Jewish Museum Berlin: JMB Journal Nr. 23

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JMB JOURNAL

2022 N 23



ISSN 2195 - 7002

TRADITION

RITUALE IN PANDEMIE-ZEITEN / RITUALS IN PANDEMIC TIMES TRADITION & WANDEL / TRADITION & CHANGE – MOSES MENDELSSOHN JÜDISCHE FEMINISTINNEN / JEWISH FEMINISTS – INTERVIEWS RADIKALE TRADITION / RADICAL TRADITION – ERINNERUNG / REMEMBRANCE


Bunt, laut, fordernd und umkämpft

Albert Nr. 7 Ein Heft zur Demokratie und ihrer Erforschung Spitzenforschung aus Berlin zu Fragen, die die Welt bewegen: Albert, das Journal der Einstein Stiftung, liefert Erkenntnisse aus spannenden Bereichen der Berliner Wissenschaft. So einfach wie möglich – aber nie einfacher.

Für die Wissenschaft. Für die Welt. Aus Berlin. einsteinfoundation.de / albert


Editorial Editorial

Hetty Berg Direktorin des Jüdischen Museums Berlin Director of the Jewish Museum Berlin

DE Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und die damit verbundenen Ereignisse von Zerstörung, Verlust, Tod und Vertreibung erschüttern uns zutiefst. Kaum vorstellbar, dass wir uns noch vor wenigen Wochen für diese Ausgabe des JMB Journals mit dem Schwerpunkt Tradition und Wandel mit ganz anderen Themen beschäftigten: Wir haben dazu aufgerufen, Fotografien und Videos vom ersten Pessach-Fest unter Corona-Bedingungen einzusenden, wir haben eine Ausstellung zu Moses Mendelssohn vorbereitet, der seinerzeit eine treibende Kraft für Wandel war. In seinem Essay über den berühmten Aufklärer erklärt Yaniv Feller, dass Veränderung nicht unbedingt einen Traditionsbruch verlangt. Der Künstler Typex, dessen Graphic Novel „Moische“ gerade erschien, spricht über seinen neuen und erfrischenden Zugang zum „Berliner Sokrates“. Elad Lapidot fragt, ob ein Judentum ohne Tradition überhaupt vorstellbar ist, und Michal Friedlander schreibt über Objekte, die mit dem Gedenken an den Holocaust ­verbunden sind. Brigitte Sion erklärt, wie der Feminismus jüdische Rituale umgestaltet, während Debora Antmann die Frage stellt, wie eine Verbindung zum Judentum auch ohne Religion möglich ist. Unsere neue Sammlungsdirektorin Julia Friedrich spricht im Interview darüber, wie wichtig es ist, Objekte Geschichten erzählen zu lassen. Doch heute, da täglich tausende Flüchtlinge aus der Ukraine in Berlin ankommen, stellen sich andere Fragen: Was bedeutet der Krieg für die ukrainischen, deutschen und jüdischen Gemeinden in Deutschland? Wie wirkt sich die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg auf die jüdische und nichtjüdische Gesellschaft aus? Welche konkreten Schritte können unternommen werden, um den Flüchtlingen zu helfen? Wir wissen, dass 45% der Jüdinnen und Juden in Deutschland ukrainische Wurzeln haben. Wir haben unsere Partnerschaft mit jüdischen Organisationen in Deutschland, die Flüchtlinge psychologisch und materiell unterstützen, intensiviert. Wir haben uns an Künstler*innen gewandt, die die ukrainische Kultur hier zum Leuchten bringen. Wir betrachten unsere Sammlungen, Ausstellungen und kulturellen Veranstaltungen mit anderen Augen. Die Ukraine ist uns nahe, nicht nur geografisch und nicht nur in Zeiten des Krieges. Sie ist Teil des vielfältigen jüdischen Erbes und der jüdischen Tradition, Teil des kulturellen Reichtums in Deutschland. Unsere Gedanken sind bei den Menschen in und aus der Ukraine und bei ihren Familien und Freund*innen in aller Welt.

EN Russia’s war of aggression against Ukraine and the destruction, loss, and displacement that ensued has shocked us deeply. It is hard to imagine that just a few weeks ago other matters dominated our work on this issue of the JMB Journal focusing on tradition and change: We sent out a call for pictures and videos documenting the first Passover during the pandemic, and we finalized our temporary exhibition on Enlightenment philosopher Moses Mendelssohn, who was a driving force for change in his time. In his essay on Mendelssohn, Yaniv Feller explains that change does not ­necessarily involve a break with tradition, while the artist Typex discusses his refreshing approach to the philosopher in his new graphic novel Moishe. Elad Lapidot asks whether it is possible to imagine a Judaism without tradition, and Michal Friedlander writes about objects linked to Holocaust remembrance. Brigitte Sion describes how feminism has reshaped Jewish rituals, while Debora Antmann wonders how a connection to Judaism is possible beyond religion. Julia Friedrich points out how important it is to let objects tell stories. But today, as thousands of Ukrainian refugees arrive daily in Berlin, other questions arise: What does the war mean for Ukrainian, German, and Jewish communities in Germany? How does the memory of World War II affect Jewish and non-Jewish society? What concrete steps can be taken to help refugees? We know that 45% of Jews in Germany have Ukrainian roots. We have thus strengthened our partnership with Jewish organizations in Germany that provide psychological and material support to Ukrainian refugees. We have reached out to artists with a Ukrainian background who make their culture shine in Germany. We are also looking at our collections, exhibitions, and cultural events with a different eye. Ukraine is very close to us, not only geographically, and not only in a time of war. It is part of the diverse Jewish heritage and tradition in Germany, and part of the diversity of Germany. Our thoughts are with the people in and from Ukraine and with their families and friends around the world. Ihre / Yours,

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STILE WECHSELN, FREUNDE BLEIBEN

Ludwig Yehuda Wolpert, Chanukka-Leuchter, Frankfurt/Main 1924, Foto: Roman März

Statt Konventionen folgte Ludwig Yehuda Wolpert einer neuen Richtung und läutete mit dem ersten modernen ChanukkaLeuchter einen Wandel in Form und Stil von Zeremonialobjekten ein. Traditionen und Stilbrüche sichtbar zu machen haben sich auch die FREUNDE DES JMB zur Aufgabe gemacht – und den Wolpert-Leuchter kurzerhand für das JMB finanziert. Als erste dieser Art prägt die Chanukka-Lampe von Wolpert die Formensprache moderner Judaica und ist daher zentraler Teil der Sammlung des JMB.

Ob mit Ankäufen oder der Restaurierung von Objekten, mit der Förderung von Ausstellungen oder Bildungsprogrammen, die FREUNDE DES JMB unterstützen das Museum seit seiner Gründung. Sie setzen sich für das Haus und dessen Werte, für eine offene und tolerante Gesellschaft ein. Wollen auch Sie sich starkmachen – für das JMB? Werden Sie Mitglied bei den FREUNDEN DES JÜDISCHEN MUSEUMS BERLIN unter www.jmberlin.de/freunde

Die Freunde des Jüdischen Museums Berlin Lindenstraße 9-14 10969 Berlin 030-259 93 436 freunde@jmberlin.de

jmberlin.de/freunde


Inhalt Content

5 Editorial Editorial

48 Elad Lapidot Radikale Tradition Radical Tradition

8 Seder for One: Pessach in Zeiten von Corona Seder for One: Passover in Times of Corona 16 Ausstellungen & Begleitprogramm Exhibitions & Program

56 Michal Friedlander Wie man nie vergisst How to Never Forget 8

18 Yaniv Feller Tradition & Aufklärung Tradition & Enlightenment 26 Interview Interview Typex Nach einer wahren Geschichte Based on a True Story

68 ANOHA & ON.TOUR

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70 Sammlung Collection Maske? Cool! Masks? Cool! 74 Vorschau Preview

34 Kultursommer 2022 Cultural Summer 2022

75 Impressum Credits

36 Brigitte Sion Jüdische Feministinnen: Eine treibende Kraft Jewish Feminists: A Driving Force 42 Im Netz Online

62 Interview Interview Julia Friedrich Vom Sammeln und Erzählen Objects and Stories

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44 Debora Antmann Was bleibt ohne Religion? What’s Left Without Religion?

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Seder for One Was unterscheidet diese Nacht von allen ­anderen Nächten? Why Is This Night Different From All Other Nights? Text

Tamar Lewinsky

Der Seder-Abend, mit dem das Pessach-Fest beginnt, wird traditionell im Kreis von Familie und Freund*innen gefeiert. Gemeinsam liest man die Haggada, in der die Geschichte vom Auszug aus Ägypten erzählt wird, und isst symbolische Speisen. Das jüngste Kind singt das ­ „Ma nischtana“ – Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten? Vor zwei Jahren erlebte Deutschland den ersten Lockdown in der Covid-19-Pandemie, Pessach 5780 stand vor der Tür und es war klar, dass an diesem Seder-Abend vieles anders sein würde. Wie fand dieser erste jüdische Feiertag unter Corona-Bedingungen in Familien statt? Das Jüdische Museum Berlin hat sich an das Publikum gewandt und um persönliche Fotografien, Filme, Objekte und Materialien gebeten, die diese Ausnahmesituation dokumentieren. The seder evening that marks the beginning of Passover is t­ raditionally celebrated together with family and friends. Participants read the Haggadah together, which tells the story of the exodus from Egypt, and they eat symbolic foods. The youngest at the table sings the Ma Nishtana— Why is this night different from all other nights? Two years ago, Germany had its first lockdown during the Covid-19 pandemic. Passover 5780 was coming up and it was clear that there was a lot on this seder that was different. How did families celebrate this first Jewish holiday under Covid conditions? The Jewish Museum Berlin turned to its audience requesting personal photographs, films, objects, and other materials that document this unique situation.

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Uns erreichten Einsendungen, die vor allem zeigen, mit welchen Mitteln versucht wurde, trotz räumlicher Distanz den Feiertag gemeinsam zu begehen. Den wohl prominentesten Platz neben dem Seder-Teller nimmt auf vielen Bildern der Laptop ein, auf dem die abwesenden Gäste zugeschaltet sind. Was vor zwei Jahren noch Neuland war, ist uns heute vertraut. Die Digitalisierung hat mittlerweile auch in verschiedene Bereiche der jüdischen Religionspraxis Einzug gehalten: Gottesdienste werden aus (fast) leeren Synagogen gestreamt, Chanukka-Lichter digital entzündet, auf Zoom wird gemeinsam Tora gelernt oder verkleidet Purim gefeiert. Rabbiner*innen weltweit haben sich damit auseinandergesetzt, welche Ausnahmeregelungen getroffen werden können. Mittlerweile gibt es ganze Sammlungen von halachischen Diskussionen und Reaktionen rund um die Corona-Krise. Die Technologie ermöglicht, dass transnationale Familien trotz geographischer Distanzen traditionell im Familienkreis begangene Feiertage wie den Seder-Abend gemeinsam pflegen können. Sie kann aber nicht verhindern, dass durch social distancing das gemeinsame Gebet und Ritual als Kern der jüdischen Praxis empfindlich getroffen ist. Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten? Ob sich jüdische Traditionen durch die globale Krise dauerhaft verändern, wird die Zukunft zeigen.

Seite 9: Hannas erster Seder „Diese Aufnahme haben wir bei uns zu Hause in ­Berlin gemacht. Es war unser erstes Selbstporträt als Familie anlässlich des ersten PessachFestes, das unsere Tochter Hanna erlebt hat. Es zeigt uns, während wir per Video Call mit unserer Familie sprechen, die über die ganze Welt verstreut lebt. Wir leben schon immer weit weg von unseren Verwandten, typisch für die Diaspora. Die Möglichkeit, sie auf dem Bildschirm zu sehen, insbesondere da unsere Tochter zwischen den Chagim so schnell gewachsen ist, macht die Entfernung und die Sehnsucht wirklich etwas leichter zu ertragen.“ Jasmine Bakalarz, Künstlerin Hanna's First Seder “The photo of all three of us was taken in our home in Berlin. It was our first family self-portrait during the first Passover with our daughter. We are on a video call with our family around the world. We have lived away from our families forever, in true diaspora manner. The possibility of seeing our families on a screen, especially as our baby was changing rapidly between each chag, has really made the distance and longing a bit easier to cope with.” Jasmine Bakalarz, Visual Artist

The submissions we received showed above all the means people used in trying to celebrate together despite an ­actual physical distance. On many photos, a laptop took the most prominent position next to the seder plate, displaying the faces of the guests participating in absentia. What was uncharted territory two years ago is very familiar to us today. The digitalization has meanwhile also found its place in various areas of Jewish religious practice. Services are streamed from (almost) empty synagogues, Hanukkah menorahs are lit digitally, and the Purim celebration in costume as well as Torah study takes place via Zoom. Rabbis around the world have dealt with this situation to determine what exceptional arrangements can be made. In the meantime there are entire collections of halakhic discourse and reactions to the Covid crisis. Technology has made it possible for transnational families to celebrate holidays such as the Passover seder in the circle of the family despite geographic distances, therefore keeping traditions alive. But it cannot prevent the fact that social distancing has dealt a heavy blow to the common prayer and rituals at the core of Jewish religious practice. Why is this night different from all other nights? Will Jewish traditions experience lasting change through the global ­crisis? Only the future will tell.

Seder im Garten Mit ausreichend Distanz, frischer Luft, Zoom-Konferenz nach Israel und getrennten Tischen begingen drei Familien einen israelisch-­ französisch-schweizerischen Seder im Garten ihres Hauses in Berlin. „Es war der seltsamste, aber auch der kreativste und entspannteste Seder, den ich jemals hatte“, kommentierte eine der Teilnehmerinnen. Seder in the Yard With adequate distance, fresh air, a Zoom c ­ onference with Israel, and ­separate tables, three families c ­ onducted an Israeli-French-Swiss seder in the yard of their Berlin home.

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Seder for One


“It was the strangest but also the most creative and relaxed Seder I ever had,” commented one of the participants. Seder for One Karen Engel stellte mit ihren Töchtern ein kleines Kochbuch mit dem Titel „Seder for One“ zusammen. Die Rezepte sind koscher, weitgehend vegan, parwe und vegetarisch. Im Vorwort heißt es: „Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt feiern Pessach mit Familie und Freunden. In diesem Jahr des Coronavirus’ sind Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt zuhause in Quarantäne, viele alleine mit einer kleinen Seder for One

Familie. Trotzdem können wir unseren eigenen kleinen Pessach-Seder besonders und bedeutsam machen.“ Seder for One Karen Engel and her daughters put together a little cookbook titled Seder for One. The recipes are kosher, mostly vegan, pareve, and vegetarian. The introduction reads: “Jews all over the world celebrate Passover with family and friends. In this year of the coronavirus, Jews all over the world are quarantined at home, many alone with a small family. But nevertheless, we can still make our own little Passover seder special and meaningful.”

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Das Geschenk „Wir haben in diesem Jahr den Seder bei uns zuhause in Berlin als Kleinfamilie gefeiert – mein Mann, mein Sohn (8), meine Tochter (5) und ich. Per Skype waren meine Schwiegereltern in Berlin und mein Schwager in Israel dabei. Wir haben abwechselnd aus der ­Haggada ­vorgelesen wie immer. Nur bei den Liedern war es manchmal schwieriger wegen der kleinen Zeitverzögerung. Auf dem Bild zeigt mein Sohn sein Geschenk, das er bekommen hat, weil er den Afikoman gefunden hat, in den Computer.“ Hannah Bloch Markowski The Gift “This year, we held our seder at home as a small family: myself, my husband, my son (8), and my daughter (5). My parents-in-law in Berlin and my brother-in-law in Israel were there via Skype. We took turns reading from the Haggadah as always. It was just a bit harder with the songs sometimes because of the slight time lag. In the photo, my son is presenting the gift he got for finding the afikoman.” Hannah Bloch Markowski Pessach to go Chabad Berlin stellte 1500 Pessach-Pakete mit M ­ azze, Wein, gefilte Fisch und anderen Lebensmitteln für bedürftige Mitglieder zur Verfügung. Freiwillige Helfer*innen packten die Pakete und fuhren sie persönlich aus, um vor allem ältere Menschen und Risikogruppen nicht unnötig nach draußen zu schicken. Passover to Go This year, Chabad Berlin put together 1500 Passover packs with matzo, gefilte fish and other groceries for members in need. Volunteers put together the parcels and delivered them personally to save seniors and at-risk groups from having to leave the house unnecessarily.

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Seder for One


Tradition bewahren „Das Sommersemester 2020 verbrachte ich an der American Academy in Berlin. Zu Pessach befand ich mich dort nicht nur ohne Familie, sondern auch als einzige jüdische Fellow. Mein ,Seder for One‘ war ein Versuch, etwas von der jüdischen Tradition zu wahren. Kevin Jerome Everson war ebenfalls Fellow. Er ist ein wunderbarer Fotograf und beschäftigt sich mit dem Leben schwarzer Arbeiter

Seder for One

im amerikanischen Mittleren Westen und dem Erbe der Sklaverei in den USA.“ Liliane Weissberg, Christopher H. Browne Distinguished Professor in Arts and Science, University of Pennsylvania Maintaining the Tradition “I spent the summer semester of 2020 at the American Academy in Berlin. On Passover, I found myself there not only without any family, but as the only Jewish fellow. My ‘Seder for One’ was an

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attempt to maintain something of the Jewish tradition. Kevin Jerome Everson was also a fellow. He’s a wonderful photographer and filmmaker. He is exploring the lives of Black workers in the American Midwest and the legacy of slavery in the US.” Liliane Weissberg, Christopher H. Browne Distinguished Professor in Arts and Science, University of Pennsylvania


Seder mit Puppe „Mit der Puppe spielt meine kleine Enkelin immer, wenn sie bei mir ist. ,Ihr Baby‘ durfte beim Seder das Tablet halten, über das ich meine Familie sehen konnte. Nach dem Essen haben wir die Zoom-Übertragung abgestellt und ich saß alleine vor meinen Kerzen. Da wurde ich traurig; meine Kinder hatten wenigstens ihre Familien.“ Osnat Ramaty Seder with a Doll “My little granddaughter plays with this doll whenever

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she comes to visit. ‘Her baby’ was allowed to hold the tablet during the seder, so I could see my family. After dinner we stopped the Zoom transmission and I sat there alone in front of my candles. That made me sad; my children at least had their families.” Osnat Ramaty Seder via Zoom „Omer, mein kleiner Neffe, wurde ein paar Wochen vor Pessach geboren. Wir werden ihm später von seinem ersten Pessach-Fest als virtuelles Erlebnis berichten. Obwohl ich seit acht Jahren in Deutschland lebe, war es das erste Mal, dass ich Pessach nicht mit meiner Familie in Israel verbracht habe. Über Zoom haben wir den Feiertag dann doch zusammen feiern können.“ Sapir Hubermann Seder via Zoom “Omer, my baby nephew, was born a few weeks before Passover. When he’s older we’ll tell him about his first Passover seder as a virtual experience. Although I have been living in Germany for eight years, it was the first time that I didn’t celebrate Passover in Israel with my family. But Zoom made it possible for us to celebrate the holiday together.” Sapir Hubermann Seder for One


So viel Charosset! „Wir waren zu siebt auf drei Bildschirmen, ich draußen auf meiner Terrasse! Unser Seder war schön, nur dass jeder von uns ALLES machen musste! So viel Charosset! Die Lieder haben viel Spaß gemacht, obwohl es bei Zoom eine kleine Audio-Verzögerung gibt und letztendlich musste jeder für sich singen – aber wir waren alle ungefähr zur selben Zeit fertig!” Allison Brown So Much Charoset! “There were seven of us on three screens, with me outside on my roof terrace! It was nice, except each of us had to do EVERYTHING! So much charoset! The songs were lots of fun, but they didn’t really work so well ­because the audio in Zoom has a short lag time and ­ultimately each person has to sing for themselves—but we all finished at about the same time!” Allison Brown Getrennt zu Hause „Ich kochte einen Tag lang die bei uns allen beliebte Hühnersuppe, dazu eine Menge Mazzeklöße und auch Charosset – eine F ­ reundin sowie ein Teil meiner erweiterten Familie kamen vor dem Seder. Sie nahmen alles gut verpackt auf der Straße Seder for One

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in Empfang. Der Seder verlief entsprechend bescheiden, sehr schmackhaft, wir alle verfolgten den historischen Auszug nebst der dabei verursachten Epidemie (Plagen) getrennt an unseren häuslichen Tischen. Pessach 2020 war etwas, wovon wir vermutlich nächsten Generationen ausführlich erzählen werden.“ Irene Runge Separately at Home “I spent a whole day cooking the chicken soup we all love, as well as a bunch of matzah balls and charoset—a friend of mine and some of my family came before the seder to pick it all up, carefully wrapped, on the street. The seder was correspondingly modest, very tasty, and we all followed the history of the exodus alongside the epidemic it caused (plagues) separately from our own tables at home. Passover 2020 was something we will probably be telling the next generations about in detail.” Irene Runge

www.jmberlin.de/sammlungsaufruf-pessach-seder-corona www.jmberlin.de/en/passovercorona-call-for-participation


AUSSTELLUNGEN & BEGLEITPROGRAMM EXHIBITIONS & PROGRAM 14. APRIL BIS 11. SEPTEMBER 2022 Zuwanderer, Aufklärer und Selfmade-Intellektueller: Moses Mendelssohn (1729–1786) war schon zu seiner Zeit eine europäische Berühmtheit und ist bis heute eine zentrale Gestalt des deutschen Judentums. Die Ausstellung präsentiert die Epoche der Aufklärung als Umbruchslabor: Menschenrechte, Meinungsfreiheit und die Vielfalt individueller Lebensentwürfe werden formuliert und eingefordert. Mit seinen Argumenten für die Emanzipation, für Minderheitenrechte und zum Verhältnis von Staat und Religion eröffnet Mendelssohn den Weg in die Moderne – und provoziert bis heute Fragen zur jüdischen Identität. In einer Zeit des Aufbruchs war er eine Integrationsfigur polarisierender Kräfte. Gefördert durch die Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin

14 APRIL TO 11 SEPTEMBER 2022

MOSES MENDELSSOHN „WIR TRÄUMTEN VON NICHTS ALS AUFKLÄRUNG“ “WE DREAMED OF NOTHING BUT ENLIGHTENMENT”

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Immigrant, Enlightenment philosopher, and self-made intellectual: in his time, Moses Mendelssohn (1729–1786) was already a European celebrity and he remains a central figure in German Judaism to this day. The exhibition presents the era of the Enlightenment as a laboratory for radical change, in which human rights, freedom of opinion, and the diversity 15:14 of individual ways of life were articulated and demanded. With his arguments for the emancipation of Jews and rights for minorities, and on the relationship between religion and the state, Mendelssohn opened a path into modernity—and provoked questions about Jewish identity that persist to the present day. The exhibition tells of Mendelssohn’s life in Berlin and shows him as a figure who integrated polarizing forces in the midst of historical upheaval and awakening. With the support of Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin

jmberlin.de/ausstellungmoses-mendelssohn jmberlin.de/en/exhibitionmoses-mendelssohn

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Ausstellungen & Begleitprogramm Veranstaltungen


FÜHRUNG GUIDED TOUR

FRÉDÉRIC BRENNER

Ein Jugendlicher steht 1743 vor den Berliner Stadttoren und wünscht Einlass und eine Zukunft. Er möchte lernen, arbeiten, leben. Aber die restriktiven Bedingungen der preußischen Judengesetze sehen eine gleichberechtigte Teilhabe nicht vor. Wer bestimmt, wo und wie ein Mensch leben darf? Mit welchem Recht? Anhand der Biografie Mendelssohns und der Debatten der damaligen Zeit erfahren Sie ­Positionen zu den Themen Zugehörigkeit und Gleichberechtigung, Macht und Gewissen.

Berlin als Bühne: In seinem fotografischen Essay erkundet der Fotograf Frédéric Brenner verschiedene Inszenierungen des Jüdischen und porträtiert Orte und Individuen.

15. Mai und 12. Juni um 15 Uhr, auch für Gruppen buchbar

Noch bis 24. April 2022, Eintritt frei

A young man stands at Berlin’s city gates in 1743 and would like to obtain entry and a future. He wants to learn, work, and live. But the restrictive conditions of Prussian laws pertaining to Jews do not allow them equal participation. Who determines where and how a person is allowed to live? With what right? Through Mendelssohn’s life and the discourse of his time, you can learn about the different positions to the subjects of belonging and equal rights, power and conscience.

Berlin as a stage: In his photographic essay, the photographer Frédéric Brenner portrays landscapes and individuals, exploring a vast spectrum of expressions and performances of Jewishness.

HEALED TO PIECES

Until 24 April 2022, free admission

The tour can be booked individually and for groups.

MATINEE LUNCHTIME GATHERING Zusammenkommen, gemeinsam essen und dabei diskutieren. Folgen Sie den historischen Debatten in der Ausstellung zur jüdischen Gleichberechtigung, zu Geschmack und Ästhetik durch Gespräche mit Museumsreferent*innen. Und nehmen Sie Platz am gedeckten Tisch im Museumscafé von eßkultur. In fünf Gängen probieren und entdecken Sie Geschmacksvorlieben und Esskulturen von damals. 8. Mai, 29. Mai und 19. Juni von 11 bis 14 Uhr

Get together and share a meal while having a discussion. In conversation with docents you can follow the historical debates explored in the exhibition on equal rights for Jews and Jewish tastes and aesthetics. And have a seat at the table set in eßkultur, the museum café. You can try five courses and discover the culinary preferences and dining cultures of times past.

jmberlin.de/ thema-frederic-brenner jmberlin.de/en/ topic-frederic-brenner

8 May, 29 May and 19 June, 11 am to 2 pm Buchung Registration T +49 (0)30 259 93 305 visit@jmberlin.de

Events Exhibitions & Program

#JMBERLIN 17



TRADITION

& AUFKLÄRUNG & ENLIGHTENMENT Text

Yaniv Feller Die Denker der Aufklärung s­ ahen sich als Vorkämpfer für das Licht der universellen Vernunft; sie glaubten an die Fähigkeit der Menschheit, sich zum Besseren weiterzuent­wickeln. Doch was be­­deutet Aufklärung für die Tradition? Enlightenment thinkers saw themselves as promoting the light of ­universal reason, and a belief in the ability of humankind to improve itself. But what does enlightenment mean when it comes to tradition?

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Seite 18 und 25: In „The Illustrated Pirkei Avot. A Graphic Novel of Jewish Ethics“ (2017) interpretiert die K ­ ünstlerin Jessica Tamar Deutsch die Texte der ­„Pirke Awot“ – Sprüche der Väter – neu. Page 18 and 25: In The Illustrated Pirkei Avot. A Graphic Novel of Jewish Ethics (2017), the artist Jessica Tamar Deutsch offers a new interpretation of the Pirkei Avot, the “Ethics of the Fathers.”

DE „Was ist der Unterschied zwischen einem jüdischen Denker und einem Philosophen?“, hörte ich einmal einen jüdischen Denker fragen und dann antworten: „Ein Philosoph behauptet, er habe das Rad erfunden. Jüdische Denker beharren darauf, dass sie lediglich der Tradition folgten, ganz gleich, wie radikal sie argumentieren.“ Auch wenn diese Behauptung stark vereinfachend ist, steckt doch ein Körnchen Wahrheit darin. Immanuel Kant zum Beispiel, der herausragende Vertreter der modernen westlichen Philosophie, behauptete, seine Philosophie sei nichts weniger als eine kopernikanische Revolution. Und die jüdische Haltung zeigt sich wohl in den „Pirke Awot“ (Sprüche der Väter), die mit der programmatischen Feststellung beginnen: „Mose empfing die Tora vom Sinai und gab sie weiter an Josua; Josua gab sie weiter an die Ältesten, die Ältesten an die Propheten, die Propheten an die Männer der großen Synagoge.“ Im Judentum legt man großen Wert auf eine ununterbrochene Traditionslinie, darauf, dass die mündliche Tora, die in diesem Verständnis ebenso wichtig ist wie die schriftliche Tora, durchgehend wahrheitsgemäß weitergegeben wurde. Im Jüdischen Museum Berlin kann man im Raum „Gebot und Gebet“ der Dauerausstellung eine zeitgenössische Bearbeitung der „Pirke Awot“ sehen, die von Jessica Tamar Deutsch illustriert wurde. Sie befindet sich deshalb hier, weil sie – wie der jüdische Denker aus der obigen Anekdote – einen zentralen Gedanken transportiert: Jüdische Traditionen entwickeln sich weiter, indem sie sich mit ihrem Umfeld und unterschiedlichen Kontexten beständig auseinandersetzen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Fall von Moses Mendelssohn (1729–1786). Mendelssohn ist eine überragende Gestalt der deutsch-jüdischen Geschichte. Angesichts der weitverbreiteten Behauptungen über seinen außerordentlichen Einfluss sprechen Gelehrte sogar vom „Mythos Mendelssohn“. Für seine Bewunderer war Mendelssohn der Inbegriff des erfolgreichen Selfmade-Intellektuellen. Er meisterte körperliche Einschränkungen und rechtliche Hürden und wurde trotz fehlender formaler Ausbildung zum „Berliner Sokrates“, einer von Juden und Christen gleichermaßen verehrten Persönlichkeit. In der deutsch-jüdischen Geschichtsschreibung ist Mendelssohn häufig als der große Modernisierer dargestellt, der dem Judentum den Weg in die deutsche Gesellschaft ebnete. Diese Auffassung findet

EN “What is the difference between a Jewish thinker and a philosopher?” I once heard a Jewish thinker rhetorically ask before replying: “A philosopher claims to have invented the wheel. Jewish thinkers, no matter how radical their argument may be, insist they are merely following tradition.” Although it is a simplification, there is a grain of truth to this claim. Think for example of Immanuel Kant, the towering figure of modern Western philosophy, and his declaration that his philosophy was nothing short of a Copernican revolution. The Jewish attitude, by contrast, is arguably represented in Pirkei Avot (Ethics of the Fathers). It begins with a programmatic statement: “Moses received the Torah at Sinai and transmitted it to Joshua, Joshua to the elders, and the elders to the prophets, and the prophets to the Men of the Great Assembly.” There is an insistence in the Jewish case on lineage, on making sure that the Oral Torah, just as important as the Written Torah in this understanding, has been continuously and truthfully passed down. In the Jewish Museum Berlin, the visitor to the core exhibition’s section “Prayer and Practice” can have a look at a contemporary adaptation of Pirkei Avot, illustrated by Jessica Tamar Deutsch. It is here because, like

Jewish traditions evolve while negotiating different ­contexts. the Jewish thinker from the anecdote above, it encapsulates a central idea: Jewish traditions evolve while negotiating different contexts. The case of Moses Mendelssohn (1729–1786) is illuminating in this regard. Mendelssohn is a bigger-than-life figure in German-Jewish history. In fact, scholars talk about the “Mendelssohn Myth,” referring to claims about his outsize influence. For his admirers, Mendelssohn was the epitome of the self-made intellectual. He overcame physical and legal obstacles and the lack of formal training to become the “Berlin Socrates,” a figure venerated by Jews and Christians

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Tradition & Aufklärung


sich in Heinrich Graetz' „Geschichte der Juden“ (1853–1875) ebenso wie in neueren Werken wie Amos Elons „Zu einer anderen Zeit“ (2003).

Für seine Bewunderer war Mendelssohn der Inbegriff des erfolgreichen Selfmade-Intellektuellen. Seine Kritiker teilten die Auffassung, dass Mendelssohn eine herausragende Persönlichkeit war, die einen enormen Einfluss auf das jüdische Leben hatte. Doch sie beurteilten seinen Einfluss negativ. Rabbi Akiva Joseph ­Schlesinger (1837–1922), ein strikter Gegner jeglicher Modernisierungstendenzen im Judentum, warf „dem bösen Moses aus Dessau“ vor, „die fremde Hure ins Lager der Hebräer gebracht“ und sie dazu verleitet zu haben, „sich fremden Götzen anzudienen“. Kurz gesagt, behauptete er, Mendelssohns Weg habe die Juden vom wahren Judentum weggeführt. Mendelssohn ist ein wichtiger und prägender Vertreter der geistigen Strömung, die auf Deutsch Aufklärung, auf Französisch Lumières und auf Englisch Enlightenment heißt. Schon die Etymologie der Bezeichnungen für diese Bewegung des 17. und 18. Jahrhunderts beinhaltet einen Kontrast zwischen der hellen Seite und den dunkleren Kräften. Das hebräische Wort haskala ist von sekhel (Vernunft) abgeleitet. Es bezieht sich zwar nicht auf Licht und Dunkelheit, bedient sich aber ebenfalls einer Dualität von Vernunft und Unwissenheit. Bei allen Unterschieden im Temperament, in der Radikalität und in ihrem Schreibstil sahen sich die Denker der Aufklärung als Vorkämpfer für das Licht der universellen Vernunft und den Glauben an die Fähigkeit der Menschheit, sich zum Besseren weiterzuentwickeln. Damit wandten sie sich gegen das, was sie als Irrationalität, Intoleranz und religiösen Aberglauben betrachteten. Trotz dieser Rhetorik sollte man Aufklärung und Tradition nicht als Gegensätze betrachten. Die meisten ­ preußischen Aufklärer, unter anderem Mendelssohn, waren keine Verfechter dessen, was Jonathan Israel als „Radikal-

alike. In the writing of German-Jewish history, Mendelssohn is often considered the great modernizer, the one who paved the way for Jewish entry into Germany society. This is evident in Heinrich Graetz’s History of the Jews (1853–1875), as it is true of more recent works such as Amos Elon’s The Pity of It All (2002). His detractors agreed with the premise that Mendelssohn was a monumental figure that had tremendous influence on Jewish life. But they judged his influence negatively. Rabbi Akiva Joseph Schlesinger (1837–1922), a staunch opponent of modernizing trends in Judaism, blamed “The evil Moses of Dessau” for “bringing the foreign harlot to the camp of the Hebrews” and making them “go whoring after foreign gods.” Simply put, he claimed Mendelssohn’s path led Jews astray from Judaism.

Izhar Patkin, Moses, aus der Serie „Judenporzellan“, New York, 1998–2002 Der in New York lebende israelische Künstler setzt sich mit Mendelssohn, dessen Vermächtnis und der Erfolgsgeschichte der Familie auseinander. In seinem Kunstwerk verbindet er die traditionelle Ausschmückung einer Sukka mit der im 18. Jahrhundert beliebten Technik des Scherenschnitts. Izhar Patkin, Moses, from the series Judenporzellan, New York, 1998–2002 The New York-based Israeli artist picks up the threads of Mendelssohn, his legacy, and his family’s success story. In his artwork, he links traditional Sukkah decorations with the art of paper cutting, which was popular in the eighteenth century. Tradition & Enlightenment

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Mendelssohn is a prime representative, and shaper, of the German Enlightenment. German Aufklärung, French Lumières, English Enlightenment. The etymology of this seven­ teenth- and eighteenth-century movement already offers a contrast between the bright side and the darker forces. The Hebrew haskalah derives from sekhel (reason). While it does not connotate light and darkness, it works with a similar binary of reason and ignorance as its counterpart. For all their differences of temperament, radicality, and style of writing, Enlightenment thinkers saw themselves as promoting the light

Aufklärung, ­Lumières, Enlightenment

aufklärung“ bezeichnete. Sie waren in der Tradition verwurzelt, glaubten dabei jedoch an die allmähliche Verbesserung sowohl des Einzelnen als auch der Menschheit insgesamt sowie an die Aktualisierung und nicht die Abschaffung religiöser Haltungen. Mendelssohn selbst blieb sein gesamtes Leben ein gläubiger Jude, und sein Werk entzieht sich solchen schlichten Dichotomien. Selbst dort, wo Mendelssohn Neuerungen einführte, kleidete er diese in ein traditionelles Gewand. Zur Veranschaulichung seien hier zwei Publikationen genannt. Die erste ist die kurzlebige Zeitschrift Kohelet Musar (Prediger der Moral, 1755), von der nur zwei je acht Seiten umfassende Ausgaben erschienen. Diese hebräische Wochenschrift war zur Erbauung der jüdischen Bevölkerung gedacht. Sie schöpfte sehr stark aus traditionellen Quellen wie dem Talmud oder den Schriften von Maimonides und Judah Halevi. Gleichzeitig war, wie Shmuel Feiner feststellt, die Verwendung dieses Mediums (anstelle der herkömmlichen rabbinischen Formen) ebenso neu wie sein Inhalt. Die Quellen waren althergebracht,

of universal reason, and a belief in the ability of humankind to improve itself. In this, they stood against what they saw as irrationality, intolerance, and religious superstition. Despite this rhetoric, we should not think of Enlightenment and tradition as antithetical. Most Enlightenment thinkers in Prussia, Mendelssohn included, were not part of what Jonathan Israel called “radical Enlightenment.” They were rooted in tradition but believed in the gradual improvement of the individual and humanity and the rejuvenation rather than discarding of religious ideas. Mendelssohn himself remained an observant Jew throughout his life and his work eschews such simple dichotomies. Even in places where Mendelssohn innovated, he did so in traditional garbs. Two publications can be mentioned to illustrate this point. The first is the short-lived Kohelet Musar (1755) of which only two issues, eight pages each, were published. This Hebrew weekly was meant as a vehicle of Jewish edification. It drew heavily on traditional sources, including the Talmud, Maimonides, and Judah Halevi. At the same time, as Shmuel Feiner notes, the use of this medium (rather than the more traditional rabbinical forms) was new, as was the content. The sources were traditional, but they were discussed through modern lens and aimed at disseminating new Enlightenment ideas among Jews. A more successful publication by Mendelssohn and some of his disciples was the Bi’ur or Sefer Netivot Hashalom (1780–1783), Mendelssohn’s translation of the Pentateuch alongside a new commentary. Jewish translations of the Bible are not new, as the examples of the Greek Septuagint (third

Porträt Moses Mendelssohn, vermutlich: Elimelech Pilta Ben Schimschon Rofe, nach 1767, Gouache auf Horn oder Elfenbein Portrait of Moses Mendelssohn, probably by Elimelech Pilta Ben Schimschon Rofe, after 1767, Gouache on horn or ivory

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Tradition & Aufklärung


doch sie wurden durch eine moderne Brille betrachtet, um neue aufklärerische Ideen unter der jüdischen Leserschaft zu verbreiten. Eine erfolgreichere Publikation von Mendelssohn und einigen seiner Schüler war der „Bi’ur“ oder „Sefer Netivot ha-Shalom“ (1780–1783), Mendelssohns Übersetzung des Pentateuch mit einem neuen Kommentar. Jüdische Bibelübersetzungen sind nichts Neues, wie die Beispiele der griechischen Septuaginta (im dritten Jahrhundert v.d.Z.) oder des aramäischen Onkelos (zwischen dem ersten und fünften Jahrhundert n.d.Z.) zeigen. Zu Mendelssohns Zeit gab es auch ­jiddische Übersetzungen, die für Bildungszwecke eingesetzt wurden. Doch die Übersetzung in die deutsche Alltagssprache statt in eine traditionellere jüdische Sprache war etwas ziemlich Neues, und Mendelssohn zog die Kritik von konservativen Rabbinern auf sich, die in dieser neuen Übersetzung einen Angriff auf ihre Autorität sahen. Sie befürchteten wohl, dass sie als Hilfsmittel zum Erlernen der deutschen Sprache dienen und junge Juden von der Tradition entfernen und zur Aufklärung hinführen könnte. Auch einige von Mendelssohns Entscheidungen bei der Übersetzung, die in der traditionellen Form des kommentierten zweisprachigen Textes präsentiert wurde, entsprachen den Ideen der Aufklärung, insbesondere die Übersetzung des Tetragramms, der vier Buchstaben, die in der jüdischen Tradition den Eigennamen Gottes, des

Die Übersetzung in die deutsche Alltagssprache war etwas Neues.

century BCE) or the Aramaic Onkelos (somewhere between first and fifth century CE) show. In Mendelssohn’s time, there were also Yiddish translations that were being used for Jewish educational purposes. Yet the translation into the German vernacular rather than a more traditional Jewish language was quite innovative, and Mendelssohn was criticized by conservative-minded rabbis, who saw in this new translation a challenge to their authority. They seem to have feared the translation would serve as a learning aid of German and lead young Jews away from tradition and toward Enlightenment. Similarly, some of Mendelssohn’s translation choices, while expressed in the traditional form of commentary and translation next to the original Hebrew text, were in line with Enlightenment ideas, most notably the translation of the Tetragrammaton, the four letters constituting God’s proper name in the Jewish tradition, as the Eternal. Thus, while the Bi’ur was working within tradition, it was bringing forth new elements. Indeed, Mendelssohn is often credited with creating a tradition of Jewish translations of the Bible to German that included leading figures such as Leopold Zunz, Ludwig Philippson, Samson Raphael Hirsch, Martin Buber and Franz Rosenzweig, as well as Bertha Pappenheim. Mendelssohn shows us that tradition is not a static concept or an unchangeable set of beliefs and practices, as is sometimes argued by its proponents and opponents alike. Have a look at various donation boxes, for example: They are different in shape, language, and the cause they support. At the same time, they all exemplify the Jewish idea of tzedakah, or charity and giving alms. Jewish tradition and its material presentation change, while remaining connected to the past.

„Ewigen“ bilden. So bewegte sich der „Bi’ur“ zwar innerhalb der Tradition, enthielt aber auch neue Elemente. Mendelssohn wird sogar häufig das Verdienst zugeschrieben, eine Tradition jüdischer Bibelübersetzungen ins Deutsche begründet zu haben, die in der Folge von führenden Persönlichkeiten wie Leopold Zunz, Ludwig Philippson, Samson Raphael Hirsch, Martin Buber und Franz Rosenzweig sowie Bertha Pappenheim weitergeführt wurde.

Zedaka-Büchsen aus aller Welt Überall, wo Jüdinnen und Juden leben, befolgen sie das religiöse Gebot, Bedürftigen Geld zu spenden, Zedaka (Wohltätigkeit). Tzedakah boxes from around the world Wherever Jews live, they follow the religious commandment to give money to those in need (tzedakah). Tradition & Enlightenment

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Mendelssohn zeigt, dass Tradition keine statische Größe oder unveränderliche Sammlung von Glaubenssätzen und Gebräuchen ist, wie mitunter behauptet wird. Man betrachte zum Beispiel verschiedene Spendenbüchsen: Sie unterscheiden sich in ihrer Form, ihrer Sprache und hinsichtlich des Zwecks, den sie unterstützen. Gleichzeitig verkörpern sie alle die jüdische Idee der Zedaka, der Wohltätigkeit und des Almosengebens. Die jüdische Tradition und ihre konkrete Ausgestaltung verändern sich, bleiben jedoch zugleich mit der Vergangenheit verbunden. Wie die Historiker Eric Hobsbawm und Terence Ranger in „The Invention of Tradition“ (Die Erfindung der Tradition, 1983) gezeigt haben, kann „Tradition“ aus verschiedenen Gründen erfunden und als seit alten oder unvordenklichen Zeiten gepflegt hingestellt werden, auch um neue Vorstellungen wie die eines gemeinsamen nationalen Erbes zu befördern. Eine Betonung des Traditionsbezugs findet sich auch in den ersten Generationen des Reformjudentums, die es sich ausdrücklich zum Ziel gesetzt hatten, vorhandene Bräuche zu verändern, und dabei mit einer althergebrachten Tradition argumentierten. Die Einführung des Gebets auf Deutsch etwa basierte unter anderem auf der Interpretation einer Talmuddiskussion und die Einbeziehung der Orgel in den Gottesdienst auf der Annahme, dass es im alten Tempel in Jerusalem Musikinstrumente gab. Mendelssohn hielt an der Geltung des traditionellen jüdischen Gesetzes fest und unternahm keinen Versuch, die religiöse Praxis zu verändern. Daher, so schließt der Historiker Michael A. Meyer, kann er nicht zu den Wegbereitern des Reformjudentums gezählt werden. Doch ebenso wenig folgte Mendelssohn einfach der Tradition. Sein Leben, sein Werk und seine Rezeption lassen keine eindeutige Zuordnung zu Tradition oder Aufklärung zu. Seit der „Berliner Sokrates“ 1786 starb, hat sich das jüdische Leben stark verändert. Diskussionen verlaufen anders und greifen neue Fragen auf, zum Beispiel die nach Geschlecht und ethnischer Herkunft. Dennoch sind Jüdinnen und Juden heute immer noch wie Mendelssohn zu seiner Zeit ständig im Gespräch; eine Tradition in der Moderne.

As historians Eric Hobsbawm and Terence Ranger have shown in The Invention of Tradition (1983), “tradition” can be made-up and presented as being practiced from ancient or immemorial times for various reasons, including to promote new ideas such as that of a shared national heritage. An emphasis on reliance on tradition is evident also in the first generations of the Reform movement, which explicitly took upon itself to change existing customs, while arguing in terms of a time-honored tradition. The introduction of prayer in German was grounded, among others, in interpretation of

Tradition is not a static concept or an unchangeable set of beliefs and practices. a Talmudic debate, and the incorporation of the organ into service on the idea that the ancient Temple in Jerusalem had musical instruments. Mendelssohn insisted on the validity of traditional Jewish law and did not attempt to transform religious practice. As historian Michael A. Meyer argued, he therefore cannot be counted among the forerunners of the Reform movement. But Mendelssohn was not merely following tradition either. The life, work, and reception of Mendelssohn complicate any simple understanding of tradition and Enlightenment. A lot has changed in Jewish life since the “Socrates of Berlin” died in 1786. The conversation has taken on new forms and brought forth new questions, for example about gender and race. Yet Jews today, like Mendelssohn in his time, still negotiate tradition in modern times.

Yaniv Feller ist Jeremy Zwelling Assistant Professor of Jewish Studies an der Wesleyan University, Connecticut. Yaniv Feller is the Jeremy Zwelling Assistant Professor of Jewish Studies at Wesleyan University, Connecticut.

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Tradition & Aufklärung



BASED ON A TRUE STORY


Im Gespräch mit Typex Talking to Typex Typex lebt als Illustrator, Comiczeichner und Maler in Amsterdam. Comics zeichnet er seit seiner Jugend, internationale Berühmtheit erlangte er 2013 mit seiner Comic-Biografie zu Rembrandt. 2018 erschien der Band „Andy – A Factual Fairytale“ über das Leben Andy Warhols. Moses Mendelssohn, der bedeutende jüdische Aufklärer, ist der nächste Star, den Typex in der Graphic Novel „Moische“ im Auftrag des Jüdischen Museums Berlin liebevoll zum Leben erweckt. Wir sprachen mit ihm über die Arbeit als zeichnender Biograf – und darüber, warum ihm Geschichten lieber sind als die Wirklichkeit.

Typex is an illustrator, comic artist, and painter based in Amsterdam. He has been drawing comics since his youth and gained international fame in 2013 with his graphic biography of Rembrandt. In 2018, he published Andy–A Factual Fairytale about the life of Andy Warhol. Moses Mendelssohn, the most important Jewish Enlightenment philosopher, is the next star Typex l­ovingly brings to life in the graphic novel Moishe. We talked to him about working as a drawing biographer—and why he prefers stories to reality.

DE

EN

JMB: Ihre Graphic Novel „Moische“ präsentiert sechs bekannte Anek­ doten rund um den berühmten jüdischen Philosophen – und einen ganz neuen Moses Mendelssohn. Was hat Sie dazu bewegt, an der Comic-Ausschreibung des JMB teilzunehmen? Typex: Ich habe ja schon Graphic Novels über das Leben von Andy Warhol und

von Rembrandt gezeichnet. Und, ehrlich gesagt, hatte ich meinem Verleger längst angekündigt, dass dies meine letzten Biografien wären. Aber für interessante Geschichten bin ich immer zu haben, und wenn das Leben einem so eine Chance bietet, sollte man sie mit beiden Händen ergreifen! Ehe ich mich versah, war ich komplett in die Welt von Moses Mendelssohn eingetaucht.

JMB: Your graphic novel Moishe features six wellknown anecdotes around the famous Jewish philosopher—and a brandnew Moses Mendelssohn. What made you participate in the JMB’s “call for comics”? Typex: Well, I had already done graphic novels on the lives of Andy Warhol and Rembrandt. To be honest, I told my publish-

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er those would be my last biographies. But I’m always a sucker for interesting stories, and I believe that when life offers you an opportunity, you should grab it with both hands! Before I knew it, I was completely engulfed in the world of Moses Mendelssohn. Your Moses Mendelssohn—Moishe—is very lively, and readers are immediately drawn to


DE Ihr Moses Mendelssohn – Moische – ist sehr lebendig, man fühlt sich sofort zu der Figur hingezogen. Wie haben Sie ihn, seine Persönlichkeit so gut kennengelernt? Wenn ich ein solches Projekt in Angriff nehme, lese ich viel über die Person und vertiefe mich vor allem in Bilder. Bei jemandem wie Rembrandt war das natürlich leichter, weil er so viele Selbstporträts angefertigt hat. Mendelssohn dagegen sieht man nur durch die Augen seiner Zeitgenossen. Aber es gibt einige wichtige Porträts von ihm, darunter ein Bild, das auch in der Ausstellung gezeigt wird. Es ist sehr beeindruckend und lässt viel von seinem Charakter erkennen! So ein Bild war für die damalige Zeit ungewöhnlich, und ich fing langsam an, eine Vorstellung von Moses zu entwickeln. Er war ein außerordentlich moderner Mann und ­gleich­­zeitig voller Güte und Sanftmut, das schien wie ein Kontrast zu seinem Aussehen: seinem Buckel, seinem vorspringenden Kinn, der krummen Nase. Er erinnerte mich – das gebe ich nur ungern zu – an eine Figur aus der Commedia dell’Arte. Sein Aussehen und natürlich vor allem die Tatsache, dass er Jude war, machte ihn, noch dazu im Preußen jener Zeit, besonders verwundbar. Er muss sehr stark gewesen sein, um das zu ertragen. Für die Graphic Novel brauchte seine Figur also etwas Weiches – keine Schwäche, sondern eine Sache oder Person, die ihm Kraft gibt, einen Ausgleich bietet. Dann sah ich ein Porträt von Fromet, auf dem

EN sie den Eindruck einer überaus selbstbewussten Frau macht. Das ist genau das Gegengewicht, das Moische benötigt: Sie füllt die Lücken, gleicht seine Defizite aus. Fromet und Moische brauchen einander, und sie bringen im jeweils anderen bestimmte Eigenschaften zum Vorschein. In dem Moment, in dem ich Fromet gefunden hatte, hatte ich auch Moische im Griff.

his character. How did you get to know him, his personality?

Sind Sie und Moische Freunde geworden?

Before I knew it, I was completely engulfed in the world of Moses Mendelssohn.

Wie könnte man ihn nicht mögen! Das war in gewisser Weise sogar ein Problem, weil ich nichts romantisieren wollte. Es war beruhigend zu lesen, dass er manchmal auch aufbrausend war, denn man braucht auch eine Reibungsfläche. Gab es irgendwelche Überraschungen, als Sie an „Moische“ arbeiteten? Zum Glück nehme ich mir immer die Freiheit, Dinge auch dann noch einzubauen, wenn die Geschichte eigentlich schon fertig ist, deshalb mag ich die meisten Überraschungen! Was mich bei Moses als erstes überrascht hat, war die Aktualität seiner Ideen. Und ich habe mich auch gewundert, dass Medien schon damals eine so große Bedeutung hatten – obwohl das eigentlich nicht weiter erstaunlich sein sollte; so sehr haben sich die Menschen seither nicht verändert! Die Leute sind gemein, und sie werden immer irgendeinen Weg finden, ihre Märchen zu verbreiten. Das wird an der Geschichte des Streits zwischen Mendelssohn und Lavater ja sehr deutlich.

When I approach a project like this, I read a lot about the person, and ­especially I look at pictures. Of course, that was easier with some­ one like Rembrandt, because he made so many selfportraits. You only see Mendelssohn through the eyes of his contemporaries.

But still, there are some important portraits, for example one that the exhibition uses, too. It’s very striking and you can see so much character in it! That’s unusual for the time, and I began to catch a glimpse of Moses. He was such a modern man, and there was so much goodness, gentleness in him. All that seemed to contrast with his looks: his hunched back, his protruding chin, the crooked nose. He has the features of a jester, and—though I hate to admit it—he reminded me of Punch from Punch and Judy or the commedia dell’arte. His appearance and, of course, especially being Jewish in the Prussia of that time made him vulnerable, and he must have been very strong to endure that. So for the graphic novel, his character needed some softness—not weakness, but something or someone to make him strong, to give him balance. Then I saw a

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portrait of Fromet where she struck me as a really confident woman. That’s the equilibrium Moishe needs: she fills in the blanks. They need each other and they bring out certain things in each other. So when I had Fromet, that was the moment I had Moishe pinned down, too. Did you and Moishe ­become friends?

Yes, it’s hard not to like him! In fact, in a way that was a problem, because I didn’t want to romanticize. It was a relief when I read that he did have a temper, because you need to have some struggle within. Were there any surprises when you worked on Moishe? I like to have the flexibility to add things, even when I’m already finishing a story, so I find most surprises pleasant! What first surprised me about Moses was the contemporary feel of his ideas. I was also amazed that even in those days, the media were already so important—although that shouldn’t be surprising, because people haven’t changed that much since then. People are nasty, and they will always find a way to spread their tales. You can see that in the story of the dispute between Mendelssohn and Lavater. Nach einer wahren Geschichte



DE Wie gehen Sie so ein Projekt, eine Biografie an? Das Schwierigste daran, eine komplette Lebensge­ schichte zu erzählen, ist, den richtigen Schwerpunkt zu finden. Man liest so viel wie möglich über die Person, und es dauert eine ganze Weile, bis man weiß, wo es hingehen soll, weil man sich zuerst durch die ganzen Informationen durcharbeiten muss. Anders als bei meinen früheren Projekten konnte ich diesmal aber die Anekdoten, die mir das JMB an die Hand gegeben hatte, als Ausgangspunkt verwenden. Das war eine klare Vorgabe und hat die Sache sehr erleichtert. Bei einer solchen Vorgabe ist auch die Anzahl der Figuren begrenzt. Es ist wie beim Theater: Man hat eine bestimmte Besetzung und muss nun sehen, wie sich die Figuren zueinander verhalten. Und weil es eine Hauptfigur gibt, dient jede andere Figur dazu, diesen Protagonisten zu profilieren, entweder als Kontrast, wie es mit Fromet der Fall ist, oder als Bösewicht, wie

EN Lavater. Außerdem gibt es noch Abba Glosk, der ebenfalls ein Gegengewicht zu Moische bildet, weil er ihm sein Gewissen spiegelt. Und obwohl Abba und Moische im selben Boot sitzen, schlagen sie unterschiedliche Richtungen ein. All diese Figuren machen jeweils andere Aspekte von Moisches Charakter deutlich. Eine der Nebenfiguren ist der ständig betrunkene Abraham Wolff, der als Lehrer in Mendelssohns Haushalt arbeitete. Welche Rolle spielt er? Wolff ist eine Art Anker für Moische. Wir alle brauchen einen besten Freund, der uns zeigt, wo wir herkommen, und Wolff hat die Ruhe weg. Er schläft zwar die meiste Zeit oder scheint zu schlafen und spielt keine große Rolle, aber eben eine kleine, wichtige. So wie Brendel, bzw. Dorothea, Mendelssohns älteste Tochter. Genau! Ich fing an, über sie zu lesen und staunte: Sie

How do you go about starting a project about a historical person? When you do a life story from birth to death, it’s very hard to find your focus. You read everything you can about the person, and it takes a long time to know where you’re heading, because you have to find a path through all the information. The difference between my earlier projects and this one is that here I had the anecdotes the JMB gave me as a starting point. That was a very straightforward guide and it made things a lot easier. Also, with a guideline, you are limited in the number of characters. It’s like a theater: you have a certain cast, and now you have to see how they relate to each other. And because you have one main character, every other figure serves to shape that protagonist, either through contrast, as with Fromet, or as the bad guy, like Lavater. And then there’s Abba Glosk, who is also a counter­ balance to Moishe because he speaks to Moishe’s conscience. Although Abba and Moishe are in the same boat, they manage to go in different directions. All these characters bring out different aspects of Moishe’s character. One minor character is the constantly drunk Abraham Wolff, a teacher in the Mendelssohn household. What role does he play? I wanted Wolff to be a sort of anchor for Moishe. We all need a best friend to show us where we’re from, and Wolff is unflappable. Well,

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most of the time he is sleeping or seems to be sleeping, but he’s just a little footnote to Moishe. He doesn’t get a big part, but an essential small part. So does Brendel or Dorothea, Mendelssohn’s eldest daughter. Yes, I began to read about her and was astonished. She was exactly what I needed! I had put a child in the first sketched version, just a child Moses had, but it didn’t really have a character. Then I realized Brendel was not just any child, but a little proto-feminist! I was so happy with that. I based a whole chapter around her— part of it, anyway. A museum is obliged to remain true to historical fact in its exhibitions. An artistic approach, even one based on true stories, can be much more open. How close do you stay to the historical events around Moses Mendelssohn? I call stories based on truth “factional stories,” and I follow one principle: never let the truth get in the way of a good story! In a story there’s something you want to convey, a thought about a character, a person, or whatever. If you need to change the order of events or even change an event a bit to make it clear what you want to say, then do! Anyway, it’s an illusion to think you’re recreating truth—that’s impossible. Especially from Moishe’s era itself, all we have are accounts by people of that time, and they are so partial in every aspect. Also, you can hear a story Nach einer wahren Geschichte


DE war ein Glücksfall! In meinem ersten Entwurf hatte ich ein Kind vorgesehen, einfach ein Kind von Mendelssohn ohne besonderen Charakter. Dann aber wurde mir klar, dass Brendel nicht irgendein Kind ist, sondern eine kleine Proto-Feministin! Ich habe ein Kapitel um sie herumgebaut – jedenfalls zum Teil. Ein Museum ist verpflichtet, sich in seinen Ausstellungen an die historischen Tatsachen zu halten. Ein künstlerischer Zugang kann dagegen sehr viel freier sein, auch wenn er auf wahren Begebenheiten beruht. Wie sehr orientieren Sie sich an den historischen Ereignissen rund um Moses Mendelssohn? Ich nenne Geschichten, die auf wahren Begebenheiten beruhen, factional stories, „faktionale Geschichten“, und mein Grundsatz ist: Lass die Wirklichkeit einer

EN ren – das ist unmöglich. Gerade aus Mendelssohns Epoche haben wir nur Berichte von Zeitgenossen, und diese Berichte sind in jeder Hinsicht sehr bunt und ausgeschmückt. Außerdem kann man eine Geschichte auf Millionen verschiedene Weisen hören. Für mich gibt es da keine objektive Realität. Eine Geschichte ist immer plausibler als die Wirklichkeit. Bilder, insbesondere Karikaturen, können schnell zu Konflikten führen. Wie weit darf ein Comic gehen? Könnte Ihr „Moische“ Kontroversen hervorrufen? Ein Bild kann nicht schuld an etwas sein, ein Bild ist immer nur das, was der Betrachter daraus macht – es sei denn, es wurde in böser Absicht geschaffen. Mir als Künstler ist das sehr bewusst, und ich versuche allen, die ich zeichne, ein wirklichkeitsgetreues Äuße-

Eine Geschichte ist immer plausibler als die Wirklichkeit. guten Geschichte nie in die Quere kommen! Mit einer Geschichte möchte man etwas vermitteln, einen Gedanken über eine Figur, eine Person oder was auch immer. Wenn man die Reihenfolge von Ereignissen oder sogar ein Ereignis selbst ein wenig ändern muss, um deutlich zu machen, was man sagen will, dann sollte man das tun. Es ist sowieso eine Illusion zu glauben, man könne die Wirklichkeit reproduzieBased on a True Story

res zu geben, ein Äußeres, das der Person entspricht. Ich halte nichts von einer optischen Gleichmacherei, die aus dem Wunsch entstehen kann, nicht als rassistisch oder was auch immer zu erscheinen. Wir sind nicht alle gleich! Vive la différence! Und im Leben von Moses Mendelssohn spielte sein Aussehen eine entscheidende Rolle. Es gibt sehr viele sehr unterschiedliche Darstellungen von ihm, zum Beispiel das berühmte

I call stories based on truth “factional ­stories,” and I follow one principle: never let the truth get in the way of a good story! in a million different ways. For me, there is no objective truth. A story is always more believable than the truth. Images, especially caricatures, can easily cause conflicts. How far can a comic go? And are you afraid that your Moishe might provoke any conflict? An image can’t be guilty of anything, it is what the viewer makes of it—unless it is made with bad intentions. As an artist, I’m very much aware of that, and I try to give everyone I draw a true appearance—true to the person. I don’t like the kind of visual assimilation that can result from wanting not to appear racist or whatever. We’re not all the same! Vive la différence! And in the case of Moses Mendelssohn, his extreme appearance played such a big part in his life. There are so many very different images of him, for example the famous picture with Lavater, where Moses is made more handsome in terms of the fashion of that era. He is a very handsome man, I think, and yet he also reminds you of a harlequin. There’s a lot of beauty, there’s kindness in him, especially in his eyes. It would be terrible to make Moishe look less like himself.

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Also, comics are like a theater play: you have to emphasize looks and make things visible even to the people sitting in the last row. So my job is to make it clear that Moses’s extreme appearance is what this man has to deal with every single day. And look at the brilliant way he does it! He is funny. He’s not dragged down by his body. Take the scene where he is being treated with blatant racism by the two officers who question him when he reaches Potsdam. Those two men are really awful, but he isn’t distracted by them for a moment, he even makes fun of them. They’re infuriated, but they can’t touch him because he’s untouchable: he has already made fun of himself, and there’s nothing for them to grasp. Which Jewish individual would you like to see next in a graphic novel? Maybe the modern composer, John Zorn. Maybe a Jewish composers series! You’ve done three graphic biographies: Rembrandt, Warhol, and Mendelssohn. Is there anything the three men have in common?



DE Bild mit Lavater und Lessing, auf dem Moses dem damaligen Geschmack nach attraktiv dargestellt wird. Er ist ein sehr schöner Mann, finde ich, und hat sehr viel Schönes und ­Freundliches an sich, besonders in den Augen. Und trotzdem erinnert er auch an einen Harlekin. Es wäre schlimm, Moische weniger wie er selbst aussehen zu lassen! Außerdem haben Comics auch immer etwas von Theater: Man muss das Äußere überdeutlich darstellen, damit es auch für die Leute in der letzten Reihe erkennbar ist. Meine Aufgabe ist es also klarzumachen, dass Moses Mendelssohns extremes Aussehen etwas ist, womit er jeden Tag zu kämpfen hat. Und sehen Sie doch mal, wie großartig er das macht! Er ist witzig. Er lässt sich von seinen körperlichen Beeinträchtigungen nicht herunterziehen. Zum Beispiel in der Szene, in der er nach Potsdam kommt und von den beiden Wachleuten, die ihn befragen, ganz unverhohlen rassistisch behandelt wird: Die beiden sind wirklich furchtbar, aber er lässt sich nicht einen Augenblick lang von ihnen beirren, er macht sich sogar über sie lustig. Sie sind wütend, aber sie können ihm nichts anhaben, weil er unangreifbar ist: Er hat sich schon selbst über sich lustig gemacht, und sie haben keinen Angriffspunkt mehr. Welche jüdische Persönlichkeit würden Sie gerne als nächste in einer Graphic Novel sehen?

EN Sie haben zu drei Persönlichkeiten Biografien geschrieben und gezeichnet: Rembrandt, Warhol und Mendelssohn. Haben diese drei Männer etwas gemeinsam? Na ja, mich haben sie gemeinsam! Jede Biografie ist auch eine Autobiografie: Die einzige wirkliche Quelle, die man hat, ist die eigene Innenwelt, das persönliche Weltbild und die eigene Art und Weise, Menschen zu betrachten. Wenn man diese biografischen Graphic Novels als Trilogie betrachtet, ist „Moische“ der letzte Teil. Moses Mendelssohn ist der sympathischste von den dreien, und anders als die anderen hat er überhaupt kein Problem damit, seine Gefühle deutlich zu machen, sei es seine Wut oder seine Güte und Liebe. Falls Sie die Reihe der Biografien doch fortsetzen – wird dann auch eine Frau dabei sein?

Well, they have me in common! Every biography is an autobiography, because the only source you really have is your own inner world, your conception of the world and how you see people. If you see these biographical graphic novels as a trilogy, then Moishe is the final part. Moishe is the nicest; there’s never a problem in conveying his emotions, either his anger or his tenderness and love. If you do continue with the biographies, will there be a woman? Well, that’s a monster asking to dance! Who would you suggest? I would think first of Dolly Parton. She’s so big and grand in every aspect and so glorified at the moment, but still underrated in many different ways. That would make an interesting story. Or maybe Beyoncé? We look forward to it! Thank you for the interview!

Oh, da bittet ein Monster zum Tanz! An wen denken Sie denn? Mir fällt als erstes Dolly Parton ein. Sie ist so groß und in jeder Hinsicht großartig; im Moment wird sie ziemlich idealisiert, aber immer noch in vieler Hinsicht unterschätzt. Das wäre eine interessante Geschichte. Oder vielleicht Beyoncé?

Das Interview führten / The interview was conducted by Marie Naumann & Katharina Wulffius

Wir freuen uns darauf und danken für das Interview!

Vielleicht den modernen Komponisten John Zorn? Ja, vielleicht eine Serie mit jüdischen Komponisten! Based on a True Story

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Typex' „Moische – Sechs Anekdoten aus dem Leben des Moses Mendelssohn“ erschien auf Deutsch, Englisch und Niederländisch bei Scratchbooks, Amsterdam. 87 Seiten, 24,- Euro Typex' Moishe. Six Anec­ dotes from the Life of Moses Mendelssohn is published in G ­ erman, English, and Dutch by Scratchbooks, Amsterdam. 87 Pages, 24,- Euro


KULTURSOMMER 2022 CULTURAL SUMMER 2022 Am 9. Juni startet das Jüdische Museum Berlin in den Kultursommer! Endlich können wir in diesem Jahr wieder alle Türen für Sie öffnen, denn auch die Kinderwelt ANOHA, eine neue Wechselausstellung und die Dauerausstellung warten darauf, entdeckt zu werden. On 9 June, the Jewish Museum Berlin will kick off its Cultural Summer! This year all of our doors will be open to you, with the ANOHA Children’s World, the new temporary exhibition, and the core exhibition waiting to be discovered.

GIORA FEIDMAN

JAZZ IN THE GARDEN Seit vielen Jahren bietet unsere open-air Konzertreihe im Museumsgarten die ganze Vielfalt des Jazz: von Avantgarde bis Klassisch. For years, our series of concerts in the museum garden have offered a wide range of jazz—from classical to avant-garde. Der Eintritt ist bei allen Konzerten frei. Admission to all concerts is free.

Eröffnungskonzert Opening concert

Giora Feidman berührt seit Jahrzehnten mit seiner Musik. Mit der Klarinette entführt er uns in seine emotionalen Klangwelten aus Klezmer, Folk und zeitgenössischen Kompositionen. Nach diesem Konzert wird Giora Feidman seine Klarinette an die Sammlung des Museums übergeben: Wir fühlen uns geehrt und freuen uns sehr, dieses berühmte Stück Musikgeschichte fortan in unserer Ausstellung zu präsentieren! Giora Feidman has touched people with his music for decades. He transports them with his clarinet to the emotionally vibrant worlds of klezmer, folk, and contemporary music. After the concert, he will donate the instrument to the museum’s collection. We are honored and looking forward to presenting this famous piece of music history in our exhibition! Eintritt: 35 Euro Admission 35 euros 9. Juni 2022 19 Uhr 9 June 2022, 7 pm Museumsgarten Museum Garden

MAYA BELSITZMAN & MATAN EPHRAT In ihrem neuen Projekt „Crazy He Calls Me“ interpretiert das israelische Duo die größten klassischen Love Songs des frühen 20. Jahrhunderts auf ihre ganz eigene Weise neu. In their new project Crazy He Calls Me, the Israeli duo reinterprets the best classic love songs of the early twentieth century in their own unique style. 26. Juni 11 Uhr 26 June 11 am

RON MINIS TRIO Beteiligt an zahlreichen Punk-, Noise Rockund Metal-Projekten, vollendet Ron Minis seine Leidenschaft und Experimentierfreude nun mit Yogev Gabay an den Drums und ­Daniel Harlev am Bass. A participant in numerous punk, noise rock, and metal projects, Ron Minis is now demonstrating his passion for music and love of experimentation with Yogev Gabay on drums and Daniel Harlev on bass.

jmberlin.de/kultursommerkonzert-giora-feidman jmberlin.de/en/summe-ofculture-concert-giora-feidman

10. Juli 11 Uhr 10 July 11 am

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Kultursommer Veranstaltungen 2022


J. LAMOTTA Die musikalische Entwicklung der Songwriterin, Produzentin und Hip-Hop-Künstlerin J. Lamotta hat viele Stationen durchlaufen – ­ von Jazz und Soul über Hip-Hop, Pop und RnB – und jedes Genre hat seine Spuren in ihrer musikalischen Identität hinterlassen. The musical journey of songwriter, producer, and hip-hop artist J. Lamotta has passed through many stops—jazz, soul, hip-hop, pop, and RnB—and every genre left its mark on her musical identity. 11. Juli 11 Uhr 11 July 11 am

ADAM BEN EZRA Kontrabass-Phänomen, Multi-Instrumentalist und YouTube-Sensation – Ben Ezra erweitert seine musikalische Herangehensweise konsequent um Elemente von Jazz, Latin und mediterraner Musik. Double-bass phenomenon, multi-instrumentalist, and YouTube sensation Ben Ezra has systematically expanded his musical approach to include elements of jazz, Latin, and Mediterranean music. 7. August 11 Uhr 7 August 11 am

SOMMERFEST SUMMER PARTY Kinderprogramm, Expressführungen, LiveMusik, Mitmach-Aktionen und kulinarische Spezialitäten – zum Sommerfest präsentieren wir die ganze Vielfalt des Jüdischen Museums Berlin! Children's programs, guided tours, live music, hands-on activities, and culinary specialties— at the summer festival we present the entire diversity of the Jewish Museum Berlin! 21. August 14 bis 19 Uhr 21 August 2 pm to 7 pm Eintritt frei Admission is free Museumsgarten, ANOHA Museum Garden, ANOHA

LANGE NACHT DER MUSEEN LONG NIGHT OF MUSEUMS Fake News, Lügen und Verschwörungen? Ganz im Sinne unserer aktuellen Ausstellung über den Aufklärer Moses Mendelssohn ergründen wir, was Aufklärung heute bedeutet. Mit einem musikalischen Salon mit Marion Brasch und spannenden Gästen, einer exklusiven Nachttour durch die Kinderwelt ANOHA und vielem mehr. Eine Gemeinschaftsveranstaltung der Berliner Museen und der Kulturprojekte Berlin GmbH

Fake news, lies, and conspiracy theories? In the spirit of our current exhibition on Enlightenment philosopher Moses Mendelssohn, we will examine what Enlightenment means today. The program includes a musical salon with Marion Brasch and exciting guests, an exclusive nighttime tour of the ANOHA Children’s World, and much more. Jointly organized by the museums of Berlin and Kulturprojekte Berlin GmbH Eintritt mit dem Lange-Nacht-Ticket, erhältlich an der Museumskasse Admission with the Long Night Ticket, available at the museum’s box office 27. August ab 18 Uhr 27 August from 6 pm

#JMBERLIN Cultural Summer 2022 Events

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JÜDISCHE FE EINE TREIBEN JEWISH FEMI A DRIVING FO Feministische jüdische Traditionen spiegeln das Bedürfnis von Frauen, ihr Judentum intensiver und mit mehr Tiefe zu leben. In den letzten fünfzig Jahren hat der jüdische Feminismus zwei Wege eingeschlagen. Jewish feminist traditions reflect the thirst of women to live their Judaism more fully and more deeply. In the last fifty years, Jewish feminism has taken two different paths.

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Brigitte Sion 36


MINISTINNEN: DE KRAFT NISTS: RCE

Betsy Platkin Teutsch, Tamburin, USA, 2002 Das Tamburin erklingt an Purim zu Ehren von Esther. Das Objekt zeigt zudem, in welcher Tradition sich die Künstlerin Betsy Platkin Teutsch sieht: Sie verbindet die Heldin der Purim-Geschichte mit der Ikone der amerikanischen Frauen­ bewegung, Rosie the Riveter. Betsy Platkin Teutsch, Tambourine, USA, 2002 The tambourine resounds on Purim in honor of Esther. The artist Betsy Platkin Teutsch connects the heroine of the Purim story with the icon of the American women's movement, Rosie the Riveter.​

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DE In den letzten fünfzig Jahren war der Feminismus eine der treibenden Kräfte bei der Wiederaneignung, Neuinterpretation und Wiederbelebung der jüdischen Tradition. Frauen erlangten nicht nur Führungspositionen in der Wissenschaft, in jüdischen Gemeinden und Institutionen, sondern sie haben mit der Schaffung von Ritualen auch zur Erneuerung der Tradition beigetragen. Bei den meisten dieser Rituale geht es nicht darum, das jüdische Gesetz infrage zu stellen; sie sind vielmehr Ausdruck des Wunschs von Frauen, Rituale auf für sie bedeutungssame Weise zu begehen und ihr Judentum intensiv und mit Tiefe zu leben. Dazu hat sich der jüdische Feminismus in den letzten fünfzig Jahren zwei verschiedener Strategien bedient: Dem Anpassen bestehender Rituale zum einen und dem Entwickeln neuer Rituale zum anderen. Die erste Vorgehensweise, die Anpassung, bedeutet, dass traditionell von Männern praktizierte Handlungen auch Frauen zugestanden werden: das Tragen eines Gebetsschals (Tallit), einer Kopfbedeckung (Kippa) oder von Gebetsriemen (Tefillin) sowie die gleichberechtigte Teilnahme an Gottesdiensten (einschließlich des Vorbetens und der Tora-Lesung). Zu den wichtigen Anpassungen gehört auch die Etablierung spezieller Zeremonien für die Aufnahme neugeborener Mädchen in die Gemeinschaft („Simchat Bat“ – Feier eines Mädchens – oder „Brit Bat“ – Eintritt eines Mädchens in den Bund – genannt). So rückt erstmals das Mädchen in den Mittel­ punkt der Gemeinde; traditionell war diese Aufmerksamkeit

EN In the last fifty years, feminism has been a driving force in reclaiming, reinterpreting and reinvigorating Jewish tradition. Not only have women obtained leadership positions in academia, Jewish communities and institutions, they have also contributed to renewing tradition with the creation of Jewish rituals. Most of these rituals are not meant to challenge Jewish law, they reflect the thirst of women to perform meaningful rituals and to live their Judaism more fully and more deeply. Jewish feminism has taken two different paths: adaptation of existing rituals and creation of new ones. The first path, adaptation, means that practices traditionally performed by men are made available to women: donning a prayer shawl (tallit), a skullcap (kippah) or phylacteries (tefillin), participating equally in religious services (including prayer leading and Torah reading). Other significant adaptations include dedicated ceremonies to welcome a baby girl in the community (called “simchat bat”—the celebration of a girl—or “brit bat”—the girl’s alliance) that brings the girl in the spotlight of the community, an attention traditionally only given to boys at their circumcision. Another lifecycle event that has been reshaped in more egalitarian terms is the batmitzvah, when a child enters adulthood at the age of 13 for a boy, and 12 for a girl. Girls are given more opportunity to lead public prayer, read and comment on Torah in the synagogue, and mark this rite of passage individually rather than as a group, with a deeper engagement in religious life.

Frédéric Brenner, Mitglieder, Studentinnen, Rabbinerinnen und Kantorinnen des Jewish Theological Seminary of America, New York, 1994 Frédéric Brenner, Faculty, Students, Rabbis and Cantors, Jewish Theological Seminary of America, New York, 1994

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Jungen bei ihrer Beschneidung vorbehalten. Ein weiteres wichtiges Lebensereignis, das unter egalitären Gesichtspunkten neugestaltet wurde, ist die Bar Mizwa beziehungsweise Bat Mizwa, bei der ein Junge im Alter von 13 Jahren und ein Mädchen im Alter von 12 Jahren religiös mündig wird. Mädchen dürfen heute vermehrt öffentliche Gebete leiten, in der Synagoge die Tora lesen und kommentieren, sowie diesen

To some feminists, however, adaptation is a good first step, but it is not enough. Some call it “add a woman and stir;” others speak of “replication,” for example when a prayer shawl is decorated with flowers and its stripes woven are in pastel colors. They want to go further. They want to honor women and establish meaningful rituals that are specific to the female experience and body. It began with a dedicated women’s religious service on the new moon (and the new month), when they gather to pray, reflect and study holy texts from their perspective, and under their own leadership. Women’s prayer groups flourished in Orthodox circles in the 1980s and 1990s and were soon supplemented by feminist Seders for Passover. Women have also been meeting and praying together to mark a women’s life unmarked passages: pregnancy and childbirth, infertility, and menopause. After adding feminine imagery to existing prayers (conjuring up Esther, Deborah, Myriam, Naomi and others) and feminizing traditional liturgy (more mothers and daughters, more metaphors about nurturing and caring) Jewish American scholars such as Judith Plaskow (Standing Again at Sinai, 1991), Rachel Adler (Engendering Judaism, 1999), and Vanessa Ochs (Words on Fire, 1990 and Reinventing Jewish Ritual, 2007) have written seminal books about Jewish theology from a feminist perspective. Poets such as Marcia Falk (The Book of Blessings, 1996) and musicians such as Debbie Friedman (Miriam’s Song, 1998) have created new blessings, prayers and songs that are more meaningful to women because they focus on them and celebrate them. Online resources now include Ritualwell.org that curates over 1600 Jewish rituals

Anpassung ist zwar ein guter Anfang, aber noch nicht ausreichend. Initiationsritus individuell und nicht als Gruppe begehen, womit sie stärker in das religiöse Leben einbezogen werden. Für einige Feministinnen allerdings ist Anpassung zwar ein guter Anfang, aber noch nicht ausreichend. Den einen geschieht sie zu sehr nach dem Prinzip „Man füge Frau hinzu und rühre um“; andere sprechen von einem „Abklatsch“, zum Beispiel wenn ein Gebetsschal mit Blumen verziert wird und die Streifen in Pastellfarben gewebt sind. Sie möchten gerne weiter gehen. Sie möchten Frauen als Frauen würdigen und bedeutungsvolle Rituale einführen, die auf die besonderen Erfahrungen und körperlichen Gegebenheiten von Frauen zugeschnitten sind. Den Anfang machte ein spezieller Gottesdienst für Frauen an Neumond (und im neuen Monat), bei dem sie sich

Jewish Feminists­

for all occasions, JOFA (Jewish Orthodox Feminist Alliance), Women of Reform Judaism, Jewish Women’s Archive and other groups that offer traditional readings, workshops, consulting, and other services to support Jewish women. One example is the figure of Myriam, which has gained much importance in Jewish ritual thanks to these committed liturgists and artists. Mainly known as “Moses’ sister” in the Torah, and as someone who suffers from a skin disease after criticizing her brother’s behavior, Myriam the Prophetess ­deserved to be remembered in fairer terms and acquire a voice of her own. She has been integrated to Jewish ritual in different ways by Jewish feminists. Her name is closely associated with mayim, water, and when she died, the Torah says that the well dried up. Besides

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zum Beten, zur Besinnung und zum Studium heiliger Texte in eigener Regie und aus weiblicher Perspektive trafen. In den 1980er- und 1990er-Jahren erlebten die Frauengebetsgruppen in orthodoxen Kreisen einen Boom, und bald kamen feministische Seder zu Pessach hinzu. Außerdem begannen Frauen, sich zu besonderen Themen im Leben einer Frau zum gemeinsamen Gebet zu versammeln, etwa bei Schwangerschaft und Geburt, Unfruchtbarkeit und Menopause. Nachdem den bekannten Gebeten eine weibliche Bilderwelt (Esther, Debora, Miriam, Naomi und andere) hinzugefügt und die traditionelle Liturgie weiblicher gestaltet worden war (durch stärkere Präsenz von Müttern und Töchtern, durch mehr Metaphern aus Erziehung und Pflege), haben jüdisch-amerikanische Wissenschaftlerinnen wie ­ Judith

being a nurturing figure, she is seen as a leadership model on various occasions. One occurrence is the episode in Exodus about the parting of the Red Sea. After Moses sings a song of gratefulness to God, Myriam leads the women in song and dance: “And Myriam the prophetess, the sister of Aaron, took the timbrel in her hand; and all the women went out after her with tambourines and with circle dances. And Myriam answered them: “Sing to God, for he has triumphed gloriously; the horse and his rider has God thrown into the sea.”­ (Exodus 15:20-21) As a counterpart to Moses’ song, the women make a collective effort to thank God for the miracle of parting the sea. This double connection—Myriam as a leader towards freedom and Myriam as source of water—have naturally led to creating a new ritual for Passover, the holiday

Feminist influence on Jewish liturgy, ­theology and practice has been an extra­ ordinary contribution to Judaism. Plaskow („Und wieder stehen wir am Sinai“, 1991, dt. 1992), Rachel Adler („Engendering Judaism“, 1999) und ­Vanessa Ochs („Words on Fire“, 1990 und „Reinventing Jew­ ish Ritual“, 2007) bahnbrechende Bücher über die jüdische Theologie aus feministischer Sicht geschrieben. Autorinnen wie Marcia Falk („The Book of Blessings“, 1996) und Musikerinnen wie Debbie Friedman („Myriam’s Song“, 1998) haben neue Segensformeln, Gebete und Lieder verfasst, die aus Sicht von Frauen mehr Bedeutung ergeben, weil sie Frauen in den Mittelpunkt stellen und würdigen. Inzwischen gibt es Online-Quellen wie ritualwell.org, eine Sammlung von über 1600 jüdischen Ritualen für alle Gelegenheiten, JOFA (Jewish Orthodox Feminist Alliance), Women of Reform Judaism, Jew­ ­ish Women’s Archive und andere Gruppen, die traditionelle Lesungen, Workshops, Beratungen und Unterstützung für jüdische Frauen bereithalten. Die Figur der Miriam zum Beispiel hat dank dieser ambitionierten Liturginnen und Künstlerinnen eine große Bedeutung im jüdischen Ritual gewonnen. Die Prophetin Miriam, die in der Tora vor allem als „Moses’ Schwester“ erscheint und seit ihrer Kritik am Verhalten des Bruders an einer Hautkrankheit leidet, verdiente eine gebührende Würdigung und eine eigene Stimme. Sie wurde von jüdischen Feministinnen auf verschiedene Weise in die jüdische Glaubenspraxis integriert. Miriams Name ist eng mit majim, Wasser, verbunden, und die Tora berichtet, dass nach ihrem Tod eine Quelle versiegte. Sie ist jedoch nicht nur eine nährende Figur, sondern

that celebrates Jewish liberation from Egyptian slavery. Next to Elijah’s cup, which heralds the coming of the Messiah, there is now Myriam’s cup, which is not filled with wine, but with spring water. Many contemporary creations include little bells that also remind of Myriam’s song and dance with timbrels. Artists using different materials have designed their Myriam’s cup, such as Amy Reichert, among others. As an evolving ritual, Myriam’s cup is used in various ways. Some fill it at the beginning of the seder, others after the recitation of the Ten Plagues. Others use it in conjunction with Elijah’s cup at the end of the seder. Some pass it around for everyone to take a drink, others pour water from the cup into individual glasses. Whatever the custom, Miriam’s cup enhances the celebration of a historic event in the Jewish people’s history. In the footsteps of Myriam, Esther is celebrated on Purim, and Ruth and Naomi on Shavuot, while Deborah and Hannah have received more attention in Torah study. Women are more active in Judaism and in enriching Jewish tradition, and continue to create, imagine, and implement rituals that are necessary in their modern lives as women, mothers, spouses, sisters and daughters. The feminist influence on Jewish liturgy, theology and practice has been an extraordinary contribution to Judaism at large, enriching Jewish identity, encouraging religious practice, promoting actual inclusion, bringing new meaning to tradition and inspiring creativity in making ritual objects. And this formidable impulse is only beginning.

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wird an verschiedenen Stellen auch als vorbildliche Anführerin beschrieben. Ein Beispiel dafür ist der Abschnitt im Buch Exodus über die Teilung des Roten Meeres. Nachdem Moses Gott ein Dankeslied gesungen hat, führt Miriam die Frauen bei Gesang und Tanz an: „Die Prophetin Miriam, die Schwester Aarons, nahm das Tamburin in die Hand, und alle Frauen zogen mit Tamburinschlag und Tanz hinter ihr her. Miriam sang ihnen vor: „Singt Gott ein Lied, / denn er ist hoch und erhaben! / Ross und Reiter warf er ins Meer.“ (Exodus 15,20–21) Als Gegenstück zu Moses’ Lied danken die Frauen Gott gemeinsam für das Wunder der Teilung des Meeres. Diese doppelte Verbindung – Miriam als Anführerin in die Freiheit und Miriam als Wasserquelle – hat wie selbstverständlich zu einem neuen Ritual an Pessach geführt, also zu dem Fest, das die Befreiung der Jüdinnen und Juden aus der ägyptischen Sklaverei feiert. Neben dem Elias-Becher, der das Kommen des Messias ankündigt, gibt es nun den Miriams-Becher, der nicht mit Wein, sondern mit Quellwasser gefüllt ist. Viele zeitgenössische Entwürfe des Bechers sind mit Glöckchen versehen, die an Miriams Gesang und Tanz mit dem Tamburin erinnern. Künstlerinnen und Künstler haben aus unterschiedlichen Materialien ihren eigenen Miriams-Becher gestaltet, zum Beispiel Amy Reichert. Wie der Miriams-Bechers in dem neuen Ritual eingesetzt wird, ist sehr unterschiedlich. Einige füllen ihn zu Beginn des Seder, andere nach der Vorlesung der Zehn Plagen. Wieder andere verwenden ihn zusammen mit dem Elias-Becher am Ende des Seder-Abends. Manche reichen ihn herum, damit alle einen Schluck daraus nehmen können, andere gießen das Wasser aus dem Becher in einzelne Gläser. Wie auch immer dieser Brauch gelebt wird: der Miriams-Becher bereichert die Feierlichkeiten zu einem historischen Ereignis in der Geschichte des jüdischen Volkes. Nach dem Vorbild von Miriam werden Esther an Purim und Rut und Naomi an Schawuot gefeiert, während Debora und Hannah im Tora-Studium größere Beachtung gefunden haben. Frauen sind im Judentum und in der Weiterentwicklung der jüdischen Tradition aktiver als früher und begründen, entwickeln und praktizieren beständig Rituale, die für ihr modernes Leben als Frauen, Mütter, Ehefrauen, Schwestern und Töchter nötig sind. Der feministische Einfluss auf die jüdische Liturgie, Theologie und Religionsausübung stellt einen einzigartigen Impuls für das Judentum dar. Er bereichert die jüdische Identität, stärkt die religiöse Praxis, und treibt die tatsächliche Inklusion voran; er verleiht der Tradition neuen Sinn und inspiriert die Kreativität zur Herstellung neuer ritueller Gegenstände. Und dieser mächtige Impuls ist erst der Anfang.

Brigitte Sion hat an der New York University in Performance Studies promoviert und ist Expertin für Gedenkstätten und Gedenkpraktiken. Sie befasst sich dabei unter anderem mit Ritualen, der materiellen Kultur und Tourismus. Brigitte Sion holds a PhD in Performance Studies from New York University and is an international expert on memorial museums and memorial practices, including rituals, material culture and tourism.

Amy Reichert, Miriams-Becher II, 2008 Amy Reichert, Miriam's Cup II, 2008 Jewish Feminists

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IM NETZ ONLINE Since 2017, there has once again been a Jewish carnival association on the Rhine—the Kölsche Kippa Köpp. The logo is emblazoned with three Ks and decorates the association’s jester’s cap. The Ks are a reference to the Kleiner Kölner Klub, active during the Weimar Republic. www.jmberlin.de/kraetzchen www.jmberlin.de/en/carnival-cap

INTERVIEW MIT PAULA NEWMAN POLLACHEK INTERVIEW WITH PAULA NEWMAN POLLACHEK Inspiriert von einer Erzählung über sephardische Gemeinden in Marokko, die frische Blumen für die Hawdala-Zeremonie verwendeten, schuf Paula Newman Pollachek ihr Hawdala-Besamim-Set. Im Gespräch verrät sie, wie die Blumen im Handgepäck nach Berlin kamen und welche Rolle sie beim Ritual einnehmen. Inspired by a story about the Sephardic communities in Morocco who used fresh flowers for the Havdalah ceremony, Paula Newman Pollachek created her own Havdalah besamim set. In this interview, she explains how the flowers were transported to Berlin and what role they play in the ritual.

EINE ARCHE ZUR BAR MITZWA BAR MITZVAH ARK Vor unserem Lesesaal im Akademiegebäude ist eine Arche vor Anker gegangen und dort für das Publikum dauerhaft zu sehen. Was hat es mit der Arche auf sich? Begleiten Sie uns ins Jahr 1980 zur Synagoge am Fraenkelufer und in die Jüdische Abteilung im Gropius Bau. An ark has dropped anchor in front of our reading room and will be on permanent display for the public. But what is the story behind the vessel? This online feature will transport you to the Fraenkelufer Synagogue in 1980 and the Jewish Department in the Gropius Bau. www.jmberlin.de/arche-bar-mizwa-benjamin-marcus www.jmberlin.de/en/bar-mitzvah-ark-benjamin-marcus

www.jmberlin.de/interview-paula-newman-pollachek www.jmberlin.de/en/interview-paula-newman-pollachek

JÜDISCHE KARNEVALSTRADITION JEWISH CARNIVAL TRADITION Seit 2017 gibt es wieder eine jüdische Karnevalsgesellschaft am Rhein – die Kölsche Kippa Köpp. Drei Ks zieren das Logo, das wiederum die Narrenkappe des Vereins veredelt. Der Name verweist bewusst auf den Kleinen Kölner Klub, der in der Weimarer Republik aktiv war.

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Im Netz


ALTE RITEN, NEUE BRÄUCHE OLD RITUALS, NEW COSTUMS Traditionen sind geliebt – und wandelbar. Mitarbeiter*innen des Museums erzählen von besonderen Traditionen zu jüdischen Feiertagen. Even beloved tradition can be changed, adapted and revived: Museum employees talk about traditions on Jewish holidays. www.jmberlin.de/liste-alte-riten-neue-braeuche www.jmberlin.de/en/list-old-rituals-new-customs

DAS GROSSE PUTZEN THE BIG CLEAN-UP Pessach ist nicht nur das Fest der ungesäuerten Brote, sondern auch das Fest des Frühjahrsputzes. So sieht es jedenfalls Dana Akrish, die die Besonderheiten der Pessach-Vorbereitungen in Jersualem humorvoll kommentiert. Passover is not only the feast of unleavened bread, but also the feast of spring cleaning. At least, that’s how Dana Akrish sees it, commenting in a humorous way on the peculiarities of Passover preparations in Jerusalem. www.jmberlin.de/grosses-putzen-pessach-in-jerusalem www.jmberlin.de/en/big-clean-up-passover-in-jerusalem

EIN FENSTER ZUR GESCHICHTE A SMALL WINDOW ONTO HISTORY Eine auf den ersten Blick unscheinbare Pessach-Haggada führte Aubrey Pomerance, Archiv­leiter des JMB, zur Geschichte der drei jüdischen Familien Aron, Salomon und Stern, die um die Jahrhundertwende in unmittelbarer Nachbarschaft des heutigen M ­ useums Pessach feierten. A Passover Haggadah, unassuming at first glance, led Aubrey Pomerance, Head of Archives at the JMB, to the story of the three Jewish families, Aron, Solomon, and Stern, who celebrated Passover at the turn of the century in the immediate vicinity of what is now the Jewish Museum. www.jmberlin.de/pessach-haggada-aus-kreuzberg www.jmberlin.de/en/passover-haggadah-kreuzberg

BITTERE KRÄUTER UND IHRE VERWANDTEN BITTER HERBS AND THEIR RELATIVES Was haben Endivien, Kopfsalat, Kerbel, Löwen­ zahn und Meerrettich gemeinsam – abgesehen davon, dass sie alle essbar sind? Sie alle können als „Bitterkraut“ auf dem Sederteller landen. Tanja Petersen betrachtet das Pessach-Fest von seiner botanischen Seite. What do endive, lettuce, chervil, dandelion and horseradish have in common—apart from the fact that they are all edible? They can all end up as “bitter herbs” on the seder plate. Tanja Petersen takes a look at Passover’s botanical side.

Diese Miniatur-Dampfwalze des Künstlers Avi Biran dient der rituellen Suche nach Gesäuertem (Jerusalem, 2008). This miniature steamroller by the artist Avi Biran is put to work in the ritual search for leavened grain (Jerusalem, 2008).

EIN KINDERMÄRCHEN A CHILDREN’S TALE Die Verankerung in Religion und Tradition bietet Halt, auch Kindern. Dieser Einsicht folgend veröffentlichte Ilse Herlinger 1928 den Band „Jüdische Kindermärchen“ – darin enthalten „Der Ring des Propheten“. Frisch illustriert und animiert von Florian Schmeling. Religion and tradition offer support, also to children. Following this insight, Ilse Herlinger published the book Jüdische Kindermärchen (Jewish Children’s Tales) in 1928. It includes the story of “The Prophet’s Ring,” recently illustrated and animated by Florian Schmeling. www.jmberlin.de/der-ring-des-propheten www.jmberlin.de/en/the-prophets-ring

www.jmberlin.de/bitterkraeuter-garten-der-diaspora www.jmberlin.de/en/bitter-herbs-passover Online

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Was bleibt ohne Religion? What’s Left Without Religion? Text

Debora Antmann Artikel_Headline_EN

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DE Eine Frage, die wir uns als junge sehnsüchtige Jüdinnen*Juden so wahrscheinlich besonders in Deutschland stellen. Denn wo sonst ist Judentum und jüdische Praxis gleichbedeutend mit religiösen Strukturen und Zugängen? Wo sonst wird „jüdisch“ oder noch konkreter Jüdisch-Sein synonym mit jüdischem Glauben verwendet? In anderen ­Ländern gibt es ein gelebtes Verständnis von kulturellem oder familiärem Judentum; fast überall sogar einen vielschichtigen Diskurs zu unseren unterschiedlichen Realitäten jenseits der religiösen Welt. Und dort, wo es keine Diskurse dazu gibt, liegt das anders als z.B. in Deutschland nicht daran, dass Jüdisch-Sein auf eine religiöse Zugehörigkeit verengt wird, sondern daran, dass der kulturelle, soziale und familiäre Aspekt als so naheliegend empfunden wird, dass ein Diskurs abwegig ist. Also, was ist nun mit jenen von uns, die sich hier die Frage stellen, was bleibt, wenn die religiöse Praxis, die Religion selbst keine Rolle spielt? Für mich und viele junge ­Jüdinnen*Juden in Deutschland gehört die Sehnsucht nach jüdischen Orten und nach mehr Jüdischkeit in unserem Leben zu unserer jüdischen Realität. Gleichzeitig streben wir aber eben nicht nach Religiosität, sondern im Gegenteil: Viele von uns haben keine Lust diese zu performen, nur um unser Recht auf jüdische Vernetzung und Anbindung zur eigenen Tradition erfüllt zu bekommen. Aber was tun, wenn die Infrastrukturen, die existieren, eben fast ausschließlich institutionalisiert, zentralisiert und religiös geprägt sind? Und weder eine junge politisierte, kritische jüdische Generation Lust auf diese Institutionen hat, noch die Institutionen Interesse an unseren jungen, politisierten und vor allem säkularen Forderungen zeigen? Selber Strukturen schaffen! In Form von Räumen, Traditionen und Netzwerken. Innerhalb der letzten Jahre wurden junge, politisierte jüdische Stimmen wieder lauter. Und statt Einzelstimmen zu bleiben, bauen wir Community – jenseits der Gemeinden. Das erste Mal seit Jahrzehnten ist es absehbar, dass jüdische Community in Deutschland vielleicht irgendwann nicht mehr synonym mit jüdischer Gemeinde zu setzen ist. Beispiele dafür sind „Jüdisch und Intersektional“, 2020 von Miriam Yosef und Ina Holev gegründet; Tamara Loewenstein rief die Reihe „Queer Jewish Futures“ als Gegengewicht zum rückgewandten Blick des Themenjahres „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ ins Leben. In Köln und Leipzig haben sich junge Jüdinnen*Juden gefunden, die jen-

EN This is a question that as young, longing Jews we would especially ask in Germany. Because where else is Judaism and Jewish Life identical to religious structures and approaches? Where else is “Jewish” or, more specifically, “Jewishness” used synonymously with the Jewish faith? In other countries there is at the very least a lived understanding of cultural and household Judaism. Almost everywhere there is even a multifaceted discourse on our different realities beyond the religious world. And where there is no discourse, it is—in contrast to Germany—not because being Jewish is reduced to religious affiliation, but because the cultural, social, and family aspects are experienced as so natural and obvious that even the notion of a discourse is absurd. But what about those of us who ask about what is left when religious practice and the religion itself doesn’t play a role? For myself as for many young Jews in Germany, the longing for Jewish places and more Jewishness in our lives is part of our Jewish reality. At the same time we are striving specifically not for religiosity, but on the contrary: many of us do not want to have to act this out in order to satisfy our right to Jewish networking and a connection to our own tradition. And what should we do if the existing infrastructure is in fact almost exclusively institutionalized, centralized, and influenced by religion? And if neither a young, politicized, critical Jewish generation wants to have anything to do with these institutions, nor do the institutions show any interest in our young, politicized, and especially secular demands? Create our own structures! In the form of spaces, traditions, and networks. Over the last few years, young, politicized Jewish voices have started growing louder. And instead of individual voices, we are building a community—outside of the official Jewish institutions. For the first time in decades, it is conceivable that the communities of Jews in Germany might someday no longer be synonymous with the official, institutionalized Jewish Community. Some examples of this are: “Jewish and Intersectional,” a group founded in 2020 by Miriam Yosef and Ina Holev; Tamara Loewenstein started the “Queer Jewish Futures” ­series as a counterweight to the retrospective, historical view of the “1700 Years of Jewish Life in Germany” year of cele­bration. In Cologne and Leipzig, young Jews have gotten together to rediscover traditions beyond religion and Jewish pressure to perform and to adapt, try out, and celebrate them in keeping with their daily lives and their feminism. The Feminist Jewligans, an underground Jewish gang that formed

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Was bleibt ohne Religion?


seits von Religion und jüdischem Leistungsdruck Traditionen neu entdecken und ihrem Alltag und ihrem feministischen Verständnis entsprechend anpassen, ausprobieren und feiern. Im Untergrund bildet sich heimlich die jüdische Gang „Feminist Jewligans“, die für 2022 bundesweit ihre ersten ­Aktionen zur jüdischen Gegenwehr plant. Online gründen sich monatliche, jüdische FLi*n*t*a*-Austauschräume wie „Tsuris & Tseschmetter“ bzw. „Über Angst Reden“. Es werden säkulare queer_feministische Haggadot ausgetauscht oder Guides für säkulare queer_feministische Hawdala-Riten geschrieben. Denn Riten können sich auch in unseren politischen Werten statt in Gott begründen, und gerade jüdische Praxis öffnet dafür Universen an Möglichkeiten. Wir benennen diskriminierende Größen wie das Normative und nicht nur „das Andere“ und schlafen dabei glücklich mit Judith Coffeys und Vivien Laumanns „Gojnormativität“ neben dem Kopfkissen ein. Wir feiern und folgen und pushen uns gegenseitig in den sozialen Medien, planen radikal jüdische Institute oder warten, dass endlich Nui Arendts Buch erscheint, während wir noch das neue von Sasha Marianna Salzmann lesen. Wir schalten uns zu den Feiertagen zusammen. Manchmal kennen wir uns nur kurz und manchmal mindestens eine gefühlte Ewigkeit. In jedem Fall lang genug, um gemeinsam erst unsicher und dann experimentierfreudig herauszufinden, wie viel Klassik, wie viel Freestyle und wie viel feministische Neuerfindung uns guttut, wenn wir unsere eigenen Traditionen schaffen. Manche von uns lernen Jiddisch, um diesen hochgradig politisierten Teil jüdischer Kultur nicht verlorengehen zu lassen und der Sprache die Würdigung zu geben, die sie verdient. Andere beschäftigen sich intensiv mit Aschkenormativität, damit wir die Verantwortung miteinander und untereinander nicht aus den Augen verlieren. Wir schaffen neue Konzepte von Selfcare und Solidarität aus unseren eigenen Traditionen und Wurzeln heraus, finden neue Begriffe und Sprache, um unseren Alltag zu benennen und Fremdbezeichnungen abzulösen. Und das alles bringen wir in unsere Räume, Workshops, DMs, Chats, Netzwerke, Bücher, Telefonate, Treffen, Feiertage, um etwas zu formen, in dem wir zuhause sind. So jüdisch und politisch und kritisch und säkular, wie wir sind. Amen.

secretly, is planning their first nationwide actions on Jewish resistance for 2022. And monthly online Jewish FLI*N*T*A* 1 exchange and empowerment sites are being founded, such as “Tsuris & Tseschmetter” (Troubles and Smash to Pieces) or “Über Angst Reden” (Talking About Fear). Secular, queer-feminist Haggadot are shared and guides for secular, queer-feminist Havdalah rituals are written—because rituals can also be grounded in our political values instead of in God. Precisely Jewish practice opens up a universe of possibilities for that. We call out discrimination by naming that which is normative and not only the “other” and we happily sleep with Judith Coffey’s and Vivien Laumann’s book on “goy normativity” next to our pillows. We celebrate and follow and push each other on social media, plan radical Jewish institutes, or wait until Nui Arendt’s book is finally available, while we are still reading the new book by Sasha Marianna Salzmann. We interconnect with each other for the holidays. Some of us have known each other for only a short time and some for at least what feels like an eternity. In any case long enough to first feel uncertain together and then adventurously try to discover how much classical, how much freestyle, and how much feminist reinvention is good for us as we create our own traditions. Some of us learn Yiddish in order not to let this extremely politicized part of Jewish culture be lost and to give the language the dignity that it deserves. And some are dealing intensively with Ashkenormativity, so that we don’t lose sight of our responsibility for each other and among ourselves. We create new concepts of self-care and solidarity based on our own traditions and roots; we find new terms and language to name our everyday experiences and to supersede names imposed by others. And all of this we bring to our spaces, workshops, DMs, chats, networks, books, telephone conversations, meetings, and holidays in order to form something we feel at home with. As Jewish and political and critical and secular as we are. Amen. Debora Antmann ist freie Autorin und politische Bildnerin für die Schnittstelle Judentum, Feminismus und Queer-Studies. Sie hat in unterschiedlichen Medien zu jüdisch-feministischer Bewegungsgeschichte publiziert und arbeitet am JMB als wissenschaftliche Mitarbeiterin für Jewish Places. Debora Antmann is a freelance writer and political educator working at the intersection between Judaism, feminism, and queer studies. She has published about the history of the Jewish feminist movement in a variety of media and is responsible for the platform Jewish Places.

1 German acronym for female, lesbian, inter*, nonbinary, trans* and agender people (translator's note). What’s Left Without Religion?

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Text

Elad Lapidot

RADIKALE TRADITION 48

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Bereschit. Im Anfang. Vom ersten Wort an erzählt der jüdische Text vom Anfang, und damit vom Vergangenen. Die Vergangenheit zu erzählen bedeutet Überlieferung, einen Akt des Annehmens und Weitergebens. Judentum ist Tradition, von Bereschit an. Bereshit. At the beginning. From its first word, the Jewish text tells the beginning, the past. Telling the past is transmission, an act of receiving and passing on. Judaism, from bereshit, is tradition. DE Die Tradition des Judentums nach Bereschit ist eine Tradition der Tradition. Die Bücher sind voll mit Geschichten über Geschenke und deren Annahme: die Schöpfung, das Geschenk der Welt; die Tora, das Geschenk des Gesetzes; die Prophetie, das Geschenk des Wortes. Alles wird überliefert, erzählt und nacherzählt, geschrieben und nachgelesen, alles wird gelehrt. Die Tradition der Tradition wurde durch das Judentum der Lehrenden, der Rabbiner, perfektioniert, die nicht das Wort Gottes, sondern das Wort der Rabbiner überliefern. Rabbinische Arbeit ist Mischna, Rezitation, Wiederholung, und Talmud, also Studium, Exegese, Kommentar. Prophezeiung ist für die Rabbiner Masora, „Überlieferung“, und selbst die Mystik ist Kabbala, „Übernommenes“. Der Gedanke, dass das Judentum im Wesentlichen Tradition ist, eine Tradition der Tradition, wird im Kontrast zu anderen Traditionen deutlich. Die Tradition der Philosophie geht auf die sokratische Ablehnung aller überkommenen Lehren als Meinungen zurück, die sich angesichts der selbstverständlichen Wahrheit der selbsterkennenden Vernunft in Wohlgefallen auflösen. Der Philosoph übernimmt nicht – er sucht. Den stärksten Kontrast zur jüdischen Tradition der Tradition stellt jedoch das Christentum dar. Christus geht aus der jüdischen Tradition hervor als deren Ende und Vollendung: Das Wort wird Fleisch, das Gesetz wird Leben, die Verheißung erfüllt sich, das Geschenk wird angenommen. Das messianische Ende setzt den Anfang als Anfang wieder ein, es beginnt neu, erklärt das Neue zum Jetzt. Das christliche Neue stellt das Jüdische als das Alte hin, das NichtNeue, das Nie-Neue, die Absage an Erneuerung, an Leben. Das Judentum, die Tradition der Tradition, verkörpert fortan die Perversion der Tradition, die Perversion einer Tradition, die die eigentliche von ihr überlieferte Wahrheit durch ihre eigene Präsenz verdrängt.

EN The tradition of Judaism, following bereshit, is a tradition of tradition. The books are brimming with tales of gifts and receipts: creation, gift of world; torah, gift of law; prophecy, gift of word. All is transmitted, told and retold, written and reread, all is taught. The tradition of tradition was perfected by the Judaism of the teachers, of rabbis, who transmit not the word of God, but the word of rabbis, of transmitters. Rabbinic work is Mishnah, recitation, repetition, and Talmud, namely study, exegesis, commentary. Prophecy for the rabbis is Massorah, “transmission”, and even mysticism will be Kabbalah, “reception”. The notion that Judaism is essentially tradition, a tradition of tradition, gains clarity in its contrast with other traditions. The tradition of philosophy harks back to the Socratic dismissal of all received teachings as opinions, which

The notion that Judaism is essentially tradition, a tradition of tradition, gains clarity in its contrast with other traditions. dissolve before the self-evident truth of the self-instructing reason. The philosopher does not receive—he seeks. But the starkest contrast to Jewish tradition of tradition was offered by Christianity. Christ arises from within Jewish tradition as its end and completion: word become flesh, law turned life, promise fulfilled, gift received. The messianic end restores the beginning as beginning, it recommences, proclaims the new as now. The Christian New posits the Jewish as Old, which is not just the old-new, but the non-new, the never-new, the rejection of renewal, of life. Judaism, the tradition of tra-

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Radikale Tradition


Versteht man das Judentum als Tradition der Tradition, begreift man auch das Drama des modernen Judentums. Die Moderne tritt als radikaler Bruch mit aller Tradition auf. Die Moderne wiederholt die christliche Verkündigung des Endes sowohl des Alten als auch des Neuen. Sie radikalisiert die christliche Aufhebung der Tradition, indem sie diese auf die christliche Tradition selbst anwendet, zunächst in Form des internen Protests des christlichen Glaubens gegen die christlichen Institutionen, dann, indem sie das Neue von Christus emanzipiert und die Moderne für säkular erklärt. Die säkulare

Versteht man das Judentum als Tradition der Tradition, begreift man auch das Drama des modernen Judentums. Moderne ist vollkommen frei, befreit von aller Vergangenheit, von allem Gegebenen und überkommenen Wahrheiten, befreit von allen Gesetzen, allem Herkommen, allen Traditionen. Das Säkulare, weder jüdisch noch christlich, erklärt sich zum Menschlichen. Das Menschliche folgt keinen Gesetzen als denen, die es sich selbst gibt, die sich das autonome Individuum und der*die Bürger*in selbst geben. Die Negation der Tradition führt auch zur Konstitution moderner kollektiver Identitäten. Die moderne Nation erscheint als „tägliches Plebiszit“ (Ernest Renan), als kollektiver Wille, als Willenskollektiv, das sich von Geschichte, Religion, Brauchtümern und Sitten befreit, das die Tradition hinter sich lässt und sich als absolutes Beisichsein des Nationalstaates Geltung verschafft. Wie konnte das Judentum, die Tradition der Tradition, ein Teil der Moderne – des Bruchs mit aller Tradition – werden? Das war die Judenfrage als Frage der Juden. Verschiedene jüdische Antworten darauf haben verschiedene moderne Formen des Judentums begründet. Sie zeichnen sich durch eine Dialektik von Moderne und Tradition aus, bei der die Moderne die Tradition nicht ausradiert, sondern im Gegenteil als Negativ der Moderne betrachtet, durch dessen Negation sich die Moderne wiederum definiert. Die offensichtlichste Verkörperung des modernen Judentums sind die von der Tradition befreiten, assimilierten, säkularen, bürgerlichen, also modernen Jüdinnen und Juden. Sie sind Juden ohne Judentum, Nicht-Jüdinnen und NichtJuden, entjudaisiert. Die Dialektik besteht dabei darin, dass entjudaisierte Jüdinnen und Juden dennoch durch die jüdi-

dition, will come to epitomize the perversion of tradition, the perversion that is tradition, which supplants by its own presence the very truth that it transmits. Thinking of Judaism as tradition of tradition enables to grasp the drama of modern Judaism. Modernity emerges as the radical break with all tradition. The Modern reproduces the Christian proclamation of the end, the old and the new. It radicalizes the Christian abolishment of tradition by applying it to Christian tradition itself, first as the inner protest of Christian faith against Christian institutions, then by enfranchising the New from Christ and declaring modernity secular. The secular modern is absolutely free, from all past, from all givens and received truths, liberated from all laws, names and traditions. Neither Jewish nor Christian, the secular declares itself human. The human follows no laws but those self-given, by the individual to herself as autonomous and by the citizen to herself as sovereign. Negation of tradition also constitutes modern collective identities. The modern nation emerges as “a daily plebiscite” (Ernest Renan), namely as the collective will, the collective of will, that redeems itself from history, religion, folklore, customs, that transcends tradition, and asserts itself as the absolute self-presence of the nation-state.

How could Judaism, the tradition of tradition, become part of modernity, the break with all tradition? How could Judaism, the tradition of tradition, become part of modernity, the break with all tradition? This was the Jewish Question. Various Jewish responses constituted various modern Judaisms. They feature a dialectics of modernity and tradition, where modernity does not erase tradition, but, on the contrary, posits tradition as modernity’s negative, against which the modern defines itself. The obvious embodiment of modern Judaism is the Jew who is liberated from tradition, assimilated, secular, citizen—modern. She is the Jew without Judaism, the nonJewish, de-judaized Jew. The dialectics here is that the dejudaized Jew nonetheless remains defined by and attached to Jewish tradition as what she left behind. To remain assimilated, the assimilated Jew must remain (non-)Jewish. She continues to embody the tradition she cancels, by carrying on the Jewish as designation, as Jewish names, as memory,

Seite 48/49: In der Dauerausstellung des JMB sind im Raum „Das jüdische Objekt“ fast hundert zeremonielle Gegenstände ausgestellt. Im Zentrum der Vitrine befinden sich eine Tora-Rolle und andere Pergamente mit handgeschriebenen biblischen Texten. Diese Manuskripte gelten als kadosch, heilig, weil sie das Wort Gottes enthalten. Sie werden sorgfältig von einem Sofer (einem ausgebildeten Schreiber) geschrieben, und der Text darf nicht verändert werden. Die Form der meisten rituellen Gegenstände hingegen ist variabel und wird von der Person bestimmt, die sie herstellt. Page 48/49: In “The Jewish Object” section of the JMB’s core exhibition, a large showcase displays close to one hundred ceremonial objects. A Torah scroll, and other parchments with hand-written biblical texts, are featured in the center. These manu­scripts are considered as kaddosh, holy, because they contain the word of God. They are carefully written by a sofer (trained scribe) and the text may not be altered. The form of most ritual objects is adaptable and is determined by the maker. Radical Tradition

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sche Tradition, die sie hinter sich gelassen haben, definiert werden und ihr verbunden bleiben. Um assimiliert zu bleiben, müssen die assimilierten Jüdinnen und Juden (nicht-)jüdisch bleiben. Sie verkörpern nach wie vor die aufgegebene Tradition, indem sie das Jüdische als Bezeichnung, als jüdische Namen, als Erinnerung, als Genealogie, als Beschneidung, als Spuren des Jüdischseins in sich tragen. Wenn sie all das ablehnen, verkörpern sie immer noch die Ablehnung und werden zur lebendigen Spur des Vergessens, sich selbst Lügen strafend. Die nicht-jüdischen Jüdinnen und Juden sind stets im Verdacht, insgeheim zu bewahren, was sie abzulehnen vorgeben, stets der heimlichen Tradition durch Verschwörung oder kraft ihrer Abstammung verdächtig. Die zentrale Dialektik des modernen Judentums besteht darin, dass der Bruch mit der Tradition – die Schaffung der modernen säkularen Jüdinnen und Juden – ein Verständnis der Tradition erfordert, das ebenso tief ist wie das Verlangen nach einem Bruch mit ihr. Die Moderne setzte darauf, die im rabbinischen Judentum verkörperte jüdische Tradition der Tradition als historische Erscheinung darzustellen, die nur noch Gegenstand von Geschichte und Philologie ist. Jüdinnen und Juden, die den rabbinischen Traditionen treu bleiben, seien sie orthodox oder ultra-orthodox, werden als nicht zur Moderne gehörend wahrgenommen, sondern als sonderbare Relikte der Vergangenheit. Für säkulare Jüdinnen und Juden sind die Ultraorthodoxen gleichzeitig peinlich und lebendiges Sinnbild des authentischen Judentums, das dem Säkularismus seine Bedeutung verleiht. Die Ironie daran ist, dass die Orthodoxie selbst ein Produkt der Moderne und ein zentrales Element des modernen Judentums ist, nämlich die traditionalistische Antwort auf die Antitradition. Tradition wird vom Modernismus ebenso hervorgebracht wie Religion von der Säkularität.

Tradition wird vom Modernismus ebenso hervorgebracht wie Religion von der Säkularität. Das Eingreifen der Moderne in die jüdische Tradition beschränkt sich nicht auf die einfache Dialektik einer modernen Antitradition, die eine antimoderne Tradition hervorbringt, sondern es ist komplizierter. Das moderne Judentum – wie die Moderne überhaupt – ist am überzeugendsten, wenn es die Tradition nicht ablehnt, sondern sich auf sie zurückbesinnt, also die Tradition nach dem Bild der Moderne neu

as genealogy, as circumcision, as hints of Jewishness. If she refuses all this, she still embodies the refusal, and becomes the living trace of forgetting, which belies its own doing. The non-Jewish Jew is constantly suspect of secretly preserving what she pretends to reject, always a suspect of secret tradition, by the force of conspiracy or race. The core dialectics of modern Judaism is that the project of break with tradition—the creation of the modern secular Jew—requires the equally powerful grasp of tradition as begging a break. Modernity invested in representing Jewish tradition of tradition, epitomized in rabbinic Judaism,

Modern Judaism—as ­modernity in general—is most powerful not in rejecting, but in reclaiming tradition. as a thing of the past, as the sole object of history and philology. Jews who remain faithful to rabbinic traditions, orthodox, ultra-orthodox, are perceived as not belonging to modernity, as an odd relic. For the secular Jew the ultraorthodox are an embarrassment and at the same time the living image of authentic Judaism, which gives meaning to secularism. The irony is that orthodoxy itself is a creation of modernity, a central figure of modern Judaism, namely as the traditionalist retort to anti-tradition. “Tradition” is generated by modernism, just like “religion” is produced by secularism. The intervention of modernity in Jewish tradition is most intricate not in the mere dialectics of modern anti-tradition producing anti-modern tradition. Modern Judaism—as modernity in general—is most powerful not in rejecting, but in reclaiming tradition, that is in recreating tradition in modernity’s image. In the logics of reformation, similar to Christian renewal, the new, the modern does not simply define itself as breaking with tradition. Rather, this break is performed as a return to the origin of tradition, to Bereshit, with which tradition itself would be the break, such that the modern, breaking the break, asserts itself as the real tradition. For modern Judaism, the real tradition behind Jewish tradition arises as the Bible behind the Talmud, as the prophets and kings eclipsed by rabbis. In prophecy, modern Judaism recreates Jewish tradition as religion, ethics or philosophy; in kingship—as the tradition of the nation-state. In both cases, Jewish tradition is reimagined not as opposed to modernity, but as its origin.

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erschafft. Ähnlich wie bei der Erneuerung durch das Christentum definiert sich das Neue, das Moderne, in der Logik der Reformation nicht einfach als Bruch mit der Tradition. Vielmehr vollzieht sich dieser Bruch als Rückkehr zum Ursprung der Tradition, zu Bereschit, womit die Tradition selbst der Bruch ist und die Moderne, die den Bruch bricht, sich zur wahren Tradition erklärt. Für das moderne Judentum ist die eigentliche Tradition hinter der jüdischen Tradition die Bibel hinter dem Talmud, die Propheten und Könige, die von den Rabbinern in den Hintergrund gedrängt wurden. Mit den Propheten erneuert das moderne Judentum die jüdische Tradition als Religion, Ethik und Philosophie, mit dem Königtum die Tradition als Nationalstaat. In beiden Fällen wird jüdische Tradition nicht als Gegensatz zur Moderne, sondern als deren Ursprung neu aufgefasst. Das gegenwärtige Judentum bemüht sich, eine Antwort auf die Postmoderne zu finden. Die Postmoderne stellt den behaupteten Bruch der Moderne mit jeglicher Tradition infrage, indem sie zuallererst die Moderne selbst als Ergebnis und Fortsetzung einer spezifischen Tradition entlarvt, nämlich der westlichen, europäischen, griechisch-jüdisch-christlichen Tradition. Was die Moderne im Wesentlichen zustande gebracht hat, so die postmoderne Sicht, ist die Fortschreibung dieser europäischen Tradition als absolute Nicht-Tradition mit dem absoluten Anspruch auf globale Verbreitung. Nach den massiven Gewalterfahrungen der Moderne, dem Imperialismus, dem Kolonialismus, der Sklaverei, dem Holocaust und den Weltkriegen, stellt sich der moderne Bruch mit der Tradition im Rückblick tatsächlich dar, als hätte die europäische Tradition alle anderen Traditionen als nichtmoderne „Traditionen“ ausgelöscht und Europa selbst von der Tradition in die Allgegenwart versetzt. Die aktuelle Antwort auf diesen Prozess der Moderne besteht – außer in der Entlarvung der Moderne als europäisch – in der Rückbesinnung auf außereuropäische Traditionen und im Wiederaufgreifen der Traditionsfrage, nicht zuletzt im Hinblick auf Politik. In den letzten Jahrzehnten waren die zeitgenössischen jüdischen Kulturen aufgerufen, sich zu der erneut gestellten Traditionsfrage zu positionieren. Die postmoderne Abschaffung des modernen Banns über die Tradition und die Aufwertung außereuropäischer oder nichthegemonialer Kulturen sind eine Einladung an Jüdinnen und Juden, sich an der globalen Auseinandersetzung zu beteiligen, indem sie an jüdische Traditionen anknüpfen, die vom europäischen Säkularismus unterdrückt wurden, etwa talmudische Kulturen. Das dürfte nicht die Lösung der „Judenfrage“, sondern ihre Auflösung bedeuten.

Radical Tradition

Contemporary Judaism works on responding to post-modernity. The postmodern calls into question modernity’s alleged break with all tradition, first and foremost by unveiling the modern itself as arising from and transmitting a specific tradition, namely the Western, European, Greco-Judeo-Christian. The basic operation of modernity, so the postmodern reflection, is to have passed on this European tradition as the absolute no-tradition, with a universal claim for global spread. After the great modern violence, of imperialism, colonialism, slavery, Holocaust and world wars, the modern break with tradition appears in retrospect to have in fact signified the effacement by European tradition of all other traditions, as non-modern “traditions”, and the conversion of Europe itself from tradition to omnipresence. The contemporary response to this modern operation, beyond the unveiling of modernity as European, consists in reclaiming non-European traditions and in reopening the questions of tradition, not the least in relation to politics. It is in relation to the reopened question of tradition that contemporary Judaisms have been called in the last decades to position themselves. The postmodern removal of the modern ban on tradition, and the revalorization of non-European or non-hegemonic cultures invite Jews to participate in the global conversation by reconnecting with Jewish tra-

Contemporary Judaisms have been called in the last decades to position themselves. ditions of tradition that were suppressed by European secularism, such as talmudic cultures. This seems to signify not the solution of the Jewish Question, but its abolition. Yet questions persist. Contemporary Judaisms are Jewish forms of modernity, which arise in different ways from the break with tradition. The postmodern challenge to this break does not empower modern Judaisms but calls them into question, threatens. In various ways, Jews become the staunchest defenders of modernity against the post-. Assimilated, secular, de-judaized Jewishness, which embodies the refusal of all tradition, declines the claim that modernity is a specifically European tradition, and all the more declines any revalorization of other traditions, especially Jewish. Modern reformations of Judaism on the contrary assert modernity’s Europeanness as drawing from Jewish sources, by way of

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Doch bleiben Fragen offen. Die zeitgenössischen Strömungen des Judentums sind jüdische Formen von Modernität, die auf unterschiedliche Weise aus dem Bruch mit der Tradition entstanden sind. Die postmoderne Infragestellung dieses Bruchs bestärkt Formen des modernen Judentums nicht, sondern stellt sie in Zweifel und bedroht sie. Jüdinnen und Juden werden auf unterschiedliche Weise

In den letzten Jahrzehnten waren die zeitgenössischen jüdischen Kulturen aufgerufen, sich zu der erneut gestellten Traditionsfrage zu positionieren. zu den entschlossensten Verteidigern der Moderne gegen die Postmoderne. Das assimilierte, säkulare, entjudaisierte Judentum, das die Ablehnung jeglicher Tradition verkörpert, bestreitet die Behauptung, die Moderne sei eine spezifisch europäische Tradition, und lehnt erst recht jede Aufwertung anderer, insbesondere jüdischer Traditionen ab. Dagegen behaupten moderne Reformen des Judentums, die Moderne sei europäisch und schöpfe aus jüdischen Quellen, etwa aus der jüdisch-christlichen Ethik oder der platonischmosaischen Rationalität, und wehren sich gegen jede postmoderne Inanspruchnahme jüdischer Traditionen als Gegengewicht zur europäischen Vorherrschaft – sei es in Europa oder im Nahen Osten. Im Gegensatz dazu versucht die postmoderne Wiederanbindung an die jüdische Tradition, die den europäischen Modernismus nicht begründen, sondern seine Vorherrschaft anfechten will, sich auf das Judentum nicht als Ursprung, als Anfang, als Prophezeiung und Bibel zu berufen, sondern als Geschichte und Überlieferung, als Tradition der Tradition, als Kommentar und Lehre, als Talmud. Der postmoderne Ruf nach dem Judentum als radikaler Tradition besinnt sich auf den rabbinischen Korpus, der vom christlichen und modernen Europa abgelehnt wurde. Im vergangenen Jahrhundert hinterfragte Emmanuel Levinas die westliche Philosophie auf Grundlage von Talmudlektüren, ein Ansatz, der seitdem von anderen wie etwa Daniel Boyarin aufgegriffen wurde. Dieser aktuelle Ansatz hat die paradoxe Folge, den Postmodernismus für einen – noch ausstehenden – Dialog mit jenen modernen jüdischen Strömungen zu öffnen, die die Moderne als ihre Negation, als nichtmodernen jüdischen Traditionalismus hervorgebracht hat, nämlich mit den ultraorthodoxen Charedim.

Judeo-Christianity ethics or Platonic-Mosaic rationality, and fend off any postmodern invocation of Jewish traditions as counteracting European hegemony—in Europe or in the Middle East. In contrast, postmodern reconnection with Jewish tradition, namely not as founding but as contesting the hegemony of European modernism, seeks to invoke Judaism not as origin, as beginning, as prophecy and Bible, but as history and transmission, as the tradition of tradition, as commentary and study, as Talmud. The postmodern call for Judaism as radical tradition revisits the rabbinic corpus that was rejected by Christian and modern Europe. In the last century, Emmanuel Levinas contested Western philosophy with talmudic readings, a gesture reiterated since by others like Daniel ­Boyarin. It is a paradox of our times that this gesture opens up postmodernism to a—still pending—conversation with, from among all modern Judaisms, the one that modernity generated as its negative, as non-modern Jewish traditionalism, namely ultraorthodox, haredi Jews.

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Elad Lapidot, Professor für Hebräische Studien an der Universität Lille, Frankreich, promovierte an der Pariser Sorbonne und lehrte Philosophie, Jüdisches Denken und Talmud an zahlreichen Universitäten, darunter die Universität Bern, die Humboldt Universität zu Berlin sowie die Freie Universität Berlin. Für seine Arbeit prägend sind Fragen nach dem Verhältnis zwischen Wissen und Politik. Elad Lapidot is Professor for Hebraic Studies at the University of Lille, France. Holding a PhD in philosophy from the Paris Sorbonne university, he has taught philosophy, Jewish thought and Talmud at many universities, such as the University of Bern, Switzerland, the Humboldt Universität zu Berlin, and Freie Univeristät Berlin. His work is guided by questions concerning the relation between knowledge and politics.

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HOW TO NEVER FOR GET

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Artikel_Headline_DE


„Ich glaube, es ist die ­Aufgabe und die Pflicht derer, die durch ein W ­ under oder eine glückliche Fügung überlebt haben, sich gegen die Zeit zu Erinnernden zu machen.“ “It is, I believe, the task and dignity of those who, by miracle or chance dispensation, have survived to make of themselves remembrancers against time.” George Steiner, 1984

Text

Michal Friedlander DE Es ist ein merkwürdiger Gegenstand. Ein Miniaturgrabstein, der am oberen Ende einer Treppe aus sechs flachen Stufen balanciert. In den Stein sind hebräische Inschriften, eine Trauerweide und eine trauernde Frau graviert; Spuren lassen erkennen, dass er mehrfach repariert wurde. Dieser damals als „Kitsch“ abgetane 16 Zentimeter hohe Grabstein wurde zwischen 1946 und 1949 in einem Internierungslager auf Zypern gestaltet und von einer Person angefertigt, die an ihre in der Schoa ermordeten Verwandten erinnern und sie damit würdigen wollte. Er ist ein anrührendes Beispiel für die Überschneidung von jüdischen Gedenktraditionen und individuellem Erinnern. Die Schoa war ohne Beispiel. Die immense Zahl ihrer Opfer bedeutete Verluste für den Einzelnen und die Gemeinschaft, im privaten und im gesellschaftlichen Bereich, auf nationaler und internationaler Ebene. Unmittelbar nach

EN It is a curious object. A miniature tombstone, balanced at the top of a flight of six small steps. It is engraved with Hebrew inscriptions, a weeping willow and a weeping woman, and bears signs of frequent repair. Dismissed as “kitsch” at the time, this 16-centimeter-high gravestone was carved in a Cyprus internment camp, some time between 1946 and 1949, and created by someone wishing to remember and honor relatives who were murdered in the Shoah. It is a poignant example of how Jewish traditions of memory and individual remembrance intersect. The Shoah was unprecedented. The enormous losses were individual and communal, private and public, national and international. Immediately post-war, there was an aching need within Jewish communities around the world to mourn, remember, and commemorate those who had been lost. While the whole Jewish world grieved, individuals also looked

Miniatur-Grabstein, Zypern, ca. 1946–1949, Sammlung Jüdisches Museum Berlin, ehemals Willy Lindwer ­ Collection, Jerusalem Miniature-Gravestone, Cyprus, ca. 1946–1949, Jewish Museum Berlin, formerly Willy Lindwer Collection, Jerusalem

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dem Krieg bestand in den jüdischen Gemeinschaften auf der ganzen Welt das dringende Bedürfnis zu trauern, sich zu erinnern und der Toten zu gedenken. Die jüdische Welt insgesamt trauerte, und gleichzeitig suchten die einzelnen Menschen nach Wegen, mit ihren persönlichen Verlusten fertig zu werden. Zu den traditionellen jüdischen Trauerritualen gehören der Besuch am Grab des Verstorbenen, das Anzünden einer Gedenkkerze am Jahrestag (Jahrzeit) des Todes und das Beten des Kaddisch am Grab. Doch in den Nachkriegsjahren, als man kaum etwas über die genauen Umstände des jeweiligen Todesfalls wusste, war es fast unmöglich, die traditio-

Die jüdische Welt insgesamt trauerte, und gleichzeitig suchten die einzelnen Menschen nach Wegen, mit ihren persönlichen Verlusten fertig zu werden. nellen Trauerrituale zu vollziehen. Es gab weder eine Leiche noch ein Grab noch ein Todesdatum. Diese entsetzliche Situation ließ die Menschen individuelle Wege finden, ihre Trauer auszudrücken und die Traditionen entsprechend anzupassen. Viele Überlebende der Schoa versuchten nach dem Krieg in das Mandatsgebiet Palästina zu gelangen, wurden jedoch von den Briten zurückgewiesen. Sie wurden nach Zypern deportiert und dort von 1946 bis 1949 in Internierungslagern festgehalten. In den Lagern fanden zwar Kunstkurse statt, doch einige der Insass*innen stellten ihre eigenen Werkzeuge her, fanden ihre eigenen Materialien und fertigten jenseits der offiziellen Angebote Kunstwerke an. Darunter waren mindestens dreizehn Miniaturgrabsteine, so auch der hier erwähnte. Krzysztof Bielawski, Experte für polnisch-jüdische Friedhöfe, geht davon aus, dass sich der Brauch der Miniaturgrabsteine für verstorbene Familienmitglieder im frühen 20. Jahrhundert in Polen entwickelte. Sie wurden zu Hause verwahrt, und zu der Jahrzeit zündete man Kerzen vor ihnen an. Einige in Zypern hergestellte Miniaturgrabsteine enthalten Aussparungen für Kerzen; wer sie schuf, war wahrscheinlich mit diesem wohl hauptsächlich polnischen Brauch vertraut. Ein Merkmal jedoch unterscheidet die beiden Gruppen deutlich voneinander, nämlich die Sprache und der Text der Inschriften:

for ways to cope with their private losses. Traditional Jewish mourning rituals include visiting the grave of the deceased, lighting a memorial candle on the anniversary (Yahrzeit) of the person’s death and reciting the kaddish prayer by the graveside. However, in the post-war years, when little was known about the particular circumstances of a particular death, it was near impossible to perform traditional Jewish mourning rites. There was neither a body, nor a grave, nor a date of death. This dreadful situation led individuals to find personal ways of expressing their grief, adapting traditions along the way. Many survivors of the Shoah attempted to enter Mandate Palestine post-war but were denied entry by the British. They were deported to detention camps in Cyprus, from 1946–1949. Although art courses became available at the camps, some inmates made their own tools and created objects on the margins. Among them were at least thirteen miniature tombstones, including the one mentioned here. Krzysztof Bielawski, a specialist in Polish-Jewish cemeteries, suggests that the custom of miniature tombstones for deceased family members developed in the early twentieth century in Poland. They were kept at home and candles were lit in front of them on the appropriate Yahrzeit date. Some miniature tombstones made in Cyprus incorporate spaces for candles and so it seems likely that the makers were familiar with what appears to have been a primarily Polish custom. However, one feature that distinctly differentiates these two object groups is the language and text used in inscriptions. Jewish gravestone inscriptions customarily praise the person who has died and any language used has a gentle, respectful tone. On the tombstone mentioned above, however, we find a chiseled Hebrew phrase with the challenge: “Remember what Amalek did to you”! This phrase references the text of Deuteronomy 25:17-19, when the Israelites, Egyptian slavery behind them, were trudging into the unknown and the Amalekites attacked the most exhausted of the group, who were lagging at the back. In Jewish culture, the Amalekites have come to represent an archetypal, brutal and evil enemy of the Jewish people. Carving such a phrase into the tombstone was an expression of raw anger and extreme pain, with an implicit hint at revenge. Another two lines of Hebrew text read: “To the eternal memory [and] in honor of the members of my family” followed by: “who were murdered by the savage Nazis”. Here again, we feel the unidentified maker’s anguish and hatred. The Hebrew names of five family members are carved into

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How to Never Forget


Jüdische Grabinschriften preisen üblicherweise in sanften und respektvollen Worten die verstorbene Person. Auf dem hier beschriebenen Stein befindet sich jedoch ein herausgemeißelter hebräischer Satz mit der Aufforderung „Denk daran, was Amalek dir angetan hat“. Dieser Satz wurde aus Deuteronomium 25,17–19 übernommen und spielt darauf an, wie die Israeliten, nachdem sie die Knechtschaft in Ägypten hinter sich gelassen hatten, ins Ungewisse zogen und die Amalekiter die erschöpften Nachzügler*innen angriffen. In der jüdischen Kultur stehen die Amalekiter für einen archetypischen, brutalen und bösen Feind des jüdischen Volkes. Einen solchen Satz auf einem Grabstein anzubringen ist Ausdruck von blanker Wut und äußerstem Schmerz, der implizit auch auf Vergeltung hindeutet. Zwei weitere Zeilen des hebräischen Textes lauten „Zum ewigen Gedenken [und] zu Ehren meiner Familienangehörigen“ sowie „die von den barbarischen Nazis ermordet wurden“. Auch hier spürt man die seelischen Qualen und den Hass des*der unbekannten Schöpfer*s*in. Die hebräischen Namen von fünf Familienmitgliedern sind in die Wand dieses tragbaren Grabsteins eingehauen, der jene Gräber repräsentiert, die ihnen verweigert wurden. Der Name Yizchak ben (Sohn von) Schimon steht an erster Stelle in den größten Buchstaben. Direkt darunter befinden sich die Namen Chaijim ben (Sohn von) Yizchak und Mirjam bat (Tochter von) Yizchak, was nahelegt, dass dies seine Kinder waren. Die geschnitzte Figur daneben ist die einer trauernden Frau. Womöglich wurde dieser Gedenkstein von einer Überlebenden angefertigt, die um ihren Mann, ihre Kinder und andere ermordete Verwandte trauerte. Bereits 1942 als Gedenkort vorgeschlagen, wurde Yad Vashem mit dem Beinamen „Gedenkstätte der Märtyrer und Helden im Holocaust“ im Jahr 1953 in dem neuen Staat Israel als nationaler Gedenkort für die Opfer der Schoa eröffnet. Der Name Yad Vashem bedeutet „ein Denkmal und ein Name“ (nach Jesaja 56,5), denn die Namen der Millionen Ermordeten und die Erinnerung an sie drohten verloren zu gehen. Yad

the backwall of this small, portable tombstone, which represents the graves which they were denied. The name of Yitzchak ben (son of) Shimon is first, in the largest letters, and directly below are the names Chaim ben (son of) Yitzchak and Miriam bat (daughter of) Yitzchak, which suggests that these were his children. The adjacent carved figure is that of a grieving woman. Perhaps this memorial was hewn by a woman survivor, in mourning for her husband, children, and other murdered relatives. First proposed in 1942, “Yad Vashem—the Holocaust Martyrs’ and Heroes’ Remembrance Authority” opened in 1953 in the new State of Israel as a national memorial foundation for those who perished in the Shoah. The name “Yad Vashem” means “a memorial and a name” (after Isaiah 56:5) as the names and the memory of the millions who had been murdered were at risk of being lost. Yad Vashem attempted to concretize a memorial ritual for victims of the Shoah through the commission of two objects that were specifically intended for Holocaust memorial observance. The 1959 competition was won by Zahara Schatz, who created a candelabrum that became Yad Vashem’s emblem. It is a curling, ascending brass coil to which six candle holders are attached, which represent six million Jews who died. This candlestick was targeted for use in synagogues, Jewish schools and community centers in Israel and globally. A second object, the “Yad Vashem light” was designed by Moshe Zabari for home use. This was an iron memorial light that burned for 24 hours and required oil to produce its single burning flame. While the lamp with six lights found a home and use in many kibbutz communal halls and U.S. synagogues, the second lamp had little success— the replacement oil was expensive and difficult to source. While more than sixty years have passed since Yad Vashem commissioned a candelabrum for Shoah memorial use, no object has yet emerged that is used universally for this purpose. The menorah, which today has a symbolic rather

Yad Vashem Jerusalem, Gedenk-Leuchter, Zahara Schatz, Israel, 1959 Yad Vashem Jerusalem, Memorial Candelabrum, Zahara Schatz, Israel, 1959 Wie man nie vergisst

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Vashem versuchte, ein festes Gedenkritual für die Opfer der Schoa zu etablieren und gab zu diesem Zweck zwei speziell für das Gedenken an den Holocaust bestimmte Objekte in Auftrag. Diesen Wettbewerb im Jahr 1959 gewann Zahara Schatz, die einen Leuchter entwarf, der zum Wahrzeichen von Yad Vashem wurde. Er besteht aus einer sich nach oben windenden Messingspirale, an der sechs Kerzenhalter befestigt sind, die für sechs Millionen tote Jüdinnen und Juden stehen. Dieser Leuchter sollte in Synagogen, jüdischen Schulen und Gemeindezentren in Israel und auf der ganzen Welt zum Einsatz kommen. Ein zweites Objekt für den Hausgebrauch, die „Yad Vashem-Lampe“, wurde von Moshe Zabari entworfen. Es handelte sich dabei um eine mit Öl befeuerte Gedenk-Lampe aus Eisen, deren einzige Flamme 24 Stunden lang brannte. Während der sechsflammige Leuchter in vielen Kibbuz-Gemeinschaftsräumen und US-amerikanischen Synagogen seinen Platz fand, war die Öllampe wenig erfolgreich – das benötigte Öl war teuer und nur schwer zu beschaffen. Obwohl inzwischen mehr als sechzig Jahre vergangen sind, seit Yad Vashem den Leuchter für das Gedenken an die Schoa entwerfen ließ, gibt es bis heute kein Objekt, das universell für diesen Zweck verwendet wird. Die Menora, die heute eine mehr symbolische als rituelle Funktion hat, verfügt passenderweise über sechs Kerzenhalter sowie ein zusätzliches dienendes Licht und wird daher manchmal bei Holocaust-Gedenkfeiern verwendet. In einigen Gemeinden gibt es eigens für diesen Zweck geschaffene Leuchter, oft zieht man aber auch einzelne Kerzen ohne Leuchter vor. Die Idee, sechs Kerzen für sechs Millionen Tote zu verwenden, hat sich jedoch durchgesetzt, und das Anzünden von sechs Kerzen ist mittlerweile ein fester Bestandteil von offiziellen Feierlichkeiten zum Holocaust-Gedenktag. Dabei ist es zu einer unausgesprochenen Tradition geworden, dass jede Kerze von einer überlebenden Person angezündet wird. Da

than a ritual function, conveniently has six candleholders and an additional servant light, and is therefore sometimes used in Holocaust memorial ceremonies. Some communities have lamps which were created specifically for this purpose, but stand-alone candles are often preferred, with no candelabra at all. However, the idea of using six candles to represent six million deaths has taken hold and the lighting of six candles has become central to official Holocaust Remembrance Day observances. It has become an unspoken tradition for each light to be lit by a survivor and as this generation disappears, their children or grandchildren are taking on this role. Holocaust memorial events create collective memory but do not necessarily serve the emotional needs of an individual. Most survivors created their own ways to commemorate those whom they had lost. This included naming a child after a lost relative, or even naming a child for one who did not survive the Nazi genocide. A child who carries the name of a murdered relative, takes on the huge burden of filling a

A child who carries the name of a murdered relative, takes on the huge burden of filling a parent’s emotional void.

Gedenkfeier in dem DP-Lager Landsberg, um 1946 Auch in den Displaced-Persons-Lagern in Deutschland gab es private Gedenkfeiern. Häufig kamen Überlebende aus der gleichen Region zusammen, um gemeinsam zu beten und Kerzen anzuzünden. Dieses Foto aus dem DP-Lager Landsberg zeigt eine Gedenkfeier für die 4.000 ermordeten Jüdinnen und Juden aus Stopnica. Act of memorialization in the Landsberg DP camp, around 1946 Personal commemorative ceremonies were frequent in Displaced Persons camps in Germany, too. This photograph from the Landsberg DP camp shows survivors gathered together for a memorial service in memory of the 4 000 Jews from Stopnica killed in the Shoah.

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How to Never Forget


diese Generation langsam ausstirbt, übernehmen Kinder oder Enkelkinder diese Rolle. Holocaust-Gedenkveranstaltungen erzeugen ein kollektives Gedächtnis, erfüllen aber nicht unbedingt die emotio­ nalen Bedürfnisse von Einzelnen. Die meisten Überlebenden haben ihre eigenen Wege gefunden, um derer zu gedenken, die sie verloren haben. Zum Beispiel indem sie ein Kind nach einem ermordeten Verwandten oder sogar nach einem ­eigenen Kind benennen, das den Völkermord der Nazis nicht überlebt hat. Ein Kind, das den Namen eines ermordeten Familienangehörigen trägt, ist mit der großen Bürde beladen, die durch die familiäre Tragödie entstandene emotionale Leere der Eltern zu füllen. Die israelische Psychotherapeutin Dina Wardi hat sich mit diesem psychologischen Phänomen und der generationsübergreifenden Weitergabe von Traumata beschäftigt. Sie nennt diese Kinder „Gedenkkerzen“. Mit dem Aussterben der Generation von Überlebenden entsteht eine zunehmende Distanz zu der unmittelbaren Wut und Verzweiflung, die in den unmittelbar nach dem Holocaust entstandenen Erinnerungsgegenständen zum Ausdruck kommt. Es ist unklar, ob und wie sich die Gedenktraditionen in künftigen Generationen fortsetzen und weiterentwickeln werden. Zur Zeit werden im Rahmen des britischen Projekts „Yellow Candle“ Gedenkkerzen verteilt, denen eine Karte mit dem Namen, dem Alter, dem Todestag und Ort einer Person, die im Holocaust ums Leben kam, beiliegt. Die Teilnehmenden sind eingeladen, am Vorabend des internationalen Holocaust-Gedenktags Bilder ihrer brennenden Kerzen in den sozialen Medien zu teilen, um online ein zeitgemäßes kollektives Mahnmal zu schaffen. Derartige virtuelle, partizipatorische Initiativen haben großen Anklang gefunden, insbesondere während der durch die Corona-Pandemie verursachten Einschränkungen, als Gemeinden sich nicht versammeln konnten. Bei solchen Gedenkfeiern wird der einzelnen Menschen namentlich gedacht, und diejenigen, für die es kein Grab gibt, werden in einen grenzenlosen gemeinsamen Raum einbezogen. Jüdische Gedenktraditionen passen sich der Zeit und den Umständen an – eine im virtuellen Raum emporgehaltene Gedenkkerze hält die Erinnerung an eine Person ebenso lebendig wie die handgeschnitzten Gedenksteine vergangener Zeiten.

parent’s emotional void, created by family tragedy. The Israeli psychotherapist, Dina Wardi, has considered the transgenerational transfer of trauma, she calls such children “memorial candles.” With the passing of the generation of Holocaust survivors, there is ever more distance from the immediate anger and desolation expressed in those objects of memory which were created close to the events. It is unclear how and if Holo­ caust memorial traditions will continue and evolve in coming generations. Currently, the U.K. Yellow Candle project distributes memorial candles. A card with the name, age, date, and place of death of someone who perished in the Holocaust is enclosed. Participants are invited to share images of their lit candles on social media on the eve of international Holocaust Remembrance Day, to create a modern-day collective memorial online. Such virtual, participatory actions have taken off, particularly during the lockdowns that have resulted from the Coronavirus pandemic, when communities have been unable to congregate. In such commemorative acts, individuals are remembered by name, and those who have no grave are incorporated into an infinite communal space. Jewish memorial traditions adapt to time and circumstance—a memorial candle held up in virtual space keeps the memory of a person alive, as do the hand-carved memorial stones of the past.

Michal Friedlander verantwortet seit 2001 die Sammlung Judaica und angewandte Kunst am JMB und ist eine der Kuratorinnen der Dauerausstellung. Sie hat zahlreiche Ausstellungen kuratiert und zu einer großen Bandbreite jüdischer Themen publiziert. Derzeit ist sie Academic Visitor an der Universität Oxford in der Fakultät für Orientalistik, Abteilung für hebräische und jüdische Studien. Michal Friedlander has been in charge of the Judaica and Applied Arts collections at the JMB since 2001 and is one of the curators of the museum's core exhibition. She has curated numerous exhibitions and published on a wide range of Jewish topics. She is currently an Academic Visitor at the University of Oxford in the Faculty of Oriental Studies, department of Hebrew and Jewish Studies.

Das Yellow Candle Project ist eine Initiative zur Förderung des Gedenkens: Über Social Media weit verbreitet, wird an Jom ha-Schoa individueller, namentlich genannter Opfer gedacht. Das Zitat auf Seite 57 stammt aus: George Steiner, A Reader. New York, 1984, S. 14. The quote on page 57 was published in: George Steiner, A Reader. New York, 1984, p. 14.

The Yellow Candle Project is an initiative to encourage the widespread memorialization of individuals, by name, on Yom HaShoah. Wie man nie vergisst

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Vom Sammeln und Erzählen Objects and Stories Ein Interview mit Julia Friedrich An Interview with Julia Friedrich

Seit dem 1. März ist Julia Friedrich am Jüdischen ­ useum Berlin die neue Sammlungsdirektorin. Sie stuM dierte Kunstgeschichte und Jüdische Studien in Berlin, Potsdam und Venedig und promovierte 2008 über Gerhard Richters „Graue Bilder“. Von 2006 bis 2022 leitete sie die Grafische Sammlung am Museum ­Ludwig in Köln. Since 1 March, Julia Friedrich is the Director of Collections at the Jewish Museum Berlin. She studied Art History and Jewish Studies in Berlin, Potsdam, and Venice and in 2008 received her doctorate for her work on Gerhard Richter's Grey Pictures. From 2006 to 2022, she was Head of the Graphic Arts Collection at the Museum Ludwig in Cologne.

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Möglichst alle sollten eine Chance bekommen, eine Beziehung zum Gezeigten ­herzustellen. DE Liebe Frau Friedrich, Sie waren 17 Jahre lang am Museum Ludwig in Köln tätig. Was werden Sie vermissen? Köln liegt im Rheinland, und hier war ich immer unterwegs, vor allem um Ausstellungen in der Gegend anzusehen. Die Museumsdichte ist sehr hoch, das Niveau, auf dem künstlerisch und kuratorisch gearbeitet wird, auch. Brüssel, Amsterdam und Paris sind nur wenige Zugstunden entfernt. Diese Anbindung wird mir fehlen. Gibt es etwas, worüber Sie sich in Berlin besonders freuen? Die breiten Straßen, den weiten Himmel! Aber für mich ist der Umzug nach Berlin auch eine Rückkehr. Ich bin hier aufgewachsen, habe hier studiert. Ich freue mich darauf, nach Hause zu kommen.

EN Sie haben Kunstgeschichte und Jüdische Studien studiert, leiteten die Gra­fische Sammlung am Museum Ludwig und kuratierten dort verschiedene Ausstellungen, zuletzt „Der geteilte Picasso“. Was motiviert Sie, sich jetzt wieder explizit jüdischen Themen zuzuwenden? Die Ausstellungen, die ich zuletzt gemacht habe, hatten einen zeitgeschicht­lichen Aspekt. In der Otto-Freundlich-Retrospektive ging es um einen Künstler, der mit abstrakter Malerei politisch wirken wollte und 1943 als Jude ermordet wurde. Günter Peter Straschek hat in seiner WDR-Serie „Filmemigration aus Nazideutschland“ das Exil von Filmschaffenden aus Deutschland und Österreich untersucht, die meisten von ihnen waren Jüdinnen und Juden. Die

Ms. Friedrich, you worked for the Museum Ludwig in Cologne for seventeen years. What will you miss the most? Cologne is located in the Rhineland, and I traveled a lot, mostly to see exhibitions in the area. The region has a high concentration of museums, and the artistic and curatorial standards are very high. Brussels, Amsterdam, and Paris are just a few hours away by train. I’m going to miss their accessibility. Is there anything you’re particularly looking ­forward to in Berlin? The wide streets, the wide open sky! But for me, the move to Berlin is also a return. I grew up and studied in the city. I’m looking forward to returning home.

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You studied Art History and Jewish Studies, worked as the head of the prints and drawings collection at the Museum Ludwig, and curated a number of exhibitions, most recently Picasso, Shared and Divided. What motivated you to return to explicitly Jewish topics? The last exhibitions I organized examined aspects of contemporary history. The Otto Freundlich retrospective focused on an artist who wanted to have a political impact through abstract painting and was murdered in 1943 because he was Jewish. In Film Emigration from Nazi Germany, a series made for the public broadcaster WDR, Günter Peter Straschek takes a look at German and Austrian filmmakers who went into exile, most of whom were Julia Friedrich


DE Picasso-Ausstellung handelt davon, wie sich die Deutschen in der Nachkriegszeit sein Werk angeeignet haben. Die Schoa ist deshalb ein Ausgangspunkt. Wir zeigen etwa das Besucherbuch von Auschwitz, in das sich Picasso eingetragen hat, und weisen nach, dass Werke, in denen Picasso NS-Verbrechen verarbeitete, in der BRD und in der DDR denkbar unterschiedlich aufgefasst wurden. Ich denke, wer sich in Deutschland mit der Kunst des 20. Jahrhunderts beschäftigt, stößt unweigerlich auf dieses Thema, samt seiner großen Vor- und Nachgeschichte. Nehmen Sie die Debatte um die documenta, an der ich mich beteiligt habe. Eine Beschäftigung mit der jüdischen Perspektive, mit jüdischen Themen und Diskursen scheint mir da naheliegend und sehr ergiebig zu sein. Sie haben am Museum Ludwig dafür gesorgt, dass die Herkunft von

EN Objekten systematisch untersucht wird. Die Provenienzforschung ist ein Feld, das in einem jüdischen Museum einen eigenen Stellenwert besitzt – welche besonderen Fragestellungen sehen Sie hier? Ich denke, es ist ein Unterschied, ob ein jüdisches Museum seinen Bestand auf Raubkunst untersucht oder eine nicht jüdische Institution, die neben einem materiellen auch das symbolische Erbe der deutschen Mehrheitsgesellschaft angetreten hat. Ein jüdisches Museum, das seinen Auftrag ernst nimmt, solidarisiert sich mit den Opfern. Es verpflichtet sich dazu, die Formel von der „fairen und gerechten Lösung“ ernst zu nehmen. Das entbindet nicht von einer genauen Prüfung des Falls. Anders als sonst verhandeln hier nicht die Erben der Räuber mit den Erben der Beraubten. Das ermöglicht einen anderen Umgang,

Jewish. The Picasso exhibition explores how Germans appropriated Picasso’s work in the postwar period. The Shoah is thus one of the starting points. We exhibit, for example, the guestbook that Picasso signed at Auschwitz and show that his works that deal with the Nazi crimes were perceived very differently in East and West Germany. I think that anyone concerned with twentieth-­ century art in Germany will inevitably encounter this topic, including its important backstory and ramifications. Or take the debate on documenta, to which I contributed. Engaging with the Jewish perspective, with Jewish topics and discourses, seems natural and very productive to me. At the Museum Ludwig, you made sure that the provenance of objects was systematically studied. Provenance research is an especially impor­ tant field at a Jewish

museum. What special issues do you anticipate arising in this context? I think there’s a difference between a Jewish museum examining its holdings for looted art, and a non-Jewish institution that has assumed responsibility for the material and symbolic heritage of the German majority society. A Jewish museum that takes its mission seriously must show solidarity with the victims. This does oblige it to take the saying “fair and just solution” seriously. But it doesn’t exempt the museum from closely examining each indivudial case. At a Jewish museum you don’t have the usual constellation in which the heirs of the looters are negotiating with the heirs of the looted. That makes a different type of approach possible, one that may in turn influence non-Jewish institutions.

Everyone should have the opportunity to enter into a relation­ship with what is shown. Vom Sammeln und Erzählen

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DE der seinerseits vielleicht nicht jüdische Institutionen beeinflusst. Sie übernehmen als Samm­lungsdirektorin am JMB die Verantwortung für Archiv, Bibliothek, alle Sammlungen sowie die Bereiche Restaurierung und Sammlungsmanagement. Was erwarten Sie als größte Heraus­ forderung? Das ist jetzt noch schwer zu sagen. Ich habe ja gerade erst angefangen. Aber ich freue mich sehr darauf, mit den Kolleg*innen gemeinsam zu überlegen, wie die Bestände noch mehr Sichtbarkeit bekommen können, wie wir sie noch deutlicher zum Sprechen bringen können. Wenn das Publikum eine Sammlung nicht in Gebrauch nimmt, das Gezeigte nicht auf seine eigenen Verhältnisse bezieht, lohnt sich das Sammeln kaum. Für die größte Herausforderung halte ich deshalb, so zu sammeln und das Gesammelte so zu zeigen, dass sich eine Vielzahl von Öffnungen ergibt, von Anknüpfungspunkten. Und zwar jetzt und in Zukunft und ohne dass wir diesen Prozess genau steuern könnten oder wollten. Die Besucher*innen, möglichst alle, sollten eine Chance bekommen, eine Beziehung zum Gezeigten herzustellen. Die Herausforderungen werden ganz konkret sein und immer wieder darin bestehen, Sammlungsbestände, die von einer bestimmten Situation, einer bestimmten Gruppe von Menschen erzählen, für alle nutzbar zu machen. Das JMB hat über die Jahre seines Bestehens

EN eine umfassende Sammlung aufgebaut. Darunter finden sich auch Objekte und Zeugnisse zu aktuellen Ereignissen, wie die Fotografien zu Pessach in Zeiten von Corona, die auch in diesem Journal zu sehen sind. Was bedeutet für Sie Sammeln in der heutigen Zeit? Es ist immer schwierig, aktuell zu sammeln. Der zeitliche Abstand hilft doch sehr, das Aussagekräftige zu erkennen. Aber manchmal hat man die Zeit einfach nicht, da muss man dann ein Risiko eingehen. Kürzlich sah ich einen TV-Bericht über eine Restauratorin im Rheinischen Landesmuseum Bonn, die eine Schaufel aus der ­Eifel-Flut präparierte. Liebevoll festigte sie jede verkrustete Schlammscholle, damit die Schaufel auch in hundert Jahren noch von der Flut künden kann. Das hatte etwas Tragikomisches. Lohnt sich der Aufwand? Ich glaube schon. Aber ich habe keine Ahnung, was die Menschen in hundert Jahren mit dieser Schaufel anfangen werden. Dieses JMB Journal steht un­ter dem Titel „Tradition“: Welchen Stellenwert hat immaterielles Kulturgut für ein Museum? Für ein jüdisches Museum wohl einen sehr großen, denn im Judentum hat doch gerade das immaterielle Erbe über Jahrtausende Zusammenhang gestiftet. Die Dauerausstellung des JMB spiegelt das wider. Ich freue mich darauf, mit den Kolleg*innen weiter darüber nachzudenken, was man sammeln, was man zeigen kann.

As Director of Collections at the JMB, you’re responsible for the archive, the library, all the collections, as well as the fields of restoration and collection management. What do you think will be the greatest challenge? That’s hard to say right now—I’ve only just started. But I’m really looking forward to brainstorming with my colleagues on how we can give the collections greater visibility and make them communicate more clearly. If the public doesn’t use a collection or doesn’t see a connection between the exhibits and their own lives, collecting is hardly worthwhile. That’s why I think the biggest challenge will lie in collecting and

situation or a specific group of people speak to everyone. Over the years, the JMB has built an extensive collection. Most recently, we’ve added objects that witness contemporary history. A series of photo­ graphs taken during the first Passover during the Covid 19-pandemic is presented in this journal. What does collecting mean to you in the current context? It’s always difficult to collect contemporary objects. After all, the distance of time makes it easier to recognize what is meaningful and important. But sometimes you just don’t have this distance, so you have to take a risk. I recently saw a TV report

What’s more im­ portant than the explanation, mean­ing, or narrative is that we encourage people to come up with their own explanations. showing objects in such a way that there are numerous openings and connections, both now and in the future, without us being able to control the process precisely or perhaps even wanting to. Visitors—all of them, if possible—should have the opportunity to enter into a relationship with what is shown. The challenges are very specific and lie in ensuring that the objects that tell the story of a specific

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on a conservator at the Rheinisches Landesmuseum in Bonn who was preserving a shovel from the 2021 flood in Germany’s Eifel region. She was painstakingly preserving each caked piece of mud so that the shovel will still document the flood a hundred years from now. It was tragic and comic at the same time. Is it worth the effort? I think so, but I have no idea how people will relate to the shovel in one hundred years. Julia Friedrich


DE Welche Herausforderungen und Chancen sehen Sie für Museen im Zusammenhang mit der Digitalisierung? Ohne Digitalisierung kommen wir nirgends mehr hin. Sie ist nicht Selbstzweck, sondern

EN ich Ausstellungen, die einen künstlerischen Blick einnehmen. Damit meine ich nicht nur, dass Künstler*innen zu Ausstellungen eingeladen werden. Sondern auch, dass Exponate einen Eigenwert behaupten, also nicht in ihrer Vermittlung aufgehen, in

Ich wünsche mir einen leichten, experimentellen Umgang, der auch mal Fehler erlaubt, dafür aber diese Offenheit vermittelt. ein Werkzeug, ein überaus nützliches. Insofern sollten wir alles daransetzen, eine vernünftige Strategie im Hintergrund zu entwickeln. Mit dem Ziel, Wissen zu erschließen, klug aufzubereiten und damit Menschen in der ganzen Welt zu erreichen. Auch solche, die sich eine Reise nach Berlin nicht leisten können oder die sich vielleicht noch nicht über die Schwelle eines vermeintlichen Hochkulturtempels trauen. Welche Art von Ausstellungen wünschen Sie sich am JMB? Ich komme aus einem Kunstmuseum, und daher schätze

Objects and Stories

dem, was sie erklären sollen. Für wichtiger als die Erklärung – oder den Sinn oder das Narrativ – halte ich die Anregung, selbst eine Erklärung zu finden. Wenn Sie so wollen: das Aktivierende. Dafür muss aber etwas offen bleiben. Ich wünsche mir einen leichten, experimentellen Umgang, der auch mal Fehler erlaubt, dafür aber diese Offenheit vermittelt. Wir danken Ihnen für das Gespräch!

The title of this edition of our JMB Journal is “Tradition.” How important are intangible cultural practices for a museum? They’re certainly very important for a Jewish museum because intangible cultural heritage has provided coherence to Judaism for thousands of years. The core exhibition at the JMB reflects this. I look forward to working with my colleagues and giving thought to what we should collect and exhibit. The JMB is developing a new digital strategy. What challenges and opportunities do you think digitization brings to museums? Digitization has become indispensable. It isn’t an end in itself, but a tool—an extremely useful one at that. For this reason, we should do everything in our power to develop a sensible digital strategy behind the scenes to make knowledge accessible, structure it intelligently, and reach people all over the world, even those who can’t afford a trip to Berlin or perhaps are still slightly intimidated by the idea of visiting a supposed temple of high culture. What kind of exhibitions would you like to see at the JMB?

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I come from an art museum, so I appreciate exhibitions that take an artistic perspective—by which I mean not only that artists are invited to exhibitions, but also that exhibits assert their intrinsic value, that they don’t get lost in communication goals or what they’re supposed to explain. In my view, what’s more important than the explanation, meaning, or narrative is that we encourage people to come up with their own explanations—the activation aspect, if you like. But for that to happen, something must remain open. I’d like to see a light experimental approach that permits mistakes and in return communicates this openness. Thank you for the interview!

Das Interview führten / The interview was conducted by Marie Naumann & Katharina Wulffius


Die Kinderwelt des Jüdischen Museums Berlin

DIE KINDERWELT DES JÜDISCHEN MUSEUMS BERLIN THE CHILDREN’S WORLD OF THE JEWISH MUSEUM BERLIN Ein Besuch in der Geschichte der Arche Noah… … für Kita-Gruppen 90 Minuten, ab 3 Jahren, max. 18 Teilnehmer*innen und zwei erwachsene Begleitpersonen, buchbar dienstags bis freitags, Eintritt frei.

… für Grundschulklassen und Hortgruppen 90 Minuten, 1. bis 5. Klasse, max. 18 Teilnehmer*innen und zwei erwachsene Begleitpersonen, buchbar dienstags bis freitags, Eintritt frei.

ANOHA versteht sich als ein Ort gesellschaftlicher Teilhabe und Partizipation. Seit 2018 begleitet ein Kinderbeirat die Weiterentwicklung der Kinderwelt: Zwischen 15 und 20 Schüler*innen aus unterschiedlichen Grundschulen treffen sich monatlich im ANOHA. Ihre Meinungen, Ideen und Ergebnisse werden nicht nur angehört, sondern sind auch in der Ausstellung und den Programmen erlebbar.

… für Familien

ANOHA is a place of social participation. Since 2018, a children's advisory council has been accompanying the development of the Children's World: up to 20 pupils from different elementary schools meet every month at ANOHA. Their opinions and ideas are not only listened to, but can also be experienced in the exhibition and the programs.

Ninety minutes, ages three and up, for a maximum of eighteen young participants and two accompanying adults, Tuesdays to Fridays, free admission.

90 Minuten, 0 bis 120 Jahre, für jede Person ist ein Zeitfensterticket erforderlich, buchbar im Ticketshop, Eintritt frei.

… für neugierige Erwachsene ohne Kinder Öffentliche Führungen samstags und sonntags um 14:45 Uhr; Führungen für Gruppen dienstags bis freitags um 11:30 Uhr, buchbar im Ticketshop, Eintritt: 6 Euro.

A visit to the world of Noah’s Ark... ... for daycare groups

... for primary school classes and afterschool groups Ninety minutes, grades one to five, for a maximum of eighteen students and two accompanying adults, Tuesdays to Fridays, free admission.

... for families Ninety minutes, ages 0 to 120, a time slot ticket is required for each person, available at the ticket shop, free admission.

... for curious adults without children

Public tours Saturdays and Sundays at 2:45 pm, tours for groups Tuesdays to Fridays at 11:30 am, available at the ­ticket shop, admission: 6 euros.

Buchung Registration Tickets: www.shop.jmberlin.de T +49 (0)30 259 93 305 visit@anoha.de

#ANOHA 68

ANOHA


ON.TOUR JMB on.tour, das Outreach-Programm des Jüdischen Museums Berlin, besucht seit vielen Jahren Schulen im gesamten Bundesgebiet. Dabei ist on.tour keine Wanderausstellung im klassischen Sinn, sondern vielmehr ein Interaktionsfeld zu jüdischem Leben, das viele Bezüge bietet, um an die Lebensrealität der Teilnehmenden anzuknüpfen. Gefördert wird das Projekt durch die Deutsche Bank Stiftung und die Freunde des Jüdischen Museums Berlin. Seit 2020 wird on.tour überarbeitet, im Frühjahr 2021 wurden in enger Zusammenarbeit mit Jugendlichen und dem Gestaltungsbüro gewerkdesign erste Elemente der neuen Ausstellung realisiert. Dabei lag ein besonderes Augenmerk auf Inklusion und Barrierefreiheit. In diesem Jahr geht das JMB endlich wieder on tour: Mit Raum für Fragen zum Judentum, zum Jüdischsein in Gegenwart und Vergangenheit entsteht ein Ort des Dialogs und der Reflexion.

JMB on.tour—the outreach program of the Jewish Museum Berlin—has visited schools throughout Germany for several years. It is not a traveling exhibition in the traditional sense, but an interactive exploration of Jewish life with many links to the realities of the participants’ lives. The project is funded by Deutsche Bank Stiftung and the Friends of the Jewish Museum Berlin. In 2020 work began to revise the on.tour program. In 2021 the first elements of the new exhibition were produced in close collaboration with young people and the gewerkdesign design agency. Special attention was paid to inclusion and accessibility. This year, the JMB is finally going on tour again, creating a place for dialogue and reflection with opportunities for questions about Judaism and Jewishness in the past and present. Termine und Anmeldung Dates and Registration Tel.: +49 (0)30 259 93 343 ontour@jmberlin.de

Gestaltungsentwurf der neuen Ausstellungs­elemente von gewerkdesign. Design draft of the new ­exhibition elements by gewerkdesign.

#JMBERLIN ON.TOUR

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MASKE? COOL! 70


DE Um Familien in Städten mit kleinen jüdischen Gemeinden bei der Erziehung ihrer Kinder zu unterstützen, gründete die Ronald S. Lauder Foundation die Lauder E-Learning Schools. Während des ersten Jahres der Pandemie wurde ein europaweiter Wettbewerb veranstaltet, der Kindern ein künstlerisches Ausdrucksmittel an die Hand geben sollte, um in diesen unsicheren Zeiten ihre Gefühle zu artikulieren: Nahezu 100 gestaltete, verzierte und bemalte Mund-Nase-Masken aus mehr als 35 Städten in fünf Ländern wurden eingereicht. Jurorin bei der internationalen Schlussrunde des Wettbewerbs war Jo Carole Lauder. Das Jüdische Museum Berlin hat es sich zum Ziel gesetzt, jüdisches Leben in seiner ganzen Vielfalt vorzustellen. Diesem Zweck dient auch die Vernetzung mit sozialen, kulturellen und religiösen Organisationen. Wir danken herzlich der Ronald S. Lauder Foundation, die uns eine Auswahl an Masken von in Deutschland lebenden Kindern gestiftet hat, und den Familien für ihr Vertrauen! Die Masken zeugen von jüdischem Leben der Gegenwart in all seiner Lebendigkeit.

EN To support families in providing their children with Jewish education, the Ronald S. Lauder Foundation established Lauder E-Learning Schools in towns with small Jewish communities. In response to the challenges brought on by the pandemic, a Europe-wide mask contest was held, thus providing children with an artistic tool with which to express themselves during these uncertain times. Close to 100 masks were submitted from over 35 cities in five countries. The final international competition was judged by Mrs. Jo Carole Lauder. It is a goal of the Jewish Museum Berlin to present Jewish life in all its many voices. Networking with social, cultural and religious organizations serves this purpose. The Ronald S. Lauder Foundation has generously donated a selection of the masks submitted by children living in Germany: they bear witness to vibrant Jewish life in the immediate present. Many thanks to the families!

„Mix-Maske“ von Hannah, 10 Jahre, aus Leipzig “Mixed Mask” by Hannah, age 10, from Leipzig

„Sevivon-Maske“ von Naomi, 12 Jahre, aus Leipzig “Sevivon Mask” by Naomi, age 12, from Leipzig

„Oi Vey“ von Xenja aus Fürth “Oi Vey” by Xenja from Fuerth

Masks? Cool!

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„Chanukkia“ eines Schülers der Lauder E-Learning School Deutschland, 10 Jahre, aus Osnabrück “Hanukkiah” by a student at the Lauder E-Learning School Germany, age 10, from Osnabrück

„Leben“ von Maria (Mascha), 13 Jahre “Life” by Maria (Mascha), age 13

„Chanukka-Maske“ von Daniel, 9 Jahre, aus Düsseldorf “Hanukkah Mask” by Daniel, age 9, from Düsseldorf

„Magen David“ von Yael, 10 Jahre “Magen David” by Yael, age 10

„Chanukka-Maske“ von Batia, 9 Jahre, aus Köln “Hanukkah Mask” by Batia, age 9, from Cologne

„Eine Krone für immer und die andere nimmer!“ von Michael, 7 Jahre, aus Stuttgart “A Crown Forever and the Other One Never!” by Michael, age 7, from Stuttgart

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Maske? Cool!


„Perek 121“ von Lia, 15 Jahre, aus Köln “Perek 121” by Lia, age 15, from Cologne

„Dreidel“ von Shalom Gabriel, 6 Jahre “Dreidel” by Shalom Gabriel, age 6

„Loud, Louder, Lauder“ von Raphael, 13 Jahre, aus Stuttgart “Loud, Louder, Lauder” by Raphael, age 13, from Stuttgart

„Noahs Arche“ von Yafa, 8 Jahre “Noah’s Ark” by Yafa, age 8

„Purimspiel bei Corona“ von Veniamin, 7 Jahre, aus München “Purim Game in Times of Corona” by Veniamin, age 7, from Munich

Masks? Cool!

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VORSCHAU PREVIEW VON INNEN NACH AUSSEN ETGAR KERET

Als Erwachsener ist man nur ein winziges Teilchen im unendlichen Universum, ein Staubkörnchen in den endlosen Weiten dessen, was man die Welt nennt. Aber als Kind funktioniert diese Wahrnehmung andersherum: von innen nach außen. Man selbst ist der Nabel der Welt. Wichtig ist das, was für einen selbst wichtig ist, und was nicht – nun, das existiert einfach nicht. Meine Mutter erlebte den Zweiten Weltkrieg als Kind. Sie verlor im Krieg ihre gesamte Familie, und als er vorbei war, gab es für sie kein äußeres, erwachsenes Narrativ, das zwischen ihren Erfahrungen und der Welt hätte vermitteln können. Alles, was sie hatte, war ein gigantisches Mosaik aus zahllosen Erinnerungsfetzen und Erfahrungsbruchstücken. Eine Geschichte ohne Daten und Namen, eine Chronik aus Empfindungen, Ängsten und Gerüchen: ihre ganz persönliche Geschichte.

Ausgehend von fragmentarischen Erinnerungen an seine verstorbene Mutter schreibt der israelische Autor ­Etgar Keret für das JMB Kurzgeschichten. Zu diesen literarischen Texten werden ausgewählte Objekte aus den Sammlungen in Beziehung gesetzt. Eröffnung: 8. September 2022

Es gibt in der jüdischen Kultur eine alte Tradition, die auf den ExodusVers „Und du sollst es deinen Kindern erzählen“ zurückgeht. Um das Erbe ihres Volkes zu bewahren, haben alle jüdischen Menschen die Pflicht, an ihre Kinder weiterzugeben, was ihren Vorfahren und den Vorfahren ihrer Vorfahren geschehen ist. Meine Mutter scheute sich nicht, mir unsere Familiengeschichte so zu erzählen, wie sie sie in Erinnerung hatte: ohne Namen, ohne Daten. Von innen nach außen. Im Sinne dieser Tradition möchte ich diese Geschichte an meinen Sohn weitergeben – und nun auch an Sie.

INSIDE OUT

ETGAR KERET

When you’re an adult, you are just a little detail amid the infinite universe, a speck of dust resting on the edge of the endless plain known as the world. But when you’re a child, creation goes in the opposite direction: from the inside outward. You are the center of the world. What’s important to you is important, and what isn’t—simply doesn’t exist. My mother went through World War II as a child. She lost her entire family in the war, and when it was over she was left with no external, adult narrative to mediate between her experiences and the world. All she had was a giant mosaic composed of countless shards of memories and experience-fragments. A history devoid of dates and names, a chronicle of sensations and fears and smells: her own private history. In Jewish culture, an ancient tradition stems from the Exodus verse, “And you shall tell your children.” Every Jewish person is obliged to relay to their children what happened to their ancestors, and to their ancestors’ ancestors, to preserve the nation’s heritage. My mother did not hesitate to share our family history with me, as she remembered it: without names, without dates. From the inside out. Continuing this tradition, I try to share this history with my son, and now—with you.

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Meine Mutter, Polen, ca. 1937 My Mother, Poland, ca. 1937

Based on fragmentary memories of his deceased mother, the Israeli author Etgar Keret presents short stories written for the Jewish Museum Berlin. In the exhibition selected objects are set in relation to the literary texts. Opening: 8 September 2022


. T R Ö H E G . KULTUR GEFUNKT.N AUGEN MACHEN. E DEINE OHREN WERD

Impressum / Credits © 2022, Stiftung Jüdisches Museum Berlin Herausgeberin / Publisher: Stiftung Jüdisches Museum Berlin Direktion / Director: Hetty Berg Redaktion / Editors: Marie Naumann, Katharina Wulffius Email: publikationen@jmberlin.de

Stiftung Jüdisches Museum Berlin Lindenstraße 9-14, 10969 Berlin Tel.: +49 (0)30 25993 300 www.jmberlin.de info@jmberlin.de Falls Rechte (auch) bei anderen liegen sollten, werden die Inhaber*innen gebeten, sich zu melden. / Should rights (also) lie with others, please inform the publisher.

Übersetzungen ins Englische / English Translations: Adam Blauhut (S./pp. 5, 34/35, 62-69), Allison Brown (S./pp. 8-15, 16/17, 46/47) Englische Lektorat / English Editing: Kate Sturge (pp. 27-33) Übersetzungen ins Deutsche / German Translations: Sylvia Zirden (S. /pp. 19-33, 36-39, 48-54, 56-61, 71, 74)

Wir danken allen Autor*innen und Mitwirkenden! / With many thanks to all authors and staff!

Layout: Eggers + Diaper, Potsdam Druck / Printed by: Medialis, Berlin

Die in Buenos Aires geborene und in Toronto aufgewachsene Fotografin beschäftigt sich mit der Dokumentation des Lebens von Frauen und Kindern in unterschiedlichen sozialen Umfeldern, mit Themen wie Geschlecht, Identität, Diaspora, Exil und Einwanderung. / Born in Buenos Aires and raised in Toronto, the photographer focuses on documenting the lives of women and children in different social environments, depicting issues of gender, identity, diaspora, exile and immigration.

ISSN: 2195-7002 Gefördert durch / Sponsored by

Titel / Cover Jüdisches Museum Berlin, Foto: Jasmine Bakalarz

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Bildnachweis / Copyright S./pp. 5, 62/63 – JMB, Foto: Yves Sucksdorff S./pp. 7 (oben/top), 13 – JMB, Foto: Kevin Jerome Everson, 2020; Schenkung von / Gift of Prof. Liliane Weissberg S./pp. 7 (2. von oben/2nd top to bottom), 26, 29, 30, 32 – JMB, © Typex S./pp. 7 (2. von unten/2nd from bottom), 23, 37, 42, 48/49, 56, 71-73 – JMB, Foto: Roman März S./pp. 7 (unten/bottom), 70 – © Familie Röttger, Köln S./pp. 8-15 – Schenkungen an das JMB von / Gift to the JMB of: S./pp. 8/9 – Foto: Jasmine Bakalarz; S./p. 11 (oben/top) – Foto: Seger Pessach, 2020; S./p. 11 (unten/bottom) – Foto: Janina Engel, 2020; S./p. 12 (oben/top) – Foto: Hannah Bloch Markowski, 2020; S./p. 12 (unten/bottom) – Foto: Chabad Berlin, Jana Erdmann; S./p. 14 (oben/top) – Foto: Osnat Ramaty; S./p. 14 (unten/bottom) – Foto: Sapir Hubermann; S./p. 15 (oben/top) – Foto: Allison Brown; S./p. 15 (unten/bottom) – Foto: Irene Runge S./p. 16 – Johann Christoph Frisch, Porträt Moses Mendelssohn, Berlin 1783; JMB, Foto: Roman März, Design: Stefan Becker S./p. 17 – Frédéric Brenner, JMB, erworben mit Unterstützung der Freunde des JMB / acquired with the support of the Friends of the JMB S./pp. 18, 25 – Jessica Tamar Deutsch S./p. 21 – JMB

S./p. 22 – Mendelssohn-Gesellschaft e. V. Berlin, Foto: Manfred Claudi, Leihgabe aus dem Nachlass Mary Gilbert / on loan from the estate of Mary Gilbert S./p. 27 – © Ringel Goslinga S./p. 34 – Giora Feidman und Sergej Tcherepanov, Foto: Mehran Montazer S./p. 34 – Maya Belsitzman, Foto: Carlos Juica S./p. 35 (oben/top) – JMB, Foto: Jule Roehr S./pp. 38/39 – © Frédéric Brenner, courtesy Howard Greenberg Gallery, New York S./p. 41 – Amy Reichert S./p. 42 (oben/top) – Paula Newman ­Pollachek; Foto: Stephen Collector S./p. 42 (oben rechts/top right) – JMB, Foto: Roman März; Schenkung von / Gift of Aaron Knappstein S./p. 42 (unten/bottom) – JMB, Foto: Roman März; Schenkung von / Gift of Mirjam & Mario Marcus S./p. 43 – JMB, Foto: Jens Ziehe S./pp. 44/45 – © Debora Antmann S./p. 59 – © Kedem Auction House Ltd S./p. 60 – © United States Holocaust ­Memorial Museum, courtesy of Helen Ptashnik S./p. 61 – Yellow Candle, a project of Maccabi GB S./p. 68 – JMB, Foto: Svea Pietschmann S./p. 69 – © gewerkdesign S./p. 74 – © Etgar Keret


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Making life better is our mission – a task our customers entrust us with every day. To meet it, we push past the boundaries of chemistry, bringing together diverse areas of expertise to deliver sustainable, forward-looking solutions. That’s what puts us at the forefront of our industry. Leading beyond chemistry to improve life, today and tomorrow.


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