Jewish Museum Berlin: JMB Journal Nr. 24

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JMB

J O U RN A L

2022 N 24 ISSN 21957002
Inside Out Etgar Keret Gefördert durch jmberlin.de/inside-out #InsideOut #JMBerlin 21. OKTOBER 2022 BIS 5. FEBRUAR 2023

Hetty Berg

DE „Und dann ist das passiert, was passiert ist – das, wovor wir Angst hatten, das, was wir nicht glauben konnten: Um 5 Uhr morgens am 24. Februar 2022 begann der Krieg.“

Was am Anfang des Jahres Ungläubigkeit und Schock hervorrief, gehört heute zum erschütternden Alltag in der Ukraine, zu den Nachrichten, die uns hier täglich erreichen: Russland führt einen neuen, brutalen Krieg gegen die Ukraine und setzt damit fort, was schon 2014 mit der rechts widrigen Annexion der Krim begonnen wurde. Die Autorin Tasha Karlyuka war eine der Vortragenden, die das JMB im März 2022 eingeladen hatte, um ukrainischen und jü dischen Stimmen eine Bühne zu geben und Solidarität zu bekunden. Mit der Gesprächsreihe „Ukraine im Kontext“, die die W.M. Blumenthal Akademie daraufhin ins Leben rief, lassen wir weiterhin die jüdischen Perspektiven auf den und aus dem Krieg hör- und sichtbar werden.

In dieser Ausgabe des JMB Journals nähern sich die Autor*innen dem Thema Ukraine aus unterschiedlichen Richtungen an. Einen Überblick über die komplexe jüdische Geschichte der Region bietet der Beitrag der Historikerin Franziska Davies. Robert Jan van Pelt, Architekturhistoriker und bedeutender Akteur im Kampf gegen das Leugnen des Holocaust, behandelt in seinem Text „Eine Synagoge für Babyn Jar“ eindrücklich das Thema Erinnerung. Von der literarischen Blütezeit der Bukowina erzählt Markus Winkler, die Psycho login Marina Chernivsky berichtet im Interview von ihren Aufgaben als Helferin der Helfenden und von den Traumata dieses neuen Krieges. Einblicke in die Sammlungen des JMB geben Inka Bertz, Jörg Waßmer und Theresia Ziehe: die Uk raine spiegelt sich in den Objekten des JMB auf vielfältige Weise. Außerdem stellen wir die Mitarbeiter*innen unserer Bildungs-Abteilung und den neuen Akademieleiter Daniel Wildmann vor. Bitte besuchen Sie auch unsere Website: Dort finden Sie Video-Mitschnitte aus unserer Gesprächsreihe „Ukraine im Kontext“ sowie ein Feature mit Kurzinterviews zu Gegenwart und Geschichte der Ukraine, u.a. mit dem Autor Serhij Zhadan und dem Gemeindevorsteher Alexander Kaganovsky aus Charkiw.

Was wir als Museum tun können, versuchen wir zu tun: historische Tiefenschärfe bieten, jüdischen Stimmen Gehör verschaffen, in den Dialog treten. Ich lade Sie ein, daran teil zunehmen.

EN “And then the thing happened that we feared and couldn’t believe would happen: at five in the morning on Feb ruary 24, 2022, the war started.” This event, which caused shock and disbelief at the beginning of the year, is now part of grim daily life in Ukraine and of the news that reaches us on a daily basis: Russia is waging a brutal new war against Ukraine, continuing what it started back in 2014 by illegally annexing Crimea. The author Tasha Karlyuka was one of the speakers the JMB invited to an event in March 2022 to provide a stage for Ukrainian and Jewish voices and to express its solidarity. The Ukraine in Context discussion series, launched by the W.M. Blumenthal Academy afterward, is continuing to give people the opportunity to hear and see Jewish perspectives on (and from) the war.

In this issue of the JMB Journal, our contributors examine this topic from a variety of angles. The historian Franziska Davies provides a survey of the complex Jewish history of Ukraine. In his essay “A Synagogue for Babyn Yar,” Robert Jan van Pelt, an architectural historian and a prominent figure in the fight against Holocaust denial, brings impressive perspective to the topic of remembrance. Markus Winkler reports on the golden age of literature in Bukovina, while the psychologist Marina Chernivsky describes the traumas of this new war and her work providing support for supporters. Inka Bertz, Jörg Waßmer, and Theresia Ziehe take a look at the JMB’s collections and discuss the diverse ways Ukraine is reflected in the museum’s objects. We also introduce the staff of our education department and the new program director of the W.M. Blumenthal Academy, Daniel Wildmann. As always, you will find information about our exhibitions and events, and you can also visit our website: there you can view video recordings from our Ukraine in Context series or dis cover an online feature with short interviews about past and present life in Ukraine. The interviewees include the author Serhij Zhadan and the Jewish community leader Alexander Kaganovsky from Kharkiv.

As a museum we are trying to do everything we can, providing in-depth historical views, making Jewish voices heard, and engaging in dialogue. I invite you to join in.

Ihre / Yours,

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Editorial Editorial
Direktorin des Jewish Museum Berlin

Digitalisieren wir die Sammlungen

DIE FREUNDE DES JMB unterstützen das Museum dabei, jüdische Geschichte, Stimmen und Perspektiven zu erforschen und zu zeigen – vor Ort und digital. Als Mitglied bei den FREUNDEN DES JMB helfen Sie mit, die Museumsthemen für alle sichtbar zu machen.

Das „Familienalbum“ präsentiert zehn Sammlungen aus dem Bestand des Museums auf einer interaktiven Medienwand und wurde durch die FREUNDE DES JMB ermöglicht.

Die Freunde des Jüdischen Museums Berlin +49 (0)30 259 93 436 freunde@jmberlin.de jmberlin.de/freunde MIT UNSEREN FREUNDEN
Foto: Yves Sucksdorff
Content
Inhalt
3 Editorial Editorial 6 Dialoge Dialogs 14
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Franziska Davies Eine Jüdische Geschichte der Ukraine A Jewish History of Ukraine 22 Ukraine im Kontext Ukraine in Context 24 Robert Jan van Pelt Eine Synagoge in Babyn Jar A Synagoge in Babyn Yar 32 Inside Out – Etgar Keret Aktuelle Ausstellung Current Exhibition 34 Markus Winkler Jerusalem am Pruth Jerusalem on the Pruth 40 Preis für Verständigung und Toleranz Prize for Understanding and Tolerance 44 Tasha Karlyuka 24.2.2022, 5:00 46 Interview Interview Marina Chernivsky Menschen brauchen Vertrauen, um leben zu können Trust Is an Essential Part of Life 52 Jörg Waßmer 15 Monate, 10 Tage 15 Months, 10 Days 58 Inka Bertz Wirklichkeit, und doch mehr als Wirklichkeit Reality and Yet More Than Reality 64 Paris Magnétique Ausstellungsvorschau Upcoming Exhibition 66 Rita Ostrovska Meine Emigration My Emigration 72 ANOHA 73 Führungen Guided Tours 74 Interview Interview Daniel Wildmann Tiefenschärfe Historical Depth 79 Impressum Credits Scannen Sie unsere QR-Codes, um mehr zu entdecken! Scan our QR codes to discover more!
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Dialogs

Was ist Bildung? Unsere Mitarbeiter*innen, die im JMB zusammen mit freiberuflichen Bildungsreferent*innen für Führungen, Workshops, Bildungspartnerschaften und die mobile Ausstellung JMB on.tour verantwortlich sind, finden viele Antworten. Eine ist allen gemeinsam: Im Austausch und im Gespräch mit anderen entsteht etwas – Überraschendes, Inspirierendes, manchmal auch Herausforderndes. Doch fast immer eröffnet sich am Ende eine neue Perspektive. What is education? This question is answered in many different ways by the JMB staff who together with freelance education consultants are responsible for guided tours, workshops, educational partnerships, and the traveling JMB on.tour exhibition. One view is shared by all: when we discuss and exchange ideas with others, it leads to surprising, inspiring, and sometimes challenging results—and ultimately to new perspectives.

6 Dialoge
Fotos

Seite 7: Andy Simanowitz, Führungen und Workshops Nina Wilkens, Schwerpunkt Inklusion

Viele unserer Führungen durch die Ausstellungen beginnen hier, im Raum „Drummerrsss“. Die Ins tallation von Gilad Ratman spricht Besucher*innen auf ganz unterschiedliche Weisen an. Wir wissen nie, in welche Richtung sich das Gespräch bewegen wird. Wir teilen in dem Moment etwas miteinander, was man nicht googeln kann: Gefühle, Wahrnehmungen und Ge danken. Hier beginnen wir, Neues zu entdecken: Räume, Exponate und die Erzählun gen der deutsch-jüdischen Geschichte, die in sie ein geschrieben sind.

Page 7: Andy Simanowitz, tours and programs Nina Wilkens, inclusive programs Many of our exhibition tours start here, in the “Drummerrsss” room. The installation by Gilad Ratman engages visitors in very dif ferent ways. We never know what direction the conver sations will take. We share something with others that cannot be googled: feelings, thoughts, perceptions. We begin to discover new things: spaces, exhibits, and the narratives of German-Jewish history that are inscribed into them.

Lorie Quint, Schwerpunkt Judentum Mit den Besucher*innen er

kunde ich gern das Gesetz im Talmud und untersuche seine vielfältigen Stimmen, die über Generationen hinweg entstanden sind. Wir können diskutieren und uns von der Ästhetik der Buchseite inspi rieren lassen. Meine Hoff nung ist, dass die Menschen danach die Dinge vielleicht ein wenig anders sehen.

Lorie Quint, focus on Judaism

When working with visitors at the museum, I like to explore what it means to question the Law within the Talmud, its multiple voices across generations. We can debate and be inspired by the typographic aesthet ics of the page. My hope is that when people leave, they might see and consider things a little differently.

Dialoge 8

Ilona Yafimava, Backoffice Bildung

Meine Arbeit ist eher unsichtbar. Aber für mich ist es immer ein toller Moment, wenn ich die Ergebnisse sehe: Ein neues Angebot kommt zustande, ich sehe, wie sich unsere Guides, wie sich die Schüler*innen darü ber freuen. Und daran habe ich mitgewirkt!

Tina Engels, Backoffice Outreach

Zu unserer JMB on.tour Ausstellung gehört eine leere Vitrine. Schüler*innen können von Zuhause einen Gegenstand mitbringen, ihn in die Vitrine legen und den anderen vorstellen. Wir als Museumsteam dürfen in solchen Momenten so viel Persönliches erfahren, das ist ein Geschenk.

Amélie Bylang, Freiwilliges

Soziales Jahr Kultur An allen Orten, an denen im Museum Austausch und Dialog entsteht, passiert Vermittlung. Auch im Garten der Diaspora, einer meiner Lieblingsorte im Museum. Hier können die Besucher*in nen in Ruhe über das reden, was sie gesehen oder gelernt haben.

Ilona Yafimava, backoffice education My work is fairly invisible, but it’s always great to see the results: something new emerges, and I can see how pleased the guides and the students are. And I’ve played a part in this!

Tina Engels, backoffice outreach

Our JMB on.tour exhibition shows an empty display case. Students can bring an object from home, place it in the case, and present it to others. We as the museum team experience something very personal in such moments, which is a gift.

Amélie Bylang, volunteer in the field of culture and education Education occurs every where in the museum where there’s dialog and exchange. This includes

the Diaspora Garden, which is one of my favorite places in the museum. Here, visitors can relax and talk about what they’ve seen and learned.

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Diana Dressel, Leiterin Bildung Unsere Bildungsarbeit wirkt immer auch wieder zurück auf uns. Das ist es, was wir unter Partizipation verstehen. Durch die direkte Begegnung mit Menschen, die eben nicht Museumsmenschen sind, wird das Museum zu einem Ort für die ganze Ge sellschaft. Das ist unser An trieb: dass sich hier wirklich alle willkommen fühlen.

Our educational work has effects that we feel, too.

That’s what we understand by participation. Through di rect encounters with people who aren’t regular museumgoers, the museum becomes a place for all of society. That’s what drives us: the idea that everyone will feel welcome here.

Sarah Hiron, Outreach und JMB on.tour Ich arbeite schon seit Jahren zu verschiedenen Themen, und trotzdem habe ich in unserer Arbeit mit der JMB on.tour -Ausstellung immer wieder Aha-Momente: eine Schülerin sagt etwas, und ich bin plötzlich bewegt. Es entstehen immer wieder ganz neue Denkräume!

Malte Lührs, JMB on.tour Zu sehen, was passiert, wenn Schüler*innen zum ersten Mal die Ausstellungskisten öffnen, ist sehr spannend: Was wirft Fragen auf? Was interessiert, zieht an, sorgt für Diskussionen? Viele grei fen nach dem Cheeseburger, der täuschend echt aussieht. Aber auch ein Fußball-Trikot oder eine Packung Kondome sorgen für Überraschung.

Sarah Hiron, outreach and JMB on.tour Although I’ve been working on different topics for years, I still have aha moments in our work for the JMB on.tour exhibition. A student says something, and I’m suddenly moved. Entirely new lines of thought are possible.

Malte Lührs, JMB on.tour

It’s very exciting to see what happens when students open the exhibit boxes for the first time: What object raises questions? What interests or attracts students and what inspires discussion? Many reach for the cheese burger made of silicone. But a soccer jersey or a pack of condoms also provide a surprise.

10 Dialoge
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Heiko Niebur, Digitale Vermittlung

Um so viele Menschen wie möglich zu erreichen, brau chen wir diverse Zugänge. Im Digitalen haben wir dazu die Chance. Wir können die Geschichte eines Objekts auf ein, zwei, drei verschiedene Weisen erzählen: in Videos, Audios, Online-Spielen. Vielstimmige Zugänge erreichen ein vielstimmiges Publikum. Heiko Niebur, digital education

We need diverse approaches to reach as many people as possible. The digital realm gives us the opportunity to do so: we can tell the story of an object in any number of ways, using videos, audios, or online games. Diverse approaches reach diverse audiences.

Fabian Schnedler, Schulprogramme und Schulkooperationen

Mit den Lehrkräften unserer Kooperationsschulen sind wir im intensiven Austausch darüber, wie Bildung im Museum gestaltet sein sollte. Unser gemeinsames Ziel ist es Hürden abzubauen, damit der Museumsbesuch für Schüler*innen attraktiv und relevant wird. Wir wollen das Museum öffnen – insbesondere für bildungsbenachtei ligte Lernende, die selten ins Museum kommen.

Vera March und Lisa Shekel, Refik-Veseli-Schule

Wenn ein Objekt kein langweiliges Ding mehr ist, sondern zum Ausgangspunkt einer Geschichte wird, die die Jugendlichen selbst erzählen können, dann hat Bildung funktioniert.

Fabian Schnedler, school programs and partnerships

We have intense discussions with the teachers at our col laborating schools on what form education should take in museums. Our shared goal is to break down barriers so that a museum visit is attractive and relevant to students. We want to open up the museum especially to educationally disadvantaged learners who would rarely come.

Vera March and Lisa Shekel, Refik Veseli School

When an object is no longer boring, but forms the starting point of a story that young people can tell themselves, then education has proved effective.

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Die Zerstörungen, Verwüstungen, der Tod und das Leid, die der russische Totalangriff in diesem Jahr über die Ukraine gebracht hat, sind kaum in Worte zu fassen. Die Jüdinnen und Juden der Ukraine kämpfen in den Reihen der Armee und stellen sich entschlossen hinter ihr Land.

KRAINE

J
U
EINE
ÜDISCH E GES C HICHT E DER

The destruction, death, and suffering wrought on Ukraine by Russia’s full-scale attack this year can hardly be described in words. Ukrainian Jews are fighting in the ranks of the army and stand resolutely behind their country.

Text Franziska Davies

DE Die Geschichte der jüdisch-ukrainischen Beziehungen reicht bis ins Mittelalter zurück – lange vor der „modernen“ ukrainischen Nationsbildung.1 Bereits im 10. Jahrhundert lebten in Kyjiw Jüdinnen und Juden. Damals war Kyjiw das Zentrum der Kyjiwer Rus, ein mittelalterlicher ostslawischer Herrschaftsverband, den die Ukraine, Russland und Belarus alle als ihren Vorläufer beanspruchen. Für die Entwicklung des osteuropäischen Judentums war aber das Statut von Kalisz (1264) des polnischen Herzogs Bolesław VI. der Fromme, das Juden rechtlichen Schutz und Autonomierechte garantierte, von größter Bedeutung: Viele Jüdinnen und Juden siedelten sich nach Pogromen in Westeuropa und Vertreibungen aus deutschen Gebieten in Polen an, das zum größten Zentrum des aschkenasischen Judentums wurde. Hier entwickelte sich ein für das jüdisch-ukrainische Verhältnis lange prägendes Muster: Juden traten oft als Gutsverwalter oder Schankwirte in den Dienst des polnischen Adels (die szlachta); zudem waren die Güter polnischer Adeliger, wo Juden in PolenLitauen viele Freiheiten genossen, Ursprung der Schtetl, der kleinen und mittelgroßen Städte, in denen vor allem Jüdinnen und Juden lebten und in denen Jiddisch gesprochen wurde. Die bäuerliche Bevölkerung – in Ostpolen oft Ukrainisch sprechend, während sich die ukrainischen Eliten wiederum polonisiert hatten – nahm Juden daher oft als Vertreter ihrer Ausbeuter wahr. Diese Wahrnehmung währte lange und ist der Grund für einen großen Erinnerungskonflikt zwischen Jüdinnen und Juden und Ukrainer*innen in Bezug auf die neuzeitliche Geschichte: der Aufstand des ukrainischenkosakischen Hetman Bohdan Chmelnyckyj (1648–1657) gegen Polen- Litauen. Zwar ging es Chmelnyckyj vor allem um die Privilegien der Kosaken, aber auch Bauern schlossen sich dem Aufstand gegen den verhassten Adel an. Bis heute gilt der Aufstand vielen in der Ukraine als erster großer Na tionalaufstand; ungeachtet dessen, dass es dabei zu massiver Gewalt gegen Jüdinnen und Juden kam. Schätzungen zufolge lag die Zahl der jüdischen Todesopfer während des Aufstands bei etwa 18.000 Menschen, fast die Hälfte der damaligen jüdischen Bevölkerung in der Ukraine.

18. und 19. Jahrhundert

Über Jahrhunderte war die jüdische Lebenswelt im östlichen Europa vor allem durch das Schtetl beeinflusst, ein Ort, der seine eigenen kulturellen Traditionen und Ökonomien hervorbrachte, aber oft auch von großer Armut geprägt war. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich eine Schtetl-Literatur und

EN The history of Jewish-Ukrainian relations dates to the Middle Ages, long before the formation of the “modern” Ukrainian nation.1 Jews lived in Kyiv as early as the tenth century, when the city was the center of Kievan Rus, a medieval federation of East Slavic states that Ukraine, Russia, and Belarus all claim as their cultural ancestor. Of crucial importance for the development of East European Jewry was the Statute of Kalisz, issued by the Polish Duke Bolesław VI the Pious in 1264, which guaranteed Jews legal protection and autonomy rights. After the wave of pogroms in Western Europe and expulsions from German territories, many Jews thus settled in Poland, which became a major center of Ashkenazic Jewry. Here a pattern long characteristic of Jewish-Ukrainian relations emerged: Jews often entered the service of the Polish nobility (the szlachta) as estate managers or innkeepers. The estates of these Polish nobles, where Jews enjoyed many freedoms in the Polish-Lithuanian Commonwealth, became the birthplace of the shtetls, the small and medium-sized towns in which mostly Jews lived and Yiddish was spoken. Due to the Jews’ ties to the nobility, the peasant population—who in contrast to the Polonized Ukrainian elites mostly spoke Ukrainian in eastern Poland— often saw Jews as representatives of their exploiters. This perception persisted for a long time and was the reason that a major conflict in modern history was remembered differently by Jews and Ukrainians: the uprising led by the Ukrainian

Karte der Aufteilung Polen-Litauens in den Jahren 1765–1795 aus dem Jahr 1799 Map from 1799 showing the partition of the Polish-Lithuanian Commonwealth in 1765–1795

1 Vgl. Yohanan Petrovsky-Shtern

1

16 Eine Jüdische Geschichte der Ukraine
und Paul Magosci, Jews and Ukrainians: A Millennium of Co-Existence, Toronto 2016. See Yohanan Petrovsky-Shtern and Paul Magosci, Jews and Ukrainians: A Millennium of Co-Existence, Toronto: University of Toronto Press, 2016.

die jiddische Presse erlebte eine Blütezeit. Heute ist das Schtetl zu einem mythischen Ort geworden, steht es doch für die Welt des osteuropäischen Judentums, die die Deut schen zerstört haben.

Im 18. Jahrhundert wurden die Gebiete Podolien und Wolhynien (heute vor allem in der Ukraine gelegen) zum Ausgangspunkt für den Chassidismus, eine mystische Bewegung, die im Kontext messianischer Erwartungen der Zeit stand. Heute gibt es überall auf der Welt chassidische Jüdinnen und Juden, und jedes Jahr pilgern zehntausende in das ukrainische Städtchen Uman, wo einer der Begründer des Chassidismus, Rabbiner Nachman, begraben ist.

Mit den Teilungen Polen-Litauens (1773, 1792, 1795) zwischen Preußen, dem russischen Zarenreich und der Habsburger Monarchie wurde das Russische Reich zum Herrscher über die größte jüdische Bevölkerung Europas. Die Restriktionen gegen die jüdische Bevölkerung waren – selbst für autokratische Verhältnisse – hoch: Jüdinnen und Juden durften nur im so genannten Ansiedlungsrayon wohnen (heute vor allem in Polen, der Ukraine, Belarus und Litauen) und galten als rückständig und fanatisiert. Unter Zar Nikolaus I. (1825–1855) wurden sie seit 1827 in die Armee rekrutiert, was in der jüdischen Erinnerung ein großes Trauma ist. Später gab es aber auch Bemühungen, die jüdischen Untertanen zu „russifizieren“ und auf diese Weise für den Staat „nützlich“ zu machen, und mit der Zeit brachten vor allem speziell gegrün dete staatliche russisch-jüdische Schulen eine sehr kleine, aber einflussreiche russisch-jüdische Intelligenzija hervor, die sowohl Jiddisch als auch Russisch beherrschte und sich zwischen den Welten bewegen konnte. Diese Intelligenzija machte sich für eine Öffnung der jüdischen Gemeinden bereit und trat für die Haskala ein, die jüdische Aufklä rung, die ihren Ursprung im 18. Jahrhundert hatte. Schon im 19. Jahrhundert gab es also Juden, die Jiddisch und Russisch sprachen, sich in der Welt des jüdischen Schtetls und der russischen Kultur bewegen konnten und das traditionelle jüdische Leben oft als rückständig sahen. Ein herber Rück schlag für diese russisch-jüdische Elite war die Regierungs zeit von Zar Alexander III., der 1882 in den so genannten Mai-Gesetzen weitere Restriktionen gegen die jüdische Be völkerung erließ. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert waren die anti-jüdischen Pogrome im Zarenreich, an denen der Staat den Opfern eine Mitschuld gab, ein zentraler Grund für Massenauswanderung von Jüdinnen und Juden aus Ostund Ostmitteleuropa.

Cossack Hetman

the Polish–Lithuanian Commonwealth

Khmelnytsky’s main goal was to secure privileges for the Cossacks, but the peas antry joined the revolt against the hated nobility. To this day, many Ukrainians celebrate the rebellion as the first major national uprising, although it resulted in massive violence against Jews. Estimates put the number of Jewish deaths at around 18,000—almost half the Jewish population of Ukraine at the time.

18th to 19th Century

For centuries, Jewish life in Eastern Europe was dom inated by the shtetl, a microcosm that produced its own cultural traditions and economies, but was often character ized by extreme poverty. The nineteenth century saw the emergence of shtetl literature and a flourishing Yiddish press. Today, the shtetl has taken on mythical proportions as a place that embodies the world of East European Jewry that was destroyed by the Germans.

In the eighteenth century, the regions of Podolia and Volhynia (now mainly in Ukraine) were the cradle of Hasidism,

Jedes Jahr reisen zehntausende jüdische Pilger nach Uman, um am Grab von Rabbi Nachman zu beten. Every year thousands of Jewish pilgrims travel to the city of Uman to pray at the grave of Rabbi Nachman.

17 A Jewish History of Ukraine
Bohdan Khmelnytsky against (1648–1657).

Dass es zu diesem Zeitpunkt noch kein sich als uk rainisch verstehendes Judentum gab, erklärt der Historiker Yohanan Petrovsky-Shtern mit dem Umstand, dass es in der Regel die dominante Kultur ist, mit der sich die Eliten von Minderheiten identifizieren. Da die Ukrainer*innen zu dieser Zeit in den Städten nur eine Minderheit bildeten, übte die rus sische, die polnische oder die deutsche Kultur oft die größere Anziehungskraft aus: Sie öffnete das Tor zur Universität und damit zu weiteren Karrieremöglichkeiten. Zudem bekämpfte der russische Staat spätestens seit 1863 aktiv die ukrainische Nationalbewegung und russische Nationalist*innen blickten auf die ukrainische Kultur und Sprache herab.

Nationalismus und Antisemitismus

Wie fast alle europäischen Nationalbewegungen waren beide, die russische wie die ukrainische, von Antisemi tismus geprägt. Im ukrainischen Nationalismus spielte dabei eine große Rolle, dass das schwierige Verhältnis zwischen Pol*innen, Jüdinnen und Juden und Ukrainer*innen, das sich in Mittelalter und Früher Neuzeit herausgebildet hatte, bis ins 20. Jahrhundert wirksam blieb: Ukrainische Nationalist*innen stellten Jüdinnen und Juden als die Ausbeuter des ukraini schen Volkes dar, alte Vorurteile verbanden sich mit neuen Stereotypen über Jüdinnen und Juden als angebliche Profi teure des Kapitalismus.

Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde erst mals etwas zu einer Möglichkeit, von dem ukrainische Intel lektuelle bis dahin bestenfalls geträumt hatten: ein unab hängiger ukrainischer Nationalstaat. Als 1917 das Zarenreich zerfiel, gründete sich in Kyjiw ein Rat, die Rada, die zunächst die Autonomie, kurze Zeit nach der Machtübernahme der Bol schewiki aber die Unabhängigkeit der Ukraine erklärte. Die Bolschewiki jedoch versuchten – letztlich erfolgreich – die Ukraine gewaltsam in die 1922 offiziell gegründete Sowjet union zu integrieren.

Zu Beginn der Unabhängigkeitsbewegung in der Zen tral- und Ostukraine hatten sich führende Politiker darum bemüht, nationale Minderheiten, darunter die jüdische, in den neuen Nationalstaat als gleichberechtigte Bürger*innen zu integrieren. Während des folgenden post-imperialen Bürgerkriegs nach dem Zusammenbruch des Zarenreichs aber wurden Jüdinnen und Juden massenhaft zu Opfern antijüdischer Gewaltakte, die sowohl von den so genannten „Weißen“, die für eine Wiedererrichtung der russischen Monarchie kämpften, verübt wurden, als auch von Militär

a mystical movement that emerged in the context of the mes sianic expectations of the day. Today Hasidic Jews can be found all over the world, and every year tens of thousands of them make a pilgrimage to the Ukrainian town of Uman, where one of the founders of Hasidism, Rabbi Nachman, is buried.

As a result of the partitioning of the Polish–Lithuanian Commonwealth between Prussia, the Russian Empire, and the Habsburg Monarchy in 1773, 1792, and 1795, Imperial Russia ruled over the largest Jewish population in Europe. The restrictions placed on Jews were severe, even by autocratic standards: they were only allowed to live in the Pale of Settle ment (located mainly on the territory of present-day Poland, Ukraine, Belarus, and Lithuania) and were considered back ward and fanatical. Since 1827, under Czar Nicholas I (1825–1855) they were recruited for the army, resulting in a great trauma in Jewish memory. Later, there were efforts to “russify” Jewish subjects and make them “useful” to the state: Over time, specially established Russian Jewish schools produced a small but influential Russian Jewish intelligentsia that knew both Yiddish and Russian and were able move between these worlds. The intelligentsia prepared for the opening of the Jewish communities and championed the Haskalah, or Jewish Enlightenment, which had its roots in eighteenth-century Ger many. This meant that in the nineteenth century, there were already Jews who spoke Yiddish and Russian, who bridged the worlds of the Jewish shtetl and Russian culture, and who often saw traditional Jewish life as backward. A major setback for this Russian Jewish elite occurred under the rule of Czar Alexander III, who in 1882 placed further restrictions on the Jewish population in his series of May Laws. In the late nine teenth and early twentieth centuries, anti-Jewish pogroms in the Russian Empire, which the state blamed on the victims, were the main reason for the mass emigration of Jews from Eastern and East Central Europe.

According to the historian Yohanan Petrovsky-Shtern, the reason why there was no Jewry that saw itself as Ukrainian is that usually, the elites of minority groups tend to identify with the dominant culture. Because Ukrainians only made up a minority in urban areas at the time, Russian, Polish, and German culture often held the greater attraction. It opened the door to universities and thus to broader career opportunities. In addition, since at least 1863, the Russian state had actively fought the Ukrainian national movement, and Russian nationalists looked down on the Ukrainian lan guage and culture.

18 Eine Jüdische Geschichte der Ukraine

formationen, unter ukrainischer Führung. Besonders Symon Petljura, der für eine unabhängige Ukraine kämpfte, machte sich in den Augen vieler schuldig, weil Einheiten, die unter seinem Kommando standen, zahlreiche Pogrome verübt hatten. 2 Der Versuch der Gründung eines unabhängigen ukrainischen Nationalstaats war in der jüdischen Erfahrung mit antisemitischer Gewalt einhergegangen.

Im Gebiet der heutigen Westukraine gab es solch heftige Gewalterfahrungen in der Zwischenkriegszeit nicht. Die Gründung eines ukrainischen Staates scheiterte hier unter anderem am militärischen Widerstand Polens, das 1918 seine Unabhängigkeit wiederhergestellt hatte. Ukrainer*innen lebten fortan als größte Minderheit in der Zweiten Polni schen Republik und waren immer wieder erheblichen Dis kriminierungen ausgesetzt. In der Folge radikalisierte sich der westukrainische Nationalismus in den 1920er-Jahren massiv und ein aggressiver Antisemitismus – nicht zuletzt inspiriert von den deutschen Nationalsozialisten – wurde immer einflussreicher.

Zwischen den radikalen ukrainischen Nationa list*innen und deutschen Nationalsozialist*innen bestanden allerdings nicht nur ideologische Ähnlichkeiten. 1929 hatte sich in Wien die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) gebildet, die für einen unabhängigen ukrainischen Staat kämpfte und in dem der radikale „integrale Nationa lismus“ immer einflussreicher wurde. Führer der OUN hofften auf die Hilfe NS-Deutschlands für ihren Kampf für eine un abhängige Ukraine. Die Gelegenheit dazu schien sich im Sommer 1941 zu bieten, als Deutschland die Sowjetunion überfiel. Die NS- Propaganda machte die angeblichen „jüdi schen Bolschewisten“ für die Verbrechen des Stalinistischen Terrors gegenüber ukrainischen Nationalist*innen verant wortlich und befeuerte damit ein altes Feindbild des ukrai nischen radikalen Nationalismus. Der deutsch-sowjetische Herrschaftswechsel, der vorangegangene sowjetische Terror sowie der lokale Antisemitismus waren der Kontext, in dem sich im Sommer 1941 mehrere Pogrome vollzogen. Jüdinnen und Juden wurden öffentlich gedemütigt, misshandelt, ver gewaltigt und ermordet. In der Westukraine spielten dabei in den ersten Wochen des Krieges oft OUN-Milizen – in Ko operation mit den NS- Besatzern – eine Schlüsselrolle. Tat sächlich aber hatte NS-Deutschland an einer unabhängigen Ukraine kein Interesse und verhaftete OUN-Führer, darunter auch Stepan Bandera. Noch in den folgenden Jahren stellten sich eine erhebliche Zahl an OUN-Mitgliedern der SS als

Nationalism and Antisemitism

Like almost all European national movements, those in Russia and Ukraine were marked by antisemitism. An important factor in Ukrainian nationalism was the difficult relationship between Poles, Jews, and Ukrainians, which had its roots in the Middle Ages and early modern times, and continued to have an impact well into the twentieth century. Ukrainian nationalists cast Jews as the exploiters of the Ukrainian people, and old prejudices mixed with new stereotypes about Jews as the alleged profiteers of capitalism.

With the outbreak of the First World War, it seemed possible for the first time that the dream of Ukrainian intellec tuals would finally come true: the formation of an independent Ukrainian nation-state. When the Russian Empire collapsed in 1917, a council—the Rada—was established in Kyiv which initially declared Ukrainian autonomy and then, shortly after the Bolsheviks came to power, proclaimed Ukrainian indepen dence. The Bolsheviks attempted to forcibly integrate Ukraine into the Soviet Union, which had been officially established in 1922, but ultimately failed.

At the beginning of the independence movement in central and eastern Ukraine, leading politicians sought to integrate national minorities, including Jews, into the new na tion-state as equal citizens. However, during the post-imperial civil war following the collapse of the tsarist empire, Jews be came the victims of anti-Jewish violence on a massive scale, perpetrated by both the Whites fighting to reestablish the Russian monarchy and by military formations under Ukrainian leadership. For many, it was especially Symon Petliura, a fighter for an independent Ukraine, who bore responsibility for the violence because units under his command committed many bloody pogroms. 2 From the Jewish perspective, the attempt to establish an independent Ukrainian nation-state was accompanied by antisemitic violence.

During the interwar period, excessive violence such as this was not experienced on the territory of present-day western Ukraine. There, the founding of a Ukrainian state failed among other reasons due to military resistance from Poland, which had regained independence in 1918. After ward Ukrainians formed the largest minority in the Second Polish Republic and were repeatedly subjected to severe discrimination. As a result, western Ukrainian nationalism became massively radicalized in the 1920s, and an aggres sive antisemitism became increasingly influential, inspired not least by German National Socialists.

2 Petljura und seine Regierung wandten sich wiederholt gegen die Pogrome, waren aber in der unübersichtlichen und chaotischen (Bürger-)Kriegssituation kaum in der Lage, ihre Einheiten zu kontrollieren. Dennoch wurde Peltjura –nicht zu Unrecht – als der politisch Verantwortliche gesehen.

2 Petliura and his government repeatedly tried to halt the pogroms, but were unable to control their units amid the confusion and chaos of the (civil) war. Nevertheless, Petliura has been seen—not unjustly—as bearing political responsibility.

19 A Jewish History of Ukraine

lokale Hilfspolizisten zur Verfügung, und half, Jüdinnen und Juden zu identifizieren und sie ihren Mördern zu überstellen.

In der Sowjetukraine, der heutigen Zentral- und Ost ukraine, fanden Pogrome dieser Art nicht statt, obwohl es auch hier – wie überall im besetzten Europa – lokale Zu sammenarbeit mit den Deutschen gab. Wie auch in anderen sowjetischen Republiken, starben die allermeisten Jüdinnen und Juden hier nicht in Konzentrations- und Vernichtungs lagern, sondern im „Holocaust by Bullets“3: Sie wurden von der SS kurz nach der Einnahme einer Stadt oder eines Dorfes erschossen, wobei die Wehrmacht an Planung und Durch führung des Massenmords oft beteiligt war. 4

Nach dem Zweiten Weltkrieg

Wie in allen Republiken der Sowjetunion wurde auch in der Sowjetukraine, die durch die territorialen Verschiebungen im Zuge des Zweiten Weltkriegs nun auch die Westukraine umfasste, die Erinnerung an den Holocaust unterdrückt. Dabei spielte Stalins Antisemitismus eine maßgebliche Rolle, aber auch die Tatsache, dass die Einzigartigkeit des Holocaust dem sowjetischen Mythos entgegenstand, dass alle Völker der Union gleichermaßen unter dem deutschen Vernichtungskrieg gelitten hätten. Aber nach Stalins Tod, im so genannten „Tauwetter“ der späten 1950er- und frühen 1960er-Jahre, geriet diese staatliche Unterdrückung der Erinnerung an ihre Grenzen. Besonders deutlich wird dies an dem Ort, wo das größte Einzelmassaker an sowjetischen Jüdinnen und Juden stattfand, an der Schlucht von Babyn Jar.5

In seinem Gedicht „Babij Jar“ klagte 1961 der (nicht-jüdische) Schriftsteller Jewgenij Jewtuschenko das Fehlen eines Denk mals für die jüdischen Opfer an, thematisierte aber auch den sowjetischen und den älteren russischen Antisemitismus. Zum 25. Jahrestag des Verbrechens fand eine größere Ge denkveranstaltung statt, an der auch nicht-jüdische Ukrai ner*innen teilnahmen und sich solidarisierten. Insofern war gerade diese Zeit wichtig für die Entwicklung einer jüdischukrainischen Identität.

Erst 1991, nach der Unabhängigkeit, wurde es mög lich, offen über den Holocaust in der Ukraine zu sprechen, ihn zu erinnern und zu erforschen. Seit den 1990er-Jahren unterstützt auch der Staat offiziell das Holocaustgedenken, das allerdings weiterhin vor allem in privater Hand liegt. Immer noch ist es so, dass der Holodomor, jene von Stalin und seinen Gefolgsleuten verursachte Hungersnot zu Be ginn der 1930er-Jahre, die sich in der Ukraine auch massiv

The similarities between radical Ukrainian national ists and the German National Socialists were not limited to ideology. In 1929, the Organization of Ukrainian Nationalists (OUN) was established in Vienna to fight for an independent Ukrainian state. A radical “integral nationalism” became ever more influential in this organization. OUN leaders hoped that Nazi Germany would support them in their struggle for an in dependent Ukraine. The opportunity seemed to present itself in summer 1941, when Germany invaded the Soviet Union. In their propaganda, the Nazis blamed alleged “Jewish Bolshe viks” for the Stalinist crimes against Ukrainian nationalists and thus strengthened old perceptions of Jews as enemies in radical Ukrainian nationalism. The switch from Soviet to German rule, the preceding Soviet terror, and local anti semitism formed the backdrop to the pogroms of summer 1941. Jews were publicly humiliated, maltreated, raped, and murdered. During the first weeks of the war, OUN militias, in collaboration with the Nazi occupiers, frequently played a central role in events in western Ukraine. However, Nazi Germany had no interest in an independent Ukraine and arrested OUN leaders, including Stepan Bandera. In the following years, a considerable number of OUN members continued to place themselves at the SS’s disposal as local auxiliary policemen and helped identify Jews and hand them over to their murderers.

In Soviet Ukraine—present-day central and eastern Ukraine—there were no similar pogroms, even though the local population also collaborated with Germans, as else where in occupied Europe. As in the other Soviet republics, the vast majority of Jews did not die in concentration and extermination camps, but in a “Holocaust by bullets”3: they were shot by the SS shortly after their towns or villages were captured. The Wehrmacht was often involved in planning and executing these mass killings. 4

After the Second World War

In Soviet Ukraine, which now encompassed western Ukraine due to the territorial shifts of the Second World War, the memory of the Holocaust was suppressed, as in all the republics of the Soviet Union. Stalin’s antisemitism played a key role, as did the fact that the uniqueness of the Holocaust contradicted the Soviet myth that all peoples in the Soviet Union had suffered equally under the German war of exter mination. But in the late 1950s to early 1960s, in the “Thaw” after Stalin’s death, the suppression of memory reached

3 Den Begriff prägte Father Patrick Desbois in seinem Buch „The Holocaust by Bullets: A Priest's Journey to Uncover the Truth Behind the Murder of 1.5 Million Jews“, New York 2008.

4 Diese Dimension des Holocaust steht bis heute am Rande der deutschen Erin nerung, in der der Ort Auschwitz zum Symbol für die Ermordung der Jüdinnen und Juden Europas geworden ist.

5 Vgl. den Artikel von Robert Jan van Pelt auf Seite 24.

3 The term was coined by Father Patrick Desbois in his book The Holocaust by Bullets: A Priest's Journey to Uncover the Truth Behind the Murder of 1.5 Million Jews, New York: Palgrave Macmillan, 2008

4 To date, this dimension of the Holocaust remains on the fringes of German memory, which regards Auschwitz as the symbol of the genocide of the European Jews.

5 See the article by Robert Jan van Pelt on page 24.

20 Eine
der Ukraine
Jüdische Geschichte

gegen die Nation richtete, eher als das „eigene“ Trauma gilt, der Holocaust als die „andere“, die jüdische Tragödie. Außerdem werden besonders in der Westukraine seit den 1990er-Jahren wieder ukrainische Nationalist*innen als antisowjetische Freiheitskämpfer*innen verehrt, darunter auch solche, die sich am Holocaust beteiligt hatten. Wie schwer es ist, die national-ukrainische Erfahrung des Zweiten Welt kriegs und die jüdische Erfahrung zusammen zu erinnern, zeigen die kontroversen Debatten um die Errichtung eines Museumskomplexes in Babyn Jar.

Mit dem Majdan 2013/2014 aber änderte sich die Ge wichtung dieser Debatten: Das lag auch daran, dass jüdische Ukrainer*innen sichtbare Akteur*innen der Bewegung waren, und so der Majdan – trotz der Präsenz einer Minderheit ra dikaler Nationalist*innen – zu einem gemeinsamen Ereignis wurde. Heute muss die Ukraine um ihr Überleben kämpfen. Was zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch undenkbar ge wesen wäre – ein jüdischer Nationalheld und Anführer der Ukraine – ist heute Wirklichkeit: Präsident Wolodymyr Selinskyj ist das prominenteste Symbol für den Wandel des jüdisch-ukrainischen Verhältnisses seit Beginn des 20. Jahrhunderts.

its limits. This is shown by the history of the site where the largest single massacre of Soviet Jews took place, the Babyn Yar Gorge. 5 In his poem “Babi Yar,” written in 1961, the (non-Jewish) writer Yevgeny Yevtushenko laments the lack of a memorial to the Jewish victims and examines Soviet and earlier Russian antisemitism. To mark the twenty-fifth anniversary of the massacre, a major commemorative cere mony was held in which non-Jewish Ukrainians participated and showed their solidarity with the victims. In this respect, the period played an important role in the development of a Jewish-Ukrainian identity.

It was not until independence in 1991 that it was pos sible to speak openly about, commemorate, and study the Holocaust in Ukraine. Since the 1990s, the Ukrainian state has officially supported Holocaust remembrance, even if this remains primarily in private hands. It is still very much the case that the Holodomor—the man-made famine planned by Stalin and his followers and extensively directed at the Ukrainian nation—is seen as the country’s “own” trauma, whereas the Holocaust is considered the “other” Jewish tragedy. Fur thermore, since the 1990s, Ukrainian nationalists have once again been honored as anti-Soviet freedom fighters, espe cially in western Ukraine, including those who participated in the Holocaust. The difficulty of commemorating both the Ukrainian national experience and the Jewish experience in the Second World War is exemplified by the controver sial debates on the construction of a museum complex at Babyn Yar. With the Maidan Uprising in 2013/2014, however, the emphasis of these debates changed. Maidan became a shared event, not least because Ukrainian Jews were visible actors in the movement, despite the presence of a minority of radical nationalists.

Today, Ukraine is struggling to survive. What was un thinkable in the early twentieth century—a Jewish national hero and Ukrainian leader—is now a reality: President Volo dymyr Zelensky is the most prominent symbol of the trans formation of Jewish-Ukrainian relations since the start of the twentieth century.

Franziska Davies wurde an der Ludwig-MaximiliansUniversität München promoviert, wo sie Osteuropäische Geschichte lehrt. Zu ihren Forschungs- und Publika tionsschwerpunkten zählt die moderne Geschichte Russlands, Polens und der Ukraine. Ihr Buch „Offene Wunden Osteuropas“ (zusammen mit Katja Makhotina) wurde für den Bayrischen Buchpreis nominiert.

Ärmelabzeichen eines ukrainischen Soldaten, auf dem in Hebräisch und Ukrainisch zu lesen ist: „Verteidiger der Ukraine“, September 2022 Uniform sleeve tag of a Ukrainian soldier reading in Hebrew und Ukrainian: “Defender of Ukraine,” September 2022

Franziska Davies took her doctorate at LudwigMaximilians-Universität Munich, where she currently teaches Eastern European history. Her research and publication interests include the modern history of Russia, Poland, and Ukraine. Her book Offene Wunden Osteuropas , coauthored with Katja Makhotina, was nominated for the Bavarian Book Prize.

A Jewish History of Ukraine 21

VERANSTALTUNGEN EVENTS

UKR A INE KONTEXT

IM

GESPRÄCHSREIHE DISCUSSION SERIES

Das Jüdische Museum Berlin, die Bundeszentrale für politische Bildung und OFEK e.V. haben sich zusammengetan, um die jüdischen Perspektiven auf den und aus dem Krieg hörund sichtbar werden zu lassen und Einblicke in die komplexe Gegenwart der Ukraine zu geben. Wir laden Sie ein, sich mit ukrainischen Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen auszutauschen und in die jüdischen Gegenwarten in und aus der Ukraine einzutauchen.

In einer Gesprächsreihe sowie einem begleitenden Online-Feature mit Kurzinterviews lassen wir jüdische Perspektiven auf den Krieg in der Ukraine hör- und sichtbar werden und geben Einblicke in die vielschichtige Gegenwart und Geschichte des Landes. Auf Reisen nach Charkiw, Lwiw, Czernowitz, Odesa, Dnipro wie auch Berlin als Zufluchtsort sprechen wir über das Leben und Überleben im Krieg, über Mehrfachzugehörigkeiten und konkurrierende Erinnerungen, Identitäten, Städte- und Geschichtsbilder.

In a discussion series accompanied by an interview feature online we make Jewish perspectives on and from the war audible and visible and shed light on the complexities of present-day Ukraine against the backdrop of its history. On journeys to Kharkiv, Lviv, Cher nivtsi, Odesa, Dnipro, and a stop in Berlin as a place of refuge, we will talk about life and survival in war, about plural affiliations and competing memories, identities, and visions of cities and histories.

The Jewish Museum Berlin, the German Federal Agency for Civic Education, and OFEK are coming together for a series of talks and discussions about history, culture and the war in Ukraine. We invite you to connect with Ukrainian artists, scholars, and activists and to immerse yourselves in the many facets of the Jewish present in and from Ukraine.

www.jmberlin.de/gespraechsreihe-ukraine-im-kontext www.jmberlin.de/en/discussion-series-ukraine-in-context

TSCHWERNIWZI CHERNIVTSI

Mit der Autorin Oxana Matiychuk und anderen Gästen sprechen wir über die jüdische Geschichte und Kultur der Bukowina.

With the author Oxana Matiychuk and other guests we will talk about the Jewish history and culture of Bukovina.

24. November 2022, 19 Uhr Eintritt frei, Anmeldung erbeten 24 November 2022, 7 pm Free admission, registration requested

www.jmberlin.de/ feature-ukraine-im-kontext www.jmberlin.de/en/ feature-ukraine-in-context

Veranstaltungen 22 Ukraine im Kontext

MIGRATIONSGESCHICHTEN VON VOR DEM KRIEG MIGRATION STORIES

FROM BEFORE THE WAR

Etwa 45 Prozent der jüdischen Bevölkerung in Deutschland ist in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren aus der Ukraine eingewandert. So haben auch viele, die 2017/18 an den Objekttagen des JMB teilgenommen haben, Erinnerungsstücke an die Ukraine mitgebracht; Boris Wachs beispielsweise seine Tschernobyl-Medaille, Dmytro Melnik ein Kinderbild des zurückgelassenen Häuschens in der Ukraine.

About 45 percent of the Jewish population in Germany immigrated from Ukraine in the 1990s and early 2000s. Thus, many of those who participated in the JMB's Object Days in 2017/18 also brought with them mementos of Ukraine; Boris Wachs, for example, brought his Chernobyl medal, and Dmytro Melnik brought a child’s painting of the little house he left behind.

www.jmberlin.de/objekttage-das-haeuschen-in-der-ukraine www.jmberlin.de/objekttage-die-tchernobyl-madaille www.jmberlin.de/en/object-days-the-cottage-in-ukraine www.jmberlin.de/en/object-days-the-chernobyl-medal

LIES DIE ZEICHEN READ THE SIGNS

Am 12. August 2022 jährte sich zum 70. Mal die „Nacht der ermordeten Dichter“, die Klimax der stalinistischen Verfolgungen jüdischer Intellektueller. Mit Dovid Bergelson, Peretz Markish, Itsik Fefer, Dovid Hofshteyn, Leyb Kvitko und anderen wurden die wichtigsten sowjetisch-jiddischen Literaten ermordet, von denen die meisten aus dem Gebiet der heutigen Ukraine stammten. Auf unserer Website finden Sie einen Video-Mitschnitt des Lese abends und Symposiums zum 70. Jahrestag.

12 August 2022 marks the 70th anniversary of the “Night of Murdered Poets,” the climax of the Stalinist persecution of Jewish intellectuals. The murder of Dovid Bergelson, Peretz Markish, Itsik Fefer, Dovid Hofshteyn, Leyb Kvitko and others marked the death of the most important Soviet Yiddish literary figures. Most of them came from the area of modern-day Ukraine. On our website you can find a video recording of the readings and the symposium.

www.jmberlin.de/ leseabend-zur-nacht-der-ermordeten-dichter www.jmberlin.de/en/ reading-70th-anniversary-night-of-murdered-poets

DIE UKRAINE IN UNSEREN SAMMLUNGEN UKRAINE IN OUR COLLECTIONS

Die Sammlungsobjekte des JMB aus der Ukraine spiegeln das jüdische Leben in der Vorkriegszeit, die Erfahrungen von Soldaten im Ersten Weltkrieg, das Überleben im Versteck und die Emigration nach dem Zerfall der Sowjetunion. Besuchen Sie unsere Online-Sammlung!

The JMB collection pieces from Ukraine reflect Jewish life in the pre-war period, the ex periences of soldiers in World War I, survival in hiding and emigration after the collapse of the Soviet Union. Visit our online collection! (German only)

https://objekte.jmberlin.de

23 Events Ukraine in Context
#JMBERLIN

EINE SYNAGOGE IN BABYN JAR

Babyn Jar. Der Name hat eine gewaltige Strahlkraft. Hier, in unmittelbarer Nähe zu Kyjiw, ereignete sich 1941 – an den ersten Tagen des Jahres 5702 – eines der grauenvollsten Massaker an Jüdinnen und Juden. 2021 bekam der Ort endlich eine Stätte zum Beten und Gedenken:

Die Synagoge von Babyn Jar ist die bewegende Neuinterpretation der jüdischen Tradition und des Wunders ihres Bestehens. Babyn Yar—the name has a powerful resonance. Here, so close to Kyiv, one of the most horrific massacres of Jews took place in 1941—on the first days of the Jewish year 5702. In 2021, the place finally got a memorial to pray and commemorate: the synagogue of Babyn Yar is a profoundly moving reinterpretation of Jewish tradition and the miracle of the survival of the Jewish people.

DE Nach einer erbitterten, vierwöchigen Schlacht, die große Zerstörungen in der Stadt angerichtet hatte, marschierten die deutschen Truppen in ihrem „Drang nach Osten“ am 19. September 1941 in Kyjiw ein. Zwei Tage später begannen das jüdische Jahr 5702 und damit die Hohen Feiertage, die am 30. September mit Jom Kippur enden sollten. Von den 230.000 Jüdinnen und Juden, die drei Monate zuvor noch in Kyjiw gelebt hatten – sowohl Sowjetbürger als auch polni sche Flüchtlinge –, waren zu diesem Zeitpunkt noch 60.000 bis 70.000 in der Stadt, darunter viele ältere Menschen, Frauen und Kinder. Am 28. September tauchten überall in der Stadt Plakate auf, die alle jüdischen Personen dazu auf riefen, sich am nächsten Tag um acht Uhr in der Nähe des jü dischen Friedhofs zu versammeln. Nach deutschen Angaben fanden sich 33.771 Jüdinnen und Juden dort ein. Die Männer des Einsatzkommandos 4a trieben sie zu der nahegelegenen Schlucht Babyn Jar. Dort erschossen sie sie mit Maschinen gewehren in einem achtzehnstündigen Massaker, das am Vorabend von Jom Kippur endete. Die Schlucht wurde zu einem Massengrab. In den darauffolgenden Wochen wurden die meisten jüdischen Männer, Frauen und Kinder, die am 29. September nicht auf dem Friedhof erschienen waren, aufgespürt und umgebracht. In den zwei Jahren zwischen dem Fall Kyjiws und der Rückkehr der Roten Armee exeku tierten die Deutschen in Babyn Jar zudem regelmäßig klei nere Gruppen von Nichtjuden, die als Feinde Deutschlands

EN On 19 September 1941, German troops, on their Drang nach Osten, entered Kyiv after a bitter, four-week-long battle that had brought much destruction to the city. Two days later began the Jewish year 5702, initiating the Days of Awe that was to end at the conclusion of Yom Kippur on September 30. Of the 230,000 Jews who had lived in Kyiv three months ear lier, both Soviet citizens and Polish refugees, only 60,000 to 70,000 remained—many of them elderly people, women, and children. On September 28 posters appeared everywhere in the city instructing all Jews to assemble the next day at eight a.m. near the Jewish cemetery. According to a German tally, 33,771 Jews showed up. The men of Einsatzkommando 4a marched them toward the nearby ravine, known as Babyn Yar. There they machine-gunned them in an eighteen-hour-long slaughter that ended at the eve of Yom Kippur. The ravine had been turned into a mass grave. In the weeks that followed, most of the Jews who had not shown up at the cemetery on September 29 were hunted down and murdered, while in the two years that separated the fall of Kyiv from the return of the Red Army the Germans also conducted at Babyn Yar regular executions of mostly small groups of non-Jews identified as enemies of Germany. In August and September 1943, a spe cial SS unit created to obliterate evidence of the Holocaust oversaw the exhumation of the remains, and their incineration on large pyres supported by recycled tombstones from the Jewish cemetery.

25

identifiziert worden waren. Im August und September 1943 beaufsichtigte eine spezielle SS-Einheit, die zur Beseitigung von Beweisen für den Holocaust gegründet worden war, die Exhumierung der sterblichen Überreste und ihre Verbren nung auf großen Scheiterhaufen; für deren Aufbau hatte man Grabsteine vom jüdischen Friedhof verwendet.

Erinnerung, Andenken, Gedenken

In unserem kollektiven Gedächtnis steht Babyn Jar für die Vernichtung der Juden in einer Region, die heute von fünf souveränen Staaten (Ukraine, Weißrussland, Litauen, Lett land und Estland) und teilweise von einem sechsten Staat (Russische Föderation) kontrolliert wird. Das Ausmaß des Massakers, die Nähe seines Schauplatzes zu der größten von den Deutschen im Krieg besetzten Stadt in der Sowjetunion, sowie der Zeitpunkt des Massakers innerhalb des jüdischen Kalenders verleihen dem Namen Babyn Jar eine gewaltige Strahlkraft. Doch wurde die Erinnerung an Babyn Jar von den sowjetischen Behörden lange unterdrückt. In den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Krieg versuchte man, die Ver gangenheit vollständig auszulöschen, und verwandelte unter anderem die 2,5 Kilometer lange Schlucht, die an ihrer Mün dung durch einen Damm verschlossen war, in eine Deponie für Industrieabfälle.

Ab 1991, dem Jahr der Unabhängigkeit der Ukraine, entstand in Babyn Jar eine Fülle an Denkmälern, von denen einige an die im Holocaust ermordeten Jüdinnen und Juden

Remembrance, Memory, Commemoration

Today Babyn Yar has come to represent in our collec tive memory the destruction of the Jews in the region wholly occupied by five sovereign states (Ukraine, Belarus, Lithu ania, Latvia, and Estonia) and partly by a sixth one (the Rus sian Federation). Both the size of the massacre, its location adjacent to the largest city in the German-occupied Soviet Union, and its date in the Jewish calendar gives its name a powerful resonance. Yet the memory of Babyn Yar was suppressed by Soviet authorities. For the first two decades after the war, the attempt to erase the past was total, and included the transformation of the 2.5-kilometer-long ravine, closed off by a dam at its mouth, into a dumping ground of industrial waste.

From 1991 onwards, the year that Ukraine became in dependent, a plethora of monuments arose at Babyn Yar, a couple commemorating Jews murdered in the Holocaust, and many others marking various categories of non-Jews executed by the Germans: Roma and Sinti, Ukrainian nation alists, Orthodox priests, inmates of a local mental asylum, and Soviet prisoners-of-war, even German prisoners-of-war who died at the site after the Red Army’s liberation of Kyiv in late 1943 got their own memorial. This commemorative “freefor-all” proved somewhat embarrassing to the Ukrainian gov ernment, which knew that the adoption of strict standards of Holocaust remembrance articulated by the intergovernmental International Holocaust Remembrance Alliance had become

Herbst 1941: Vermutlich Kriegsgefangene müssen Aufräumarbeiten nach dem Massaker an der Schlucht von Babyn Jar verrichten. Die Aufnahme stammt von Johannes Hähle, Propagandakompanie-Fotograf der Wehrmacht. Die sogenannten „Hähle-Fotos“ des Massenmords an der jüdischen Bevölkerung in Kyjiw und Lubny erforscht und bewahrt das Hamburger Institut für Sozialforschung.

Autumn 1941. Presumably prisoners of war have to do clean-up work after the massacre at the Babyn Yar Gorge. The photograph was taken by Johannes Hähle, a Wehrmacht propaganda company photographer. The Hamburg Institute for Social Research preserves the so-called “Hähle Photos” of the mass murder of the Jewish inhabitants of Kyiv and Lubny.

26 Eine Synagoge in Babyn Jar

sowie zahlreiche andere nichtjüdische Opfer der NS-Besat zung erinnern: Roma und Sinti, ukrainische Nationalist*innen, orthodoxe Priester, die Insassen einer lokalen Nervenheil anstalt und sowjetische Kriegsgefangene. Sogar deutsche Kriegsgefangene, die nach der Befreiung Kyjiws durch die Rote Armee Ende 1943 starben, bekamen ihre eigene Ge denkstätte. Das Gerangel um das Gedenken wurde für die uk rainische Regierung zu einer peinlichen Angelegenheit: Man wusste, dass die Übernahme der von der zwischenstaatlichen Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken formulierten strengen Standards für das Gedenken an den Holocaust zu einem Lackmustest für den Beitritt zur Europäischen Union geworden war. 2016 gründete Präsident Petro Poroschenko das Babyn Yar Holocaust Memorial Center (Holocaust-Ge denkzentrum Babyn Jar, BYHMC), das das 132 Hektar große Gelände verwalten und sein Andenken bewahren sollte. Es wurde beauftragt, Babyn Jar auf Grundlage fundierter histo rischer Aufarbeitung der Geschehnisse vor Ort als Gedenk stätte und Museumslandschaft zu entwickeln. Letztlich sollte ein Holocaust-Museum geschaffen werden, vergleichbar mit Yad Vashem in Jerusalem und dem United States Holocaust Memorial Museum in Washington, DC.

Ein etwas überstürzt ausgeschriebener Architektur wettbewerb für ein großes Holocaust-Museum sorgte bei vielen Beteiligten für Unbehagen, und im Frühherbst 2020 rief das BYHMC einen Architekturbeirat ins Leben, der es bei der Aufgabe unterstützen sollte. Ich hatte die Ehre, diesem Beirat anzugehören, und in einer der ersten Sitzungen kamen wir überein, den Plan, in Babyn Jar zuerst mit einem großen Bau projekt ein Zeichen zu setzen, zurückzustellen. Eher beiläufig schlug ich vor, stattdessen eine kleine Synagoge zu errichten, in einiger Entfernung von der Stelle, an der die Massaker stattgefunden hatten. Das Gebäude sollte den jüdischen Be sucher*innen dieser Stätte einen Ort für das gemeinsame Gebet bieten und so dem einzigartigen Sinn für Gemeinschaft als gelebte Erfahrung Rechnung tragen, der die Grundlage der jüdischen Geschichte und der jüdischen Auffassung von Hei ligkeit ist. Einmal ausgesprochen, bekam die Idee einer Syna goge, die eine jüdische Zukunft insbesondere in der Ukraine, aber auch allgemein in Europa verkündet, plötzlich Auftrieb: Innerhalb weniger Tage teilte das BYHMC dem Beirat mit, dass zum 80. Jahrestag des Massakers von Babyn Jar oder sogar bereits früher finanzielle und materielle Mittel für den Bau einer Synagoge zur Verfügung gestellt werden würden.

Eine Synagoge als Siddur

Als möglichen Architekten schlug ich den Basler Manuel Herz vor: Seine ein Jahrzehnt zuvor fertiggestellte Synagoge in Mainz war zweifellos der wichtigste Beitrag zur jüdischen Sakralarchitektur in den letzten fünfzig Jahren.

Der Beirat stimmte zu, nahm Kontakt zu Herz auf, und innerhalb von zwei Wochen präsentierte dieser einen Entwurf für die Synagoge in Babyn Jar, mit dem er zum zweiten Mal in seiner Karriere die konzeptionellen Grenzen der Synagogen gestaltung radikal überschritt.

Herz’ Babyn Jar-Projekt beruht auf drei originellen Ideen: Erstens sollte die Synagoge ein überdimensionaler Siddur (das Gebetbuch für Alltag und Schabbat) sein, der von

a litmus test in the accession process to membership of the European Union. In 2016 President Petro Poroshenko estab lished the Babyn Yar Holocaust Memorial Center (BYHMC) to serve as the steward of the 132-hectare site and its memory. It was charged to develop Babyn Yar as a memorial and mu seological landscape guided by a thorough historical under standing of what had happened where and was to be framed by an ambition to create a Holocaust museum comparable to Yad Vashem in Jerusalem and the United States Holocaust Memorial Museum in Washington, DC.

A somewhat rashly organized architectural competi tion for a massive Holocaust museum generated consider able unease amongst many stakeholders, and in the early fall of 2020 the BYHMC convened an Architectural Advisory Board to help them in this immense task. I was honored to join this group, and in one of first meetings we agreed to shelve the ambition to make an initial mark at Babyn Yar with a major construction project. I, somewhat casually, suggested to erect instead a small synagogue in the park, at some dis tance from the area where the slaughters had taken place. The building was to provide a place for communal prayer of Jewish pilgrims to the site, recognizing that a unique sense of community as a lived experience is the bedrock of Jewish history and of the Jewish understanding of the sacred. Once articulated, the concept to build a synagogue that spoke to a Jewish future in Ukraine in particular, and in Europe in general, got sudden traction: within a couple of days the BYHMC told the Board that both financial and material resources would be made available for the construction of a synagogue for the 80th anniversary of the Babyn Yar massacre, if not earlier.

A Synagogue as a Siddur

I suggested that Basel-based architect Manuel Herz might be the right architect: his Mainz synagogue, completed a decade earlier, was without doubt the most important contri bution to Jewish religious architecture in the past half century.

The Board agreed, reached out to Herz, and within two weeks the latter presented a proposal for the Babyn Yar synagogue in which he, for a second time in his career, radi cally pushed the conceptual envelope of synagogue design.

Three original ideas shaped Herz’s Babyn Yar project. First of all, the synagogue was to be an oversized siddur (prayer book) that is closed when not in use and opened in a collective effort by the members of the community before the service commences, and closed again afterward. As a siddur, the Babyn Yar synagogue was to allude to the sense of self-discipline and stubborn persistence generated by the lengthy set of prescribed prayers that religiously observant Jews conduct on a daily basis. The firmness of this thricedaily custom provides the structure for all the other Jewish observances, and provides as such the most important foun dation of the survival of Jewish identity.

A second idea was closely linked to the first: when the wooden siddur synagogue opened, it was to unfold its parts in the manner of a children’s pop-up book which became a popular storytelling device in the nineteenth century, allowing readers to participate in the telling of the story by triggering the pop-up mechanisms.

27 A Synagoge in Babyn Yar
28 Eine Synagoge in Babyn Jar Floor Plan Holocaust Memorial Project CF Babi Yar MG Kyiv Synagogue Babi Yar Manuel Herz Architects Schützenmattstrasse 11 CH Basel +41(0)61 .cominfo@manuelherz 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 2 4 Location: Київ, 50.4500°N, 30.5241°E Time: 29 September 1941 21:00 (UTC +02:00) W 110 120 140 150 160 210 230 240 260 290 300 310 320 330 340 Andromeda Apus Aquarius Capricornus Cassiopeia Chamaeleon Major Borealis Horologium Indus Lupus Ophiuchus Puppis Serpens Triangulum Triangulum Vulpecula Capella Betelgeuse Spica Fomalhaut Mercury Saturn Copyright 2020 Heavens-Above.com west east north south 1:50 A3 .2021.0105 Floor Plan Holocaust Memorial CF Babi Yar by Kyiv Ukraine Synagogue Babi Yar Manuel Herz Architects Schützenmattstrasse 11 CH 4051 Basel Tel: +41(0)61 Pivot line 33 Seat Seat 802 588 161 53 132 161 counter weight Seat 214 512 Seat 80 106 67 Pivot line 139 11 53 254 694 35 66 12 120 490 132 12 12 712 20 20 10 182 10 181 10 20 hinge to be determined betohingedetermined CDE F G H B 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 A J K 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 2 2 1 3 4 4 CDE F G H B A J K Elevation North 1:50 Floor plan
Drafts
Painted Ceiling Säule Column Querbalken Diagonal Beam
Rotation Point
Wand
Moving
Feste Wand entspricht
Aron
Fixed Wall
Entwurfszeichnungen der Synagoge von Manuel Herz
of the synagogue by Manuel Herz Deckenbemalung
Drehpunkt
Bewegliche
entspricht der Frauenempore
Wall corresponds to the women’s gallery
dem
ha-Kodesch
corresponds to the Aron Ha Kodesh

den Gemeindemitgliedern vor Beginn des Gottesdienstes gemeinsam geöffnet und anschließend wieder geschlossen wird. Als Siddur sollte die Babyn Jar-Synagoge an die Selbst disziplin und Beharrlichkeit religiöser Jüdinnen und Juden erinnern, die täglich eine Reihe vorgeschriebener Gebete verrichten. Die Beständigkeit dieses mehrmals täglich prak tizierten Rituals des Gebets bildet das Gerüst für alle anderen jüdischen Gebräuche und ist eine wesentliche Grundlage für das Überleben der jüdischen Identität.

Die zweite Idee war eng mit der ersten verbunden: Bei der Öffnung der hölzernen Siddur-Synagoge sollten sich ihre Teile entfalten wie bei einem Pop-up-Buch für Kinder, ein Format, das im 19. Jahrhundert sehr beliebt wurde. Durch das Auslösen der Klappmechanismen auf einzelnen Seiten konnten Lesende an der Erzählung mitwirken.

Und schließlich wollte Herz die unterbrochene Tradi tion der osteuropäischen Holzsynagogen wieder aufnehmen. Diese Gebäude aus dem 17. und frühen 18. Jahrhundert bil deten eine lebendige und höchst originelle architektonische Tradition, die in der jüdischen Kunst- und Kulturgeschichte einzigartig ist. Obwohl die Gebäude in der Regel von nicht jüdischen Baumeistern errichtet wurden, weil Juden die Auf nahme in die Zimmermannszunft verwehrt war, entsprach ihre charakteristische zentrifugale Ausrichtung dem jüdischen Verständnis des physischen und des mentalen Raums, wie es sich auch in der Anordnung jeder Seite des Talmuds mit den zahlreichen offenen Diskussionen am Seitenrand zeigt. Jüdische Künstler sorgten für die prächtige polychrome Be malung der Innenräume dieser hölzernen Gebetshäuser, und jüdische Schnitzer fertigten den reich verzierten Toraschrein und die Bima an. Vor sechzig Jahren beschrieb Stephen Kayser, der wegweisende Experte für jüdische Zeremonial kunst, die einzigartige Bedeutung dieser Holzsynagogen in der jüdischen Geschichte: „Wenn es jemals eine wahrhaft innige Beziehung zwischen einem Gotteshaus und seiner Ge meinde gab, dann zeigte sie sich in der Zuneigung, die die Bevölkerung einer osteuropäischen jüdischen Landgemeinde für ihre Synagoge, ihr spirituelles Zuhause, empfand.“ Die in Zusammenarbeit von Juden und Nichtjuden geschaffenen Synagogen standen für „einen wahrhaft originellen und or ganischen künstlerischen Ausdruck – die einzige wirkliche jüdische Volkskunst der Geschichte.“ 1

Der Architekturbeirat nahm den Vorschlag von Herz, mit der Babyn Jar-Synagoge eine der authentischsten Formen jüdischer Architektur neu zu interpretieren, mit großer Be geisterung auf. Er unterstützte auch die spielerische Idee der Synagoge als Pop-up-Buch, das für Überraschung sorgt und Staunen hervorruft: Schließlich ist das Unerwartete, das oft mals als Wunder bezeichnet wird, eines der zentralen Themen in der jüdischen Geschichte. Das größte aller Wunder ist dabei das Überleben des jüdischen Volkes und der Einfluss dieser sehr kleinen Gemeinschaft auf die Weltgeschichte. Und zudem war der Beirat davon überzeugt, dass die Form des Siddurs mit seinen Assoziationen der Disziplin, der Ge lassenheit und der Integrität religiöser Hingabe den Wunsch

1 Stephen S. Kayser, „Introduction“, in: Maria und Kazimierz Piechotka, Wooden Synagogues, übers. v. Rulka Langer, Warschau, 1959, S. 5.

Finally, Herz aimed to repair the interrupted tradition of the eastern European wooden synagogues. These buildings dating from the seventeenth and early eighteenth centuries embodied a vital and highly original architectural tradition that occupies a unique position in the artistic and cultural history of the Jewish people. While the structure was typically real ized by non-Jewish builders as Jews were denied member ship of the carpenters’ guild, the characteristic centrifugal or ganization of these buildings reflected Jewish understanding of space—both physical and mental—which is exemplified in the arrangement of every page of the Talmud, with its prolif eration of open-ended debate at the periphery of the page. Jewish artists executed the dazzling polychrome painted in teriors of these wooden houses of prayer, and Jewish carvers sculpted the richly decorated ark and bimah. Sixty years ago, Stephen Kayser, the pioneering scholar of Jewish ceremo nial art, reflected on the unique position of these wooden synagogues in Jewish history. “If there ever was a truly close relationship between a house of worship and its populace, it lay in the affection which the inhabitants of an Eastern Euro pean Jewish country community felt for their synagogue, the home of their souls.” Born of a collaboration of Jewish and non-Jewish neighbors, the synagogues represented “a truly original and organic manifestation of artistic expression—the only real Jewish folk art in history.” 1

The Architectural Advisory Board enthusiastically welcomed Herz’s proposal to reinterpret in the Babyn Yar synagogue one of the most authentically Jewish forms of architecture. It also appreciated the playful idea of the syna gogue as a pop-up book that offers an experience of surprise and evokes a sense of wonder: after all, the unexpected, often defined as a miracle, is, of course, a major theme in Jewish history. The most important miracle is the very survival of the Jewish people and the impact of that very small nation on the history of the world. And, finally, they believed that evoking a siddur with its associations of discipline, composure, and integrity of religious devotion, the building might proclaim the serious purpose of upholding a demanding religious tradition against all odds. With the resources made available by the BYHMC, the building was ready by Yom Ha Shoah, which began on 8 April 2021, with the painting of the decorative scheme completed by mid-summer of that year.

New Life Given to Old Traditions

Today Herz’s Babyn Yar synagogue stands in one piece at the site that, at the beginning of the Russian war against Ukraine, was the target of a direct attack. The triple parti pris of Herz’s Babyn Yar synagogue offers a single, uni fied organizing idea when it is seen against the background of 3,000 years of Hebrew-Israelite-Judahite-Jewish history, seemingly organized on a Möbius-strip-like continuum in which the miracle of persistence morphs into the persistence of miracle, which creates and sustains a community that, in turn, supports the miracle of persistence, and so on. It does not turn its back to the events that happened there in the

1 Stephen S. Kayser, “Introduction,” in Maria and Kazimierz Piechotka, Wooden Synagogues, trans. Rulka Langer, Warsaw: Arkady, 1959, p. 5.

29 A Synagoge in Babyn Yar

unterstrich, allen Widrigkeiten zum Trotz die religiöse Tradi tion zu bewahren. Mit den vom BYHMC zur Verfügung ge stellten Mitteln wurde die Synagoge bis zu Jom ha-Schoa am 8. April 2021 fertiggestellt, die reiche Bemalung wurde im Sommer desselben Jahres abgeschlossen.

Die Neubelebung alter Traditionen Heute steht die Babyn-Jar-Synagoge von Herz unver sehrt an jenem Ort, der zu Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine das Ziel eines direkten Angriffs war. Die drei Prämissen für die Gestaltung der Synagoge von Babyn Jar bilden eine einzigartige, einheitliche Idee, wenn man sie vor dem Hintergrund von 3000 Jahren hebräisch-israelitischjüdischer Geschichte betrachtet, die wie ein möbiusbandar tiges Kontinuum anmutet, in dem das Wunder des Fortbeste hens in das Fortbestehen des Wunders übergeht, das eine Gemeinschaft schafft und erhält, die wiederum das Wunder des Fortbestehens befördert und so weiter. Sie blendet die Ereignisse, die sich dort in den ersten Tagen des Jahres 5702 –im September 1941 der allgemeinen Zeitrechnung – zugetragen haben, nicht aus. Es hat Herz sehr beschäftigt, dass der Boden, auf dem das Gebäude steht, fluchbeladen sein könnte, und er hat sich intensiv darum bemüht, dass die Synagoge diesen Boden so behutsam wie möglich berührt. Und wenn die SiddurSynagoge sich öffnet und die Bima, die Bänke und die Frauen empore sich entfalten, hebt sich auch ein Baldachin an seinen Platz. Er zeigt die Sternbilder, wie sie am Himmel standen, als das Massaker am Vorabend von Jom Kippur im Jahr 5702 zu Ende ging, eingebettet in ein prächtiges Muster, das an die bemalten Innenräume der alten Holzsynagogen erinnert.

Die Synagoge von Babyn Jar entstand in einem ent scheidenden Augenblick der jüdischen Geschichte. Zehn Jahre nach dem Ende des Holocaust, als die Schlucht von Babyn Jar in Vergessenheit geriet, dachte Rabbiner Abraham Heschel über die Aufgabe seiner eigenen Generation nach, jener Generation, die sich in den DP-Lagern im amerika nisch und britisch besetzten Deutschland zu Sche’erit Hapleta (dem Rest der Geretteten) erklärt hatte: „Es bedeutet eine außerordentliche Verantwortung, dass wir da sind, und überall haben jüdische Lehrer es übernommen, unserer Ju gend den Willen einzupflanzen, heute, morgen und für immer und ewig Juden zu sein. [...] Wir sind entweder die letzten, die sterbenden Juden, oder wir sind diejenigen, die unsere Tradition zu neuem Leben erwecken.“ 2

Heute, gut 65 Jahre später, ist es offensichtlich, dass die Generation der Holocaust-Überlebenden nicht die letzte ist. Überall auf der Welt werden von ihnen, ihren Kindern und inzwischen auch Enkelkindern Zeichen für eine Neubelebung der alten Traditionen gesetzt. Die Synagoge in Babyn Jar ist nur das jüngste Glied in dieser Kette, die vor achtzig Jahren fast gerissen wäre, aber schließlich doch gehalten hat und weiter hält, in Frieden und Krieg, von Generation zu Generation. Diese kurze Betrachtung ist eine Zusammenfassung einiger der Kernaussagen in dem Kapitel „Coda – and a New Beginning“ in: Robert Jan van Pelt, Mark Podwal und Manuel Herz, How Beautiful Are Your Dwelling Places, Jacob. An Atlas of Je wish Space and a Synagogue for Babyn Yar, 2 Bde., Zürich 2021, Bd. 1, S. 294–317.

2 Abraham Joshua Heschel, God in Search of Man. A Philosophy of Judaism, London, 1956, S. 421.

first days of 5702, September 1941 of the common era. Herz was very much concerned that the building rests on cursed ground, and he worked hard to ensure that it would touch the ground as gingerly as is possible. And when the siddur syna gogue opens, and the bimah and the seats and the women’s gallery unfold, also a canopy rises into place. It shows the constellations as they appeared in the sky when the slaughter came to an end, at the eve of Yom Kippur 5702, set within a decorative scheme that recalls the painted interiors of the wooden synagogues.

The Babyn Yar synagogue is an ingenious, witty, pro found, and profoundly moving reinterpretation of Jewish tra dition, and it comes at a crucial moment in Jewish history. One decade after the end of the Holocaust, at the time that the Babyn Yar ravine was forgotten, Abraham Heschel pondered the task of his own generation, the generation that, in the DP camps in American- and British-occupied Germany, declared themselves to be the Sh’erit ha-Pletah (the Remnant): “It is a matter of immense responsibility that we are here and Jewish teachers everywhere have undertaken to instill in our youth the will to be Jews today, tomorrow and for ever and ever. We are either the last, the dying, Jews, or else we are those who will give new life to our tradition.” Sixty-five years later it has become clear that the generation of Holocaust survivors was destined not to be the last, and everywhere in the world are markers created by them and their children, and now also grandchildren, that new life is being given to old traditions. The synagogue at Babyn Yar is just the latest one in that chain that almost snapped, eighty years ago, but nevertheless held and continues to hold, in peace and war, from generation to generation.

This short reflection summarizes some of the main points made in the chapter “Coda—and a New Beginning” in: Robert Jan van Pelt, Mark Podwal, and Manuel Herz, How Beautiful Are Your Dwelling Places, Jacob: An Atlas of Jewish Space and a Synagogue for Babyn Yar, 2 vols., Zürich: Park Books, 2021, vol. 1, pp. 294–317.

Robert Jan van Pelt , Professor für Kulturgeschichte am Institut für Architektur der Waterloo University, Ontario, lehrte an verschiedenen Universitäten welt weit. Bekannt wurde er vor allem mit seinen architektur historischen Arbeiten zu Auschwitz, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde. Van Pelt ist sehr engagiert im Kampf gegen das Leugnen des Holocaust und diente als Sachverständiger in dem Verleumdungsfall Irving gegen Penguin und Lipstadt.

Robert Jan van Pelt , Professor of Cultural History at the Department of Architecture at Waterloo University, Ontario, has taught at different international universities. He is best known for his architectural history work on Auschwitz, for which he has received several awards. Van Pelt has been very much involved in the struggle against Holocaust denial, and served as an expert wit ness for the defense in the notorious libel case Irving vs. Penguin and Lipstadt.

2 Abraham Joshua Heschel, God in Search of Man. A Philosophy of Judaism, London: John Calder, 1956, p. 421.

30 Eine Synagoge in Babyn Jar

INSIDE OUT – ETGAR KERET

AKTUELLE AUSSTELLUNG CURRENT EXHIBITION

With Inside Out , the Jewish Museum Berlin is presenting an exhibition by the Israeli author Etgar Keret. Taking memories of his mother as his point of departure, Keret has written nine new short stories specifically for this occasion, and this exhibition will be their world premiere. A running theme is Judaism’s core tradition of passing on memories from generation to generation.

The stories portray both day-to-day family life in Israel, where the author lives, and traumatic wartime experiences inspired by the life of the author's mother, who was born in Poland in 1934.

Mit „Inside Out“ zeigt das Jüdische Museum Berlin seit dem 21. Oktober 2022 eine Aus stellung des israelischen Autors Etgar Keret. Ausgehend von Erinnerungen an seine Mutter hat Keret neun Kurzgeschichten verfasst, die im Rahmen der Ausstellung nun erstmals öffentlich präsentiert werden. Leitmotiv ist die im Judentum verankerte Tradition, Erinnerung von Generation zu Generation weiterzugeben. Keret erzählt von gemeinsamen Erlebnissen mit seiner Mutter, die 1934 in Polen geboren worden ist, und gibt Geschichten wieder, die sie ihm als Kind erzählt hat – darin spiegeln sich Alltägliches ebenso wie traumatische Kriegserlebnisse und Gewalterfahrungen.

Die Geschichten werden mit vom Autor ausgewählten Objekten aus den JMB-Samm lungen sowie mit Auftragsarbeiten von zeitgenössischen Künstler*innen, die in Kooperation mit Keret entstanden sind, präsentiert. Das Zusammenspiel von Erinnerungen, Objekten und künstlerischen Installationen eröffnet Besucher*innen neue, emotionsgeladene Assoziationsräume, die bewusst mit klassi schen Erwartungen an einen Museumsbesuch brechen.

21. Oktober 2022 bis 5. Februar 2023

Jüdisches

The short stories will be presented alongside objects from the JMB collections as well as commissions created by contemporary artists in collaboration with Keret. The interplay of memories, objects, and artistic installations allow visitors to enter new, emotionally charged associative spaces that deliberately defy conventional expectations of a museum visit.

21 October 2022 to 5 February 2023

Jewish Museum Berlin, Eric F. Ross Gallery free admission

ÜBER MÜTTER

Schreibworkshop ON MOTHERS

Writing workshop

Welche Gegenstände, Gerüche, Klänge lösen bei Ihnen Assoziationen an Ihre Mutter aus? Inspiriert durch die Ausstellung „Inside Out“ und einen thematischen Lunch im Museumscafé schreiben die Teilnehmenden Texte zum Thema „Mutter“ oder zu verwandten Sujets. Sie diskutieren Fragmente und Themen in der Gruppe und präsentieren erste Ergebnisse. Der Workshop findet in deutscher Sprache statt. Die Schriftsprache wählen die Teilnehmenden.

20. November 2022, 11. Dezember 2022, 29. Januar 2023, 5. Februar 2023, jeweils 11 bis 15 Uhr, 16 Euro Für Gruppen bieten wir diesen Workshop zum Wunschtermin an: visit@jmberlin.de

32 Aktuelle Ausstellung
Etgar Keret Museum Berlin, Eric F. Ross Galerie Eintritt frei Meine Mutter, Polen, ca. 1937 My Mother, Poland, ca. 1937

What objects spark thoughts of your own mother? What scents, sounds, or feelings do you associate with her? Inspired by the exhibition and a thematic lunch at the museum café, the participants will write about mothers or associated subjects. They will discuss fragments and themes in smaller groups, then share their first drafts. The workshop will be held in German. The written language is chosen by the participants.

20 November 2022, 11 December 2022, 29 January 2023, 5 February 2023, 11 am to 3 pm, 16 euros

For groups we offer this workshop at the preferred date: visit@jmberlin.de

EINE MERKWÜRDIGE VERWANDTSCHAFT

Etgar Keret und Daniel Kehlmann im Gespräch

A PECULIAR KINSHIP

Etgar Keret and Daniel Kehlmann in conversation

„Die sieben guten Jahre. Mein Leben als Vater und Sohn“, so heißt das autobiografische Buch des Autors Etgar Keret. Die deutsche Übersetzung stammt von Daniel Kehlmann. Lesung und Gespräch zur Übersetzbarkeit von Kerets Texten ins Deutsche und die Verbundenheit zwischen Autor und Übersetzer.

29. November 2022, 19 Uhr

W.M. Blumenthal Akademie 6 Euro, ermäßigt 3 Euro

MEIN SPRECHENDER GOLDFISCH

THE MIDDLEMAN

Bei einem Filmabend zeigt das Jüdische Mu seum Berlin alle vier Episoden der Miniserie, die vom Regie- und Autorenpaar Etgar Keret und Shira Geffen mit dem französischen Schauspieler Mathieu Amalric in der Hauptrolle realisiert wurde. Im Anschluss findet ein Künstlergespräch mit Regisseur und Regis seurin statt (in englischer Sprache).

27. November 2022, 19 Uhr

W.M. Blumenthal Akademie

6 Euro, ermäßigt 3 Euro

At a movie night the Jewish Museum Berlin will show all four episodes of the miniseries, which was realized by the director and writer duo Etgar Keret and Shira Geffen with the French actor Mathieu Amalric in the leading role. The screening will be followed by an artist talk with the directors (in English).

27 November 2022, 7 pm

W.M. Blumenthal Academy

6 euros, reduced 3 euros

The Seven Good Years , a collection of autobiographical essays by Etgar Keret, has been published in German under the title Die sieben guten Jahre. Mein Leben als Vater und Sohn . The German translation was the work of Daniel Kehlmann. Reading and conversation about the translatability of Keret's texts into German and the friendship between author and translator.

29 November 2022, 7 pm

W.M. Blumenthal Academy 6 euros, reduced 3 euros

jmberlin.de/etgar-keret jmberlin.de/en/ etgar-keret

33 Inside Out – Etgar Keret
Filmstill aus Mein sprechender Goldfisch Filmstill from The Middleman
#JMBERLIN
JERUSALEM AM PRUTH CZERNOWITZ UND DIE JÜDISCHE LITERATUR CZERNOWITZ AND JEWISH LITERATURE

DE Hat die Literatur diesen Ort, der viele Namen trägt –Czernowitz, Černivci, Cernăuti, Czerniowce, Černovcy –, langsam, aber stetig zu einer Fiktion werden lassen? 1988 musste der Osteuropahistoriker Karl Schlögel auf seiner Reise dorthin entschieden feststellen: „Czernowitz gibt es wirklich, nicht bloß als Topos der literarischen Welt.“ Und dennoch haben literarische Texte und Zuschreibungen die Wahrneh mung dieses Ortes und dieser Region in besonderem Maße geprägt. Die Beinamen der Stadt – „Jerusalem am Pruth“, „Klein-Wien“, „Schweiz des Ostens“, „das zweite Kanaan“ oder „jüdisches Eldorado Österreichs“ – tauchten keines falls erst in einer womöglich verklärenden geschichtlichen Retrospektive auf. Sie sind allesamt bereits zeitgenössisch entstanden, überwiegend in der Epoche der Habsburgermon

Kaum ein anderer Ort setzt solche literarischen Assoziationen frei. Vor allem die jüdische Literatur hat Czernowitz und die Bukowina in die europäische Kulturlandschaft eingeschrieben. Doch ihre Geschichte ist auch geprägt von Brüchen und Verlusten. There is hardly a place that generates such literary associations. It was especially Jewish literature that inscribed Czernowitz and Bukovina into the European cultural landscape. Yet its history is also marked by ruptures and losses.

EN Did literature let the city with so many names—Czer nowitz, Černivci, Cernăuti, Czerniowce, Černovcy—slowly but surely become a fiction? On his trip there in 1988, the historian of Eastern Europe Karl Schlögel decisively pro claimed: “Czernowitz really exists, and not simply as a topos of a literary world.” And yet the literary texts and attributions have left a particular mark on this city and this region. The city’s nicknames—“Jerusalem on the Pruth,” “Little Vienna,” “Switzerland of the East,” “The Second Canaan,” or “Austria’s Jewish Eldorado”—did not in any case first appear in a retro spective that might have idealized history. All of them had been introduced by contemporaries, mostly during the epoch of the Habsburg Monarchy, which the multilingual Bukovina belonged to until 1918 as a crown land with Czernowitz as its

35 Jerusalem on the Pruth
Text Markus Winkler

archie, der die multilinguale Bukowina als Kronland und Czer nowitz als ihre Hauptstadt bis 1918 angehörten – in einer Ära, die der jüdischen Bevölkerung die vollen Bürgerrechte garan tierte und sie politisch und kulturell zur Entfaltung kommen ließ. Es sind natürlich auch Imaginationen eines „Ortes“ und doch scheint es, dass in der Gegenwart von Czernowitz be reits stets das Vergängliche mitgedacht werden soll, um es nicht dem Vergessen anheimfallen zu lassen.

Der Blick auf die jüdische Literatur dieser Region er öffnet ein mannigfaltiges Spektrum von Texten in verschie denen Sprachen. Es gibt zahlreiche jiddische Arbeiten, aber auch hebräische Werke, verfasst von Autoren, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach Israel auswanderten, wie Aharon Appelfeld (1932–2018) oder Manfred Winkler (1922–2014).

Der Großteil der Czernowitzer jüdischen Literatur ent stand jedoch auf Deutsch, und die Lyrik und das Leben von Paul Celan (1920–1970), Rose Ausländer (1901–1988) oder Selma Meerbaum-Eisinger (1924–1942) haben bis heute neben der wissenschaftli chen Reflexion auch immer wieder ein hohes mediales Interesse hervorgerufen.

Es waren mehr als fünfzig Autorinnen und Au toren, die ab den 1930erJahren in den lokalen Zei tungen veröffentlichten, ihre Erstlingswerke herausbrach ten und – abgekoppelt von Wiener Einflüssen – erst mals eine eigenständige, modernistische Bukowiner Literatur begründeten. Das oftmals beschriebene Insel phänomen „Bukowina“ und die Begrenzung des kommu nikativen Raums beförderten in dieser kurzen Zeit vor dem Krieg dichterische Begeg nungen, die mit der Ghetto isierung, den Deportationen und dem Tod zehntausender Bukowiner Jüdinnen und Juden in den Lagern Trans nistriens und jenseits des

capital. It was an era that guaranteed full civil rights to the Jewish population and allowed them to develop both polit ically and culturally. These are of course imaginations of a place, but it does seem as if the past always also needs to be considered in present-day Czernowitz to prevent it from being forgotten.

A look at the Jewish literature of this region opens up a diverse spectrum of texts in various languages. There are numerous works in Yiddish, but also Hebrew works written by authors who immigrated to Israel after the Second World War, such as Aharon Appelfeld (1932–2018) and Manfred Winkler (1922–2014). Most of the Jewish literature from Czernowitz, however, was written in German, and the poetry and life of Paul Celan (1920–1970), Rose Ausländer (1901–1988), and Selma Meerbaum-Eisinger (1924–1942) have continued to the present day not only to inspire scholarly reflection but also to attract considerable media interest.

Starting in the 1930s, more than fifty authors pub lished works in local news papers, had their first books published, and—unrelated to Vienna influences—estab lished the first independent, modern Bukovina literature. The often-described insular character of Bukovina and the limited communicative space fostered poetic en counters in the short period before the war that ended tragically with ghettoization and the deportation and death of tens of thousands of Bukovinian Jews in the camps of Transnistria and beyond the Southern Bug River in the years from 1941 to 1944.

The comparable cul tural and linguistic charac ters as well as the semantic experiences in a multilingual space created a literature here whose themes and motifs correlated closely

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Selma Meerbaum-Eisinger (rechts) und ihre Freundin Else Schächter beim Spaziergang in Czernowitz im Mai 1940. Selma Meerbaum-Eisinger (to the right) and her friend Else Schächter in Czernowitz, May 1940.
37:
Alfred Margul-Sperber

Südlichen Bug in den Jahren 1941–1944 tragisch zu Ende gingen.

Die vergleichbaren kulturellen und sprachlichen Prägungen sowie die semantischen Erfahrungen in einem vielsprachigen Raum schufen an diesem Ort eine Literatur, deren Sujets und Motive eng mit der jüdischen Lebens welt in der Stadt und im ländlichen Raum zusammenhingen und die auch eine chassidische Metaphorik oder uk rainische und rumänische Ausdrucks formen als künstlerisches Mittel um fassen konnten. Viele dieser damals noch jungen Autorinnen und Autoren wie Moses Rosenkranz (1904–2003), David Goldfeld (1904–1942), Alfred Kittner (1906–1991) oder Klara Blum (1904–1971) sollten mit ihren Gedichten in eine Mitte der 1930er-Jahre von Alfred Margul-Sperber (1898–1967) geplante Anthologie „Die Buche“ aufgenommen werden. Das Czernowitzer Projekt scheiterte zwar und die Auswahl konnte erst rund 70 Jahre später in einem deutschen Verlag erscheinen, doch wäre ohne diese Sammlung und Margul-Sperber, der zeitlebens als Entdecker und Mentor mit allen heute bekannten oder auch unentdeckten jüdischen Au torinnen und Autoren aus der Bukowina im Austausch stand, die Literaturgeschichtsschreibung dieser Region eine andere, eine unvollständige.1

Wer sich nun auf die Suche nach den Gründen dieser enormen Dichte an jüdischer Literatur in deutscher Sprache begibt, in einem literarischen Raum mit dutzenden Zeitungen und Zeitschriften, die in den Kaffeehäusern der Stadt auslagen, geht zuerst zurück in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. In dieser Zeit entwickelte sich Czernowitz am östlichen Rand der Habsburgermonarchie zu einer Stadt mit allen administrativen und kulturellen Attributen einer ös terreichischen k. u. k. Landesmetropole – allerdings fernab von Wien gelegen.

„Prächtig liegt die Stadt auf ragender Höhe. Wer da einfährt, dem ist seltsam zu Mute: er ist plötzlich wieder im Westen, wo Bildung, Gesittung und weißes Tischzeug zu finden sind. Und will er wissen, wer dies Wunder voll bracht, so lausche er der Sprache der Bewohner: sie ist die deutsche.“

with Jewish life in the city and the rural surroundings, and could also include Hasidic metaphors or Ukrainian and Romanian forms of expression as an artistic means. Many of these authors, who were young at the time, among them Moses Rosenkranz (1904–2003), David Goldfeld (1904–1942), Alfred Kittner (1906–1991), and Klara Blum (1904–1971), were included in the mid-1930s in an anthology called Die Buche (The Beech Tree), planned for publication by Alfred Margul-Sperber (1898–1967). The Czernowitz project failed and the selected works were not published until roughly seventy years later by a German publisher. However, without this collec tion and Alfred Margul-Sperber, who spent his life as a scout and mentor in contact with all the known or unknown Jewish authors from Bukovina, the literary historiography of this region would have been a completely different and incomplete one.

Anyone seeking reasons for this great density of Jewish literature in German, in a literary space with dozens of newspapers and magazines available in the city’s coffee houses, has to go back to the second half of the nineteenth century. This was the time when Czernowitz developed at the eastern periphery of the Habsburg Monarchy into a city with all the administrative and cultural attributes of an Austrian Imperial city, but far from Vienna.

“Splendidly the town is situated on towering heights. Whoever arrives is oddly hopeful: he is suddenly back in the West, where education, culture, and white tablecloths may be found. If he wants to know who created this miracle, he should take note of the language spoken by the inhabitants: it is the German language.” 1

This perception of Karl Emil Franzos (1848–1904) from 1875, which neglects the complex and transcultural influences of a place where large populations of Jews, Ger mans, Ukrainians, Romanians, and Poles lived, seems one-di mensional, not only from today’s perspective. Nevertheless, it indicates a decisive motif in the Jewish educational process of the day, not only in Czernowitz but also in vast parts of the monarchy. In many Jewish families, German was regarded as the language of social advancement, as abandoning

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1 Die Buche. Eine Anthologie deutschsprachiger Judendichtung aus der Buko wina, zusammengestellt von Alfred Margul-Sperber. Aus dem Nachlass her ausgegeben von George Guţu, Peter Motzan und Stefan Sienerth, München, 2009, Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas e. V. an der LMU München. 1 Karl Emil Franzos, “From Vienna to Czernowitz,” quotation cited in Pieter M. Judson, The Habsburg Empire: A New History, trans. P. Judson, Cambridge, MA.: Belknap/Harvard University Press: 2016, p. 324.

Diese Wahrnehmung Karl Emil Franzos’ (1848–1904)

aus dem Jahr 1875, die die vielschichtigen und transkul turellen Einflüsse an einem Ort außer Acht lässt, an dem Juden, Deutsche, Ukrainer, Rumänen und Polen mit großen Bevölkerungsgruppen beheimatet waren, wirkt nicht nur aus heutiger Sicht eindimensional. Dennoch weist sie auf ein entscheidendes Motiv im jüdischen Bildungsprozess jener Zeit hin, nicht nur in Czernowitz, sondern in weiten Teilen der Monarchie: Deutsch galt in vielen jüdischen Familien als Sprache des gesellschaftlichen Aufstiegs, als Ausstieg aus dem Ghetto, als entscheidender Teil von Akkulturation und Assimilation.

Doch war sie keineswegs nur Mittel zum Zweck, Deutsch wurde als Kultursprache hoch geschätzt, das klassische Erziehungs- und Bildungsideal durch die Werke Goethes, Schillers, Heines oder Hölderlins in den Wohn stuben vermittelt, auch wenn sich die Vor- und Nachkriegs jugend dann auch den modernistischen Strömungen Rilkes, Trakls oder Benns zuwandte und den begnadeten Sprach meister Karl Kraus hymnisch verehrte. Diesem bürgerlichen Milieu entstammten die meisten der jüdischen Intellektuellen und Kulturschaffenden in den 1920er- und 30er-Jahren in Czernowitz, abgesehen von einigen Autorinnen und Autoren, deren räumliche und familiäre Herkünfte tief in der jiddisch sprachigen Welt wurzelten. Dazu zählten der früh emigrierte Itzik Manger (1901–1969), die nach 1918 aus Bessarabien eingewanderten Elieser Steinbarg (1880–1932) und Mosche Altman (1890–1981) oder auch Josef Burg, der 1912 in einem kleinen Ort in den bukowinischen Waldkarpaten geboren worden war und als einer der letzten auf Jiddisch schrei benden Schriftsteller 2009 in Czernowitz starb.

Vielleicht liegt die Faszination für eine Literaturland schaft, die oftmals als eine „versunkene“ apostrophiert wird, als ein „poetisches Atlantis“, paradoxerweise darin, dass sie nach 1945 gar nicht unterging, nachdem der geografische Raum als Produktionsort ihrer Literatur ver schwunden war. Vielmehr wurde diese „Landschaft“ neu ge schaffen und erweitert durch die Czernowitzer Exilantinnen und Exilanten in Israel, Deutschland, in den USA, in Rumä nien oder Frankreich, wobei nun die Erfahrungen als Über lebende, als Ortssuchende und als Erinnernde in ihr dichteri sches Werk eingingen. Die lyrische Bewältigung der Traumata wurde zu einem Leitmotiv wie auch das An-Denken an eine „mythisch-mystische Sphäre“ (Rose Ausländer) vor der ein brechenden Tragödie. Nun weiterhin in der Muttersprache zu

the ghetto, as decisive in the process of acculturation and assimilation.

However, it was certainly not merely a means to an end. German was highly valued as a language of culture, the classical educational ideal brought into living rooms through the works of Goethe, Schiller, Heine, and Hölderlin, even if pre- and postwar youth turned more to the modernistic currents of Rilke, Trakl, or Benn, and worshipped the gifted master of language Karl Kraus. Most Jewish intellectuals and creative artists came from this middle-class environment in Czernowitz of the 1920s and 1930s, except for a few au thors whose geographic and family origins had deep roots in the Yiddish-speaking world. Among them were Itzik Manger (1901–1969), who emigrated early on, Elieser Steinbarg (1880–1932) and Mosche Altman (1890–1981), who immi grated after 1918 from Bessarabia, as well as Josef Burg, who was born in a small town in the Bukovinian Wooded Carpath ians in 1912 and who died in Czernowitz in 2009 as one of the last Yiddish-writing authors.

The fascination for a literary landscape that is often apostrophized as “lost,” as a “poetic Atlantis,” lies perhaps paradoxically in the fact that it did not decline after 1945, after the geographical space as a production site for its literature had disappeared. Instead, this “landscape” was created anew and expanded through the Czernowitz exiles in Israel, Ger many, the United States, Romania, and France, whereby their experiences as survivors, as people in search of a home, and as memory bearers found expression in their literary works. The lyrical means of coping with the trauma became a leit motif, much like remembering a “mythical-mystical sphere” (Rose Ausländer) before the erupting tragedy. To then con tinue to write in the native tongue that was also the “language of the murderers” could lead to inner conflicts that for some took years to overcome. Paul Celan set out to find a hermetic and “grayer” language in his poetry, despairing at a purely aesthetic view of his poems, especially the Death Fugue , by the German literary scene.

The city’s nicknames mentioned at the beginning of this essay strangely do not seem antiquated even today. They survived the dramatic ruptures of the twentieth century that always had an epochal impact on this city. With the transi tions from Austria-Hungary to Romania, and from 1944 on the northern part of Bukovina to the Soviet Union, borders shifted and new narratives of rule emerged. Since 1991, Czer nowitz/Černivci is a Ukrainian city where the historical and

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dichten, die auch die „Sprache der Mörder“ war, konnte zu inneren Konflikten führen, die für einige erst nach Jahren zu überwinden waren. Paul Celan begab sich auf die Suche nach einer hermetischen und „graueren Sprache“ seiner Lyrik, ver zweifelnd an einer rein ästhetischen Betrachtung seiner Ge dichte durch den deutschen Literaturbetrieb, insbesondere der „Todesfuge“.

Die eingangs genannten Labels der Stadt wirken seltsamerweise selbst heute nicht antiquiert. Sie haben die dramatischen Zäsuren des 20. Jahrhunderts überdauert, die an diesem Ort stets epochal verliefen. Mit den Übergängen von Österreich-Ungarn zu Rumänien und ab 1944 des nörd lichen Teils der Bukowina zur Sowjetunion verschoben sich Grenzen, entstanden auch neue Herrschaftsnarrative. Seit 1991 ist Czernowitz/Černivci eine ukrainische Stadt, in der das historische und literarische Erbe nicht nur erinnert, son dern in transkulturellen Projekten auf die Gegenwart und Zukunft bezogen wird. An diesem geografisch und auch im materiell europäischen Ort wird der gegenwärtige russische Krieg gegen die Ukraine daher nicht nur als physische Be drohung angesehen, sondern als Angriff auf die elementaren liberalen und geistigen Werte.

Dr. Markus Winkler ist wissenschaftlicher Projektmit arbeiter am Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der LMU München. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem die Geschichte der Bukowina und die deutsch-jüdische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. 2020 leitete er das digitale Forschungsprojekt „Die Vermessung der Ghettos. Grodno – Czernowitz – Chișinău“. (https://ghettos.digital)

Dr. Markus Winkler is a member of the project staff at the Institute for German Culture and History in SouthEastern Europe (IKGS) at the Ludwig-Maximilians-Uni versität Munich. His main research areas are the history of Bukovina and nineteenth- and twentieth-century German-Jewish literature. In 2020 he was the manag ing director of the digital research project “Measuring Ghettos: Grodno—Chernivtsi—Chișinău.” (https://ghettos.digital)

literary heritage does not only remember, but also refers to the present and future in transcultural projects. At this place that is geographically and immaterially European, the pres ent-day Russian war against Ukraine is thus viewed not only as a physical threat but also as an attack on elementary liberal and intellectual values.

In der Nähe ihres Geburtshauses wurde im Mai 2018 eine Statue zu Ehren von Rose Ausländer errichtet. In May 2018, a statue honoring Rose Ausländer was erected in the vicinity of her birthplace.

39 Jerusalem on the Pruth

Das Jüdische Museum Berlin und die Freunde des Museums zeichnen mit dem Preis für Verständigung und Toleranz seit 2002 Persönlichkeiten aus Kultur, Politik und Wirtschaft aus, die sich auf herausragende Weise um die Menschenwürde, die Förderung der Völkerverständigung, der Integration von Minderheiten und des Zusammenlebens unterschiedlicher Religionen und Kulturen verdient gemacht haben. Der diesjährige Preis wird am Samstag, den 12. November 2022, an die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller und den Opernregisseur Barrie Kosky verliehen.

Since 2002, the Jewish Museum Berlin and the Friends of the Museum have awarded the Prize for Understanding and Tolerance to personalities from culture, politics, and business who have rendered outstanding service for human rights, promoting international understanding, the integration of minorities, and coexistence among different religions and cultures. This year’s prize will be awarded to Herta Müller, 2009 Nobel Laureate in Literature, and opera director Barrie Kosky on Saturday, 12 November 2022.

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BARRIEKOSKY

2012 tritt Barrie Kosky die Intendanz der Komischen Oper Berlin an. 2013 wählt die Fachzeitschrift Opernwelt das Haus zum „Opernhaus des Jahres“, 2015 werden die Chorsolis ten „Opernchor des Jahres“ und das Ensemble gewinnt den International Opera Award, 2016 wird Barrie Kosky „Regisseur des Jahres“. Fachwelt wie Publikum feiern seine – in diesem Jahr beendete – Intendanz und seine alten und neuen Arbeiten als Regisseur. Barrie Kosky wurde 1967 in Melbourne geboren, als Enkel russisch-jüdischer, polnisch-jüdischer und ungarischjüdischer Einwanderer*innen. Seine aus Budapest stammende Großmutter sorgte dafür, dass er schon als Kind regelmäßig in die Oper ging. In seinen Inszenierungen setzte sich Barrie Kosky intensiv mit jüdischer Kultur und Identität auseinander und regt zu privaten Gesprächen und öffentlichen Debatten darüber an. Er hat vergessene Operetten der Weimarer Republik wieder auf die Spielpläne gebracht, darunter „Ball im Savoy“, „Die Perlen der Cleopatra“ oder „Eine Frau, die weiß, was sie will“. Bei den Bayreuther Festspielen 2017 insze nierte er als erster jüdischer Regisseur eine Aufführung: Richard Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“. Dabei zeigte Barrie Kosky nicht nur den Antisemitismus Wagners, son dern unterstrich den gesellschaftlich verbreiteten, aggressiven Hass, dem Juden und Jüdinnen damals – und bis in die Gegenwart hinein – begegneten und begegnen. 2017 nahm Kosky die deutsche Staatsbürgerschaft an. Barrie Kosky steht mit seiner Arbeit und mit seiner Person für deutsch-jüdische Gegenwartskultur und Leben in Berlin, auch wenn er in den Interviews, die sein Judentum thematisieren, stets betont, dass er nur für sich spreche. Dass er offen ist für Gespräche, das ist ein Merkmal seiner Persönlichkeit. Verständigung und Toleranz sind Werte, die er lebt.

Barrie Kosky became the artistic director of the Komische Oper Berlin in 2012. In 2013, the Komische Oper was selected by Opernwelt magazine as “Opera House of the Year.” In 2015, the chorus soloists were declared the “Opera Chorus of the Year” and the ensemble won the International Opera Award. In 2016, Barrie Kosky became “Director of the Year.” Experts and audience alike celebrated his director ship—which ended this year—and his older and newer works as a director. Barrie Kosky was born in Melbourne, Australia, in 1967. He is the grandson of Russian-Jewish, Polish-Jewish, and Hungarian-Jewish immigrants. His grandmother from Budapest made sure that he already started going to the opera as a child.

In his productions, Barrie Kosky has dealt intensively with Jewish culture and identity, encouraging private conversations and public debates. He brought forgotten operettas of the Weimar Republic back into the repertoire, including Ball in the Savoy, The Pearls of Cleopatra, and A Woman Who Knows What She Wants . He was the first Jewish director to perform Richard Wagner’s The Mastersingers of Nuremberg at the Bayreuth Festival. Not only did Barrie Kosky depict Wag ner’s antisemitism, he also emphasized the socially accepted, aggressive hatred that Jews at the time—and still today—encountered and encounter. Kosky gained German citizenship in 2017. He stands with his work and his entire being for contemporary Ger man-Jewish culture and life in Ber lin, even though he stresses that he speaks only for himself when talking about his Judaism in interviews. He is open for discussion—and that is an as pect of his personality. Understanding and tolerance are values that he lives.

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HERTAMÜLLER

Die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, 1953 in der Volksrepublik Rumänien geboren, wuchs als Angehörige der deutschsprachigen Minder heit im Banat auf. Von der eigenen Familiengeschichte, insbesondere von ihrem Vater, der Mitglied der SS gewe sen war, grenzte sie sich früh ab: „Man kann die Vergangenheit nicht ändern, aber man kann sich dazu verhalten. Haltung zählt im Alltag.“ Schon früh wurde Herta Müller von der Securitate bedroht und schikaniert; ihr erstes Buch „Niederungen“ durfte jahrelang nicht veröffentlicht werden, schließlich erschien 1982 in Bukarest eine zensierte Fassung. 1987 reiste Herta Müller in die Bundesrepublik Deutschland aus. In ihrer schriftstel lerischen Arbeit kritisiert die Autorin auch heute noch deutlich die Macht verhältnisse innerhalb von Familien und ethnischen Gruppen. Sie setzt sich intensiv mit der kontinuierlichen Gewalt von Diktaturen auseinander, die Freiheiten einschränken oder gar nehmen, die die Würde von Menschen verletzen und sie traumatisieren. Zum Preis für Verständigung und Toleranz des Jüdischen Museums Berlin sagt Herta Müller: „Begriffe wie Verständigung und Toleranz haben immer nur an dem Ort einen Wert, an dem man sich befindet. In Diktaturen muss man sich distanzieren, um nicht schuldig zu werden. Um tolerant zu sein, muss man auf Distanz gehen.“

In einer Demokratie kommt den Konzepten Verständigung und Tole ranz eine immense Bedeutung zu: Es geht um Vielfalt als Grundwert, um Anerkennung, um gegenseitiges Ver stehen und das Geltenlassen anderer Überzeugungen, um das Miteinander sprechen und das Miteinanderleben. Was Herta Müller auszeichnet, ist ihre Haltung, aus der heraus sie sicherstellt, dass die Begriffe „Toleranz“ und „Ver ständigung“ keine leeren Worte sind.

Herta Müller, laureate of the Nobel Prize for Literature, was born in Banat, Romania, in 1953, as a member of the country’s German-speaking minority. At an early age, she distanced herself from her family’s history, particular ly that of her father, who had been a member of the SS: “You cannot change the past but you can take a position on it. Your position is what counts in day-to-day life.”

Herta Müller was threatened and harassed by the Securitate , commu nist Romania’s secret police, from early on. She was not permitted to publish her first book Nadirs for many years, until a censored version was finally released in 1982 in Bucharest. She emigrated to West Germany in 1987. To this day, the author’s writing is outspokenly critical of power relations within families and ethnic groups. She intensively examines the ongoing violence of dictatorships that curtail or even abolish liberties, violate human dignity, and traumatize individuals.

Regarding the Jewish Museum Berlin’s Prize for Understanding and Toler ance, Herta Müller says, “Concepts like understanding and tolerance only ever have a value in the specific place where you are. In dictatorships, people must distance themselves to avoid be coming complicit. To be tolerant, one must maintain distance.”

In a democracy, the concepts of understanding and tolerance take on immense significance. This is about diversity as a core value, about rec ognition, about mutual understanding and the acceptance of other beliefs, about joint discussion and joint existence. What distinguishes Herta Müller is her strong position, from which she ensures that the notions of “tolerance” and “understanding” are not hollow words.

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Als im März 2022, etwa einen Monat nach dem erneuten Angriff Russlands, im Jüdischen Museum Berlin eine Solidaritätsveranstaltung für die Ukraine stattfand, berichtete die Schriftstellerin und Journalistin Tasha Karlyuka –per Video zugeschaltet – von ihren erschütternden Erlebnissen in Kyjiw. Ein Text aus den ersten Tagen des Krieges.

Text Tasha Karlyuka

Danke dafür, dass ich heute hier reden darf! Es ist mir sehr wichtig; denn heute verstehen alle, egal in welchem Beruf: Wir müssen reden, um andere zu erreichen, andere, die uns nicht hören können oder nicht hören wollen.

Ich heiße Tasha Karlyuka; ich wurde in Kyjiw geboren und lebe seit fünf Jahren in Tel Aviv. Ich bin nach Kyjiw gereist, weil meine Mutter Ge burtstag hatte – ich wollte sie überraschen und bin noch eine Weile geblieben. Und dann ist das passiert, was passiert ist; das, wovor wir Angst hatten, das, was wir nicht glauben konnten: Um 5 Uhr morgens am 24. Februar 2022 begann der Krieg.

Es ist ein sehr seltsames Gefühl… Normalerweise weißt du ja beim Ein schlafen, dass die Welt in Ordnung ist. Menschen machen ihre Pläne –jemand heiratet bald oder bekommt ein Kind, will seine Liebe eingeste hen oder ein Studium anfangen. Und all diese Menschen müssen jetzt stattdessen Dinge tun, von denen sie niemals geglaubt hätten, sie je tun zu müssen. Vor allem müssen sie ihr Leben retten. Und das Leben ihrer Nächsten.

Es macht mir sehr viel Angst, dass all das weitergeht, dass es nicht vor bei ist, dass kein Ende in Sicht scheint. Wir verstehen nicht, wie lange dieser Horrorfilm noch dauern wird. Ich treffe Menschen, die sagen: „Lieber kratze ich bei mir zu Hause ab. Ich will nicht obdachlos in einem fremden Land leben; ich kann mein Leben nicht bei Null anfangen. Lieber bleibe ich hier in meinem Keller, und wenn ich sterben soll, werde ich eben sterben.“

Und da muss ich immer wieder an die Erinnerungen meiner Urgroßmut ter und ihrer Familie zurückdenken, die damals den Zweiten Weltkrieg erlebt hatte. Ich rede immer im Kopf mit ihr, ich frage sie: „Wie sollen wir uns verhalten? Gib du uns doch einen Rat!“ Denn es gibt keinen Ratgeber, keine Bedienungsanleitung.

Aber ich habe eine Antwort für mich gefunden. Das Wichtigste ist, etwas zu tun; anderen zu helfen. Und zu versuchen, ein Mensch zu bleiben. Ein guter Mensch zu bleiben.

Ich reise viel und bin es gewohnt, einfach das Nötigste in einen Ruck sack zu stecken: Das ist für mich okay. Aber für meine Eltern ist das anders. Meine Mutter ist 63, mein Vater 67. Sie mussten nun ihr ge samtes Leben in zwei Rucksäcke packen. Natürlich ist das Leben das Wichtigste, nicht die Sachen. Aber wenn du dann in Sicherheit bist, wenn du nachts nicht mehr vom Heulen der Sirenen und Einschlagen der Bomben aufwachst, dann erinnerst du dich wieder an ganz normale Gegenstände, die zu Hause geblieben sind; das ist menschlich. Und irgendwann verstehst du, dass diese Sachen vielleicht nicht mehr da sind – mitsamt diesem Haus.

Meine Mutter ist ein sehr starker Mensch; ich habe sie früher nie im Leben weinen sehen – aber diese Woche sah ich sie dreimal mit Tränen in den Augen. Es sind nicht ihre Wohnung oder ihre Möbel, die sie beweint: Sie beweint ihr Leben, das dort geblieben ist. Sie ist auch ein sehr dank barer Mensch. Noch vor dem Krieg sagte sie jeden Tag zu mir (und dabei ging sie mir mit ihrem Optimismus sogar manchmal auf die Nerven): „Ich bin so dankbar für mein Leben. Ich habe so ein schönes Leben. Ich liebe es so sehr. Ich würde nichts ändern.“ Und jetzt muss diese Frau eben alles ändern. Sie kommt in ein Land, in dem sie nichts kennt. Ich weiß nicht, wie es ist, sein Leben mit 63 oder 67 bei Null anzufangen. Meine Eltern werden es aber lernen müssen, und Millionen andere auch. Sie werden alles neu anfangen müssen. Versuchen Sie nur, sich das vorzustellen. Stellen Sie sich vor: Sie trinken mittags Kaffee in Ihrem Lieblingscafé, zu Abend essen Sie dann zu Hause, mit Ihrer Lieblingspraline dazu, und dann gehen Sie zu Bett, und in Ihrem Zimmer sind Fotos, CDs, Ihre Lieblingsdecke. Und am nächsten Morgen sagt man Ihnen: Sie müssen hier weg. Und niemand weiß, ob Sie jemals zurückkehren können. Ein Leben bei Null anfangen.

24.2.2022, 5:00

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24.2.2022
5:00

Thank you for allowing me to speak here today! It’s very important to me because everyone—no matter what their profession—understands that such discussions are necessary today so that we can reach others who can’t or don’t want to listen to us.

My name is Tasha Karlyuka. I was born in Kyiv and have been living in Tel Aviv for five years. I traveled to Kyiv because of my mother’s birthday; I wanted to surprise her and stayed for a while. And then the thing happened that we feared and couldn’t believe would happen: at five in the morning on February 24th 2022, the war started.

It’s a very strange feeling. Normally, when you go to sleep, you know that everything is okay in the world. People are making plans—someone is about to get married or have a baby or make a declaration of love or start their studies. And then all of these people are forced to do things they never thought they’d have to do. They must concentrate on saving their own lives and those of the people closest to them.

It frightens me a lot that all of this is continuing, that it’s not over, that there seems to be no end in sight. We don’t know how long this horror film will last. I meet people who say, “I’d rather die in my house, I don’t want to be homeless in a foreign country, I can’t start my life all over again. I’d rather stay here in my basement, and if I’m going to die, I’ll die.”

And that brings back memories of my great-grandmother and her family, who lived through the Second World War. I have conversations with her in my head. I ask, “What should we do? Give us some advice!” For there’s no guidebook for this, no instruction manual. But I’ve been able to find my own answer to this question. The most important thing is to do something, to help others, to try to remain a human being—a good person.

I travel a lot and I’m used to putting everything I need in a backpack— I have no problem with that at all, but it’s different for my parents. My mother is sixty-three, my father sixty-seven, and they’ve had to pack their whole lives into two backpacks. Of course, surviving is the most important thing, not the possessions. But when you’ve made it to safety, when you don’t wake up in the middle of the night to the wail of sirens and the sound of exploding bombs, you start thinking about the every day things you left behind. It’s only human. And at some point, you realize that these things are perhaps no longer there, nor is your house.

My mother is a very strong person. Before the war, I had never seen her cry. But this week I saw her with tears in her eyes three times. She’s not shedding tears over her apartment or furniture. She’s crying about the life that she left behind. She’s also a very grateful person. Before the war, she’d say to me almost every day (and her optimism sometimes got on my nerves): “I’m so grateful for my life. I have such a wonderful life. I love it so much. I wouldn’t change a thing.” And now this woman has to change everything. She arrives in a country where she doesn’t know a thing. I don’t know what it’s like to start over at sixty-three or sixtyseven, but my parents will have to learn, together with millions of others. They’ll have to start from scratch.

Just imagine that. Imagine drinking a cup of coffee in your favorite café at noon, having dinner at home with your favorite chocolates to top it off, and then going to bed in a room with your photos, CDs, your favorite blanket. And the next morning you’re told you have to leave. And no one knows if you’ll ever be able to return. You have to build your life from scratch.

Tasha Karlyuka 45
When a solidarity event for Ukraine was held at the Jewish Museum Berlin in March 2022, about a month after Russia’s new attack against the country, writer and journalist Tasha Karlyuka— via video—recounted her harrowing experiences in Kyiv. A report from the first days of the war.
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VERTRAUEN,
TRUST IS AN ESSENTIAL PART OF LIFE Ein Interview mit Marina Chernivsky An Interview with Marina Chernivsky
MENSCHEN BRAUCHEN
UM LEBEN ZU KÖNNEN

Marina Chernivsky ist Psychologin und Verhaltenswissenschaftlerin. Geboren in Lwiw und aufgewachsen in Israel kam sie 2001 nach Berlin; unter anderem ist sie Mitheraus geberin der Zeitschrift JALTA – Positionen zur jüdischen Gegenwart und Vorstandsmitglied von AMCHA e.V. Sie ist Initiatorin und Leiterin des Kompetenzzentrums für Prävention und Empowerment sowie Gründerin und Direktorin der Beratungsstelle OFEK e.V.

Marina Chernivsky The psychologist and behavioral scientist Marina Chernivsky was born in Lviv and raised in Israel. In 2001, she moved to Berlin, where she currently serves as coeditor of the magazine JALTA—Positionen zur jüdischen Gegenwart and as a board member of the AMCHA association. She is the initiator and director of the Competence Center for Prevention and Empowerment, and she also founded and directs the OFEK counseling center.

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Liebe Frau Chernivsky, Sie leiten das Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment in Trägerschaft der Zentralwohlfahrtsstelle, aber auch OFEK – die Beratungsstelle bei anti semitischer Gewalt und Diskriminierung. Was sind die Aufgaben der beiden Einrichtungen?

Das Kompetenzzentrum forscht zu Antisemitismus in Institutionen und entwi ckelt Projekte, Programme sowie andere Maßnahmen für die Sensibilisierung und Qualifizierung von Fachund Führungskräften u.a. aus Bildung, Jugend- und Sozialarbeit und Verwaltung zum Umgang mit Antisemi tismus und Diskriminierung. Das ist eine wissenschaft liche, pädagogische, aber auch politische Arbeit. Mit OFEK haben wir einen Ver ein gegründet, der sich der Beratung und Begleitung von Betroffenen antisemiti scher Gewalt widmet. OFEK ist die erste Beratungsstelle

auch Sie aktuell sehr engagiert in der Unterstützung von Geflüchte ten aus der Ukraine.

Ja! Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine war es uns wichtig, Ehren amtliche und Communities im Blick zu haben, die sich für die Geflüchteten einset zen. Viele Gemeinden, aber auch Schulen und andere jü dische Einrichtungen haben Geflüchtete aufgenommen, Hilfe organisiert, gar Vereine und Initiativen gegründet. Dabei geht dieser Krieg der jüdischen Community sehr nah. Es gibt biografische Verbindungen, bei einigen Helfenden gibt es direkte Bezüge zum Krieg durch Familien, die in der Ukraine leben und sich bis heute in Gefahr befinden. Viele, die sich engagieren, haben es noch nie in dieser Form ge macht. Mit dem Programm „Support for Supporters“ hat OFEK ähnlich wie zu der Pandemiezeit Gesprächs räume und sogenannte Safer Spaces angeboten,

Dieser Krieg geht der jüdischen Community sehr nah.

in Deutschland, die sich auf Community-basierte Beratung und auf Antisemi tismus spezialisiert. Dabei spielen die Einschätzung der Bedrohungspotenziale und die praktische Unterstüt zung bei der Bewältigung von materiellen und imma teriellen Folgen von Gewalt und Diskriminierung eine zentrale Rolle.

Wie die allermeisten jüdischen Institutionen sind

aber auch psychosoziale und psychologische Be gleitung, unter anderem zu Grundsätzen der Kriseninter vention, Folgen von Krieg und Traumata.

Was brauchen die Ge flüchteten, wenn sie hier ankommen?

Menschen, die extreme Erfahrungen von Gewalt durchleben, befinden sich mit hoher Wahrscheinlich

Ms. Chernivsky, you're the director of the Competence Center for Prevention and Em powerment, which is supported by the Central Welfare Board of Jews in Germany. You’re also head of the OFEK Counseling Center for Antisemitic Violence and Discrimination. What work do these two institutions do?

The Competence Center conducts research into institutional antisemitism and develops projects, pro grams, and other activities to sensitize and train pro fessionals and managers regarding antisemitism and discrimination. The parti cipants come from a variety of fields, including educa

Yes! In relation to the war in Ukraine, it was important for us to concentrate on the volunteers and communities working to help the refu gees. Many communities, as well as schools and other Jewish institutions, have provided shelter, organized support, and launched initiatives and associations. The war has deeply affect ed the Jewish community. People sometimes have biographical ties—some of the helpers are directly im pacted by the war because they have family in Ukraine who are still in danger. Many of those who have gotten involved have never helped out in this way before. With our Support for Supporters program, we’re offering not only safe spaces and discussion rooms, as during

tion, youth and social work, and administration. The center’s work is scholarly, pedagogical, and political. OFEK is devoted to provid ing counseling and support to victims of antisemitic vio lence. It’s the first advisory office in Germany to spe cialize in antisemitism and community-based counsel ing. The central focus of its work is to assess potential threats and provide practi cal support in dealing with the material and immaterial consequences of violence and discrimination.

Like most Jewish insti tutions, you’re intensely involved in helping refugees from Ukraine.

the pandemic, but also psy chosocial and psychological support that covers issues such as the principles of crisis intervention and the consequences of war and trauma.

What do refugees need when they arrive in Berlin?

People who experience ex treme violence have a high risk of traumatization. In war, our basic sense of trust, security, and integrity is shattered, and daily routines are turned upside down. Trust is an essential part of life. External support serves as a protective shield and a stabilizing factor. In addition to this practical support,

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The war has deeply affected the Jewish community.
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keit in einem Ausnahme zustand. Im Krieg wird das so wichtige Gefühl des Urvertrauens, der Sicherheit und Unversehrtheit er schüttert und der gewohnte Alltag auf den Kopf gestellt. Menschen brauchen Ver trauen, um (weiter-)leben zu können. Unterstützung, die von außen kommt, fungiert wie ein Schutzschild und eine stabilisierende Erfah rung. Neben der praktischen Unterstützung braucht es psychologische Beratung, die niedrigschwellig, trauma sensibel und mehrsprachig ist. Grundsätzlich hilft auch die parteiliche Anerkennung und die ganz praktische Hilfe bei der Ankunft das Vertrauen wiederherzustel len, Orientierung wiederzu finden und die Brücke zur Normalität zu bauen, um den Bruch zwischen davor und danach irgendwann wieder zusammenzukleben. Kriege zielen nicht nur auf Einzelne, sondern auf ganze Kollektive. Der Krieg Russ lands gegen die Ukraine ist ein gezielter Versuch, kollektive Gewalt anzu wenden und die Integrität einer Nation auszulöschen. Daher sind Kriegserfahrun gen niemals nur individuell, da sie massive individuelle wie auch soziale Ver- und Zerstörung auslösen. Solche Erfahrungen haben neben dem individuellen Trauma das Potenzial, sich zu einer extrem traumati schen Kollektiverfahrung zu verdichten. Dass Kriege bei den Betroffenen schwere Traumatisierungen hervor rufen können, die über den ersten Schock und adaptive Anpassung weit hinaus reichen, ist inzwischen all gemein bekannt. Dennoch gibt es wenig professionelle Unterstützung für die Be

troffenen und Helfer*innen, die dringend als mehrspra chige und niedrigschwellige Ressource benötigt wird.

Warum ist es wichtig auch Supporter zu unter stützen? Was leistet OFEK dabei genau?

OFEK ist eine Beratungs stelle bei antisemitischer Gewalt, nicht bei der Bewältigung von Kriegs folgen. Aber OFEK arbeitet auch nah an Communities und diese haben flächen deckend Hilfe geleistet. Deshalb war es uns wichtig die Gemeinden so weit wie möglich darin zu stärken. Es gibt kollegiale Beratung, aber auch Workshops und Supervision für ehrenamtli che wie auch hauptamtliche Helfer*innen. Manche Ge spräche waren sehr aufwüh lend; es war spürbar, dass die Nähe zu diesem Krieg die eigene Betroffenheit in den Fokus rückt. OFEK hat ein eigenes psycho logisches Team und einige russischsprachige Psycho log*innen. Diese waren viel im Einsatz, aber auch andere Psycholog*innen und Bera ter*innen haben die Anlei tung von Gesprächsräumen übernommen. Da es nicht ausreichend Angebote einer ukrainisch- oder russisch sprachigen psychologischen Beratung gab, mussten wir bei Anfragen überbrücken, wobei das nicht zum pri mären Angebot von OFEK gehört. Grundsätzlich waren diese Angebote direkt nach dem Kriegsbeginn relevan ter als heute; inzwischen gibt es einen gewissen Habituationseffekt und auch viel Erfahrung. Ferner verdichtet sich auch das Potenzial u.a. antise mitisch motivierter Gewalt,

people need low-threshold, trauma-sensitive, multilin gual psychological coun seling. Basically, if we side with refugees and give them practical support when they arrive, it helps them rebuild their trust, provides orientation, and creates a path back to a normal life so they can overcome the rupture between “before” and “after.”

Wars target not only individ uals, but entire collectives. Russia’s war against Ukraine is the deliberate attempt to destroy a nation’s integrity through the use of collective violence. The experience of war is not only individual, but can cause massive indi vidual and social disruption and destruction. In addition to individual trauma, it has the potential to become an extremely traumatic collective experience. We know that wars can induce severe trauma that extends far beyond the initial shock and adaptation strategies; however, there is little professional support for the victims and helpers. This is urgently needed in the form of low-threshold multilingual programs.

Why is it important to support the supporters? What exactly does OFEK do?

OFEK is a counseling center for antisemitic violence, not for the effects of war. How ever, OFEK works closely with the communities, and these have provided wide scale support. That’s why it was important for us to strengthen the communities any way we can. Our team offers not only counsel ing amongst colleagues, but also workshops and

supervision for volunteers and full-time helpers. Some of the talks have been very upsetting. It’s clear that the proximity of the war has shifted the focus to the ways people are personally affected. OFEK has its own psychological team and several Russian-speaking psychologists, who have been very busy, but at times other psychologists and counselors have supervised the discussion rooms. Because there aren’t enough Ukrainian- and Russianspeaking psychological counselors, we’ve had to step in to handle inquiries, although this isn’t part of OFEK’s core program. These services were more important just after the start of the war than they are today. We can now observe a certain habituation effect, and people have a lot more experience.

In addition, the potential for antisemitic violence in schools and other places is on the rise. Conspiracy the ories, group-specific con flicts, and acts of violence are becoming more common and make specialized coun seling necessary.

At a panel discussion at the JMB, you explained how problematic the term “war victim” is. Why is that so?

The term is not inherently wrong—we must call war by its name. But it’s also important to avoid using the term as a status descrip tion. Calling someone a war victim can quickly rob them of their individuality and autonomy. Even if they have suffered extreme traumati zation, they are not neces sarily sick because trauma

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zum Beispiel an Schulen. Verschwörungsmythen, gruppenbezogene Konflikte und gar Gewalthandlungen häufen sich und bedingen den Bedarf an spezialisierter Beratung.

Sie sind bei einem Podiumsgespräch im JMB darauf eingegangen, wie problematisch der Begriff Kriegsopfer ist. Warum ist das so?

Der Krieg ritzt sich nicht nur im individuellen Gedächtnis der Menschen ein, sondern traumatisiert eine ganze Gesellschaft. Die Zeit nach dem Krieg wird kommen und die ukrainische Gesellschaft noch lange beschäftigen. Ich bin zuversichtlich, dass die weitgehende Demo kratisierung, die veränderte politische Situation und die wachsende, starke Zivil gesellschaft diesen Prozess gut meistern werden. Auch jetzt sehe ich eine enorme Resilienz und einen Zusam menhalt, der den Einzelnen das Gefühl der kollektiven Selbstwirksamkeit (zurück) gibt. Die gesellschaftliche Haut, die durch den Krieg zerschmettert und durch bohrt wird, wird sich, wenn auch nicht ohne Folgen, wieder zusammenziehen. Die Narben werden bleiben.

is a normal response to an abnormal event, to extreme stress. For many people, the experience of war may become part of their biogra phies, but they must be able to decide for themselves how they want to see and describe themselves. We

Events in Ukraine are also influencing our view of Europe.

Yes, absolutely. Everything that’s happening now is closely connected with German and European history. In fact, every war,

Everything that’s happening now is closely connected with German and European history.

should always keep the con sequences of war firmly in mind, but we shouldn’t see those affected by it exclu sively from this perspective or frame them as victims.

What significance does the war have for Ukrainian society?

Was in der Ukraine derzeit geschieht, beein flusst ja auch unseren Blick auf Europa.

Der Krieg traumatisiert eine ganze

Gesellschaft.

Der Begriff ist nicht grund sätzlich falsch, der Krieg muss ja beim Namen genannt werden. Es ist aber auch wichtig, diesen Begriff nicht als Statusbe schreibung zu verwenden. Der Status eines Kriegs opfers wird schnell zu einer Eigenschaft, die dem Subjekt seine Individuali tät und Eigenständigkeit nimmt. Selbst nach extre mer Traumatisierung sind Menschen nicht zwingend krank, da Trauma zunächst eine normale Reaktion dar stellt auf ein abnormales Ereignis, auf eine extreme Belastung. Kriegsopfer zu sein, wird sicher für viele Menschen Teil der eigenen Biografie. Aber sie sollten selbst entscheiden, wie sie sich selbst sehen und beschreiben. Wir könnten die Folgen des Krieges im Blick behalten, ohne die Be troffenen ausschließlich aus diesem Blickwinkel oder nur in der Opferrahmung wahr zunehmen.

Ja, total! Alles, was jetzt passiert, ist ja mit deutscher und europäischer Geschich te eng verbunden. Eigentlich müsste ja jeder Krieg, egal wo, Erschütterung hervorru fen. Aber je näher es kulturell oder geographisch ist, desto spürbarer ist dieses Erd beben. Das hat aber auch mit Fragen von Privilegien zu tun: Was leisten wir uns,

The war has not only etched itself into individual memo ry, but has traumatized all of society. The postwar period will come and the war will occupy Ukrainian society for a long time. I’m confi dent that because of the extensive democratization process, the changed politi cal situation, and the strong and growing civil society, Ukrainians will navigate this process well. Even today, I see tremendous resilience and cohesion, which are giving (back) to individuals a sense of their collective capacity to act. The fabric of society damaged and pierced by the war will mend, though not without consequences. Scars will remain.

no matter where it takes place, can be expected to cause convulsions, but the closer it is culturally or geographically, the stronger these are. But this also has to do with questions of privilege: what we refuse to see or don’t want to know. In this context, it’s interesting that in an Eastern European country like Ukraine, the past and present are closely interwoven with the history and legacy of National Socialism and the Shoah. In Ukraine, the traumas of the Second World War are not over yet and not completely overcome.

Can these wounds heal at all?

Wars and genocide can have consequences not only for the individual, but also for all of society. Coming to terms with cross-genera tional (emotional) legacies is a task for the descend ants. The effects are often different for the victims and the perpetrators. The differences are important because they are linked to

Menschen brauchen Vertrauen, um leben zu können

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Was bedeutet der Krieg für die ukrainische Gesellschaft?
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nicht zu sehen und nicht zu wissen? Interessant ist in dem Kontext, dass die Geschichte und Gegenwart eines osteuropäischen Lan des wie die Ukraine natürlich auch mit der Geschichte und dem Erbe des Nationalso zialismus und der Schoa eng verwoben sind. Da sind die Traumata des Zweiten Welt kriegs noch nicht vorüber und nicht ganz geschlossen.

Für die Ukraine, für sich selbst, für Ihre Arbeit?

Ich kann keine Ansprüche stellen. Ich bin in Lviv ge boren und in Israel aufge wachsen. Ich lebe seit über 20 Jahren in Deutschland. Mein Blick auf die Ukraine ist einer von außen. Ich bin aber zuversichtlich, dass die Menschen dort es schaffen, den Neubeginn zu versu

Die Narben werden bleiben.

Können sich diese Wun den überhaupt schließen?

Kriege, Genozide hinter lassen Folgen, die nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich relevant sind. Die Aufarbeitung von generationsübergreifenden (Gefühls-)Erbschaften ist dann eine Aufgabe für die Nachkommen. Dabei sind die Wirkungen für die Be troffenen oftmals anders als für jene, die auf der anderen Seite standen. Die Unterschiede sind nicht unwichtig, denn damit sind politische und psychologi sche Fragen verbunden. Die Anerkennung des Unrechts ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für einen produktiven Umgang mit Vergangenheit. Dabei sind die Fragen der familien biografischen und sozialen Positionierung ganz zentral. Idealtypisch gilt: Je offener sich eine Gesellschaft erin nert, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Wunde zu einer Narbe wird, die lang sam verheilt.

Was würden Sie sich politisch oder gesellschaftspolitisch wünschen?

chen und zu meistern. Die Widerstandsfähigkeit der ukrainischen Gesellschaft ist gegeben; auch die Bereit schaft sich mit ihrer eigenen Geschichte auseinander zusetzen. Ich engagiere mich in einem wichtigen Projekt, das sich mit der Er innerung an die Schoa und der Gedenkstättenarbeit beschäftigt. Ich bewundere all diejenigen, die sich trotz der anhaltenden Belastung dem Thema stellen und die Erinnerung an die Verfol gung und Vernichtung von Jüdinnen und Juden in der Ukraine wachhalten.

Scars will remain.

political and psychological questions. Acknowledging injustice is one of the most important prerequisites for dealing productively with the past. The question of a person’s position in a family biography or in society is key. Ideally, if a society re members openly, it is more likely for wounds to form a scab and slowly heal.

What

do you hope for in political or sociopolitical terms? For Ukraine, your self, and your work?

I can’t make demands. I was born in Lviv and grew up in Israel. I’ve lived in Germany for over twenty years. My view of Ukraine is that of an outsider, but I’m confident

that the Ukrainians will try to make a new start and will succeed. Ukrainian society is resilient, and Ukrainians are willing to grapple with their history. I’m involved in an important project that ex amines Shoah remembrance and memorial work. I admire everyone who despite the ongoing pressures con fronts this issue and keeps the memory of the perse cution and extermination of Jews in Ukraine alive.

Ms. Chernivsky, thank you very much for the interview!

51 Interview
Liebe Frau Chernivsky, vielen Dank für das Gespräch!
DE EN
52 Artikel_Headline_DE

15 MONATE, 10 TAGE 15 MONTHS, 10 DAYS

Text

Jörg Waßmer

Herbst 1942: Der junge Arzt Leo Scheuer versteckt sich in einem Erdloch auf dem Hof von Michail und Jelisaveta Melniczuk. Die einzigen Dinge, die er während der nächsten langen Monate bei sich hat, sind sein Pass, eine Decke und ein Lehrbuch für Anatomie. Sein Nachlass wird im JMB bewahrt und erzählt von einem unglaublichen Überleben und einer lebenslangen Verbundenheit. Autumn 1942. The young doctor Leo Scheuer hid in a hole in the ground at Mikhail and Yelisaveta Melniczuk’s farm. All he had with him for the ensuing long months were his passport, a blanket, and an anatomy textbook. His bequest, preserved among the JMB’s collections, tells the story of an incredible survival and a lifelong connection.

Decke aus dem Besitz von Leo Scheuer, 1. Hälfte 20. Jahrhundert, 203 x 290 cm Blanket formerly belonging to Leo Scheuer, first half of 20th century, 203 x 290 cm

53

DE „Er sagte, er habe nicht mehr viel Zeit und möchte nicht, dass die Sachen weggeworfen werden“, lautet die Aktennotiz, die im Oktober 2000 nach dem ersten Kontakt mit Leo Scheuer im Archiv des JMB geschrieben wurde. Auf einen öffentlichen Aufruf, dem damals neuen Jüdischen Mu seum Berlin „Photos – Briefe – Tagebücher“ zu stiften, hatte sich der 91-Jährige gemeldet. Scheuers Frau Irma war kurz zuvor verstorben und Kinder gab es keine. Weiter lautet die Notiz, er habe Dokumente aus einem Ghetto in der Ukraine, „z.B. einen Passierschein“. Im darauffolgenden Jahr kam die Schenkung zustande. So wird Leo Scheuers Geschichte für die Nachwelt bewahrt.

Ein Personalausweis

Ein junger Mann mit hoher Stirn blickt frontal in die Kamera. Sein Foto und Ausweis sind vom „Gebietskommissar in Dubno“ mit dem Reichsadler und Hakenkreuz gestempelt. Als der Ausweis am 1. Dezember 1941 ausgestellt wird, ist die Stadt Dubno seit fünf Monaten von den Deutschen be setzt. Sie gehört zum neu geschaffenen Reichskommissariat Ukraine, in dem seit Beginn der Besatzung auch der Mas senmord an der jüdischen Bevölkerung verübt wird – durch SS-Einsatzgruppen und Angehörige der deutschen Polizei, unterstützt von Wehrmacht und lokalen Hilfspolizisten.

Leo Scheuer, hier „Lew“ genannt, gehörte der Ausweis. Einige Personalien sind angegeben: Er ist 1909 geboren, Arzt von Beruf und wird als „Jude“ klassifiziert. In der Kleinstadt „Warkowitschi“ (eigentlich Warkowicze) hielt er sich auf und arbeitete im Krankenhaus. Unter dem Foto findet sich die Unterschrift des 32-Jährigen – mit Dok tortitel. Der Ausweis berech tigte Scheuer zum Verlassen des jüdischen Ghettos, das die Deutschen im September 1941 errichtet und mit einem Bretterzaun und Stacheldraht abgeriegelt hatten.

Geboren wurde Leo Scheuer in Podgórze bei

Ausweis

Identity card for Leo Scheuer, Dubno, 1 December 1941

EN “He said he didn’t have much time left and didn’t want the things thrown away,” reads a note in the files of the JMB Archives, dated October 2000, after the museum’s first con tact with Leo Scheuer. The 91-year-old had responded to a public appeal by the newly opened Jewish Museum Berlin for donations of photographs, letters, and diaries. Scheuer’s wife Irma had recently died and they had no children. The note also specifies that he had documents from a ghetto in Ukraine, “e.g. a pass.” The gift was finalized the following year, ensu ring that Leo Scheuer’s story is now preserved for posterity.

An Identity Card

A young man with a receding hairline looks straight at the camera. His photo and the card itself bear a stamp from the “Territorial Commissar in Dubno,” emblazoned with the German Imperial eagle and a swastika. When the identity card was issued on 1 December 1941, the city of Dubno had been occupied by the Germans for five months. There, in the newly established Reichskommissariat Ukraine (Ukrainian Reich Commission), mass murders of the Jewish population had already been underway since the beginning of the oc cupation, committed by SS death squads (Einsatzgruppen) and members of the German police with the support of the Wehrmacht and local police officers.

54 15 Monate, 10 Tage
für Leo Scheuer, Dubno, 1. Dezember 1941

Krakau, das damals zu Österreichisch-Schlesien gehörte. Während seiner Kindheit zog die Familie nach Freistadt (Fryštát), das nach dem Ersten Weltkrieg zur Tschechoslo wakei kam. Er studierte an der Universität in Prag Medizin und wurde 1935 promoviert. Da ihm in der Tschechoslowakei eine Arbeitserlaubnis verweigert wurde, ging er nach Polen, wo er im Jüdischen Krankenhaus in Krakau arbeitete. Dann griff die deutsche Wehrmacht Polen an. Scheuer war militärpflichtig. Auf dem Weg, sich für die polnische Armee registrieren zu lassen, gelangte er in den östlichen Landesteil, der infolge des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes von sowjeti schen Truppen besetzt wurde. Er entging dadurch dem Mi litärdienst und ließ sich in Warkowicze als Arzt nieder. Fünf Tage nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion wurde die Kleinstadt am 27. Juni 1941 von den Deutschen besetzt. Leo Scheuer wurde Augenzeuge der Misshandlung von Jü dinnen und Juden und von ersten Erschießungen.

15 Monate und 10 Tage

Darüber, wie Leo Scheuer die Schoa überlebte, geben mehrere eidesstattliche Erklärungen Auskunft, die in der Nachkriegszeit entstanden sind und zur Sammlung des JMB gehören. Außerdem legte er in einem Videointerview mit der USC Shoah Foundation im September 2000 Zeugnis ab.

Am 3. Oktober 1942 wurde das Ghetto in Warkowicze von einer SS-Einheit liquidiert, die Gefangenen wurden er schossen. Doch Leo Scheuer gelang die Flucht. In seiner Not suchte er außerhalb des Ghettos ehemalige Patientinnen und Patienten auf: „Ich ging zu ihnen, nicht ein einziger half mir.“ Er versteckte sich daraufhin im Wald. Am 28. Oktober bat er den ukrainischen Bauern und ehemaligen Patienten Michail W. Melniczuk, der mit seiner Ehefrau und Tochter einige Kilometer entfernt wohnte, um Hilfe. „Er wollte mich nicht aufnehmen. Er hat Angst gehabt.“ Scheuer flehte ihn an: „Vergrab mich. […] So, wie man einen Toten vergräbt.“ Darauf ließ sich Melniczuk ein und versteckte Scheuer in einem Erd loch auf seinem Grundstück. Über einen schmalen Schacht, durch den etwas Luft und Licht hereinfiel, versorgten ihn die Melniczuks mit Essen und Trinken. Die Höhle war so eng, dass Leo Scheuer nur in gekrümmter Haltung ausharren konnte. „Ohne die Möglichkeit zu haben, mich zu setzen oder mich zu wenden. Ich spreche nicht von der hygienischen Seite. Sie war furchtbar… Also 15 Monate und 10 Tage war ich be graben.“ Er war in ständiger Angst, kämpfte mit Atemnot. Es gab keine Möglichkeit, sich zu waschen oder die Kleidung zu

The identity card belonged to Leo Scheuer, listed here under the name “Lew.” Some of his personal details are specified: he was born in 1909, was a doctor by profes sion, and was classified as a “Jew.” He resided in the town of “Warkowitschi” (better known at the time by its Polish name, Warkowicze, now called Varkovychi), where he worked at the hospital. Beneath the photo, the 32-year-old signed his name—including his title as a doctor. The identity card au thorized Scheuer to leave the Jewish ghetto that the German forces had established in 1941 and sealed off with wooden fencing and barbed wire.

Leo Scheuer was born in the town of Podgórze, near Kraków, which at the time was part of Austrian Silesia. During his childhood, his family moved to the town of Freistadt, which became part of Czechoslovakia after the First World War and is now spelled Fryštát. He studied medicine at the University of Prague and completed his doctorate in 1935. Denied a work permit in Czechoslovakia, he moved to Poland, where he worked for the Jewish Hospital in Kraków. Then the German Wehrmacht invaded Poland. Scheuer was required to serve in the military. On his way to enlist in the Polish army, he found himself in the eastern part of the country, which was occu pied by Soviet troops as a result of the German-Soviet NonAggression Pact. He thus avoided military service and settled in Warkowicze, where he worked as a doctor. On 27 June 1941, five days after attacking the Soviet Union, the Germans occupied the town. Leo Scheuer saw Jews’ mistreatment and witnessed some of the first shootings firsthand.

15 Months and 10 Days

Leo Scheuer’s Holocaust survival story is documented in several sworn testimonies from the postwar period, now in the JMB collection. He also testified to his experience in a video interview with the USC Shoah Foundation in September 2000.

On 3 October 1942, the ghetto in Warkowicze was liquidated by an SS unit: the prisoners were shot. But Leo Scheuer managed to escape. In his time of urgent need, he approached former patients outside the ghetto: “I went to them. Not one of them helped me.” He then hid in the forest. On October 28, he asked the Ukrainian farmer and former patient Mikhail W. Melniczuk, who lived several miles away with his wife and daughter, for help. “He didn’t want to take me in. He was afraid.” Scheuer begged him: “Hide me. [...] Like a body in a grave.” Melniczuk agreed and hid Scheuer in a hole in the ground on his property. Through a small opening,

55 15 Months, 10 Days

wechseln. Das einzige, was er bei sich hatte, waren sein Pass, eine Pferdedecke und ein Lehrbuch für Anatomie.

Am 9. Februar 1944 endete die Zeit im Versteck. Als die Rote Armee heranrückte und Scheuer russische Stimmen hörte, machte er sich mit Klopfzeichen im gefro renen Boden bemerkbar. Mit einem kleinen Spatel erweiterte er den Schacht – bis er von den Rotarmisten herausgezogen werden konnte. Er war auf 35 Kilogramm abgemagert und konnte nicht mehr gehen. Die russischen Soldaten wollten ihn erschießen, weil sie ihn für einen Spion hielten. Er habe „unheimliches Glück“ gehabt, erzählt Scheuer, der sonst äußerlich emotionslos berichtet, in seinem Interview unter Tränen. Denn der Hauptmann der sowjetischen Einheit war selbst Jude – und verschonte ihn.

„Meine Lebensretter“

Mit den Melniczuks blieb Leo Scheuer Zeit seines Le bens in Verbindung. Ein Foto zeigt das Ehepaar zusammen mit den beiden Kindern. Auf der Rückseite findet sich eine freundschaftliche Widmung an Leo Scheuer von 1950. Dar unter notierte dieser: „Meine Lebensretter“. In den 1980erJahren setzte er sich dafür ein, sie von der israelischen Ge denkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ ehren zu lassen. Doch die Melniczuks lehnten dies zunächst ab, da sie ihre damalige Hilfe als etwas Selbstverständli ches betrachteten und zugleich fürchteten, dass ein Kontakt nach Israel nachteilig für sie sein könnte. Aber 1989 wurden Michail W. und Jelisaveta N. Melniczuk schließlich doch als „Gerechte“ anerkannt.

which let in a little air and light, the Melniczuk family provided him with food and water. The hollow was so small that Leo Scheuer could only crouch in a contorted position. “Without being able to sit or turn over, to say nothing of hygienic mat ters. It was terrible. I was buried like that for fifteen months and ten days.” He was in constant fear, struggling to breathe. It was impossible to bathe or change clothes. All he had in the hole were his passport, a horse blanket, and an anatomy textbook.

His time in hiding ended on 9 February 1944. When the Red Army approached and Scheuer heard voices speaking Russian, he made his presence known by knocking on the frozen ground. Using a small scoop, he expanded the opening until the Red Army soldiers were able to lift him out. He was emaciated—weighing only 77 pounds—and could not walk. Taking him for a spy, the Russian soldiers wanted to shoot him. But he was “bizarrely lucky,” says Scheuer in his in terview, tears breaking the overall composure of his testi mony. The captain of the Soviet unit was Jewish himself—and spared him from such a fate.

“My Life-Savers”

Leo Scheuer kept in contact with the Melniczuk family his entire life. A photo shows the husband and wife with their two children. On the back, they have written a friendly inscrip tion to Leo Scheuer, dated 1950. Beneath it, he wrote: “my life-savers.” In the 1980s, he endeavored to have the Israeli memorial Yad Vashem honor them as “Righteous Among the Nations.” But the Melniczuks initially declined the honor: they felt that helping him had gone without saying, but also feared that associating with Israel could backfire for them. In 1989, however, Mikhail W. and Yelisaveta N. Melniczuk finally re ceived that recognition for their righteous deeds.

By then, Leo Scheuer was living in Berlin. Until 1965 he had served as a doctor in the Soviet Union; his final post there was at a sanatorium in Crimea. Through painstaking ef forts, his sister Rosa managed to arrange for her brother and sister-in-law to join her in East Germany, where she was living. Until his retirement in 1972, he worked as a specialist doctor in Buch, a neighborhood on Berlin’s outskirts. Leo Scheuer died in 2002 and was laid to rest in the Jewish cemetery in Weissensee along with his wife.

Topographische Anatomie dringlicher Operationen von Julius Tandler, Verlag Julius Springer, 118 Seiten, Berlin, 1923 Topographische Anatomie dringlicher Operationen (Topographical Anatomy of Emergency Operations) by Julius Tandler, 118 pages, Berlin: Verlag Julius Springer, 1923

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10 Tage
Monate,
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Zu diesem Zeitpunkt lebte Leo Scheuer schon in Berlin. Bis 1965 war er als Arzt in der Sowjetunion tätig gewesen, zuletzt in einem Sanatorium auf der Krim. Seine Schwester Rosa, die in der DDR wohnte, erreichte nach langjährigen Bemühungen, dass ihr Bruder und ihre Schwägerin dorthin übersiedeln konnten. Bis zu seinem Ruhestand 1972 arbeitete er als Facharzt in Berlin-Buch. 2002 starb Leo Scheuer. Wie zuvor schon seine Frau fand auch er seine letzte Ruhe auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee.

Jörg Waßmer ist Historiker und hat in den Gedenk stätten Sachsenhausen und Yad Vashem gearbeitet. Seit 2010 inventarisiert er im Archiv des Jüdischen Museums Berlin Familiensammlungen und Nachlässe.

Jörg Waßmer is a historian and has worked in the Sachsenhausen and Yad Vashem memorials. Since 2010 he has been inventorying family collections and estates in the Jewish Museum’s Berlin archive.

Michail und Jelisaveta Melniczuk mit Tochter und Sohn, ca. 1950

Die rückseitige Widmung lautet: „Als Andenken / von den Melniczuks / für ihre Freunde Scheuer.“ Mikhail and Yelisaveta Melniczuk with their daughter and son, around 1950 The inscription on the back reads: “As a memento / from the Melniczuks / for their friends the Scheuers.”

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REALITY AND YET MORE

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Text Inka Bertz

Zwölf Bewohner und Bewohnerinnen des Schtetls zeigt uns Issachar Ber Ryback in seiner Mappe „Jüdische Typen aus der Ukraine“. Issachar Ber Ryback shows us twelve shtetl residents in his portfolio Jüdische Typen aus der Ukraine .

Jünglingsporträt Portrait of a Young Man 57,6 x 42,2 cm

59 Jerusalem on the Pruth

DE „Was wir erblicken,“ schrieb Max Osborn, Kunst kritiker der Vossischen Zeitung, in seinem Vorwort zu Ry backs Mappe, „sind Männer und Frauen aus jüdischen Dör fern und kleinen Städten – ist Wirklichkeit, und doch mehr als Wirklichkeit. Persönliches Menschentum, zu typischer Geltung erhoben. Individuen, die sofort zu Repräsentanten ihrer ganzen Schicht, ihrer ganzen Gesellschaft aufsteigen."

Mehr noch als eine Soziologie des Schtetls zeigen uns die zwölf Por träts eine idealisierte jüdi sche Lebenswelt und geben Einblick in die ästhetischen Konzepte der jüdischen Avantgarde in Kyjiw.

Issachar Ber Ryback, 1897 in Jelisawetgrad (Eli sabethgrad, später Sinow jewsk, Kirowo, Kirowohrad, heute Kropywnyzkyi) ge boren, war einer der jü dischen Künstler, die um 1920 aus dem durch Revo lution und Bürgerkrieg zer fallenen Zarenreich nach Berlin gekommen waren. Die Mappe war seine letzte Veröffentlichung, bevor er Deutschland im Dezember 1924 wieder verließ. Nach einer einjährigen Rückkehr in die Sowjetunion siedelte er 1926 nach Paris über.

Entstanden waren die Zeichnungen, folgt man der Datierung des Künstlers, schon 1915. Zu dieser Zeit – vor der kurzen staatlichen Eigen ständigkeit als Ukrainische Volksrepublik 1917 – beschäftigten sich viele Kunstschaffende der Region mit der Bedeutung des Nationalen in der Kunst. Viele nichtjüdische ukrainische Künstler und Künstlerinnen fanden ihre kulturelle Besonderheit in Landschaft und Geschichte: der Weite der Steppe und den

EN “What we are looking at here,” wrote Max Osborn, an art critic for the Vossische Zeitung in his introduction to Ry back’s portfolio, “are men and women from Jewish villages and small towns: this is reality, and yet more than reality. Personal humanity elevated to archetypical significance. Individuals who instantly rise to become representatives of their entire stratum, their entire society.”

More than just a sociology of the shtetl, the twelve portraits show us an idealized Jewish Lebenswelt and give us a glimpse into the aesthetic concepts of the Jewish avant-garde in Kyiv.

Issachar Ber Ryback, born in the city of Yelizavet grad (since known as Zino vievsk, Kirovo, Kirovohrad, and now Kropyvnytskyi) in 1897, was one of various Jewish artists who left be hind the former Russian Empire, roiled by revolu tion and civil war, for Berlin in and around 1920. The portfolio was his last pub lication in Germany before he moved on in December 1924. After returning to the Soviet Union for a year, he resettled in Paris in 1926.

According to the artist, he made the portraits in 1915. At the time, prior to the country’s short-lived indepen dence as the Ukrainian People’s Republic in 1917, many artists in the region were grappling with the role of national identity in art. Non-Jewish Ukrainian artists found cultural specificity in their history and landscape: the Cossacks and the ex panses of the steppe. In Jewish memory, however, these mo tifs were associated with the devastating pogroms of 1648.

Mädchenporträt

Portrait of a Young Girl 56,6 x 41,1 cm Wirklichkeit, und doch mehr

als Wirklichkeit 60

Kosaken. In der jüdischen Erinnerung waren diese Motive jedoch mit den verheerenden Pogromen von 1648 verbunden. Jüdischukrainische Kunstschaffende suchten nach eigenen Quellen und fanden sie in traditionellen Lebens- und Bilderwelten. Auch die „Jüdischen Typen“ entstanden in diesem Kontext –vermutlich auf oder nach den Reisen, die Ryback zum Teil gemeinsam mit El Lissitzy (1890–1941) in die Schtetl nördlich von Kyjiw unternommen hatte.

Dass es Ryback dabei keineswegs um eine schlichte Darstellung des Schtetls ging, sondern um eine eigene jüdische Bildsprache, wird im Manifest „Die Wege der jüdischen Malerei“ deutlich, das er 1919 zusammen mit Boris Aronson (1898–1980) veröffentlichte: Die beiden Künstler kritisieren darin die realistischen Maler des 19. Jahrhunderts und argu mentieren, dass sich die nationale Spezifik durch die ästhetische Form und nicht den dargestellten Inhalt aus drücken müsse: „Wenn ein jüdischer Künstler sein na tionales Material ausdrücken will, muss er die kulturellen Werte auswählen, die sein Volk in vielen Generationen geschaffen hat.“ Das Mate rial, so ihr Argument, finde er in der Volkskunst, die Werte lägen in der „künst lerischen Energie“. Im Fall der jüdischen Künstler neige diese der „gegenstandslosen Malerei“ zu. Darin sehen die Autoren nichts weniger als eine historisch-ästhetische Mission: „Der erschöpfte Westen, der alle Formen des plastischen Handwerks ausgereizt und der Meisterschaft die Ekstase der Lebensgefühle geopfert hat, braucht neue Künstler, jüdische Künstler, die auf asiatische Weise formenverliebt sind.“

Hence Jewish-Ukrainian artists sought their own sources of inspiration, which they found in traditional lifestyles and imagery. Ryback’s Jewish Types (or Jewish Characters) like wise emerged from this context, presumably during or after the trips the artist took to shtetls north of Kyiv, sometimes accompanied by El Lissitzy (1890–1941).

Issachar Ryback did not set out merely to portray the shtetl. In fact, he was after a uniquely Jewish visual language, as is clear from the manifesto The Pathways of Jewish Painting, which he co-wrote with Boris Aronson (1898–1980) and published in 1919. The two artists crit icized the realistic painters of the nineteenth century, arguing that national spec ificity must be expressed through aesthetic form and not the depicted content: “If a Jewish artist wants to ex press his national material, he must choose the cultural values that his people has created over the course of many generations.” The artist will find the raw material in folk art, they contend, while the values were to be found in the “artistic energy.” In the case of Jewish artists, these values tend toward “non-fig urative painting.” The artists saw this as no less than a his torical-aesthetic mission: “The exhausted West, which has depleted all forms of pictorial craft and has sacrificed the ecstasy of life’s feelings to mastery, needs new artists, Jewish artists, who adore form in the Asian manner.”

The stylized portraits in the portfolio Jewish Types from Ukraine follow these ideas. Max Osborn writes: “The young

The Teacher 56,7
Reality and Yet More Than Reality 61
Der Schullehrer
x 42 cm

Die stilisierten Porträts der Mappe „Jüdische Typen aus der Ukraine“ folgen diesen Vorstellungen, und so schreibt Max Osborn: „Die jungen jüdischen Künstler des einstigen Zarenreiches teilten mit ihren russischen Kollegen den un abschätzbaren Vorzug, dessen sich ihre Altersgenossen in keinem anderen Lande erfreuten: daß sie die modernen Ausdrucksformen, zu denen Stimmung und Gefühl der Zeit drängten, organisch aus einer vorhandenen, im Erd reich wurzelnden, großar tigen Volkskunst entwickeln konnten. Rybacks gesamtes Schaffen bis heute gehört zu den interessantesten Doku menten dieser unvergleich lichen Erscheinung.“

Im Kontext seiner Berliner Arbeiten betrachtet, stehen Rybacks Porträts der Mappe vor allem mit der Serie „Schtetl: Majn chorewer hejm – a gedechenisch“ (Schtetl: meiner zerstörten Heimat – ein Andenken) im Zusammenhang. Deren 30 Blätter beginnen mit dem Bild der Synagoge von Mohilew und enden, nach burlesk-humorvollen Szenen aus dem Leben des Stetl, mit dem Bild des Friedhofs und zwei Rab binerporträts, die an die „Jüdischen Typen“ denken lassen. Ryback zeichnet hier nicht allein Erinnerungen an das Schtetl. Seine Wortwahl für den Titel – „gedechenisch“ (statt des üblicheren, aus dem hebräischen Verb für „er innern“ abgeleiteten Begriffs „sichroijnes“) und der Dativ („meiner zerstörten Heimat“) – unterstreichen, zusammen mit der Gestaltung des Umschlags in Anlehnung an Ornamente auf Grabsteinen, den Memorialcharakter der hier zusammen gestellten Zeichnungen.

Jewish artists from the former Czarist Empire share with their Russian colleagues an inestimable asset enjoyed by none of their contemporaries in other countries: their ability to develop the modern forms of expression, compelled by the mood and feeling of the times, organically out of a superb existing folk art [tradition] rooted in the soil. Ryback’s entire body of work remains among the most interesting documents of this unpar alleled phenomenon.”

Seen in the context of his Berlin work, Ryback’s por traits from the portfolio are most closely linked to his series Shtetl: Mayn Khorever Heym— A Gedekhenish (Shtetl: My Destroyed Home—A Recol lection). Its 30 pages begin with an drawing of the syn agogue in Mogilev, continue though humorous burlesque scenes of shtetl life, and conclude with a drawing of a cemetery and two portraits of rabbis reminiscent of the Jewish Types . Ryback is not simply drawing memories of the shtetl here. His use of the word gedekhenish (recollection) instead of the more common Hebrewderived word zikhroynes (memory), and the choice of the dative case (dedicating the art to the “destroyed home”), together with a cover design based on gravestone ornaments, all emphasize the memorial nature of the assembled drawings.

This sets Jewish Types from Ukraine apart from similar series by other artists from those years. For example, Marc Chagall’s portfolio My Life, published by Paul Cassirer in 1922, is more of a poetic and fantastical romanticization of the shtetl than a description of it. Hermann Struck’s illustrations for

Die Schwiegermutter The Mother-in-Law 56,5 x 42,4 cm Wirklichkeit, und doch mehr als Wirklichkeit 62

Dies unterscheidet die „Jüdischen Typen aus der Ukraine“ von ähnlichen Serien anderer Künstler aus diesen Jahren: Chagalls Mappe „Mein Leben“, 1922 bei Paul Cassirer erschienen, ist mehr poetisch-phantastische Verklärung als Beschreibung des Schtetl. Hermann Strucks Illustrationen zu Arnold Zweigs 1920 erschienenem Text „Das Ostjüdische Antlitz“ ließen zwar die von Ryback und Aronson geforderte Tendenz zur Abstraktion ver missen, doch knüpften sie an ähnliche Darstellungskon ventionen an wie Rybacks Porträtmappe: nämlich an die in der damaligen ethnologi schen Forschung meist als Fotografie üblichen „Typen porträts“, wie sie auch auf den Expeditionen der Jüdischen Historiografischen und Ethno grafischen Gesellschaft ange fertigt wurden.

Anders als die Serie „Schtetl“, deren Titel allen des Jiddisch Unkundigen ver schlossen blieb, wandte sich Ryback mit seiner Mappe „Jü dische Typen aus der Ukraine“ bewusst an ein deutschspra chiges Publikum durch die Wahl der Sprache und das Vor wort des bekannten Kunsthis torikers Max Osborn. Vor allem aber hatte die Bildgattung des „Typenporträts“ im deutschjüdischen Kontext bereits eine Tradition. Ryback reagierte damit auch visuell auf sein Publikum, auf dessen Sehgewohnheiten und Erwartungen.

Unter den vielen Veröffentlichungen, die die jüdischen Migrant*innen aus Osteuropa in Berlin produzierten, ist die Mappe „Jüdische Typen aus der Ukraine“ eine der wenigen, in denen beide Orte aufscheinen: der der Entstehung und der der Publikation der Porträts.

Arnold Zweig’s 1920 essay Das Ostjüdische Antlitz (The East ern[-European] Jewish Countenance) are missing the trend toward abstraction promoted by Ryback and Aronson, but draw on some of the same portrayal conventions as Ryback’s portfolio of portraits: specifically, the “type portraits” common in ethnological research at the time, usually in the form of pho tographs. Such portraits were also taken on expeditions by the Jewish Society for History and Ethnography.

Unlike the Shtetl series, whose very title left nonYiddish-speakers in the dark, Ryback’s portfolio Jewish Types from Ukraine deliberately catered to a German-speaking audience with its choice of language and the inclusion of a preface by the prominent German art historian. Most importantly, “type portraits” were already a traditional genre in the German-Jewish context. Hence, Ryback was also responding visually to his audience’s viewing habits and expectations.

Among the many pub lications released by Jewish migrants from Eastern Europe in Berlin, the portfolio Jewish Types from Ukraine is one of few to specify both locations: where the portraits were made, and where they were published.

Inka Bertz ist Kuratorin für Kunst am Jüdischen Museum Berlin. Sie ist Autorin zahlreicher Beiträge zur jüdischen Kunst- und Kulturgeschichte.

Inka Bertz is curator of art at the Jewish Museum Ber lin. She is the author of numerous articles on Jewish art and cultural history.

Alle Kreidelithografien auf den Seiten 58–62 entstammen der Serie „Jüdische Typen aus der Ukraine“ von Issachar Ber Ryback (1897–1935), erschienen in Berlin im Verlag Essem, 1924. Erworben 1985 aus Berliner Privatbesitz; Ankauf mit Mitteln der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin. All chalk lithographs from the series Jüdische Typen aus der Ukraine on pages 58–62 by Issachar Ber Ryback (1897–1935), were first published in Berlin: Verlag Essem, 1924. Acquired in 1985 from private ownership; purchased with funds provided by Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin.

Der Row, aus der Serie „Schtetl: Majn chorewer hejm – a gedechenisch“, Issachar Ber Ryback, Verlag Schweln, 1923 The Rov, from the series: Shtetl: Mayn Khorever Heym—A Gedekhenish, Issachar Ber Ryback, Berlin: Schweln, 1923

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Reality and Yet More Than Reality

Portrait de Dédie, Amedeo Modigliani (1884–1920), Öl auf Leinwand, 1918 Portrait de Dédie, Amedeo Modigliani (1884–1920), oil on canvas, 1918

Ausstellungsvorschau 64
AUSSTELLUNGSVORSCHAU UPCOMING EXHIBITION
PARIS MAGNÉTIQUE 1905–1940 25.1. – 1.5.2023

Lou Albert-Lasard, Vladimir Baranoff-Rossiné, Walter Bondy, Marianne Breslauer, MARC CHAGALL , Béla Czóbel, SONIA DELAUNAY, Isaac Dobrinsky, Henri Epstein, Adolphe Feder, OTTO FREUNDLICH , Leopold Gottlieb, Samuel Granowsky, Alice Halicka, Henri Hayden, Philippe Hosiasson, Léon Indenbaum, Georges Kars, André Kertész, Michel Kikoïne, MOISE KISLING, Pinchus Kremègne, Ergy Landau, Rudolf Levy, JACQUES LIPCHITZ , Morice Lipsi, Mané-Katz, Louis Marcoussis, MAREVNA , Jacob Macznik, AMEDEO MODIGLIANI , Simone Mondzain, Mela Muter, CHANA ORLOFF, Jules Pascin, Alfred Reth, ISSACHAR BER RYBACK , Marcel Slodki, CHAIM SOUTINE , Marek Szwarc, Oser Warszawski, Albert Weisgerber, Leon Weissberg, Ossip Zadkine, Eugène Zak

Paris war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Anziehungspunkt für Künstler*innen aus der ganzen Welt. Den jüdischen Künstler*innen der Pariser Schule, die vor dem Ersten Weltkrieg in die französische Metropole kamen, widmet das JMB zum ersten Mal in Deutschland eine große Ausstellung. Die Schau zeichnet mit rund 120 Werken in zehn Kapiteln nach, wie migrantische, oft marginalisierte Positionen als Teil der Pariser Avantgarde das heutige Verständnis der westlichen Moderne prägten.

Der Begriff École de Paris bezeichnet weder eine Kunstschule noch einen stilisti schen Rahmen. 1925 vom Journalisten und Kunstkritiker André Warnod geprägt, steht er für eine kosmopolitische Kunstszene, die sich gegen nationalistische und fremdenfeindliche Stimmen behauptete. In der Ausstellung entsteht ein leben diges Bild von jüdisch-europäischer Vielfalt, zusammengesetzt aus vertrauten Namen wie Marc Chagall oder Amedeo Modigliani und weniger bekannten Künstler*innen wie Chana Orloff und Sonia Delaunay. Die École de Paris galt als Vorbild, Maßstab, Orientierungs- und Vergleichspunkt für künstlerische Entwicklungen weltweit, zog Künstler*innen in ihr Zentrum und verwandelte die französische Hauptstadt in PARIS MAGNÉTIQUE.

Die Berliner Präsentation ist eine Fortsetzung der Ausstellung „Chagall, Modigliani, Soutine... Paris pour École, 1905–1940“, die von Juni bis November 2021 im mahJ – Musée d'Art et d'Histoire du Judaïsme in Paris gezeigt wurde.

Der Katalog zur Ausstellung erscheint im Wienand Verlag, Köln. 276 Seiten, 203 Abbildungen, ca. 30 Euro.

In the first half of the twentieth century, Paris attracted artists from all over the world. The JMB is presenting the first major exhibition in Germany dedicated to the Jewish artists of the Paris School who came to the French metropolis before the First World War. Showing approximately 120 works in ten sections, it traces how émigré and often marginalized positions in the Parisian avant-garde have shaped today’s understanding of Western modernism.

The term École de Paris does not describe an art school or a stylistic approach. Coined in 1925 by the journalist and art critic André Warnod, it stands for a cosmopolitan art scene that prevailed over nationalist and xenophobic attitudes. The exhibition presents a vivid picture of Jewish European diversity with familiar names such as Marc Chagall and Amedeo Modigliani as well as lesserknown artists such as Chana Orloff and Sonia Delaunay. The École de Paris was regarded as an ideal, a standard, and a beacon for artistic developments worldwide. It drew artists into its orbit and transformed the French capital into PARIS MAGNÉTIQUE .

The Berlin exhibition is the continuation of Chagall, Modigliani, Soutine . . . Paris pour École, 1905—1940, which ran at the mahJ—Musée d’Art et d’Histoire du Judaïsme in Paris from June to November 2021.

Upcoming Exhibition 65

Meine Emigration

Eine Fotoserie von Rita Ostrovska My Emigration

A Series of Photographs by Rita Ostrovska

Sein Land zu verlassen, um in einem anderen ein neues Zuhause zu finden, ist ein sehr großer Schritt. Nicht oft kommt es vor, dass Personen diese wichtige Entscheidung in ihrem Leben fotografisch dokumentieren. Leaving one’s native country behind

Theresia Ziehe

Rita Ostrovskas Emigration führte sie zusammen mit ihrem Mann und Sohn im September 2001 aus der Ukraine nach Deutschland. Zuvor, im März 2001, waren bereits ihre Eltern nach Deutschland ausgewandert. In ihrer Serie „Meine Emi gration“ fotografiert die damals 48-Jährige die Reisevorbereitungen in ihrer Wohnung in Kyjiw kurz vor der Abreise, die Reise selbst und den Neuanfang in Kassel, zunächst im Wohn heim und später in der ersten gemieteten Wohnung. Dass Rita Ostrovska bereits zuvor als Fotografin und Künstlerin tätig war, half ihr sicherlich, diesen Prozess zu visualisieren. Ihre Fotografien halten das Erlebte in sehr persönlichen Bildern fest. Ostrovska beobachtet von innen heraus. Auch wenn dieser subjektive Zugang das Fotografieren erschwerte, setzte sie mit der Kamera ihre aufkommenden Gefühle in Szene.

In der Fotografischen Sammlung des Jüdischen Museums Berlin ist die Serie mit insgesamt 19 Motiven vertreten. Die Silbergelatineabzüge fertigte Rita Ostrovska selbst an – auf einem speziellen Fotopapier aus der Ukraine. Wir zeigen die Serie in der Dauerausstellung digital im Segment „Nach 1945“. Eine Auswahl.

In September 2001, Rita Ostrovska’s emigration led her, along with her husband and son, from Ukraine to Germany. Her parents had already emigrated to Germany that March. In her series My Emigration, the then 48-year-old photographer took pictures of her preparations in her apartment in Kyiv shortly before their departure, the preparations to leave, the journey itself, and their new start in Kassel, first at a resi dential facility for immigrants and later in their first rented apartment. Her professional background as a photographer and artist surely helped her to depict this process visually. Ostrovska’s photographs immortalize her experiences in very personal images. She observes from the inside out. Although this subjective approach made it difficult for her to take the pictures, she used the camera to set the stage for her feel ings as they emerged. The series is represented with a total of 19 images in the Jewish Museum Berlin’s Photographic Collection. Rita Ostrovska developed the silver gelatin prints herself—on special photo graphic paper from Ukraine. In our core exhibition the series is presented digitally in the segment After 1945 . A selection.

66
for a new home in another is a momentous step, but very rarely is this life decision documented by an emigrant-photographer.
Text

Unsere Unterlagen Kyjiw, Januar 2000

Bereits 1997 beantragte Rita Ostrovska die Ausreise aus der Ukraine und die Einreise nach Deutschland – für ihre Eltern, ihren Sohn, ihren Mann und sich selbst. Die Fotografie zeigt die dafür be nötigten Dokumente, die sie im Januar 2000 einreichte.

Our Documents Kyiv, January 2000

In 1997, Rita Ostrovska applied for visas for her par ents, her son, her husband, and herself to leave Ukraine and immigrate to Germany. The photograph shows the documents she needed to do so, which she submitted in January 2000.

Eltern auf den Reisetaschen Kyjiw, 24. März 2001

Rita Ostrovskas Eltern sitzen auf bereits gepackten Reise taschen in ihrer Wohnung. Am darauffolgenden Tag verließen sie die Ukraine und reisten mit dem Flugzeug von Kyjiw nach Frankfurt am Main. In Kassel bezogen sie ein kleines Zimmer in einem Wohnheim.

Parents on Their Bags

Kyiv, 24 March 2001

Rita Ostrovska’s parents in their apartment, sitting on their packed duffel bags. The following day, they left Ukraine, flying from Kyiv to Frankfurt am Main. In Kassel, they occupied a small room in a residential facility for immigrants.

68 Meine Emigration
Rita Ostrovska, Meine Emigration, Fotografien auf Silbergelatinepapier, Kyjiw und Kassel, 2000–2002 Rita Ostrovska, My Emigration, photographs on silver gelatin paper, Kyiv and Kassel, 2000–2002

Vor der Abreise Kyjiw, 8. September 2001

Rita Ostrovska am Tag vor der Ausreise nach Deutsch land. Durch ihr verschwom menes Selbstbildnis fragt die Fotografin nach ihrer eigenen Anwesenheit oder Abwe senheit in der Situation. Die Emigration war eine wichtige Lebensentscheidung, die vieles veränderte.

Before Departure Kyiv, 8 September 2001

Rita Ostrovska on the day before her departure to Germany. With her blurry self-portrait, the photographer is questioning her own presence or absence in the situation. Emigrating was an important life decision that brought many changes.

Porträt vor der Abreise: Alek, Sascha und ich Kyjiw, 9. September 2001

Rita Ostrovska mit ihrem Mann und Sohn in der ge meinsamen Wohnung kurz vor ihrer Abreise. Für sie sind die Bilder aus dieser Zeit „wie eine Brücke zwischen dem Leben in der Ukraine und dem in Deutschland“.

Portrait before Departure: Alek, Sascha, and Me Kyiv, 9 September 2001

Rita Ostrovska with her husband and son at their apartment shortly before their departure. For her, the images from that time are “like a bridge between life in Ukraine and life in Germany.”

69 My Emigration

Der letzte Blick auf das Haus Kyjiw, 9. September 2001

Rita Ostrovska hält ihren letzten Blick vor der Ausreise auf das Wohnhaus in Kyjiw mit ihrer Kamera fest. Mit ihrer Familie lebte sie viele Jahre in diesem Haus.

The Last View of the House Kyiv, 9 September 2001

Rita Ostrovska captures her last view of the house in Kyiv with her camera before leav ing the country. She lived in this house with her family for many years.

Auf dem Weg 10. September 2001

Auf der Fahrt von der Ukraine nach Deutschland. In Kassel kamen Rita Ostrovska, ihr Mann und ihr Sohn in der Nacht auf den 11. September 2001 an.

On The Road 10 September 2001

On the way from Ukraine to Germany. In Kassel, Rita Ostrovska, her husband and son arrived in the night of 11 September 2001.

70 Meine Emigration

Wohnheim, ich Kassel, Oktober 2001

Rita Ostrovska „Ich bin Photographin, und ich bin Jüdin. Deshalb beschäftigt mich schon immer das Schicksal meines Volkes...“ schrieb Rita Ostrovska zu ihrer Serie „Juden in der Ukraine“, Fotografien 1989/1994. 1953 in Kyjiw geboren, studierte sie an der Hochschule für Kinoingenieure in Leningrad (St. Petersburg), Fotojournalismus in Kyjiw und anschlie ßend Visuelle Kommunikation an der Kunsthochschule Kassel. Die Themen Weggehen und Ankommen, die die jüdische Geschichte seit jeher prägen, thematisiert sie in ihren Fotografien, so auch in der hier gezeigten Serie „Meine Emigration“. Rita Ostrovska lebt und arbeitet seit 2001 in Kassel.

Rita Ostrovska “I am a photographer, and I am Jewish. That’s why the fate of my people has always preoccupied me...” wrote Rita Ostrovska about her series Jews in Ukraine , photographs 1989/1994. Born in Kyiv in 1953, she studied at the Leningrad (St. Petersburg) College of Cinema Engineers and photojournalism in Kyiv, later Visual Communication at the Kassel Art Academy. The themes of departure and arrival, which have always character ized Jewish history, are the subject of her photographs, including the series My Emigration shown here. Rita Ostrovska has lived and worked in Kassel since 2001.

Residential Facility, Me Kassel, October 2001

Selbstporträt im Zimmer des Wohnheims. In der Anfangs zeit in Kassel fiel es Rita Ostrovska schwer zu fotografieren, trotzdem zwang sie sich dazu, um das Erlebte in persönlichen Bildern fest zuhalten.

Self-portrait in the family’s room at the residential facility. In the early days in Kassel, Rita Ostrovska found it difficult to take pictures, yet she forced herself to do so in order to preserve what she experienced.

Meine Familie –Bei uns Zuhause Kassel, 15. Juli 2002

Rita Ostrovska mit ihrem Mann und Sohn und ihren Eltern in der ersten Wohnung in Kassel, in der sie und ihr Mann bis heute leben. Auch wenn Rita Ostrovska bereits im Jahr 2000 mit ihrer Foto serie begann, fertigte sie erst zwei Jahre später Abzüge davon an. Das dafür benutzte Fotopapier stammte aus der Ukraine. „Das ist keine digitale Fotografie. Man wusste nicht, was das Ergebnis sein wird, man musste abwarten.“ Bis heute sind ihr die Aufnah men sehr nah.

My Family—At Home Kassel, 15 July 2002

Rita Ostrovska with her husband, son and parents in their first apartment in Kassel, where she and her husband still live today. Although Rita Ostrovska began her photo series as early as 2000, she did not make prints of them until two years later. The photographic paper she used came from Ukraine. “This is not digital photography. You didn't know what the result would be, you had to wait and see.“ To this day, the photographs are very close to her.

71 My Emigration

Kinderwelt des Jüdischen Museums Berlin

Die

LAUSCHER AUF!

Ein Hör- und Suchspiel LISTEN UP!

An audio search game

Alle sind schon an Bord – nein, ein Passagier fehlt noch! Mit dem Audio-Suchspiel „Lauscher Auf!“ können Kinder ab 7 Jahren aktiv bei der Suche mithelfen. Das Rätsel führt zu den einzelnen Tieren auf und neben der Arche. Hinweise kommen von der Küchen-Crew, dem Sport-Team oder der ANOHA-Band! Auf unserer Website gibt es alle Gespräche der Tiere an Bord zum Nachhören und die Ausgangsgeschichte „Warum Noah die Taube wählte“ des jiddisch-sprachigen Autors Isaac Baschewis Singer als Vorlesevideo in deutscher und englischer Sprache: www.anoha.de

Everyone is already on board—no, wait! One passenger is missing! Playing the audio search game “Listen Up!,” children age 7 and older can actively help in the search. The puzzle leads to individual animals on and near the ark. Clues come from the kitchen crew, the sports team, and the ANOHA band!

On our website you can listen to all the animals’ conversations on board. Also, you can have the story our game is based on read to you in a video in German and English: “Why Noah Chose the Dove,” written by the Yiddish-speaking author Isaac Bashevis Singer: www.anoha.de/en

ARCHITEKTUR, KUNST UND PHILOSOPHIE

Öffentliche Führung für Erwachsene ARCHITECTURE,

ART, AND PHILOSOPHY

Public tour for adults

Immersiv, innovativ und nachhaltig: Tauchen Sie ein in die Geschichte von der Arche Noah und gehen Sie an Bord der riesigen Arche aus Holz, die das renommierte US-amerikanische Büro Olson Kundig, Architecture and Design, entworfen hat. Wir laden Sie ein, altbekannte Gegenstände an über 150 künstlerisch gestalteten Tierskulpturen zu entdecken und im Zeichen des Regenbogens über das Leben zu philosophieren.

Samstags und sonntags, jeweils 14:45 Uhr 60 Minuten 6 Euro, ermäßigt 3 Euro Immersive, innovative, and sustainable: Dive into the story of Noah’s Ark and go aboard a huge wooden ark designed by the renowned American firm Olson Kundig Architecture and Design. We invite you to discover long familiar objects on more than 150 artistically designed animal sculptures and to philosophize about life under the sign of the rainbow. Saturdays and Sundays at 2:45 pm 60 minutes 6 euros, reduced 3 euros Buchung Registration Tickets: www.shop.jmberlin.de T +49 (0)30 259 93 305 visit@anoha.de

ANOHA 72
#ANOHA

FÜHRUNGEN GUIDED TOURS

HIGHLIGHTS DER DAUERAUSSTELLUNG HIGHLIGHTS OF THE CORE EXHIBITION

Der Rundgang bietet anhand ausgewählter Stationen und Objekte einen ersten Überblick über die Ausstellung, ihre fünf historischen Kapitel und acht Räume zu Kunst und Kultur. Die Ausstellung setzt dabei einen Fokus auf die Zeit des Nationalsozialismus und nach 1945.

Öffentliche Führung auf Deutsch jeden Sonntag, 11 Uhr 90 Minuten Eintritt kostenlos, Führungsgebühr 6 Euro, ermäßigt 3 Euro

The tour offers you a first overview of the ex hibition, its five historical chapters and eight thematic rooms, focusing on the Nazi era and the years after 1945.

Public guided tour in English every Saturday 3 pm 90 minutes

Admission free, fee for guided tour 6 euros, reduced 3 euros

ANGEBOTE AUF UKRAINISCH UND RUSSISCH

Führungen durch die Dauerausstellung sind auf Anfrage auch in ukrainischer oder rus sischer Sprache buchbar. Kontaktieren Sie hierzu unseren Besucherservice: visit@jmberlin.de oder +49 (0)30 259 93 305

TOURS IN UKRAINIAN AND RUSSIAN

Guided tours of the core exhibition can also be booked in Ukrainian or Russian on request. Please contact our visitor service for further information: visit@jmberlin.de or +49 (0)30 259 93 305.

JUDENTUM ERKLINGT

Klang- und Tastführung für Blinde und Sehbehinderte

JUDAISM ALOUD

An audible and tactile tour for blind and visually impaired visitors

Der Rundgang durch die Dauerausstellung thematisiert Religion und Rituale anhand unterschiedlicher Sinneseindrücke. Die Besucher*innen ertasten oder riechen Objekte und hören Klangstationen, die sie die vielstimmige jüdische Kultur und Religion erfahren lassen. Die Führung ist auf Deutsch, Englisch und Italienisch buchbar. 2 Stunden

Termin nach Absprache

The tour of the core exhibition considers religion and rituals through a variety of sensory stimuli. Visitors can touch or smell objects and listen in at audio stations, which give a tangible experience of the polyphony of Jewish culture and religion.

The guided tour is available in English, German and Italian.

2 hours

Tour by appointment

Buchung Registration

T +49 (0)30 259 93 305 visit@jmberlin.de

Führungen 73
#JMBERLIN

Tiefenschärfe Historical Depth

Ein Interview mit Daniel Wildmann An Interview with Daniel Wildmann

Dr. Daniel Wildmann ist seit 15. September 2022 Programmleiter der W. Michael Blumenthal Akademie des Jüdischen Museums Berlin. Der Historiker und Filmwissenschaftler war nach Stationen in Zürich, Berlin und Jerusalem sechs Jahre Direktor des Leo Baeck Institute London, das deutsch-jüdische Geschichte und Kultur erforscht, sowie Senior Lecturer für Geschichte an der Queen Mary University of London. Dr. Daniel Wildmann has been program director of the W. Michael Blumenthal Academy at the Jewish Museum Berlin since 15 September 2022. After career stops in Zurich, Berlin, and Jerusalem, the historian and film scholar spent six years directing the Leo Baeck Institute London, which is dedicated to the study of German-Jewish history and culture, and served as Senior Lecturer in History at Queen Mary University of London.

Mir geht es bei allen Themen, die uns in Zukunft beschäftigen, um historische Tiefenschärfe.

Herzlich willkommen, lieber Herr Wildmann, in Berlin! Sie sind soeben aus London hierhergezogen. Was werden Sie vermissen?

Die britische Lebensweise, insbesondere die britische Ironie! Und garantiert auch die für London so spezielle, elegante und sehr spieleri sche Mode für Männer.

Und auf was freuen Sie sich in Berlin?

Auf die Arbeit im Museum, vor allem im historischen Kontext Berlin. Und auf die vielen neuen Kolleginnen und Kollegen.

Sie waren viele Jahre am Leo Baeck Institute London tätig. Welche Parallelen sehen Sie zur Akademie des JMB? Und welche Unterschiede?

Das Leo Baeck Institute ist eine wissenschaftliche Insti tution, die sich vor allem mit

Texten beschäftigt. In einem Museum geht es vor allem um Objekte. Was die beiden Einrichtungen gemeinsam haben, ist, dass beide Geschichten erzählen. Und beide wollen neue Perspek tiven auf deutsch-jüdische Geschichte öffnen. Aber eben in einer sehr unter schiedlichen Sprache! Ein anderer ganz wichtiger Unterschied ist das politi sche und kulturelle System, in dem beide Institutionen verankert sind: Großbritan nien ist eine Monarchie mit imperialer Vergangenheit, was wir besonders in den vergangenen Tagen an den bemerkenswerten Trauer feiern zu Ehren der ver storbenen Queen gesehen haben. Hier in Deutschland wird unser Staatsoberhaupt über ein parlamentarisches Verfahren gewählt, und unsere Vergangenheit ist ganz anders geprägt.

Sie sind Historiker und Filmwissenschaftler, Berlin ist mit der Berlinale

Welcome to Berlin, Mr. Wildmann! You just moved here from London. What will you miss the most?

The British way of life, especially British irony! And definitely the elegant and playful men’s fashion, a London specialty.

And what are you looking forward to in Berlin?

The work in the museum, especially in the context of Berlin’s rich history, and my many new colleagues.

You worked at the Leo Baeck Institute London for several years. What parallels do you see with the JMB Academy? What are the differences?

The Leo Baeck Institute is a research institution and deals primarily with texts. A museum is mostly focused on objects. What the two institutions have in common

is that they both tell stories and seek to provide new perspectives on GermanJewish history. But in a very different language! Another very important dif ference is the political and cultural system in which the two institutions are rooted. Great Britain is a monarchy with an imperial past, which recently became quite evident with the remarkable funeral processions for the late Queen. Here in Ger many, our head of state is elected in a parliamentary process, and our past has been influenced by other factors.

You’re a historian and film scholar. Berlin, host to the Berlinale, is an important film city. Will this influence your work as the director of the academy?

Visual language has always influenced my work, whether in Zurich, Berlin, Jerusalem, or London. I used to work

76 Daniel Wildmann

auch eine bedeutende Filmstadt. Wird das Einfluss haben auf Ihre Arbeit als Leiter der Akademie?

Visuelle Sprache hatte schon immer Einfluss auf meine Arbeit, egal wo ich tätig war – in Zürich, in Berlin, in Jerusalem, in London. Früher habe ich in der Filmindustrie gearbeitet, schon damals war die Berli nale eines meiner absoluten Lieblings-Filmfestivals. Und jetzt ist es sehr schön, wie der so nah dran zu sein.

Wie sieht ein gelungenes Akademieprogramm aus?

Wenn wir mit unseren Projekten, mit unseren Programmen neue Perspek tiven auf deutsch-jüdische Gegenwart und Geschichte sichtbar machen können, wenn wir unser Publikum zum Nachdenken anregen –dann ist es gelungen. Mir geht es bei allen Themen, die uns in Zukunft beschäf tigen werden, um histo rische Tiefenschärfe, um Einblicke, die wir mit Bildern, mit Texten, im Dialog und in der Diskussion erreichen und vermitteln wollen.

Museen verstehen sich als Orte der Partizipation.

Dazu gehört auch eine Institution wie die Akademie. Wie verstehen Sie die Schnittstellen von akademischer Welt und einer allgemeinen Öffentlichkeit?

Das ist letztlich eine Frage der Übersetzung. Es geht darum, Themen und Zu sammenhänge zu über setzen, und zwar ohne dass sie an Genauigkeit und Komplexität verlieren, und so, dass sie unser Publikum erreichen. Vielleicht speist sich diese Sicht aus meinen Erfahrungen in London.

Dort habe ich einem breiten, sehr heterogenen Publikum deutsch-jüdische Geschich te und Kultur vermittelt. Und das funktionierte nur über kulturelles Übersetzen.

Haben Sie ein Lieblingsmuseum?

Ich bin erst seit zehn Tagen hier in Berlin! Aber in London ist es die National Gallery. Warum? Ich inter essiere mich sehr für Licht, und wenn man etwas über Licht und seine Wahrneh mung lernen möchte, dann muss man in die National Gallery gehen. Sie bietet für fast jedes Jahrhundert neue Antworten.

in the film industry and the Berlinale was one of my ab solute favorite film festivals. It’s nice to be close to the action once again.

What makes for a successful academy program?

If our programs and projects provide new perspectives on German-Jewish past and present and encourage our audiences to think, then they’ve been successful. As regards the many topics that will keep us busy in the future, what’s important for me is historical depth and insight, which we’ll achieve and communicate through images, texts, dialog, and discussions.

Museums see them selves as places of participation. This also applies to an institution like the academy. How do the interfaces between academia and the public work?

Ultimately, it’s a question of translation. It’s about trans lating topics and contexts without losing accuracy or complexity. You have to do so in such a way so as to reach your audience. This

perspective comes from my experiences in London, where I presented Ger man-Jewish history and culture to a broad, highly heterogeneous audience. Cultural translation made that possible.

Do you have a favorite museum?

I’ve only been in Berlin for ten days! But in London, it’s the National Gallery. The reason is that I’m very interested in light, and if you want to learn about light and how it’s perceived, you have to visit the National Gallery. It provides new insights for almost every century.

What can an institution like the academy achieve, particularly in times of crisis?

As Dan Diner once put it, German-Jewish history and culture can be seen as a seismograph of European history—an indicator of its positive and negative swings. The German-Jewish perspective can help us better understand crises. Our program “Ukraine in Context” also provides a historically informed view of

What’s important for me is historical depth and insight.

Interview
DE EN

Was kann eine Institution wie die Akademie gerade in krisenhaften Zeiten leisten?

Deutsch-jüdische Geschich te und Kultur lässt sich, wie Dan Diner das einmal for muliert hat, als Seismograf europäischer Geschichte betrachten. Ein Seismograf, der die Schwankungen zum Guten oder zum Schlech ten in der europäischen Geschichte anzeigt. Durch diese Perspektive können

Zentrum des öffentlichen Interesses. Das ist in Groß britannien und der Schweiz anders. In diesen beiden Ländern führten die jüdi schen Gemeinschaften und ihre Institutionen lange ein Leben im Background des politischen Geschehens. Das hat sich aber in jün gerer Zeit geändert: In der Schweiz ausgelöst durch die Debatte um die soge nannten nachrichtenlosen Vermögen Ende der 1990erJahre. In Großbritannien war

Unser Programm

wir Krisen besser verstehen. Auch unser Programm „Ukraine im Kontext“ möchte durch die jüdisch-ukraini schen Perspektiven, die wir vorstellen, einen historisch geschärften Blick auf den gegenwärtigen Krieg in der Ukraine ermöglichen.

Was sind die bedeutendsten Unterschiede jüdischen Lebens in Großbritannien, in der Schweiz und in Deutschland?

In Deutschland stehen jüdische Gemeinschaf ten und ihre Institutionen sehr oft und regelmäßig im

der Auslöser für eine Ver änderung die Erfahrung des massiven Antisemitismus in der Labour Party unter ihrem früheren Vorsitzenden Jeremy Corbyn. Diese Krisenmomente ha ben die jüdischen Gemein schaften und Institutionen in den beiden Ländern ge zwungen, ihren Platz in der Gesellschaft neu zu über denken. Und seither sind sie im politischen Leben viel aktiver und viel präsenter.

Wir danken für das Gespräch!

a crisis—the current war in Ukraine—and uses JewishUkrainian perspectives to do so.

What are the most important differences between Jewish life in Great Britain, Switzer land, and Germany?

In Germany, Jewish commu nities and their institutions are often the focus of public attention. This is different in Great Britain and Switzer land, where the Jewish communities and their institutions long remained in the background of political life. But that has changed in recent years. In Switzerland, this change was brought about by the debate on

dormant assets in the late 1990s; in Great Britain, by the experience of rampant antisemitism in the Labour Party under its former leader Jeremy Corbyn. These moments of crisis forced the Jewish commu nities and their institutions in both countries to rethink their place in society, and they have been much more active and present in politi cal life ever since.

Thank you for the interview!

Das Interview führten / The interview was conducted by Marie Naumann & Katharina Wulffius

78 Daniel Wildmann
Our program Ukraine in Context also provides a historically informed view of the current war.
DE EN
„Ukraine im Kontext“ möchte durch die jüdisch-ukrainischen Perspektiven einen historisch geschärften Blick auf den gegenwärtigen Krieg ermöglichen.

Eine Karte, Tausende Geschichten

Jewish Places , das Community-Projekt zu jüdi schen Orten in Deutschland, ist im September vier Jahre alt geworden – Mazal Tov! Wir bedanken uns herzlich bei allen engagierten Nutzer*innen, die in ihrer Freizeit jüdische Orte auf die Jewish Places -Karte bringen, und das Wissen zu jüdi scher Lokalgeschichte sichtbar machen. Kennen Sie vielleicht auch einen jüdischen Ort in Ihrer Um gebung? Haben Sie Lust, ein weiteres „Puzzleteil“ der Karte hinzuzufügen?

Machen Sie mit, und werden Sie Teil der Jewish Places -Community! Wir freuen uns auf Sie!

One map – thousands of stories

Jewish Places , a community project devoted to local Jewish life in Germany, celebrated its fourth birthday in September – mazel tov! We would like to thank all the dedicated users who added Jewish places to the map in their spare time and helped visualize knowledge about local Jewish history. Do you know a Jewish place in your neighborhood? Would you like to pro vide another piece of the puzzle by adding it to the map?

Then join us and become part of the Jewish Places community. We look forward to hearing from you!

Was ein jüdischer Ort ist, erfahren Sie unter: What is a Jewish place? Find out here:

Impressum / Credits

© 2022, Stiftung Jüdisches Museum Berlin

Herausgeberin / Publisher: Stiftung Jüdisches Museum Berlin Direktion / Director: Hetty Berg Redaktion / Editors: Marie Naumann, Katharina Wulffius E-Mail: publikationen@jmberlin.de

Übersetzungen ins Englische / English Translations: Adam Blauhut (S./pp. 3, 6-12, 14-21, 41, 45, 46-51, 65, 74-78), Allison Brown (S./pp. 34-39, 42, 72), Jake Schneider (S./pp. 43, 52-63, 66-71)

Übersetzungen ins Deutsche / German Translations: aus dem Englischen Sylvia Zirden (S./pp. 24-31), aus dem Russischen Alexandra Berlina (S./p. 44)

Layout: Eggers + Diaper, Potsdam

Druck /Printed by: Druckhaus Sportflieger, Berlin

ISSN: 2195-7002

Gefördert durch / Sponsored by

Stiftung Jüdisches Museum Berlin Lindenstraße 9-14, 10969 Berlin Tel.: +49 (0)30 25993 300 www.jmberlin.de info@jmberlin.de

Falls Rechte (auch) bei anderen liegen sollten, werden die Inhaber*innen gebeten, sich zu melden. / Should rights (also) lie with others, please inform the publisher.

Wir danken allen Autor*innen und Mitwirkenden! / With many thanks to all authors and staff!

Wir danken Marina Chernivsky für Bereitstellung und Redaktion des Textes auf S. 44/45. Marina Chernivsky führte das Interview, das dem Text zugrunde liegt. / We thank Marina Chernivsky for providing and editing the text on pp. 44/45. Marina Chernivsky conducted the interview on which the text is based.

Titel / Cover

Jüdisches Museum Berlin, Gestaltung: Hanno Dannenfeldt

Bildnachweis / Copyright

S./pp. 3, 40, 72, 75: JMB, photo: Yves Sucksdorff S./pp. 7-13: JMB, photos: Stephan Pramme S./p. 16: Public Domain / Gemeinfrei S./p. 17: picture alliance / NurPhoto / Oleksandr Rupeta

jewish-places.de

S./p. 21: picture alliance / EPA / ATEF SAFADI S./p. 23: JMB, photos: Stephan Pramme S./pp. 24, 31: Ivan Baan photographer, courtesy of the the Babyn Yar Holocaust Memorial Center (BYHMC)

S. /p. 26: Hamburger Institut für Sozialforschung S./p. 28: Manuel Herz

S./p. 32 (oben/top): Etgar Keret, photo: Lielle Sand S./p. 32 (unten/bottom): Etgar Keret S./p. 33: Les Films du Poisson S./p. 34: ullstein bild – brandstaetter images S./p. 36: Yad Vashem S./p. 37: The National Museum of Romanian History

S./p. 39: Anja Kühner, www.duesseldorfentdecken.de S./p. 42: picture alliance / Franz Neumayr / picturedesk.com S./p. 43: © Laurence Chaperon S./p. 45: photo: Daria Mangubi S./p. 47: photo: Benjamin Jenak, Veto Magazin S./p. 52: JMB, photo: Jens Ziehe, Schenkung von Leo Scheuer

S./pp. 54, 56: JMB, photo: Jörg Waßmer, Schenkung von Leo Scheuer

S./p. 57: JMB, Schenkung von Leo Scheuer S./p. 58-63: JMB, Ankauf aus Mitteln der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin S./p. 64: © Centre Pompidou, Musée national d’art moderne, donation de M. et Mme André Lefèvre en 1952, inv. AM 3974 P S./pp. 67-71: JMB, Schenkung von Rita Ostrovska S./p. 73: JMB

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