hier nichts findend – mich in der mystifizierenden Exotik zu zerstreuen? Ich absolvierte einen Astrologiekurs, beschäftigte mich mit der Theosophie von Elena Blavatsky, übte auf der Insel Komsomol’skij – nach dem Kommunistischen Verband der Jugend benannt – die weiße Magie. Als 1992 mein Vater starb, half mir die Mystik, die Schlinge des Schmerzes zu lockern. Das Erlebnis der Religiosität blieb für mich wesentlich, während ich zunehmend die Reflexion über Gott und den Glauben wertzuschätzen lernte. Obwohl – oder gerade weil? – ich in

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Brother S.’s barb proved to be prophetic. Just a few months later, I met my future husband, and followed him to Germany in 1994 as a Jewish “quota refugee.” People think emigration is the great break with the past. Hardly! Especially in the early years, migrants try to bring to perfection “here” what they broke with “there.” In the university town of Tübingen, we joined the Russian Orthodox congregation of the Saint Mary of Egypt church, a meeting point for Orthodox intellectuals. The church life of a minority demands active participation, and for me that gave it a new meaning— the meaning of a community. Those were formative years. Yet I left the congregation in the late 1990s, and since then have never set foot in a Russian Orthodox church again. Russian culture, including church culture, was no longer the natural, unquestioned center of my life. The question of congruence arose: Is the Russian Church necessarily mine? Does Orthodoxy fit my own notion of the individual? I didn’t have clear arguments—it was more a new feeling of estrangement. Only later did my conviction take shape that if migrants make it their sole mission in life to preserve the culture they brought with them, they will develop neither that culture nor themselves. With the birth of my son, or more precisely with the stigma of being a student mother, my religion sank under the weight of everyday life. My will to believe was redirected to the people who helped me: my parents-in-law, who looked after the baby; my friend Margarete, whose financial support helped me graduate; and many other lifesavers. With my motto “thinking by living,” I proved that books are not indispensable for intellectual survival. Even so, I sought consolation in occasional readings from Epicurus and Seneca, the treasures of our family bookshelves. But I felt the need for more books from the country where I lived, and for religious modernity. At that time, my husband was exploring his own Jewish present—a religious, cultural, political one—and was always conscious of his Jewish origins.1 I responded defiantly to the arrival of Judaism in our family. Washed into Germany on the wave of Jewish migration, I belonged to a minority within a minority.2 I 1 See Dmitrij Belkin, “‘Von wo denn nach wo?’ Einwanderung als Übertritt,” Regina Laudage-Kleeberg and Hannes Sulzenbacher, ed. Treten Sie ein! Treten Sie aus! Warum Menschen ihre Religion wechseln, Berlin: Parthas 2012, 320–30. 2 For more on this, see my conversation with Reinhard Lauterbach in his report “Die unbekannten Einwanderer. Eine Tagung über russische Einwanderer in Deutschland,” Deutschlandradio Kultur 24 March 2009, http://www.deutschlandradiokultur.de/die-unbekannten-einwanderer.1013.de.html?dram:article_id=168949 (accessed August 22, 2014).

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beiden lediglich die Oberfläche des Glaubens streifte, war es nicht unproblematisch, das religiöse Gefühl mit der Neigung zum Philosophieren zu verbinden. Als ich 1991 als Archäologin im Petscherskij-Kloster bei Pskov arbeitete, umwarb mich der Mönch S. wie ein Gentleman, kommentierte jedoch sarkastisch meine Lektüre eines philosophischen Buchs: Ich sei Abramowna (Tochter Abrahams). Mit dieser Bezeichnung spielte er, ein „tätig“ glaubender Christ, auf das Klischee an, Juden lesen viel, und drückte damit seine Fremdheit zu mir als einer – in seinen Augen – „gelehrten Jüdin“ aus. Das Wortspiel von S. erwies sich als prophetisch. Wenige Monate darauf traf ich meinen künftigen Mann und wanderte, ihm folgend, 1994 als jüdischer „Kontingentflüchtling“ nach Deutschland aus. Man denkt, die Auswanderung sei ein Bruch. Von wegen! Gerade in den ersten Jahren sucht der Migrant, das „dort“ Abgebrochene „hier“ zu vervollkommnen. In der Universitätsstadt Tübingen schlossen wir uns der Gemeinde der russisch-orthodoxen Kirche der Heiligen Maria von Ägypten an, einer Anlaufstelle für die orthodoxen Intellektuellen. Das kirchliche Leben einer Minderheit fordert aktive Partizipation; es bekam für mich dadurch einen neuen Sinn – den einer Gemeinde. Es waren prägende Jahre. Dennoch verließ ich gegen Ende der 1990er die Gemeinde und war seitdem niemals mehr in einer russisch-orthodoxen Kirche. Die russische Kultur, auch die kirchliche, war nun kein selbstverständlicher Lebensmittelpunkt mehr. Es stellten sich die Fragen der Übereinstimmung: Ist die russische Kirche notwendig meine? Entspricht die Orthodoxie meinem Individuumsbegriff? Ich hatte keine klaren Argumente, verspürte eher ein neues Fremdeln. Erst später kristallisierte sich die Überzeugung, dass ein Migrant, der die Bewahrung seiner „mitgebrachten“ Kultur zur alleinigen Lebensaufgabe macht, weder sie noch sich selbst entwickelt. Mit der Geburt des Sohnes, genauer durch das Stigma einer Studentin mit Kind, versackte mein Glauben im Alltag. Mein Glaubenswille richtete sich an die helfenden Menschen: an die Schwiegereltern, die auf das Kind aufpassten, an die Freundin Margarete, die meinen Studienabschluss mitfinanzierte, und viele andere, die meine Rettung waren. Mit dem Motto „Denken durch das Leben“ bewies ich mir, dass Bücher für das intellektuelle Überleben nicht erforderlich sind. Dennoch suchte ich Trost


Purim 2012 im Egalitären Minjan Frankfurt in der Westend-Synagoge: Ludmila Edelmann und die Autorin Ljudmila Belkin lesen aus dem Buch Esther auf Deutsch und Russisch, im Hintergrund Rabbinerin Elisa Klapheck. Purim 2012 at the Egalitarian Minyan in Frankfurt’s Westend Synagogue: Ludmila Edelmann and the author Ljudmila Belkin read from the Book of Esther in German and Russian, in the background Rabbi Elisa Klapheck.

observed the re-creation of a Jewish religious community with close attention, but Judaism itself was alien to me. Perhaps that’s why I reacted with downright annoyance to Jewish people’s suspicion of me as a non-Jew and the pressure to assimilate within the Jewish community, and why I kept my distance. Over the years, I internalized that ambivalence between intimacy and detachment. In Frankfurt we decided to send our son to a Jewish kindergarten. For my husband, it was the Jewish environment and upbringing that were important, whereas I was drawn by the chance to anchor a simultaneous sense of difference and a sense of belonging in our child’s mind. My son’s daily surroundings and my husband’s entry into the German-Jewish public sphere began to shake up the status quo of my detached relationship with Judaism. We approached the Egalitarian Minyan in Frankfurt, the learning minyan. It was there that I “converted,” the ruling of the beth din being more an acknowledgement of acceptance than a conversion itself. The change in religious identity is becoming normal. “Becoming,” not “is,” because the encroachments of the public world remain an irritation, triggered by the catchword “converts.” As religious antitheses become sharper and sharper—currently happening in the wake of global political conflicts—the figure of the convert seems more and more artificial, belief is less and less important. I hope those harsh contrasts will soon become fainter. Ljudmila Belkin is a freelance art historian and journalist. She is currently enrolled at the University of Frankfurt / Main as a Ph.D. candidate and is writing a dissertation on the role of conflicts in Russian art theory between the 1900s and the 1930s. She studies issues related to cultural multiplicity.

in der gelegentlichen Lektüre aus Epikur und Seneca – den Schätzen unserer Heimbibliothek. Ich wünschte mir dabei mehr Bücher aus dem Land, in dem ich lebte, und religiöse Modernität. Mein Mann öffnete für sich damals eine eigene – religiöse, kulturelle, politische – jüdische Gegenwart, seiner jüdischen Herkunft war er sich immer bewusst.1 Ich antwortete trotzig auf den Einzug des Judentums in unsere Familie. Mit der jüdischen Migrationswelle nach Deutschland gedriftet, gehörte ich zur Minderheit innerhalb einer Minderheit.2 Zwar betrachtete ich die Neuerschaffung der jüdischen religiösen Gemeinschaft genau, doch das Judentum war mir fremd. Mag sein, dass ich deswegen auf das Misstrauen jüdischer Menschen mir als Nichtjüdin gegenüber und auf den Assimilationsdruck innerhalb der Community bedingungslos verärgert reagierte und Distanz behielt. Die Ambivalenz zwischen Nähe und Distanz habe ich über die Jahre verinnerlicht. In Frankfurt entschieden wir uns für einen jüdischen Kindergarten für unseren Sohn. Meinem Mann waren dabei die jüdische Umgebung und Erziehung wichtig, während mich die Möglichkeit anzog, die Andersartigkeit und die Zugehörigkeit im Bewusstsein unseres Kindes zugleich zu verankern. Durch die Umgebung des Sohnes und den Einstieg meines Mannes in die deutsch-jüdische Öffentlichkeit, wackelte der status quo meiner distanzierten Beziehung zum Judentum. Wir näherten uns zusammen dem Egalitären Minjan Frankfurt an, dem lernenden Minjan. Hier bin ich „übergetreten“: Die Entscheidung des Beth Dins ist doch eher die Anerkennung zur Aufnahme als der Übertritt selbst. Die Veränderung der religiösen Identität wird Normalität. „Wird“, jedoch nicht „ist“, da die Übertritte der Öffentlichkeit weiterhin ein Reizfaktor sind (Schlagwort „Konvertiten“). Je mehr sich die religiösen Kontraste zuspitzen – und das geschieht gerade auf der Welle der globalen politischen Konflikte –, desto künstlicher erscheint die Figur des Übergetretenen, desto weniger bedeutet der Glaube. Ich wünsche, die Kontraste würden leiser. Ljudmila Belkin ist freie Kunsthistorikerin und Publizistin. Sie promoviert an der Universität Frankfurt am Main über die Rolle der Konflikte für die Kunsttheorie im Russland der 1900er – 1930er Jahre und forscht zu Fragen der kulturellen Vielheit. 1 Siehe Dmitrij Belkin: „Von wo denn nach wo?“ Einwanderung als Übertritt. In: Regina Laudage-Kleeberg/ Hannes Sulzenbacher (Hg.): Treten Sie ein! Treten Sie aus! Warum Menschen ihre Religion wechseln. Berlin 2012, S. 320-330. 2 Mehr dazu in meinem Gespräch mit Reinhard Lauterbach; siehe sein Bericht „Die unbekannten Einwanderer. Eine Tagung über russische Einwanderer in Deutschland“. Deutschlandradio Kultur vom 24. März 2009, http://www.deutschlandradiokultur.de/die-unbekannten-einwanderer.1013.de.html?dram:article_id=168949, abgerufen am 22. August 2014.

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Schadchanit Die weibliche Perspektive der Heiratsvermittlung Shadchanit The Female Perspective on Marriage Brokerage

Daniela Schmid

“Why are there so many unhappy people in the world? […]—well, because the shadchanim are men! And what, as a rule, does a man know?—He knows only that he can demand quite a few rubel for a shidduch!” 1 This quote from the story Vikhne Dvoshe di shadkhnte by Moses Seiffert (New York, 1921) alludes to the strengths of female marriage brokers as compared with their male colleagues. In fact, Jewish matchmaking today is largely in the hands of women. There is a long tradition of religious marriage brokerage in Judaism, and in classical religious sources the matchmaker was referred to primarily in the masculine form, shadchan.2 The term shadchan is derived from the Hebrew shidduch, or match. The background of religious marriage brokerage is based on protecting Judaism from external influences and risks such as assimilation and secularization. Marriageable members of many small Jewish communities are often dependent on referrals abroad. Another reason for taking advantage of marriage brokering might be to guarantee the internal cohesion of individual groups, such as the Chassidim. Securing Jewish offspring through marriage is an essential factor and, as with everywhere, social or financial considerations and family alliances can also play a role. Important criteria for choosing a partner have since time immemorial included lineage (yikhes), religious education, affluence of the family,3 family tree, and notions of morality. These remain factors even in today’s practice. This background, which might seem pragmatic, is intended to create a foundation for a secure, shared life. In religious matchmaking, the goal is marriage, whereas physical attraction and romance play a subordinate role. Meetings are always and solely arranged through the shadchanit, in contrast to nonreligious online dating sites with photographs and free access for anyone. A large share of Jewish matchmakers therefore uses questionnaires, expecting to receive information concerning character and religiosity from references, first and foremost the rabbi, and pose questions as to education and personality before they agree to add potential marriage candidates to their file and find a partner for them. Women are asked very specific questions, such as their willingness to wear a wig or to support a man studying 1 Moses Seiffert (or Moshe Zeyfert), Vikhne Dvoshe di shadkhnte, un Vikhne-Dvoshe get zikh mit'n man. Tsvey ertsehlungen fun Idishen leben (Two stories about Jewish life). New York: Hebrew Publishing Company 1921. Original in Yiddish; English translation of the author’s German translation. 2 The feminine form is shadchanit, pl. shadchaniot. The masculine plural is shadchanim. 3 Marion A. Kaplan (ed.), The Marriage Bargain: Women and Dowries in European History, New York: Haworth Press 1985.

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„Warum gibt es so viele unglückliche Menschen auf der Welt? […] Nun, deshalb, weil die Schadchanim Mannsbilder sind! Was weiß denn schon ein Mannsbild? Er weiß nur, dass er für einen Schidduch etliche Rubel verlangen darf.“1 Dieses Zitat aus der Erzählung „Vikhne Dvoshe di shadkhnte“ (Vikhne Dvoshe, die Heiratsvermittlerin) von Moshe Zeyferet (New York 1921) spielt auf die Stärken weiblicher Vermittlerinnen gegenüber ihren männlichen Kollegen an. Tatsächlich liegt die jüdische Heiratsvermittlung heute überwiegend in weiblicher Hand. Der religiöse Heiratsvermittler hat im Judentum eine lange Tradition und ist in den klassischen religiösen Quellen vor allem in seiner männlichen Form des Schadchan zu finden.2 Der Begriff Schadchan basiert auf dem Hebräischen Ausdruck Schidduch – Verbindung. Hintergrund der religiösen Heiratsvermittlung ist die Erhaltung des Judentums gegen äußere Einflüsse und Bedrohungen wie Assimilation und Säkularisierung. Heiratsfähige Mitglieder in kleinen jüdischen Gemeinden sind oft auf die Vermittlung ins Ausland angewiesen. Ein weiterer Grund, eine Heiratsvermittlung in Anspruch zu nehmen, kann auch sein, den inneren Zusammenhalt einzelner Gruppen, wie etwa der chassidischen, garantieren zu wollen. Die Sicherung jüdischer Nachkommen durch die Ehe ist ein essenzieller Punkt, zusätzlich können – wie überall – auch soziale oder finanzielle Überlegungen sowie Familienallianzen eine Rolle spielen. Die Kriterien der Partnerwahl umfassen seit jeher Gewichtungen wie Abstammung (yikhes), religiöse Bildung, Wohlstand der Familie3, Stammbaum und Moralvorstellungen. Auch in der heutigen Praxis spielen diese Faktoren eine Rolle. Diese vielleicht pragmatisch erscheinenden Grundlagen sollen ein Fundament für ein gemeinsames, abgesichertes Leben schaffen. In der religiösen Partnervermittlung ist das Ziel die Ehe, körperliche Attraktivität und Romantik spielen eine untergeordnete Rolle. Treffen werden immer und ausschließlich über die Instanz der Schadchanit arrangiert, im Gegensatz zu nicht religiösen Online-Singlebörsen mit Fotos und freiem Zugang für jedermann bzw. -frau. Ein Großteil der jüdischen Heiratsvermittlerinnen arbeitet daher mit Fragebögen, erwartet Angaben von Referenzpersonen, primär 1 Moshe Zeyferet, Vikhne Dvoshe di shadkhnte, un Vikhne-Dvoshe get zikh mit'n man. Tsvey ertsehlungen fun Idishen leben. Hebrew Publishing Company, New York 1921. Original Jiddisch, freie Übersetzung der Autorin. 2 Schadchan = mask. sing., Schadchanin = mask. pl., Schadchanit = fem. sing. und Schadchaniot = fem. pl. 3 Marion A. Kaplan (Hg.), The marriage bargain. Women and Dowries in European History, Haworth Press, New York 1985.


Golde und die Heiratsvermittlerin Jente aus „Anatevka“; 1993 im Metropol Theater Berlin

Heiratsanzeigen aus dem Israelitischen Familienblatt aus den Jahren 1918 und 1919.

Golde and the matchmaker Yente in Fiddler on the Roof, performed in 1993 at the Metropol Theater Berlin

Marriage advertisements from the Israelitisches Familienblatt, 1918 and 1919

the Torah. Men in turn are asked in advance about their expectations concerning the religious values of the female clients. Genetic diseases and risk factors are also relevant. For this reason, databases in Israel are used to determine in advance any hereditary diseases or the closeness of kinship relations of possible candidates. Numerous lists offer insight into the specializations of shadchaniot, including liberal as well as ultraorthodox Jews. Some shadchaniot have specialized in particular age groups, converts, Jews with certain restrictions, widows and widowers, or homosexuals. The 2013 Israeli film Do You Believe in Love? by Dan Wasserman and Barak Heymann deals with this issue; the film revolves around the shadchanit Tova, who suffers from muscular dystrophy. Common to all shadchaniot is the principle of matching only Jewish men and women. Exceptions are extremely rare, since according to popular Jewish belief arranging a marriage between a Jew and a Gentile can bring bad luck. It might take only a few weeks or could even take years to match up a couple; the success depends of course on the clients’ attitude and beliefs, as well as their willingness to make compromises. Many shadchaniot pursue their occupation part-time, since it offers the flexibility to be combined with another job or childrearing. This is certainly one reason why many women today choose to practice this profession. Knowledge especially of the personal backgrounds of the marriage candidates is important, which is why it is ideal to combine this job with activities within the Jewish community, in order to find candidates within one’s own circle of friends and acquaintances. The professional practice of marriage brokering in Judaism traces back at least to the twelfth century.4 Even in the Torah, it was Abraham’s servant Eliezer who selected Isaac’s spouse.5 The expression shadchan is first mentioned in thirteenth-century rabbinic literature within the context of a discussion about the matchmaker’s payment.6 The occupation of marriage broker was traditionally a sideline for scholars and rabbis and considered an extremely respected profession. It lost prestige starting in the sixteenth century as a result of less educated shadchanim who were thought to be busybodies. In the nineteenth century, proponents of the Jewish Enlightenment (Haskalah) attacked marriage brokering, since the

dem Rabbiner, bezüglich Charakter und Religiosität und stellt Fragen zu Bildung und Persönlichkeit, bevor sie potenzielle Heiratskandidaten in ihre Kartei aufnimmt und vermittelt. An Frauen richten sich sehr konkrete Fragen zu Einstellungen wie etwa nach der Bereitschaft, eine Perücke zu tragen oder für einen Torastudierenden Mann Unterhalt zu zahlen. Männer werden in umgekehrter Form über ihre Erwartungshaltungen befragt, um die religiösen Werte der Klienten im Vorfeld abzustimmen. Auch genetische Erkrankungen und Risikofaktoren sind ein relevanter Punkt. Daher gibt es in Israel Datenbanken, mit deren Hilfe genetische Erbkrankheiten oder die verwandtschaftliche Nähe möglicher Heiratskandidaten im Vorfeld abgeklärt werden können. Allen Schadchaniot gemein ist das Prinzip, nur Jüdinnen und Juden zu vermitteln. Eine Heiratsvermittlung kann wenige Wochen, aber manchmal auch Jahre dauern – und der Erfolg hängt natürlich von Einstellung und Vorstellungen der Klienten und deren jeweiliger Kompromissfähigkeit ab. Viele Schadchaniot üben ihre Tätigkeit als Teilzeitbeschäftigung aus, da sie sich flexibel neben einer anderen Arbeit oder der Kindererziehung gestalten lässt. Dies ist sicher ein Grund, weshalb heute gerade Frauen diesen Beruf ausüben. Vor allem Kenntnisse der persönlichen Hintergründe der Heiratskandidaten sind von Bedeutung, daher ist die Kombination mit Tätigkeiten in der jüdischen Gemeinde ideal, um innerhalb des eigenen Freundes- und Bekanntenkreises zu vermitteln. Die Praxis der professionellen Heiratsvermittlung geht im Judentum mindestens bis in das 12. Jahrhundert zurück.4 Schon in der Tora wählte Abrahams Diener Eliezer die Frau für Isaak aus.5 Der Ausdruck Schadchan findet sich im 13. Jahrhundert in der rabbinischen Literatur im Zusammenhang mit der Diskussion um seine Entlohnung.6 Der Beruf des Heiratsvermittlers ist zuerst als Nebenerwerb für Gelehrte und Rabbiner überliefert, es handelte sich um einen höchst respektablen Berufsstand. Ab dem 16. Jahrhundert verlor er an Prestige durch das Auftreten auch weniger gebildeter Schadchanim und der ihnen zugeschriebenen Geschwätzigkeit. Im 19. Jahrhundert gab es Angriffe von jüdischen Aufklärern auf die Heiratsvermittlung, da die Haskala

4 Philip & Hanna Goodman, The Jewish Marriage Anthology, Philadelphia: Jewish Publication Society, 1965, 103. 5 Genesis 24:1–67. 6 Mordechai ben Hillel, commentary to the passage in the Talmud on Bava Kama 172, cited in: “Shadkhan,” in Encyclopaedia Judaica, ed. Michael Berenbaum and Fred Skolnik, vol. 18, 2nd ed. Detroit: Macmillan Reference USA, 2007, 360–361

4 Philip & Hanna Goodman, The Jewish Marriage Anthology, Philadelphia 1965, S. 103. 5 1. Buch Mose 24,1-67. 6 Mordechai ben Hillel, Kommentar zur Talmudstelle Bawa Kama 172, zitiert nach: Editorial Staff: Shadkhan, in: Encyclopedia Judaica, Volume 14, Jerusalem 1971, S. 1254.

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Haskalah questioned the practice per se, as business speculations were often suspected behind the matches. Correspondence between Prague Jews and their relatives in Vienna from 1619 offered the first indication of a female matchmaker, with concrete details on criteria and prices.7 Another reference to shadchanit from the eighteenth century puts them in a negative light, mentioning the incorrect listing of a marriage candidate’s age.8 Although female Jewish matchmakers have been presumed even earlier, especially in Eastern Europe, concrete traces of shadchaniot did not start appearing more often in Yiddish literature until the twentieth century. Best known, of course, is Yente, the matchmaker in the musical Fiddler on the Roof, which is set in Tsarist Russia around 1905. In Sholem Aleichem’s original Tevye the Dairyman, the character was still personified by a male matchmaker, Ephraim. The Yiddish song Di Shadkante, sung by Lola Folman in the 1930s, like its counterpart in Fiddler on the Roof, reflects the hopes and fears of young people seeking a partner, and the related controversy between romance and reality. In a correspondence between shadchaniot in the United States, Israel, England, and Switzerland, it was discovered that most matchmaking is seen as a calling and a mitzvah, or good deed. In Judaism, the brokering of a marriage is also a mitzvah in the sense of a positive commandment,9 which reveals a certain discrepancy between profession (with concomitant remuneration as already discussed in medieval sources) and religious practice. Matchmaking as a good deed is a worthwhile activity for devout Jewish women, so that many waive the fixed fees for arranging a marriage (which can go as high as thousands of dollars, depending on the necessary effort expended, usually due when the match comes about) and work only for donations to support charitable Jewish causes. According to Jewish tradition, anyone who successfully arranges three marriages is guaranteed a place in heaven. Daniela Schmid obtained her doctorate with a dissertation on Jewish amulets from Eastern Europe. She is currently in charge of Ariel Muzicant’s private Judaica collection in Vienna. 7 Lisa-Maria Tillian, “Tu jo nit anderst un’ schreib oft briw.” Jüdische Privatbriefe aus dem Jahr 1619: Quellen zur Alltagsgeschichte der Wiener Juden in der Frühen Neuzeit (Private Jewish correspondence from 1619: Sources on the Everyday History of Viennese Jews in the Early Modern Period); unpublished M.A. thesis, University of Vienna 2009, 51–55: http://othes.univie.ac.at/3798/1/2009-0303_0404550.pdf (accessed 9 September 2014). Martha Keil and Lisa Tillian, “Gelehrte Männer, sittsame Frauen? Geschlechteridentitäten in jiddischen Briefen von Prag nach Wien (1619)” B. Eszter Gantner, Gábor Schweitzer, Péter Varga, ed. KÉP-KERET. Az identitás konstrukciói. Budapest: Nyitott Könyvmühely – ELTE Közép-európai Németnyelvu Zsidó Kutatócsoport, 2010, 198–219. 8 Israel Abrahams, Jewish Life in the Middle Ages, London: Edward Goldston 1932, 190. 9 Shulchan HaEzer 3:1.

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deren Praxis per se hinterfragte und sie zu oft geschäftliche Spekulationen dahinter witterte. In einem Briefwechsel zwischen Prager Jüdinnen und Juden an ihre Verwandten in Wien aus dem Jahr 1619 findet sich im Detail der Hinweis auf eine weibliche Heiratsvermittlerin mit konkreten Angaben zu Kriterien und Entgelt.7 Ein weiteres Beispiel einer Schadchanit aus dem 18. Jahrhundert stellt diese in ein negatives Licht, Erwähnung findet ihre falsche Altersangabe einer Heiratskandidatin.8 Obwohl bereits früher immer wieder jüdische Heiratsvermittlerinnen vor allem in Osteuropa vermutet werden, tauchen erst in der jiddischen Literatur des 20. Jahrhunderts vermehrt konkrete Spuren von Schadchaniot auf. Am bekanntesten ist wohl Jente, die Heiratsvermittlerin aus dem Musical „Anatevka“, das im Russischen Kaiserreich um 1905 spielt. In Alejchems Original „Tewje, der Milchmann“ wird die Figur jedoch noch von dem männlichen Heiratsvermittler Efraim verkörpert. Das jiddische Lied „Di Shadkhnte“ (Die Heiratsvermittlerin), gesungen von Lola Folman, aus den 1930ern, reflektiert genauso wie das entsprechende Lied in „Anatevka“ die Hoffnungen und Ängste von jungen Menschen bei der Partnersuche, und die damit verbundene Kontroverse zwischen Romantik und Realität. Im Austausch mit Schadchaniot in Amerika, Israel, England und der Schweiz ließ sich feststellen, dass die meisten die Heiratsvermittlung als Berufung und Mizwa sehen. Im Judentum stellt die Vermittlung einer Ehe eine Mizwa, im Sinne eines positiven Gebots, dar,9 woraus sich eine gewisse Diskrepanz zwischen Beruf (mit entsprechendem Entgelt wie schon in den mittelalterlichen Quellen diskutiert) und Religionsausübung auftut. Die Heiratsvermittlung als gute Tat ist eine erstrebenswerte Aufgabe für gläubige Jüdinnen, sodass viele dafür auf fixe Vermittlergebühren (die in die Tausende von Dollars gehen können, je nach Aufwand, fällig zumeist beim Zustandekommen einer Verbindung) verzichten und auf Spendenbasis für karitative jüdische Zwecke arbeiten, denn: Laut der jüdischen Tradition garantieren drei arrangierte Ehen einen Platz im Himmel. Daniela Schmid promovierte zu jüdischen Amuletten aus Osteuropa. Zurzeit betreut sie die private Judaica-Sammlung von Ariel Muzicant in Wien. 7 Lisa-Maria Tillian, „Tu jo nit anderst un’ schreib oft briw“. Jüdische Privatbriefe aus dem Jahr 1619: Quellen zur Alltagsgeschichte der Wiener Juden in der Frühen Neuzeit, unveröff. Dipl. Arbeit, Universität Wien 2009, S. 51–55. Martha Keil/Lisa Tillian: Gelehrte Männer, sittsame Frauen? Geschlechteridentitäten in jiddischen Briefen von Prag nach Wien (1619). In: B. Eszter Gantner, Gábor Schweitzer, Péter Varga (Hg.), KÉP-KERET. Az identitás konstrukciói., Budapest 2010, S. 198–219. 8 Israel Abrahams, Jewish Life in the Middle Ages, London 1932, S. 190. 9 Schulchan ha-Ezer 3,1.




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