Jewish Museum Berlin: JMB Journal / Special Edition: Het Onderwater Cabaret

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ISSN 2195 - 7002 | 2024 | No 26

JMB JOURNAL

SONDERAUSGABE SPECIAL EDITION



Editorial Editorial

Hetty Berg Direktorin des Jüdischen Museums Berlin Director of the Jewish Museum Berlin

DE Mit Freude erinnere ich mich an das Frühjahr 2022, als EN It is with great pleasure that I remember when, in the Simone Bloch und ihre Mutter Ruth mich in ihrem New Yorker spring of 2022, I visited Simone Bloch and her mother Ruth Appartement empfingen. Herzlich – und mit einer fabelhaften in New York. I was greeted so warmly­—and with a fabulous Quiche! – wurde ich begrüßt, und schnell fanden wir zu einem quiche!—and we quickly got into a lively exchange: perhaps lebhaften Austausch: Vielleicht wegen der ähnlichen Position, because of our similar positions, since Simone Bloch and I in der Simone Bloch und ich uns als Kinder von Familien, die are both children of families that survived the Nazi period in die Nazizeit im Versteck überlebt hatten, befinden; vielleicht, hiding; or perhaps because Ruth Bloch still speaks Dutch, weil Ruth Bloch noch immer Niederländisch spricht und durch and the common language gave us a great sense of trust and die gemeinsame Sprache eine große Vertrautheit entstand. familiarity. But certainly because we have long been grappling Mit Sicherheit aber, weil wir uns schon lange mit einer wich- with an important question: How do we deal with the legacy tigen Frage beschäftigen: Wie gehen wir mit dem Erbe der of the past? Vergangenheit um? And what a legacy this is! The satirical underground Und um was für ein Erbe es sich hier handelt! Das magazine Het Onderwater-Cabaret by Curt Bloch, Simone’s satirische Untergrundmagazin Het Onderwater-Cabaret father and Ruth’s late husband, is absolutely unique: in its von Curt Bloch, dem Vater von Simone und verstorbenen extensiveness, with 95 booklets, its unwavering critique, its Mann von Ruth, ist absolut einzigartig; in seinem Umfang von brilliant creativity, and its political humor. And of course the 95 Heften, seiner Konsequenz, seiner brillanten Kreati- story of its origins. Between 1943 and 1945 Curt Bloch wrote vität und seinem politischen Witz. Und natürlich in seiner and designed a new issue of his “Underwater Cabaret” each Ent­stehungsgeschichte: Zwischen 1943 und 1945 schrieb week—while in hiding and always in danger of being disund gestaltete Curt Bloch im Versteck in den Niederlanden covered. And yet the small-format booklets were circulated wöchentlich eine neue Ausgabe seines „Unterwasser-­ and found readers. Each individual in hiding had to rely on ­ Cabarets“, stets unter der Gefahr, entdeckt zu werden. Und so many people to help them and keep their secret, and ordennoch wurden die kleinformatigen Hefte weitergereicht, ganizing their hiding places and supplying everything they fanden eine Leserschaft. Bedenkt man, wie viele Helfer*innen needed to survive was so incredibly difficult. Thus, we can und Mitwisser*innen es für jede einzelne untergetauchte only begin to imagine the importance of Bloch’s project at the Person gab, wie ungeheuerlich schwierig die Organisation time: as a source of hope for Bloch himself and his readers, as von Versteck und Versorgung war, lässt sich erahnen, welche a distraction, and as a creative way of dealing with a virtually Bedeutung Blochs Werk schon damals hatte: als Hoffnungs- inconceivable situation. From Bloch’s letters we know that he hoped for an träger für den Autor und seine Leserschaft, als Ablenkung, als kreativer Umgang mit einer fast unvorstellbaren Situation. audience even after the war, and we are pleased to be able Aus Briefen von Bloch wissen wir, dass er sich auch to satisfy that wish of his with our exhibition “My Verses Are für die Zeit nach dem Krieg ein Publikum wünschte, und wir Like Dynamite” Curt Bloch’s Het Onderwater Cabaret and freuen uns darüber, diesem Wunsch mit unserer Ausstellung this JMB Journal. „Mein Dichten ist wie Dynamit“ Curt Blochs Het Onderwater Eighty years ago, Curt Bloch braved the mortal danger Cabaret und diesem JMB Journal gerecht werden zu können. and used his pen as a weapon, writing to oppose the atrociVor 80 Jahren machte Curt Bloch unter Lebensgefahr den ties of the Nazis. His courage sets a brilliant example for us. It moves me to see how many visitors come to the Stift zu seiner Waffe und schrieb gegen die Gräueltaten der Nationalsozialisten an. Sein Mut ist ein leuchtendes Vorbild. museum each day to view our exhibitions and attend our Es berührt mich zu sehen, wie viele Menschen täg- programs. Let us stand together in these times and maintain lich ins Museum kommen, um unsere Ausstellungen und an ongoing dialogue against antisemitism and hate, and for Programme zu besuchen. Lassen Sie uns zusammenstehen a diverse society. in diesen Zeiten und im Gespräch bleiben gegen Antisemitismus, Hass und für eine vielfältige Gesellschaft. Ihre / Yours,

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Spitzentalente brauchen die Möglichkeit, ihr Können auf höchster Ebene weiter zu entwickeln. Siemens hilft ihnen dabei.


Inhalt Content

72 Jeroen Dewulf Untergrundliteratur in den Niederlanden 1940–1945 Clandestine Literature in the Netherlands 1940–45

3 Editorial Editorial 6 Julia Friedrich Die Weite des Denkens The Breadth of Thinking 8 Curt Bloch Auf dem Flügel meiner Phantasie On the Piano of My Fantasy

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88 Interview Interview Gerard Groeneveld Kraftquelle Kreativität Creativity, a Source of Strength

20 Simone Bloch „Es ist kompliziert“ “It’s Complicated” 32 Aubrey Pomerance Leben und Werk von Curt Bloch Life and Work of Curt Bloch

20

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Dieses JMB Journal erscheint anlässlich der Ausstellung „Mein Dichten ist wie Dynamit“ Curt Blochs Het Onderwater Cabaret im Jüdischen Museum Berlin, 9. Februar bis 26. Mai 2024. This JMB Journal is published on the occasion of the exhibition “My Verses Are Like ­Dynamite” Curt Bloch’s Het Onderwater Cabaret at the Jewish Museum Berlin, 9 February to 26 May 2024.

68 Interview Interview Thilo von Debschitz Unvergänglichkeit Timelessness 70 Begleitprogramm Program

94 Ausstellungsvorschau Upcoming Exhibition 96/98 Impressum Credits Dank Thanks Ausstellungsimpressum Colophon

44 Ulrike Kuschel „Dass ich ein solcher Kunstnarr bin …“ “That I Am Such a Fool for Art ...” 54 Kerstin Schoor Saskia Schreuder „Ich summe mit das Propellerlied ...“ “I Hum Along to the Propeller Song ...”

80 Christine Kausch Jüdische Flüchtlinge in den Niederlanden 1933–1945 Jewish Refugees in the ­Netherlands 1933–45

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Die Weite des Denkens The Breadth of Thinking Curt Blochs Het Onderwater-Cabaret im Jüdischen Museum Berlin Curt Bloch’s Het Onderwater-Cabaret at the Jewish Museum Berlin

Text

Julia Friedrich EN Everything we show at the Jewish Museum Berlin, all that we include in our collections is there to testify to Jewish experiences. But the experiences do not lie in the displayed objects, not in the works or testimonies themselves. The objects can only point to the life whose imprint they bear when they come to us. We hope that the encounter with them will trigger ideas and impressions that tally with what has been experienced. That they stimulate, prompt reflections on the ideas which each of us comes with. And that a field of references is conveyed, so rich it gives a hint of life itself. When reading Curt Bloch’s Het Onderwater-Cabaret, his poems and his songs, this hint can act like a shock. Any reference made in a few key words to Bloch’s life in hiding, his situation as a German-Jewish refugee in the Netherlands under Nazi occupation, inevitably conjures up a set of images, preconceived ideas of persecution, misery, fear and confinement. The ideas are not wrong, but Bloch’s texts and collages add something that is missing, producing, it seems, something quite palpable.

DE Was wir im Jüdischen Museum Berlin zeigen, was wir in unsere Sammlungen aufnehmen, soll jüdische Erfahrungen bezeugen. Aber die Erfahrungen stecken nicht in den gezeigten Gegenständen, den Werken oder Zeugnissen selbst. Die Dinge können auf das Leben, als dessen Abdruck sie zu uns gelangt sind, nur hinweisen. Wir hoffen, dass die Begegnung mit ihnen Vorstellungen evoziert, die dem Erlebten angemessen sind. Dass es zu einer Anregung kommt, einer Auseinandersetzung mit Vorstellungen, die jede oder jeder mitbringt. Und dass sich ein Feld von Bezügen erschließt, das reich ist und deshalb eine Ahnung gibt vom Leben selbst. In der Begegnung mit Curt Blochs Het OnderwaterCabaret, seinen Gedichten und Liedern kann sich diese Ahnung schockartig einstellen. Weist man auf Blochs Leben im Untergrund, seine Lage als deutsch-jüdischer Flüchtling in den von Nazideutschland besetzten Niederlanden mit ein paar Stichworten hin, ruft man unvermeidlich ein Set von Bildern auf, vorgeprägten Vorstellungen von Verfolgung, Elend, Angst und Enge. Diese Vorstellungen sind nicht falsch, aber

Julia Friedrich ist Sammlungs- und Ausstellungsdirektorin am Jüdischen Museum Berlin. Von 2006 bis 2022 leitete sie die Grafische Sammlung am Museum Ludwig in Köln. Julia Friedrich is Director of Collections and Exhibitions at the Jewish Museum Berlin. From 2006 to 2022 she headed the Graphic Art Collection at Museum Ludwig in Cologne.

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Blochs Texte und Collagen ergänzen sie um etwas, was ihnen fehlt, und so ergibt sich, scheint es, etwas Greifbares. Aus einer Mischung von politischen und persönlichen Motiven heraus schuf Bloch ein Werk, in dem die Schrecken von Tyrannei und Krieg wie die Hoffnung auf Befreiung auch deshalb gültig dargestellt sind, weil sich Politisches und Persönliches darin verschränken. Das gilt für die humoristischen Stücke wie für die bitteren, und noch das erschütternde „Ein Gruß“ (August 1943), die bange Klage um die deportierte Schwester, schließt die Anklage gegen „Haß, Verrat und Hohn“ ein. Der finstere Weltlauf determiniert das persönliche Leben, und der Unterworfene muss es mit ihm aufnehmen. In Blochs Werk wird dieser Zusammenhang, der dem Verstand fast schon zu leicht einleuchtet, als Lebenswirklichkeit spürbar und gewinnt so etwas Raues, an dem die Erkenntnis haften bleibt. Die Collagen, mit denen Bloch seine Hefte betitelt hat, entfalten diese Wirkung sinnbildlich. Der Künstler entnimmt Bildelemente auch der gleichgeschalteten Presse, also der Propagandamaschine des Feindes, und beweist mit seiner notgedrungen improvisierten Gestaltung, dass seine Aufklärung der Propaganda überlegen ist. Verblüffen mag, wie häufig Bloch sich an die Deutschen wendet, Hitlers Wählerinnen und Wähler, die von Goebbels belogen werden („Der Falschspieler“, September 1943) oder als Soldaten verlaust Wache schieben müssen, während die Royal Air Force der Frau zuhause die Bude zerbombt. („Ich schieb Wache“, November 1944). Gelesen wurde das Het Onderwater-Cabaret von Blochs Geliebter Karola Wolf und einer kleinen Zahl von Freundinnen und Freunden, geschrieben aber waren zumindest einige Stücke für das ganze deutsche Publikum. Bloch hoffte, sie könnten nach dem Krieg einem neuen Militarismus entgegenwirken („An meine deutschen Leser“, Juni 1944). So dachte er noch im Angesicht des Todes an die Läuterung der Deutschen. Das hat eine Größe, die schwer zu fassen ist, und treibt die universalistische Forderung, noch im Feind den Menschen zu sehen, auf die Spitze. Blochs Leben im Untergrund ist vielleicht gerade an diesem Gegensatz zu erahnen: der Weite seines Denkens, zu der ihn die erzwungene Enge seines Daseins trieb.

Using a mixture of political and personal motifs, Bloch created a body of work in which his portrayals of the horrors of war and tyranny, and of the hope of liberation, are especially valid because they intertwine the political with the personal. This applies to both the humorous pieces and the bitter ones, and even the harrowing “Ein Gruß” (A Greeting) from August 1943, an anxious lament for his deported sister, includes a condemnation of “hatred, betrayal and mockery.” The dark turn of the world molds personal life, and thus subjugated one has to deal with it. This connection, which is almost too easy to see, becomes tangible in Bloch’s work as a reality of life and takes on a kind of roughness that makes the insight stick. The collages that he made for the covers of his booklets generate this effect symbolically. He even took visual images from the co-opted press, which is to say: the enemy’s propaganda machine, and proved with his necessarily improvised designs that the enlightenment he provided outmatched the propaganda. It seems astonishing how often Bloch addresses the Germans, Hitler’s voters, who were fed a diet of lies by ­Goebbels (“Der Falschspieler” [The Cheater], September 1943), or a soldier who had to work as a louse-ridden guard while the Royal Air Force bombed their home and his wife took refuge in a kiosk (“Ich schieb Wache” [Standing Guard], ­November 1944). Het Onderwater-Cabaret was read by Bloch’s lover Karola Wolf and a small number of friends, but a few pieces were written for the whole German audience. Bloch hoped they might counter any renewed upsurge of militarism after the war (“An meine deutschen Leser” [To My German Readers], June 1944). Even in the face of death, he was still thinking about the reformation of the Germans. This has a magnanimity to it that is hard to conceive and takes the universalist demand to see even the foe as a fellow human to the extreme. Bloch’s life in the underground can perhaps be gleaned precisely from this contrast: the breadth of his thinking to which the enforced narrowness of his existence drove him.

Im Gegensatz zu andern Dichtern, Die euch in einen Rausch versetzt, Will ich euch gern vom Rausch entnüchtern, Fühlt euch drum bitte nicht verletzt!

Unlike the poets who enthrall, Who put you in a drunken trance, I aim to shake you sober here, I hope you will not take offense!

Und wirkt meine Gardinenpredigt, Seht ihr die alten Fehler ein, Dann fühle ich mich reich entschädigt Und wird mir’s ein Vergnügen sein.

And if my scornful sermon works, If you admit the old mistakes, Then I will feel indemnified, Take pleasure in a job well done.

Auszug aus: „An meine deutschen Leser“ Het Onderwater-Cabaret, 3. Juni 1944

Excerpt from: “To My German Readers” Het Onderwater-Cabaret, 3 June 1944 Translated by Jake Schneider

Foreword

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10. Februar 1945 10 February 1945


Auf dem Flügel meiner Phantasie Gedichte von Curt Bloch

On the Piano of My Fantasy Poems by Curt Bloch

Der Dortmunder Jurist Curt Bloch (1908–1975) emigrierte 1933 in die Niederlande und tauchte 1942 in Enschede unter. Im Versteck erschuf er als Autor, Redakteur und Grafiker die Zeitschrift Het Onderwater-Cabaret (Das Unterwasser-Cabaret). Zwischen August 1943 und April 1945 erschienen 95 handgeschriebene Ausgaben im Kleinformat (ca. 13,5 x 10,5 cm). In 483 Gedichten, auf Niederländisch und Deutsch verfasst, behandelte Bloch den Verlauf des Zweiten Weltkriegs, die Verbrechen der Nazis und ihrer Kollaborateure, seine Situation im Versteck und das Schicksal seiner Familie. Mit beißender Ironie und sardonischem Witz entlarvte er die nationalsozialistische Propaganda und stellte die Ungeheuerlichkeit der faschistischen Gräueltaten dar. Pro Ausgabe wählte Curt Bloch ein Gedicht aus, um es als Collage oder Fotomontage auf dem Titelblatt zu illustrieren. Trotz der bedrückenden Situation im Versteck und der ständigen Gefahr entdeckt zu werden, schuf Bloch ein einzigartiges literarisches wie künstlerisches Werk. Het Onderwater-­Cabaret (OWC) ist ein eindrückliches Zeugnis kreativen Widerstands gegen Krieg, Desinformation und Verfolgung. Curt Bloch (1908–1975), a lawyer from Dortmund, emigrated to the Netherlands in 1933 and went into hiding in Enschede in 1942. While in hiding, he created the magazine Het Onderwater-Cabaret (The UnderwaterCabaret), for which he was the author, editor, and graphic artist. B ­ etween August 1943 and April 1945, he produced ninety-five handwritten issues as small-format booklets, approx. 13.5 x 10.5 cm in size. In 483 poems written in Dutch and German, Bloch dealt with the Second World War, the crimes of the Nazis and their collaborators, his situation in hiding, and the fate of his ­family. With biting irony and sardonic humor, he exposed the Nazi propaganda and described the egregious horrors of the fascist a ­ trocities. Bloch selected one poem from each issue and illustrated it on the cover as a collage or photo montage. Despite the depressing situation in hiding and the constant danger of being discovered, Curt Bloch managed to produce a unique literary and artistic work. Het Onderwater-Cabaret (OWC) is a powerful testimony of creative resistance to war, disinformation, and persecution.

On the Piano of My Fantasy

DE

EN

Jahre sitze ich gefangen, Vieles ist mir schiefgegangen Und so finde ich zu Zeiten Dies Leben recht schwer. Und ich denke: Glück im Leben Wird es für mich nimmer geben, Doch bespiel ich meine Saiten, Dann stimmt es nicht mehr.

I’ve been locked up for years My life has gone so wrong It’s no wonder sometimes That it’s taxing to live on. I suppose a happy life Will never be for me, But when I strike those strings I change my tune: I’m free.

Refrain Auf dem Flügel meiner Phantasie Mache ich gar manche sonderbare Reise In das Reich der Poesie Und ich spiel gar manche Weise, Ja, ich spiel mal laut, mal leise, Manche hübsche Melodie Auf dem Wunderflügel meiner Phantasie.

Refrain With my mind’s fantastical ivories I lift off on astonishing journeys To the empires of poetry And I play out a ditty, Yes, I play, loud or softly, Some song sweet and pretty On my miracle fantastical ivories.

Was ich denke, was ich fühle, Wird verändert, wenn ich spiele Und die düsteren Gedanken, Sie ziehen dahin, Denn mein Lied stillt meine Schmerzen, Es gibt Frieden meinem Herzen, Es hebt auf die Kerkerschranken, Bringt Ruhe dem Sinn. Refrain Und so spiel ich immer wieder Neue Weisen, neue Lieder Ja, ich spiele neue Klänge Und spiel mich zur Ruh’, Und ich wiege mich in Träume Und vergesse Zeit und Räume, Überwinde Kerkerenge Und Leiden im Nu. Refrain

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What I think, how I feel, Is transformed when I play And the gloomiest thoughts Very soon pass away, For my song stills my heartache It’s so tranquil, refined, That it makes prison bars break And brings calm to the mind. Refrain And so I keep playing New ditties and refrains, Yes, I play novel chords That sedate me from pain And in dreams I am rocked And forget space and time, Soon the prison cell’s gone At the drop of a dime. Refrain Translated by Jake Schneider


Ein Gruß A Greeting DE

EN

Wo immer du magst auch verweilen, Ich grüße dich, mein Schwesterlein, Dein Leiden möcht’ ich mit dir teilen Und würde gerne bei dir sein.

Wherever you are lingering, I’d like to greet you, sister dear, And share in all your suffering Just be there sitting at your side.

Freudlos und hart war all dein Leben, Den Jugendfrohsinn stahl man dir, Ich wollte es dir besser geben, Wenn’s anders kam, lag’s nicht an mir.

Your life has been so cruel and grim, They robbed you of your youthful cheer, I wanted all the best for you, What came instead came not from me.

Wie hast du immer mich verstanden Und tratest stets du für mich ein Verschleppt bist du nach fernen Landen Und ich, dein Bruder, blieb allein.

Oh, how you’ve always understood You’ve always offered me support And now you’re in some distant land With me, your brother, left behind.

Halt stand dem Unrecht und Gewalten, Die unheilvoll dich jetzt bedrohn, Und bleib gesund und wohlbehalten, Bleib stark trotz Haß, Verrat und Hohn.

Stand firm against the cruelties So sinister, that menace you, Stay healthy and stay safe and sound Despite the hatred, lies, and scorn.

Und geht der Krieg einmal zu Ende, Dann werd ich auf die Suche gehn, Im Geiste drück ich deine Hände Und sage still Auf Wiedersehn.

And when the war is gone at last, Then off I’ll go in search of you, Within my mind I grasp your hands And bid you quietly farewell.

Ich möcht so gerne zu dir sprechen, Gedanken fliegen zu dir hin Und oft will mir das Herz wohl brechen, Das kommt, weil ich so traurig bin.

I long to speak to you so much My thoughts go flying straight your way And deep inside my chest I feel My breaking heart, it pains me so. Translated by Jake Schneider

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Auf dem Flügel meiner Phantasie


30. August 1943 30 August 1943

On the Piano of My Fantasy

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Driemogendheden conferentie Dreimächte­konferenz Three Powers Conference NL

DE

EN

Cordell Hull, Anthony Eden Zijn thans druk aan ‘t confereeren Eindelijk moet er wat geschieden, Eindelijk moet het toch verkeeren.

Cordell Hull, Anthony Eden Sind jetzt mit Beratungen beschäftigt, Es muss endlich etwas getan werden, Es muss endlich etwas sich bewegen.

Cordell Hull, Anthony Eden Now earnestly confer Something must finally be done, Something must finally change.

Molotof en Maarschalk Stalin Weten zeer goed wat zij willen En zij zijn er radikaal in, Willen ook geen woord verspillen.

Molotow und Marschall Stalin, wissen sehr genau, was sie wollen, Und sie sind dabei radikal, Wollen auch kein Wort verschwenden.

Molotov and Marshal Stalin Are clear on what they want And in radical mood, Give not a word away.

Intriganten, diplomaten, Kunnen hier niets meer bereiken, Woorden kunnen niet meer baten, Dat zal wel zeer spoedig blijken

Intriganten, Diplomaten, Können hier nichts mehr erreichen, Worte können nichts mehr ausrichten, Das wird sich schon sehr bald zeigen.

Intriguers, diplomats, Have no more role to play, Words are to no avail, As all will quite soon see

Engeland moet gauw vervullen Wat het al zoolang beloofde, Hoewel het niet flauwe kullen Het pleit klaar te spelen geloofde.

England muss bald erfüllen, Was es so lange versprochen hat, Obgleich in Torheit, Glaubte man an das Versprechen.

England must hurriedly fulfil Its promises long since made, Although in foolishness It thought to benefit.

Ja zij moeten kleur bekennen, Deze listig oude vossen En zij moeten eraan wennen Hun verplichting aftelossen.

Ja, sie müssen Farbe bekennen, Diese schlauen alten Füchse, Und sie müssen sich daran gewöhnen, Ihre Verpflichtung zu erfüllen.

Yes, they must follow suit, These sly old foxes And they will have to learn To heed the call of duty

Niet met woorden toch met daden Moeten eindelijk zij gaan strijden En het is hun aanteraden Complicaties te vermijden.

Nicht mit Worten, sondern mit Taten, Müssen sie endlich anfangen zu kämpfen, Und ich würde empfehlen, Komplikationen zu vermeiden.

Not with words, but with deeds Must they finally go to battle And would be well-advised To keep things simple.

Übersetzt von Suzanne Witvliet

Translated by Sarah Torfs

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Auf dem Flügel meiner Phantasie


13. November 1943 13 November 1943

On the Piano of My Fantasy

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Horst Wessellied (zeitgemäß abgeändert) Horst Wessel Song (updated) DE

EN

Die Spaten hoch, gleich Pudeln die begossen Marschiert S.A. langs manchem Trümmerhauf, Die Zeit der Hitlerliebe ist schon längst verflossen, Ein Riesenkatzenjammer folgte drauf.

With shovels high, like poodles in the rain, The SA marches past the mounds of rubble, Our honeymoon with Hitler has long waned, Its hangover has brought no end of trouble.

Ja, alles liegt in Trümmern und Ruinen In Asche fiel das ganze deutsche Land, Wenn wir noch lange unserm Führer Adolf dienen, Stellt man uns eines Tages an die Wand.

And yes, the ashes cover Germany, A rubble-strewn apocalyptic scene. If we keep serving Adolf faithfully, We’ll one day find our heads in guillotines.

Wir sangen einst die Strophen von Horst Wessel Beim Fackelzug und auch beim Zapfenstreich Und heute leben wir in einem Hexenkessel, Der Hexenkessel ist das Dritte Reich.

Back then we sang the song named for Horst Wessel At torch parades, before saying goodnight, Today we’re bubbling in a witches’ vessel, A cauldron better known as the Third Reich.

Der Führer hat uns Wohlfahrt einst versprochen Und Deutschland ist dank ihm total kaputt, Ja über Deutschland ist die Hölle losgebrochen Und die SA, sie buddelt heut im Schutt.

The Führer promised us a golden goose But stuck us with a ruined Germany Yes, overhead all hell has broken loose And the SA is combing the debris.

In manchem Haus ist heut nicht mehr zu wohnen Man findet Unterkunft im Luftschutzraum Fort ist der Rausch und fort sind alle Illusionen Das Volk erwachte aus dem Hitlertraum.

Today most homes are left without a roof And air-raid shelters crowded like sardines The trance is gone; we face the bitter truth The Volk has woken up from Hitler’s dream.

Man folgt nicht blind wie früher Hitlers Fahnen, Man ist das Hakenkreuz nun gründlich satt, Durchs deutsche Volk geht heut ein Raunen und ein Ahnen, Daß es die längste Zeit gedauert hat.

We’re done with blindly chasing Hitler’s banners, The sight of swastikas has gotten old, The German Volk suspects that its commander Will soon enough have lost his iron hold. Translated by Jake Schneider

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Auf dem Flügel meiner Phantasie


10. Juni 1944 10 June 1944

On the Piano of My Fantasy

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Wann? When? DE

EN

Wann fallen endlich unsre Ketten, Wann steigen wir empor zum Licht? Gar oft versprach man uns zu retten Und immer noch geschah es nicht.

When will our chains crash down at last, When shall we rise up to the light? Salvation promised in the past Has not arrived, hope as we might.

Noch immer leben wir verborgen Und sind dem Tageslicht entrückt, Man sitzt voll Angst und sitzt voll Sorgen Daß irgend jemand uns erblickt.

We’re still surviving hidden here Sequestered from the light of day We’re steeped in worries and in fear Of being seen, and so we pray.

Wir leben abseits und im Schatten, Wir leben abseits von der Welt, Wann endlich wird man uns gestatten Zu atmen unterm Himmelszelt?

We live apart in shadows’ shroud, We live apart from all the world, When will we finally be allowed To breathe beneath the sky unfurled?

Wann können furchtlos wir und offen Von aller Welt uns lassen sehn? Wir harren ständig und wir hoffen, Daß es sehr bald doch möcht geschehn.

When can we fearlessly and free Show everyone our naked face? We wait and hope unswervingly That this can very soon take place.

Wir sind der ew’gen Fessel müde, Wann endlich wird man uns befrein? Wann fällt die Knechtschaft, wann ist’s Friede? Wir wollen wieder Menschen sein!

When will we finally be released From this eternal ball and chain, When will this bondage end in peace? We want humanity again! Translated by Jake Schneider

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Auf dem Flügel Artikel_Headline_DE meiner Phantasie


4. Juli 1944 4 July 1944

Artikel_Headline_EN On the Piano of My Fantasy

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Het ondergrondsche front Die Untergrundfront The Underground Front NL

DE

EN

Treinverkeer Loopt niet meer, Spoorweg staakt En Seyss laakt Dit geval Wij zijn mal Volgens hem En zijn stem Vleit en smeekt En hij preekt En belooft, Wie ’t gelooft Is niet snik, Men denkt: stik!

Zugverkehr Läuft nicht mehr, Eisenbahn streikt Und Seyß verurteilt Diese Begebenheit Es ist unsre Dummheit Kommt ihm in den Sinn Und seine Stimm’ Umgarnend und flehendlich klingt Und er predigt Und gelobt, Wer es glaubt Hat ‘ne Meise, Man denkt: Scheiße!

Train traffic Now all static Railway strikes And Seyss dislikes This case Is our disgrace He declares And his prayers Beg and blandish Priest outlandish, Promises rust, Those who trust Are but fools They are tools!

Refrain Want het ondergrondsche front Houdt zijn mond En werkt door

Refrain Denn die Front im Untergrund Hält ihren Mund Und arbeitet weiter

Refrain For the Underground Front Does not grunt And works on

Wat geschiedt? Ovral biedt Heel het land Tegenstand En verzet, Duitsche wet Wordt minacht En men lacht Kijk die Seyss Is abuis Met gezeur Met terreur, Met S.S. Geen succes

Was geschieht? Überall biet’ Das ganze Land Widerstand Und Resistenz, Deutsches Gesetz Wird missacht’ Und man lacht Schau der Seyß Weiß ‘nen Scheiß Mit Gejaule Mit Terror, Mit S.S. Kein Success

What is there? Everywhere All the land Starts to stand And fight back Only flak For German law We guffaw Look at Seyss He’s not nice With error With terror, With S.S. No success

Refrain

Refrain

Refrain

Polizei Kwam erbij Wel te pas Maar er was Niets te doen Menig groen Moffenbeul Kreeg te veel Of ie hijgt Of ie dreigt Of ie schiet ’t lukt hem niet Of Seyss lokt Ongeschokt

Polizei Kam herbei Gerad zur rechten Zeit Aber es war Nichts zu machen Manch grüner Moffen-Schinder Kriegt zu viel Ob er schnauft Ob er droht Ob er schießt Es geht schief Obwohl Seyß lockt Unerschüttert

Polizei Came on by Right on time Though once begun Naught could be done Many a strident Nazi tyrant Got too much He may huff He may puff He may blow But no go Seyss may bait And yet straight

Refrain

Refrain

Refrain

Übersetzt von Christine Kausch

Translated by Sarah Torfs

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Auf dem Flügel Artikel_Headline_DE meiner Phantasie


3. Februar 1945 3 February 1945

Artikel_Headline_EN On the Piano of My Fantasy

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T s I s

„E

k

“ t r e i z I l p m o


Wie die meisten Teenager hatte ich nicht den gleichen Humor wie mein Vater. Ich war mir nicht einmal sicher, ob er überhaupt Humor hatte. Zu Hause waren wir in fast allem unter­ schiedlicher Meinung, und einen Streit gewinnen zu wollen war für uns eine Art Sport. Inzwischen ist es fast fünfzig Jahre her, dass mein Vater plötzlich starb. Ich war 15 Jahre alt. Im Laufe der Zeit habe ich erkannt, dass er ein großzügiger und lustiger Mensch war, der heute erstaunt wäre, wie vollständig wir beide unsere Differen­ zen überwunden haben. Ich könnte mir vorstel­ len, dass er beeindruckt und glücklich darüber wäre, wie ich mich der Aufgabe verschrieben habe, seine Begabung und sein außergewöhn­ liches Gesamtkunstwerk Het Onderwater­Cabaret wieder in Erinnerung zu bringen. Like most teenagers, I failed to share my father’s sense of humor. By my standards then, it wasn’t even clear he had one. Around the house we dis­ agreed about almost everything and winning an argument was as close as we came to playing a sport. Now almost fifty years have passed ­since my father died suddenly when I was fifteen ­years old. Over time I’ve come to think of him as a generous and funny character who would be astonished at how completely we­­—he and I— have overcome our differences. I imagine he’d be impressed and overjoyed that I’ve dedicated myself to bringing to light his talent and remark­ able body of work, Het Onderwater-Cabaret. Curt Bloch in New York, 1950er-Jahre Curt Bloch in New York, 1950s „Ein Gruß“ 30. August 1943 “A Greeting” 30 August 1943

Text

Simone Bloch


DE Wenn mein Vater mir eine unumstößliche Weisheit vermitteln wollte, zitierte er irgendwelche langen Gedichte von Goethe, Heine oder Schiller auf Deutsch. Sie hörten sich für mich wie Zaubersprüche an. Ich hatte keine Vorstellung davon, was er sagte, weil ich nun mal ein Kind war, das er in den 1970er-Jahren in New York großziehen musste. In einem Cartoon hätte in der Denkblase über meinem Kopf gestanden: „Wenn das echte Wörter sind, dann reimen sie sich.“ Ein häufig von ihm auf Englisch zitierter Spruch war The Optimist’s Creed (Das Glaubensbekenntnis des Optimisten), der berühmteste Werbeslogan der Kette Mayflower Donuts, die von dem als „The Donut King“ bekannt gewordenen jüdisch-bulgarischen Emigranten Adolph Levitt gegründet worden war: As you ramble on through life, brother, Whatever be your goal Keep your eye upon the donut And not upon the hole! 1 Den habe ich verstanden. Der Sinn lief auf das NietzscheZitat hinaus, das jeder kennt: „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.“ Nur dass es hier um Donuts ging und nicht um den Tod. Und dass es sich reimt. Das erste große Wort, das ich als kleines Mädchen lernte, war „kompliziert“. Es bedeutete „schwer zu erklären“ und schien die Antwort auf die meisten Fragen zu sein, die mit unserer Familie zu tun hatten. Was uns von anderen unterschied, war nicht das Jüdischsein. Unsere jüdische Identität war zu dieser Zeit in New York City, als es dort mehr Jüdinnen und Juden gab als in Israel, das einzig Normale an uns.

Das erste große Wort, das ich als kleines Mädchen lernte, war „kompliziert“. Unser Haus in Queens sah genauso aus wie die anderen Häuser in der Gegend, aber in den Nachbarhäusern lebten jüdische Väter, die in der US-Armee gedient hatten und deren Ehefrauen Hausfrauen waren, die nicht Auto fahren konnten. Meine Mutter sprang jeden Morgen in ihren Oldsmobile-88-Kombi und fuhr damit zur Arbeit in das Geschäft meiner Eltern in Manhattan, Continental Antiques Corporation. Ich blieb zu Hause bei Ida, unserem katholischen Kindermädchen aus Deutschland, mit der ich mein Zimmer teilte und der ich helfen durfte, in der St. Patrick’s Cathedral Kerzen anzuzünden, wenn wir auf dem Weg zum Kunstunterricht im Museum of Modern Art daran vorbeikamen. Mein Lieblingsgemälde war „Le Rêve“ von Henri Rousseau, aber um dorthin

EN When my father wanted to make some irrefutably wise point to me, he would resort to quoting some long rhyme by Goethe or Heine or Schiller in German. To me it sounded like a magic spell. I had no idea what he was saying because I happened to be a kid he was raising in the 1970s in New York City. In a cartoon, the thought balloon above my head would have read: “If those are real words he’s saying, they rhyme.” The piece of doggerel he often quoted in English was known as “The Optimist’s Creed,” most famously the slogan of Mayflower Donuts, a chain founded by Adolph Levitt, a Jewish-Bulgarian émigré who became known as The Donut King: As you ramble on through life, brother, Whatever be your goal Keep your eye upon the donut And not upon the hole! I got that. It boiled down to that one quote of Nietzsche that everyone knows, “What doesn’t kill me makes me stronger.” Except it’s about donuts instead of death. And it rhymes. As a little girl, the first big word I learned how to use was “complicated.” It meant “hard to explain” and it seemed to be the answer to most questions related to our family. Being Jewish had nothing to do with what made us different. Our Jewish identity was the one normal thing about us in New York City at a time when there were more Jews there than in Israel. Our house in Queens appeared identical to the others on the block, but inside our neighbors’ homes were Jewish dads who had served in the US Armed Forces, whose wives were stay-at-home mothers who didn’t know how to drive. Every morning my mother hopped into her Oldsmobile 88 station wagon and drove to work at my parents’ store in Manhattan, Continental Antiques. I stayed home with Ida, the Catholic German nanny who shared my bedroom and let me help her light candles at St. Patrick’s Cathedral on the way to art classes at the Museum of Modern Art. My favorite painting was Henri Rousseau’s Le Rêve, but in order to get there one had to pass Picasso’s Guernica, commemorating the Nazi aerial bombing of a Spanish village during the Spanish Civil War. It haunted the stairs leading to all the exhibits. On our block my friends had grandparents and aunts and uncles who came to visit. They went to baseball games at Shea and Yankee Stadium. Their houses were decorated with retouched family photos, wall-to-wall carpeting, and Chagall prints alongside displays of formal dinnerware. Our house was a kind of museum, decorated with Persian rugs and oil paintings and way too many books, about art, literature, history. Some in English, most not. In the basement we had a fullsize French carousel horse, a Polynesian devil’s mask, and a stuffed leopard’s head. We drove into Manhattan to museums and concerts. Of course, I had a Barbie, but my father also

1 Was auf deinem Lebensweg auch immer dein Ziel sei, Bruder, schau immer auf den Donut und nicht auf das Loch darin!

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„Es ist kompliziert“


zu kommen, musste man an Picassos „Guernica“ vorbei, das den Luftangriff der Nazis auf ein spanisches Dorf während des Spanischen Bürgerkriegs erinnert. Es verfolgte einen auf der Treppe zu den Ausstellungsräumen. Meine Freundinnen und Freunde in unserem Viertel bekamen Besuch von Großeltern und Tanten und Onkeln. Sie gingen zu Baseballspielen im Shea oder im Yankee Stadion. Ihre Häuser waren mit retuschierten Familienfotos, Teppichböden und Chagall-Drucken neben Vitrinen mit Tafelgeschirr dekoriert. Unser Haus war eine Art Museum mit Perserteppichen und Ölgemälden und viel zu vielen Büchern über Kunst, Literatur und Geschichte. Einige davon waren auf Englisch, die meisten aber nicht. Im Keller hatten wir ein französisches Karussellpferd in Originalgröße, eine polynesische Teufelsmaske und einen ausgestopften Leopardenkopf. Wir fuhren zu Museen und Konzerten nach Manhattan. Natürlich hatte ich eine Barbie, aber mein Vater legte auch eine Sammlung von kleinen Bronzetieren für mich an – Vögel, Bären und Katzen, die er von jeder seiner Reisen mitbrachte. Zuhause öffnete er sofort seinen Koffer und gab sie mir zusammen mit anderen exotischen Schätzen: Parfüm, Pralinen, Puppen und Seidenschals. Er brachte diese Geschenke aus einer Welt mit, die es nicht mehr gab und in die nur er reisen konnte. Wir lebten in New York in einem Haus voller „Gesprächsgegenstände“, über die wir nicht sprachen. Das Onderwater-Cabaret (OWC) war dabei nur ein Erinnerungsstück unter vielen. „Was haben Sie gedacht, als Sie auf diesen Schatz gestoßen sind?“ Das wurde ich schon häufig gefragt, und ich kann immer nur die gleiche enttäuschende Antwort geben: Es gab keinen „Augenblick der Entdeckung“. Nach dem Krieg ließ mein Vater das Onderwater-Cabaret in Amsterdam zu vier dicken, kompakten Bänden binden, um es in seiner Ordnung zu erhalten. Jeder, der ihn jemals erlebt hatte, wusste, dass er sehr viel zu sagen hatte, und er hatte beschlossen, dass das OWC ins Bücherregal gehörte. In unserem Haus gab es viele seltsame Dinge, die wie meine Eltern selbst aus Europa kamen. Waren die Antiquitäten, die sie bei Continental Antiques verkauften, Ramsch oder Kostbarkeiten? Auf jeden Fall befanden sie sich jenseits von Zeit und Raum; sie waren stumme Objekte mit einer Geschichte, die sie nie erzählen würden, schon gar nicht auf Englisch. Das OWC war kein vergrabener Schatz, es war immer verfügbar, in greifbarer Nähe. Seine Bedeutung und seine Bezüge jedoch konnten sich erst im Laufe der Zeit entfalten. Ich kam nicht auf die Idee zu fragen, warum es in unserem Esszimmer stand, genauso wenig wie ich mich fragte, warum der Tisch aus einer französischen Bibliothek stammte. Gebildete Emigranten aus der Generation meiner Eltern glaubten, dass eine Assimilation möglich und wünschenswert sei und relativ schnell erreicht werden könne, wenn man „einfach die Sprache lernte“. Das stellte sich allerdings als

started a collection of small animal bronzes for me­—birds and bears and kittens. Each time he returned from a buying trip, he’d open his suitcase and hand them over straight away, along with other exotic treasures: perfume, chocolates, dolls, and silk scarves. He brought these gifts back from a world that no longer existed, from which only he could travel back and forth. In New York we lived in a house full of conversation pieces we didn’t talk about. Het Onderwater-Cabaret (OWC) was yet another relic.

He brought these gifts back from a world that no longer existed, from which only he could travel back and forth. “What did you think when you came upon this treasure?” I’ve been asked a version of this question many times and can only repeat the same disappointing answer. There was no “moment of discovery.” In Amsterdam after the war, my father had the Onderwater-Cabaret bound into four thick compact volumes to preserve and keep them organized.

Familie Bloch, 2023 The Bloch Family, 2023 Vorne In the front: John Wehba, Ruth Bloch, Simone Bloch, Nina Schotland, Benjamin Bloch-Wehba Hinten In the background: Hannah Bloch-Wehba, Max Cornelis Reed (Kind/child), Chris Reed, Solomon Bloch-Wehba Seaward (Kind/child), Scott Bloch-Wehba Seaward, Lucy Bloch-Wehba Seaward “It’s Complicated”

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kompliziert heraus. Mit meinem Bruder und mir sprachen meine Eltern nur Englisch, aber untereinander redeten sie oft Deutsch. Wenn ich auch nur ein kleines bisschen davon verstand, war das ein Triumph. Niederländisch verstehen zu wollen war aussichtslos; es blieb der Code meiner Eltern für echte Geheimnisse. Unsere Nachbarn in Queens sprachen Englisch mit einem so starken New Yorker Akzent, dass wir es kaum verstehen konnten, aber ich hatte Spaß daran, ihn nachzuahmen. Meine Freundinnen und Freunde fanden den starken ausländischen Akzent meiner Eltern komisch und machten ihn gerne nach, aber ich nahm ihn kaum wahr. Im amerikanischen Fernsehen waren die Figuren mit dem gleichen Akzent wie mein Vater Nazis, über die in Hogan’s Heroes, einer damals sehr beliebten Serie über amerikanische GIs in einem deutschen Kriegsgefangenenlager, Witze gemacht wurden. In der Serie gab es Publikumsgelächter vom Band und keine Juden. Ich erinnere mich, dass mein Vater einmal am Ende einer Dinnerparty das Onderwater-Cabaret aus dem Regal nahm und auf Deutsch daraus vorlas. Das war zur Zeit des Watergate-Skandals, und mit dem Gedicht, das er vorlas, wollte er zweifellos zum Ausdruck bringen, dass Nixon Unrecht tat, als er inkompetenten und verlogenen Dieben befahl, alles für seinen Machterhalt zu tun und den Krieg in Vietnam fortzusetzen. Selbst nachdem mein Vater das Gedicht ins Englische übersetzt hatte, war die Parallele für einen Raum voller Amerikaner, die nur Englisch sprachen, unmöglich zu verstehen. Er muss sich in diesem Moment ziemlich einsam gefühlt haben. Die Menschen, die den Witz meines Vaters zu schätzen wussten, waren in der ganzen Welt verstreut oder tot. Die Deutschen aus seiner eigenen Generation waren nicht sein Publikum.

Die Menschen, die den Witz meines Vaters zu schätzen wussten, waren in der ganzen Welt ­verstreut oder tot. Die Deutschen aus seiner eigenen Generation waren nicht sein Publikum.

Anyone who ever met him knew he had a lot to say and he’d decided the OWC belonged on the bookshelf. Our house was filled with lots of weird stuff that had come from Europe in addition to my parents themselves. Were the antiques they sold at Continental Antiques junk or treasures? Either way, they were out of synch with chronological time and space; mute objects carrying stories they would never tell, and definitely not in English. The OWC was no buried treasure, it was always accessible, within reach physically. Its frame of reference could only build with time. I would not question why it was in our dining room any more than I would have wondered why the table came from a French library. Educated émigrés of my parents’ generation believed that assimilation was possible, desirable, and could be achieved relatively quickly if you “just learn the language.” That proved to be complicated. To my brother and me my parents spoke only English, but to each other they often spoke German. Every bit I understood was a triumph. Understanding Dutch was a hopeless proposition; code for keeping real secrets. In Queens our neighbors spoke English with such thick New York accents it was hard for us to understand, but fun for me to imitate. My friends found my parents’ heavy foreign accents comical and worthy of mimicry, but I could barely hear them. On American television, characters who shared my father’s accent were Nazis, the butt of jokes on Hogan’s Heroes, then a popular series about American GIs in a German prisoner-of-war camp. It had a laugh track and no Jews. I do remember once, at the close of a dinner party, my father took the Onderwater-Cabaret off the shelf and read aloud in German. It was during the time of the Watergate scandal, and the poem he read was doubtless intended to point out the injustice of Nixon directing incompetent, lying thieves to maintain his power and keep fighting the war in Vietnam. Even after he translated it into English, the parallel was impossible for a room full of monolingual, American-born English speakers to grasp. How lonely a feeling that must have been. The people who could appreciate my father’s wit were scattered around the world or dead. The Germans of his own generation were not his audience. “I read without an accent” he said, and, indeed, he spoke and read many languages well. In English his jokes didn’t always land. He made my mother laugh as her mind followed his back and forth over the ocean, but my mind didn’t travel that way yet. What did I know of how his history intersected with Europe’s? Not much. His nose had been broken in a street fight with Nazis at a newspaper office in Dortmund. Maybe also his teeth? In the Netherlands my dad had been hidden by a gravedigger with a macabre sense of humor. In the Netherlands my father had come to know hunger for the first time.

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„Es ist kompliziert“


Aus dem Familienalbum der Blochs From the Bloch family album

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Ruth und Curt Bloch, 1940er- und 1950er-Jahre Ruth and Curt Bloch, 1940s and 1950s

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Er sagte immer „Ich lese ohne Akzent“ und sprach und las wirklich viele Sprachen gut. Auf Englisch kamen seine Witze allerdings nicht immer an. Er brachte meine Mutter zum Lachen, ihr Geist folgte seinen (Zeit-)Reisen über den Ozean, aber meiner konnte diese Reise noch nicht mitmachen. Was wusste ich über die Verbindung zwischen seiner und der europäischen Geschichte? Nicht viel. Bei einer Schlägerei mit Nazis in einer Dortmunder Zeitungsredaktion wurde ihm die Nase gebrochen. Waren ihm womöglich auch die Zähne ausgeschlagen worden? In den Niederlanden war mein Vater von einem Bestatter mit Sinn für makabren Humor versteckt worden. In den Niederlanden erfuhr er zum ersten Mal, was Hunger ist. Ich wurde erst neugierig auf die Geschichte meines Vaters, als er plötzlich weg war. Ich begann Deutsch zu lernen, weil es die einzige Möglichkeit war, jemals zu erfahren, woher er kam – woher ich kam. Auch das war kompliziert. Während die meisten Kinder, mit denen ich aufwuchs, Hebräisch lernten und nach Israel reisten, um ihre Identität zu ergründen, zog es mich nach Deutschland, das mein Vater als sein Heimatland betrachtete. Während eines Semesters an der Universität Trier in den frühen 1980er-Jahren habe ich mein Judentum und meine Familiengeschichte weder verleugnet noch groß thematisiert. Wie ich hatten auch meine deutschen Freundinnen und Freunde zu Hause einiges über den Krieg erfahren, aber wie konnten wir Freunde sein, wenn wir darüber sprachen? Wir sprachen nicht darüber. Wir wollten Freunde sein. Kurz vor dem Tod meines Vaters im Jahr 1975 hatten meine Eltern ihr Geschäft geschlossen, da New York City ökonomisch am Ende und der Markt für Antiquitäten im Keller war. Meine Mutter, eine junge Witwe ohne Arbeit, hatte den Wunsch, weiter einer sinnvollen Beschäftigung nachzugehen. Sie arbeitete ehrenamtlich als Übersetzerin für das Holocaust Center in Brooklyn und für das Museum of Jewish Heritage in Manhattan und brachte neu Eingewanderten idiomatisches Englisch bei. Sie lernte Tennis und Bridge. „Es gehört in eine andere Zeit“, sagte sie über das OWC. Wie konnte ich da widersprechen? Die Titelcollagen der Zeitschriften waren grob und hatten nichts mit der Gegenwart zu tun: Stalin, Hitler und Mussolini waren längst tot. Gegenüber Leuten, die sich zu sehr für den Krieg interessierten, waren wir meist misstrauisch. Das hatte schon etwas Groteskes. Nach dem Fall der Berliner Mauer erfuhr ich, dass ich von Geburt an das Recht auf die deutsche Staatsbürgerschaft hatte. Zusammen mit meinen beiden noch sehr kleinen Töchtern wurde ich eingebürgert. Nun, da ich selbst Kinder hatte, begriff ich, wie kompliziert ihnen die vielen Stränge unserer Familiengeschichte eines Tages womöglich vorkommen würden.

“It’s Complicated”

He made my mother laugh as her mind followed his back and forth over the ocean, but my mind didn’t travel that way yet. I only became curious about my father’s story when he was suddenly gone. I began to study German because it was the only way to ever know where he—where I—came from. Again, this was complicated. While most of the kids I grew up with learned Hebrew and traveled to Israel to make sense of their identity, I gravitated to Germany, the place my father thought of as his homeland. During a semester in the early 1980s at the University of Trier I neither denied nor made much of an issue of my Jewishness or family history. Like me, my German friends had learned about the war at home, but if we talked about it, how could we be friends? We didn’t talk about it. We wanted to be friends. Shortly before my father’s death in 1975, with both New York City and the market for antiques “in the toilet,” my parents had closed their store. My mother—a young widow out of a job—had a practical desire: to stay busy. She volunteered as a translator for the Holocaust Center in Brooklyn and the Museum of Jewish Heritage downtown, and taught idiomatic English to new immigrants. She learned to play tennis and bridge. “It’s of its time,” she said of the OWC. Who was I to disagree? The cover collages of the magazines were coarse and had nothing to do with the present: Stalin, Hitler, and Mussolini were all long gone. As a rule, we were suspicious of people who were too interested in the war. There was an air of the grotesque about that. When the Berlin Wall fell I learned that German citizenship was my birthright. Along with my two very young daughters, I became a naturalized German citizen. Having children of my own I realized how complicated the many strands of our family history might one day seem to them. My daughter Lucy was the first to share my father’s poem “Ein Gruß,” and the story behind it, with me. While in college she delved deeper into the volumes of the OWC than I ever had. She studied German in Berlin while trying to learn the answers to questions like: Exactly how unique is the

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Meine Tochter Lucy war die erste, die mich auf das Gedicht „Ein Gruß“ meines Vaters und die Geschichte dahinter aufmerksam machte. Während ihres Studiums vertiefte sie sich stärker in die OWC-Bände, als ich es je getan hatte. Sie studierte Deutsch in Berlin und suchte dabei Antworten auf verschiedene Fragen, etwa: Wie einzigartig ist das OWC? Die Antwort lautete „sehr“. Haben andere Familien auch so etwas? Wenig überraschend war die Antwort „nein“. Doch wie konnten wir es für andere zugänglich machen? Es war alt, empfindlich und unersetzbar. Im Gegensatz zu den Möbeln und den Raritäten, die er zum Verkauf im Laden mitbrachte, war das OWC das Werk meines Vaters, ein von ihm hergestelltes Produkt, nichts, was er auf einem Flohmarkt gefunden hatte. Nachdem ich das OWC 2011 zum Scannen und Digitalisieren an das Leo Baeck Institute in New York gebracht hatte, kam es endlich unter die Leute. Nun konnte ich mir überlegen, was ich mit diesem sperrigen Vermächtnis des Widerstands anstellen sollte. Ich wurde zur Förderin des Werks meines Vaters und bezog Freunde und Bekannte in meine Bemühungen ein, den richtigen Platz dafür zu finden. Ich traf auf Kunsthistoriker und Kuratorinnen, Psychologen, Fernsehproduzenten, Archivarinnen, Filmemacherinnen, Linguisten, Verleger, Studierende, Journalistinnen und Karikaturisten, die alle die Einzigartigkeit des Werks zu schätzen wussten, es aber nicht einordnen konnten. Damals entstand auch der erste Kontakt zum Jüdischen Museum Berlin. Ich war überzeugt, dass das Œuvre meines Vaters Aufmerksamkeit verdiente, aber ich war zu diesem Zeitpunkt noch nicht bereit, das Werk zu stiften.

Ich war überzeugt, dass das Œuvre meines Vaters Auf­merksamkeit verdiente. Das einzig Schöne an Donald Trump ist, dass man sich über ihn so leicht lustig machen kann, und als die Satire nach seiner Wahl zum Präsidenten 2016 eine Renaissance erlebte, bot sich mir eine neue Möglichkeit, meinen Vater zu beschreiben: als Patrioten und Urheber subversiver freier Gedanken. Trump war international eine Zielscheibe des Spotts, und es wurde offensichtlich, dass das OWC dorthin gehörte, wo man seine Kritik an der Tyrannei im Original lesen und verstehen und auf die heutige Zeit übertragen konnte. Ich habe keine Scheu, mit Fremden zu sprechen. Das habe ich von meinem Vater. Mithilfe einer Nachbarin, die

OWC? The answer was “very.” Did any other families have something like this? Unsurprisingly, the answer was “no”. But how were we to share it? It was old, fragile, and irreplaceable. Unlike the furniture and the curios he brought back to sell at the store, the OWC was my dad’s creation, a product he had made, not something he found at a flea market. The OWC finally started circulating in 2011 after I brought it to be scanned and digitized at the Leo Baeck Institute in New York. Now I could pose the question of what to do with this unwieldy legacy of resistance. I became a promoter, engaging friends and friends of friends in my struggle to find the right place for my father’s work. I met art historians and curators, psychologists, television producers, archivists, filmmakers, linguists, publishers, grad students, journalists, cartoonists who could all appreciate the uniqueness but found the work uncategorizable. It was then that a first contact to the Jewish Museum Berlin was made. I was convinced my father’s oeuvre deserved to be seen, but I was not ready to donate by that time. The big upside to Donald Trump is that he’s so easy to make fun of, so when he was elected President in 2016, satire enjoyed a renaissance. It gave me a new way to describe my father: a patriot and originator of subversive free content. Trump was an international target for derision and it became clear that the OWC belonged where its critique of tyranny could be read and understood in the original and applied to the present day. I’m not shy about talking to strangers. I got that from my father. With help from a journalist neighbor I lobbed the project over the ocean to the Netherlands, where I eventually met Marcel van den Boogert, an editor who introduced ­Gerard Groeneveld (see p. 89) to the material. Meanwhile— on Facebook—I happened upon Thilo von Debschitz (see p. 68), a graphic designer who had brought attention to the work of Fritz Kahn, a brilliant Jewish popular science author. His enthusiasm was unstoppable, and together we brought my father’s story and verse to small audiences at Rotary Club meetings around Germany. Attending via Zoom to answer questions, I could see the surprise and deep emotional effect my father’s story and his rhymes had on German speakers. Deliberating on how to bring the OWC to the widest possible audience, we began our work on a dedicated website showcasing my father, his work, and his experience. Thilo encouraged me to reapproach the Jewish Museum Berlin. Hetty Berg, herself from the Netherlands, was utterly enthusiastic and green-lighted OWC’s exhibition premiere. Berlin is where – just shy of one hundred years ago— my father, a nice Jewish boy from Dortmund, lived it up as the world started to fall apart. He arrived here believing the future of Germany might be influenced by someone like him. If only.

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„Es ist kompliziert“


J­ ournalistin ist, brachte ich das Projekt über den Ozean in die Niederlande, wo ich schließlich den Redakteur Marcel van den Boogert traf, der Gerard Groeneveld (siehe S. 89) auf das Material aufmerksam machte. In der Zwischenzeit stieß ich bei Facebook auf Thilo von Debschitz (siehe S. 68), einen Grafikdesigner, der die Arbeit von Fritz Kahn bekannt gemacht hatte, einem hervorragenden jüdischen populärwissenschaftlichen Autor. Er war in seiner Begeisterung nicht aufzuhalten, und gemeinsam stellten wir die Geschichte und die Verse meines Vaters auf Rotary-Club-Treffen in ganz Deutschland einem kleinen Publikum vor. Ich nahm per Zoom teil, um Fragen zu beantworten, und konnte die Überraschung und die tiefe Betroffenheit sehen, die die Geschichte meines Vaters und seine Verse bei den deutschsprachigen Teilnehmer*innen auslösten. Wir beratschlagten, wie wir das OWC einem möglichst breiten Publikum zugänglich machen konnten, und begannen mit der Arbeit an einer Website, die meinen Vater, seine Arbeit und seine Erfahrungen vorstellt. Thilo ermutigte mich, noch einmal auf das Jüdische Museum Berlin zuzugehen. Hetty Berg, die selbst aus den Niederlanden stammt, war hellauf begeistert und gab grünes Licht für die Ausstellungspremiere des OWC. Mein Vater, ein netter jüdischer Junge aus Dortmund, lebte vor fast 100 Jahren in Berlin, als die Welt aus den Fugen zu geraten begann. Er kam in dem Glauben hierher, dass die Zukunft Deutschlands von jemandem wie ihm beeinflusst werden könnte. Wenn es nur so gewesen wäre. Aber am Ende hatte er doch irgendwie Recht! Es ist wie ein Wunder, dass das OWC nun auf so unkomplizierte Weise seinen Weg ins Jüdische Museum Berlin gefunden hat, wo es über diese Ausstellung hinaus für Bildungsprogramme und wissenschaftliche Zwecke auf der ganzen Welt zur Verfügung stehen wird. In Verbindung mit seiner Internetpräsenz haben wir vielleicht Curt Blochs Traum übertroffen, dass das Onderwater-Cabaret über die Wände seines Verstecks in Enschede und Borne und das Bücherregal in unserem New Yorker Wohnzimmer hinaus Anerkennung finden könnte.

Yet somehow, finally that’s true! It feels magically uncomplicated that the OWC has found its way home to the Jewish Museum Berlin, where beyond this exhibition it will become part of educational and scholarly programs available for intersecting purposes around the world. Together with his online presence, we may have exceeded Curt Bloch’s dream that his Onderwater-Cabaret might receive recognition beyond the walls of his hiding place in Enschede and Borne or the bookshelf in our living room in New York. One of my father’s favorite quotes in English didn’t rhyme and came from Mark Twain: “When I was a boy of fourteen, my father was so ignorant I could hardly stand to have the old man around. But when I got to be twenty-one, I was astonished at how much the old man had learned in seven years.” Give or take a bunch of decades, that is the story of Curt Bloch (and me), and he would be so delighted to know how wise I believe he has become.

Give or take a bunch of decades, that is the story of Curt Bloch (and me), and he would be so delighted to know how wise I believe he has become.

Eines der englischen Lieblingszitate meines Vaters reimt sich nicht und stammt von Mark Twain: „Als ich vierzehn war, war mein Vater so ignorant, dass ich ihn kaum in meiner Nähe ertragen konnte. Aber als ich einundzwanzig wurde, war ich erstaunt, wie viel der alte Mann in sieben Jahren gelernt hatte.“ Wenn Sie ein paar Jahrzehnte dazurechnen, ist das die Geschichte von Curt Bloch (und mir), und er wäre sehr erfreut zu erfahren, wie weise er meiner Meinung nach geworden ist.

“It’s Complicated”

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Simone Bloch ist Schriftstellerin, Psychoanalytikerin, Mutter und Großmutter. Sie lebt in New York City im ersten Stock des Hauses, in dem auch ihre 98-jährige Mutter wohnt, nur eine Meile Luftlinie von dem Kranken­ haus entfernt, wo sie geboren wurde. Seit 1990 besitzt sie die doppelte US-amerikanische und deutsche Staatsbürgerschaft. Simone Bloch is a writer, psychoanalyst, mother, and grandmother. She lives upstairs from her own ninetyeight-year-old mother in New York City, a mile as the crow flies from the hospital where she was born. She has held dual US/German citizenship since 1990.


Het Boek van Piet en Coba (Das Buch von Piet und Coba) schrieb Curt Bloch unter seinem Pseudonym Cornelis Breedenbeek, September 1943 Curt Bloch erzählt hier zwölf Abenteuer zweier Jugendlicher, die Widerstand gegen die deutsche Besatzung leisten. Het Boek van Piet en Coba (The Book of Piet and Coba) by Curt Bloch, written under his pseudonym Cornelis B ­ reedenbeek, September 1943 Curt Bloch presents twelve adventures of two youngsters engaged in acts of resistance against the German occupiers.

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Editorial


Irrfahrt durch den Weltenraum schrieb Curt Bloch unter seinem Pseudonym Cornelis Breedenbeek, Mai 1944 Das Puppenspiel handelt von den Geistern Hitlers und Mussolinis, die auf der Suche nach einer letzten Ruhestätte ­erfolglos durch den Kosmos irren. Irrfahrt durch den Weltenraum (Odyssey Through Space) by Curt Bloch, written under his pseudonym Cornelis ­Breedenbeek, May 1944 The puppet play recounts the ethereal wanderings of the ghosts of Hitler and Mussolini in search of a final resting place. Editorial

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Curt Bloch, fotografiert von Ruth Bloch, bei der Überfahrt von Rotterdam nach New York an Bord der SS Nieuw Amsterdam, April 1948 Curt Bloch during the passage from Rotterdam to New York on board the SS Nieuw Amsterdam, April 1948. Photo taken by Ruth Bloch.

C f o rk o W d n a Life

ch o l B urt


„Vielleicht kommen euch die Gedichte, Die ich in eurer Sprache schrieb In spätren Zeiten zu Gesichte Und täten sie’s, wär mir’s recht lieb.“ “Perhaps at some point in the future, the poems in your tongue I composed, will be brought to your notice, and if so, to delight will I then be disposed.” Auszug aus: „An meine deutschen Leser“, 3. Juni 1944 Excerpt from: “To my German Readers,” 3 June 1944

Text

Aubrey Pomerance DE Acht Jahrzehnte nach dem Verfassen dieser Zeilen und fast fünfzig Jahre nach seinem Tod erfüllt sich endlich die Hoffnung von Curt Bloch. Zwischen August 1943 und April 1945, über einen Zeitraum von mehr als 19 Monaten hinweg, schuf er in seinen Verstecken in den niederländischen Städten Enschede und Borne ein einzigartiges Werk des kreativen Widerstands: Het Onderwater-Cabaret (OWC). Woche für Woche stellte Bloch ein kleines Heft mit handgeschriebenen Gedichten in niederländischer und deutscher Sprache zusammen, die sich mit der Nazi-Propaganda auseinandersetzten und die unterschiedlichsten Themen behandelten: den Kriegsverlauf, die Lügen und Verbrechen der Nationalsozialisten und ihrer Kollaborateure, die Lage im Versteck und das Schicksal der eigenen Familie, den sich abzeichnenden Zusammenbruch und die Niederlage der Achsenmächte sowie die Zukunft des deutschen Volkes. Mit beißender Satire und sardonischem Witz verspottete Bloch alle führenden faschistischen Politiker, von Hitler, Goebbels und Göring über Mussolini bis zum Reichskommissar für die Niederlande Arthur Seyß-Inquart, sowie zahlreiche ihrer Untergebenen und Gefolgsleute – wobei er sich des Ausmaßes ihrer Gräueltaten immer bewusst blieb.

EN Some eight decades since these lines were written, and nearly fifty years after his death, Curt Bloch’s hopes are now finally being fulfilled. Over a period of more than nine­ teen months between August 1943 and April 1945, he produced a unique work of creative resistance while in hiding in the Dutch towns of Enschede and Borne: Het Onderwater-­ Cabaret (OWC). Week by week, Bloch put together smallformat booklets comprising handwritten poems, in both Dutch and German, that confronted Nazi propaganda and addressed a wide variety of themes: the course of the war, the lies and crimes of the National Socialists and their collaborators, his own situation in hiding and the fate of his family, the approaching collapse and defeat of the Axis forces, and the future of the German people. Through caustic satire and sardonic wit, Bloch mocked and ridiculed all the major fascist leaders—from Hitler, Goebbels, and Göring to Mussolini and Arthur Seyss-Inquart, Reich Commissioner of the Netherlands—alongside a host of their subordinates and henchmen, while always remaining acutely conscious of the enormity of their atrocities.

Titelblätter Covers Het Onderwater-Cabaret

22 AUG 1943

30 AUG 1943

4 SEP 1943


Das Leben vor dem Untertauchen Curt Bloch kam am 9. November 1908 als Sohn von Paula and Siegfried Bloch in Dortmund zur Welt. In den Jahren 1912 und 1923 wurden seine Schwestern Erna und Helene geboren. Der Vater führte in der Reinoldistraße in der Dortmunder Innenstadt ein Feinkostgeschäft, in dem auch koschere Lebensmittel verkauft wurden. Nach dem Abitur studierte Bloch in Bonn, Freiburg und Berlin Jura und promovierte an der Universität Erlangen. Es folgten Referendariate in Lünen, Köln und Dortmund. Im April 1933 wurde das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums erlassen, das Bloch eine berufliche Zukunft als ­Rechtsanwalt in Deutschland verwehrte. Weil der politisch links eingestellte Bloch zudem persönlich bedroht wurde, floh er in die Niederlande und ließ sich zunächst in Amsterdam nieder. Nach unterschiedlichen Tätigkeiten, etwa als Autor für eine deutschsprachige Exilzeitung – Bloch hatte zuvor bereits für den Dortmunder General-Anzeiger geschrieben –, fand er 1935 eine Anstellung als Verkäufer beim persischen Teppichhandel E. Perez in Den Haag. Nachdem antisemitische Hetze und die zwangsweise Schließung des Familienunternehmens in Dortmund seine Mutter Paula und seine jüngere Schwester Helene zur Flucht aus Deutschland veranlasst hatten, folgten sie ihm im Frühjahr 1939 nach Den Haag. Am 10. Mai 1940 marschierten die Deutschen in die Niederlande ein und besetzten das Land. Bereits vier Monate später mussten die Blochs Den Haag verlassen, weil nicht-niederländische Jüdinnen und Juden nicht mehr in den Städten an der Küste leben durften. Die ­Familie zog in die an der deutschen Grenze gelegene Stadt Enschede, wo Bloch in der dortigen Niederlassung von E. Perez bis Oktober 1941 weiterarbeitete. Er konnte danach mit dem selbständigen Verkauf von Teppichen und anderen Kunstgegenständen seine Mutter und die jüngste Schwester versorgen. Im Dezember 1941 wurden seine Schwester Erna und deren Ehemann Max Levy, den sie 1935 geheiratet hatte, von Düsseldorf nach Riga deportiert. Kreativer Widerstand Am 25. August 1942, etwa sechs Wochen nach der ersten Massendeportation von Jüdinnen und Juden aus

11 SEP 1943

Life Before Hiding Curt Bloch was born in Dortmund on November 9, 1908 to Paula and Siegfried Bloch. His sisters Erna and H ­ elene followed in 1912 and 1923. His father had a delicatessen on Reinoldistrasse in the center of Dortmund that also sold ­kosher foodstuffs. After graduating from high school, Bloch studied law in Bonn, Freiburg, and Berlin and earned his doctorate at the University of Erlangen. This was followed by legal clerkships in Lünen, Cologne, and Dortmund. In April 1933, the Law for the Restoration of the Professional Civil Service ruled out a future for Bloch as a lawyer in Germany. In addition, the politically leftist Bloch was personally threatened, whereupon he fled to the Netherlands, settling first in Amsterdam. After engaging in various activities, among them writing for a German-language exile newspaper—Bloch had previously penned articles for the Dortmunder General-­ Anzeiger—he was employed in 1935 as a salesman at the Persian carpet dealer E. Perez in The Hague. There he was joined by his mother Paula and younger sister Helene in the spring of 1939, after antisemitic smears and the forced closure of the family business led them to flee Germany. On May 10, 1940, the Germans invaded and occupied the Netherlands. Only four months later, the Blochs had to leave The Hague after non-Dutch Jews were forbidden to live in towns along the coast. The family moved to the eastern city of Enschede on the German border, where Bloch continued to work for E. Perez at their branch in the city until October 1941. Thereafter he was able to sell carpets and other art works independently and thus provide for his mother and youngest sister. In December 1941, his sister Erna and Max Levy, whom she had married in 1935, were deported from Düsseldorf to Riga. Creative Resistance Curt Bloch went into hiding in Enschede on August 25, 1942, some six weeks after the first mass deportation of Jews from the transit camp of Westerbork to Auschwitz. He was aided by a resistance group formed by the Enschede pastor Leendert Overduin to save Jews from the city and other towns throughout the province of Overijssel. His mother and sister first found refuge in Apeldoorn and later in Leiden. Bloch was taken in by the funeral announcer Albertus Menneken and his wife

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dem Durchgangslager Westerbork nach Auschwitz, tauchte Curt Bloch in Enschede unter. Er wurde von einer Widerstandsgruppe unterstützt, die der Enscheder Pastor Leendert ­Overduin gegründet hatte, um Jüdinnen und Juden aus seiner Stadt und anderen Ortschaften in der Provinz Overijssel zu retten. Blochs Mutter und Schwester fanden zunächst in Apeldoorn und später in Leiden Zuflucht. Curt Bloch wurde von Albertus Menneken, der Leichenbitter war, und seiner Frau Aleida in ihr Haus in der Plataanstraat 15 aufgenommen. Im Herbst 1942 stießen Karola Wolf und Bruno Löwenberg zu ihm, die er zwei Jahre zuvor bei seiner Ankunft in der Stadt kennengelernt hatte. Die drei waren auf dem Dachboden untergebracht, konnten aber zu unterschiedlichen Tageszeiten auch andere Räume des Hauses nutzen. Curt Bloch begann spätestens im Frühjahr 1943 eine Reihe von Gedichten zu verfassen, die er Tijdsgedichten (Zeitgedichte) nannte. Einen wichtigen Anstoß dazu gab höchstwahrscheinlich die Ausstrahlung einer Propagandasendung namens Zondagmiddagcabaret (Sonntagnachmittag-­ Cabaret) im von den Deutschen kontrollierten niederländischen Rundfunk. Sie war die Erfindung des niederländischen Lyrikers Jacques van Tol. Bei Radio Oranje, dem Sender der niederländischen Exilregierung in London, lief das Gegenprogramm, das der Parodierung der deutschen Besatzer und ihrer niederländischen Kollaborateure diente. Bloch könnten diese Zusammenhänge zu seinem Onderwater-­Cabaret inspiriert haben. Wie eine Gedichtsammlung beweist, die Bloch Anfang Juli 1943 für Karola Wolf unter dem Titel I­nstead of a Zondagmiddagcabaret (Anstelle eines Sonntagnachmittag-Cabarets) zusammengestellt hatte, präsentierte Bloch seine Gedichte mit ziemlicher Sicherheit K ­ arola Wolf, Bruno ­Löwenberg und den Mennekens in seinem eigenen Sonntagnachmittag-Cabaret.1 Die Beziehung zwischen Curt Bloch, Bruno Löwenberg und Karola Wolf war herausfordernd. Karola wuchs in Krefeld auf. Sie entkam im November 1938 nach England, ihre Eltern im Juli 1939 nach Enschede. Bei Kriegsbeginn war Karola 1 Der mehrsprachige Curt Bloch verfasste seine Briefe und Gedichte an Karola Wolf in vier Sprachen – Deutsch, Niederländisch, Englisch und Französisch –, manchmal in einem Satz. Das OWC schrieb er auf Niederländisch und Deutsch, die letzte Ausgabe vom 3. April 1945 enthält ein Gedicht auf Englisch.

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Curt Blochs Eltern Paula (1883–1943) und Siegfried Bloch (1874–1934), undatiert Curt Bloch’s parents Paula (1883–1943) and Siegfried Bloch (1874–1934), undated

Curt Bloch mit Mutter Paula und Schwester Helene, Enschede, 1940–1942 Curt Bloch with mother Paula and sister Helene, Enschede, 1940–1942

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Curt Blochs Schwester Erna Levy, geb. Bloch, 1939; Kreisarchiv Viersen Curt Bloch’s sister Erna Levy, née Bloch, 1939; Viersen District Archive

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dort zu Besuch und blieb. Bruno Löwenberg war 1933 aus Aachen in die Stadt gekommen und dort ein erfolgreicher Textilhändler geworden. Er und Karola Wolf waren ein Paar, als sie bei den Mennekens Unterkunft fanden, aber Curt, der ihnen diese vermittelt hatte, entwickelte eine wachsende Zuneigung zu Karola. Nachdem die Untergetauchten die Nachricht erhalten hatten, dass Paula und Helene Bloch zusammen mit Bruno Löwenbergs Vater Berthold und Schwester Elise am 5. Mai 1943 in einer Pension in Leiden verhaftet worden waren, verließen alle drei das Haus der Mennekens, Karola endgültig, Curt und Bruno nur für kurze Zeit. Etwa drei Monate danach begann Curt an Karola zu schreiben. In diesem Zusammenhang entstand Het Onderwater-Cabaret. Het Onderwater-Cabaret und Secret Service Der Titel Het Onderwater-Cabaret erscheint zum ersten Mal in einem Heft, das Bloch für Karola Wolf anlässlich ihres 23. Geburtstags am 14. August 1943 geschrieben und ihr zugeschickt hatte: Coba’s Verjaardags-Cabaret (Cobas Geburtstags-Cabaret), eine feierliche Vorstellung des Onderwater-Cabarets. Und am Tag darauf, am 15. August, produzierte Bloch A Special edition of the ‚Onder Water Cabaret‘ instead of a long letter (Eine Sonderausgabe des ‚Onderwater-Cabarets‘ anstelle eines langen Briefes) mit dem Titel Secret Service. Nur eine Woche später „erschien“ die erste Ausgabe von Het Onderwater-Cabaret selbst. In den darauffolgenden sieben Monaten arbeitete Bloch parallel an Het Onderwater-Cabaret und Secret Service. Beide Hefte brachte er jeweils einmal pro Woche heraus, sie hatten das gleiche Format (ca. 13,5 x 10,5 cm) und Titelblätter mit Fotomontagen und Collagen, die Bloch mithilfe von Zeitungen und Zeitschriften zusammenstellte, die ihm zur Verfügung standen. Secret Service enthielt fast ausschließlich Liebesgedichte, die überwiegend auf Deutsch und meist mit liebevollem Humor geschrieben waren, während es sich bei den Gedichten im Het Onderwater-Cabaret vor allem um politische Satire handelte, in den ersten vier Monaten hauptsächlich auf Niederländisch. Während das OWC sowohl den Mennekens als auch Bruno Löwenberg und anderen Freunden und Besucherinnen des Hauses bekannt war und weitergegeben wurde, blieb Secret Service seinem Namen

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Aleida in their house at Plataanstraat 15. In the fall of 1942, he was joined there by Karola Wolf and Bruno Löwenberg, whom he had met following his arrival in Enschede two years earlier. The three of them were lodged in the attic, but able to spend time in other rooms of the house at different times of the day. Curt had begun writing poems in the spring of 1943 and possibly even earlier, referring to them collectively as ­Tijdsgedichten (Poems of the Times). It is high likely that a major impetus was the airing on German-controlled Dutch radio of a propaganda program entitled Zondagmiddag-­ cabaret (Sunday Afternoon Cabaret). This was the brainchild of the Dutch lyricist Jacques van Tol, who created it to counter a cabaret program broadcast by Radio Oranje, the voice of the Dutch government in exile in London. As the Radio Oranje revue parodied both the German occupiers and their Dutch collaborators, it too may have given Bloch inspiration for his Onderwater-Cabaret. Bloch almost certainly presented his verses to the Mennekens, Karola Wolf, and Bruno Löwenberg in his own “Sunday Afternoon Cabaret,” as testified by a collection of poems he put together in early July 1943 for Karola under the heading Instead of a Zondagmiddagcabaret.1 The relationship between Curt Bloch, Bruno Löwenberg, and Karola Wolf was a challenging one. Karola grew up in Krefeld and fled to England in November 1938, her parents to Enschede in July 1939. Karola was visiting them when the war began and she stayed. Bruno Löwenberg came to the city in 1933 from Aachen, and made a living there as a successful textile merchant. He and Karola Wolf were a couple when they moved in to the Mennekens’ home, but Curt, who had ­arranged for them to come there, became increasingly fond of Karola. After receiving news of the arrest of Paula and Helene Bloch along with Bruno Löwenberg’s father Berthold and his sister Elise in a boarding house in Leiden on May 5, 1943, all three left the Menneken house­—Karola permanently, Curt and Bruno only temporarily. Some three months later, Curt began writing to Karola, and it was in this connection that he created Het Onderwater-Cabaret. 1 The multilingual Curt Bloch wrote his letters and poems to Karola Wolf in four languages, German, English, Dutch and French—sometimes switching within a single sentence. He wrote the OWC in Dutch and German, though the last issue from April 3, 1945, includes a poem in English.

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„Seemannsrose“: Ausgabe des Secret Service von Curt Bloch, E ­ nschede, Januar 1944 Schenkung von Robert Saunders “Seemannsrose” (Sailor’s Rose): Issue of Secret ­Service by Curt Bloch, Enschede, January 1944 Gift of Robert Saunders

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„Ich singe Dir mein Liebeslied …“: Ausgabe des Secret Service von Curt Bloch, Enschede, Februar 1944 Schenkung von Robert Saunders “Ich singe Dir mein Liebeslied …” (I’m Singing You My Love Song): Issue of Secret Service by Curt Bloch, Enschede, February 1944 Gift of Robert Saunders

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entsprechend geheim, und Curt unternahm alles, damit sich daran nichts änderte. Beide „Periodika“, wie Bloch sie später nannte, schickte er in versiegelten Briefen mit unterschiedlichen Boten an Karola, die einzige Empfängerin von Secret Service und Erstleserin von Het Onderwater-Cabaret. In einem Brief vom Oktober 1943 erklärte Bloch den Zweck des OWC: „Und wenn man dazu beiträgt, den deutschen Ungeist lächerlich zu machen – Lächerlichkeit tötet! – dann hilft man damit nicht nur dem deutschen Volk, sondern leistet damit gleichzeitig Arbeit im europäischen und im Weltinteresse.“ Im selben Brief äußerte er die Hoffnung, „daß ich durch meine Gedichte eine erzieherische Rolle spielen könnte, vor allem bei dem geistigen Aufbau eines neuen Deutschland.“ Cornelis Breedenbeek Curt Blochs literarisches Schaffen blieb jedoch nicht auf Het Onderwater-Cabaret und Secret Service beschränkt. Im September 1943 stellte er Het boek van Piet en Coba (Das Buch von Piet und Coba) für „junge Menschen zwischen acht und 80 Jahren“ fertig, in dem zwölf Abenteuer zweier Jugendlicher geschildert werden, die Widerstand gegen die deutschen Besatzer in den Niederlanden leisten. Das umfangreiche autobiografische Werk Dortmunder Bierzeitung, das von Blochs Heimatstadt und dem Leben dort handelt, insbesondere von seinen Mitschülern und Lehrern am Gymnasium, entstand zwischen September 1943 und Februar 1944. Drei Monate später schloss Bloch das satirische Werk Irrfahrt durch den Weltenraum ab, das erzählt, wie die Geister Hitlers und Mussolinis auf der Suche nach einer letzten Ruhestätte im Kosmos herumirren. Alle diese Werke verfasste Bloch unter dem Pseudonym Cornelis Breedenbeek in gereimten Versen und sandte sie an Karola Wolf zur Durchsicht und Begutachtung. Bloch schrieb außerdem zahlreiche CabaretStücke und Glückwünsche zu Geburtstagen und Jubiläen von Freund*innen und Helfer*innen. Außerdem arbeitete er an einem längeren Prosawerk mit dem Titel Op wilde vaart (In wildem Tempo), von dem allerdings nichts erhalten ist. Blochs fantasievolle und charmante Liebesgedichte erzielten zusammen mit seinen übrigen Schriften und ausführlichen Briefen Wirkung. Dennoch blieb seine Beziehung zu Karola Wolf, die er als seine Inspirations- und Motivations-

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Het Onderwater-Cabaret and Secret Service The title Het Onderwater-Cabaret appears first in a booklet written for and sent to Karola on the occasion of her twenty-third birthday on August 14, 1943: Coba’s Verjaar­ dags-Cabaret (Coba’s Birthday Cabaret), a festive presentation of the Onderwater-Cabaret. On the following day, ­August 15, Bloch produced “A Special edition of the ‘Onder Water Cabaret’ instead of a long letter,” with the title Secret ­Service. Just one week later, the first issue of Het OnderwaterCabaret proper “appeared.” For the next seven months, Bloch worked simulta­ neously on Het Onderwater-Cabaret and Secret Service, each produced once a week. Both had the same format (ca. 13.5 x 10.5 cm) and the covers of both were adorned with photomontages and collages that Bloch made using materials from newspapers and magazines available to him. Secret ­Service comprised almost exclusively love poems, written mostly in German and very often in an endearingly amusing style, whereas the verses of Het Onderwater-Cabaret were primarily political satire and in the first four months were composed mainly in Dutch. While the satirical poems were known to and shared with the Mennekens, Bruno Löwenberg, and other friends and visitors to the house, the love poems remained eponymously secret, and Curt went to great lengths to keep them so. Both “periodicals,” as Bloch referred to them later, were sent in sealed letters via different messengers to Karola, the only recipient of Secret Service and the primary reader of Het Onderwater-Cabaret. In a letter written in October 1943, Bloch explained the purpose of the latter series: “If you contribute to making the German evil spirit ridiculous— ridicule kills!—then you not only help the German people, but at the same time work in the interest of Europe and the world.” In the same letter, he expressed the hope that “through my poems I might play an educational role, especially in the spiritual and intellectual construction of a new Germany.” Cornelis Breedenbeek Curt Bloch’s literary production was not limited to Het Onderwater-Cabaret and Secret Service. In September 1943, he completed Het boek van Piet en Coba (The Book of Piet and Coba) “for young people aged eight to eighty,” which

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quelle bezeichnete, eine „Liebe aus der Ferne“, wie Bloch ihr Verhältnis nannte, auch wenn sich beide von Zeit zu Zeit kurz sehen konnten. Wegen der „Unzulänglichkeit von Briefen“, der äußeren Umstände sowie der Ängste und Depressionen, die das Leben im Versteck zwangsläufig mit sich brachte, endete die Romanze im März 1944. Bloch stellte Secret ­Service ein, schrieb Karola Wolf aber weiterhin regelmäßig und schickte ihr – immer wieder die Hoffnung äußernd, dass sie sich nach der Befreiung wieder näher kommen könnten – die meisten Ausgaben von Het Onderwater-Cabaret. Die letzten Monate im Versteck Im Dezember 1944 verließ Bloch Enschede, nachdem er bereits seit längerer Zeit den Wunsch geäußert hatte, die Plataanstraat 15 zu verlassen. Vor allem sein Verhältnis zu Aleida Menneken war von Anfang an durch Spannungen beeinträchtigt gewesen. Er wurde von Jeronimo und Johanna Hulshoff in Borne aufgenommen. Das Ehepaar wohnte mit seinen drei Kindern in einem Haus am Wensinkweg 13, wo zuvor bereits andere Jüdinnen und Juden und nichtjüdische Niederländer*innen, die in den Untergrund gegangen waren, um der Zwangsarbeit in Deutschland zu entgehen, vorübergehend Zuflucht gefunden hatten. Bloch blieb drei Wochen lang bei den Hulshoffs. Die Begeisterung ihres ältesten Kindes für sein Buch Het boek van Piet en Coba bewog Bloch, drei weitere Abenteuer über die jungen Widerstandskämpfer*innen zu schreiben. Mit Unterstützung der Hulshoffs und anderer Helfer konnte er in Borne bleiben und weiter das OWC herausbringen. Am 10. Januar 1945 schrieb er an Karola Wolf, dass einige seiner Gedichte gedruckt worden seien. Drei Monate später, am 3. April 1945, wurde Borne von den britischen Royal Dragoons und den Nottingham Sherwood Rangers befreit. Blochs letztes Heft ist auf diesen Tag datiert und trägt den Titel „Bovenwater Finale van het O.W.C.“: ÜberwasserFinale des OWC. Nach der Befreiung Die Freiheit, nach der Curt Bloch sich so gesehnt hatte, wurde bedauerlicherweise vorerst nicht von Glück begleitet. Kurz nach Kriegsende erhielt er die niederschmet-

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­ resented twelve adventures of two youngsters engaged p in acts of resistance against the German occupiers of the Netherlands. A lengthy autobiographical work entitled Dortmunder Bierzeitung about his hometown and his life there, especially about his teachers and fellow pupils at the high school, was written between September 1943 and February 1944. In May 1944, he finished the satirical work Irrfahrt durch den Weltenraum (Odyssey through Space), which recounted the ethereal wanderings of the ghosts of Hitler and Mussolini in search of a final resting place. All of these works, penned under the pseudonym of Cornelis Breedenbeek, were written in rhymed verse, and all were sent to Karola Wolf for her perusal and review. Bloch was also busy writing cabarets and congratulatory pieces for the birthdays and anniversaries of friends and helpers. Additionally, he was working on a longer piece of prose entitled Op wilde vaart (At Breakneck Speed) of which, however, nothing has survived. Curt Bloch’s intensely imaginative and engaging love poems, combined with his other writings and lengthy letters, achieved the desired effect. Nonetheless, his relationship with Karola Wolf, whom he credited with giving him inspiration and motivation, remained “making love per distance,” as Bloch described it, despite the fact that they were able to meet briefly from time to time. Due to the “inadequacy of correspondence,” the circumstances of the time, and the anxiety and depression that inevitably accompanied life in hiding, the romance came to an end in March 1944. Bloch discontinued the Secret Service but kept writing regularly to Karola Wolf and sent her most issues of Het Onderwater-­Cabaret throughout his time in hiding, during which he continually expressed the hope that liberation might bring them closer together again. Last Months in Hiding In December 1944, Bloch left Enschede. He had long wanted to depart from Plataanstraat 15, his relationship with Aleida Menneken in particular having been tense almost from the start. He was taken in by Jeronimo and Johanna Hulshoff in Borne. The couple lived with their three children in a house on Wensinkweg 13, which had served as a short-term refuge for other Jews as well as for Dutch non-Jews who had gone underground to avoid forced labor in Germany. Bloch stayed

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ternde Nachricht, dass seine Mutter und seine Schwestern nicht überlebt hatten. Paula und Helene Bloch waren zusammen mit Berthold und Elise Löwenberg von Westerbork nach Sobibor deportiert und dort bei ihrer Ankunft am 21. Mai 1943 ermordet worden. Curts Schwester Erna Levy kam im Herbst 1944 im KZ Stutthof bei Danzig um. Eine Fortsetzung der Romanze mit Karola Wolf kam nicht zustande.

Von links nach rechts: Bruno Löwenberg, unbekannte Person, Helene Bloch, Curt Bloch und Karola Wolf, Niederlande, vermutlich 1941 Schenkung von Robert Saunders From left to right: Bruno Löwenberg, unknown person, Helene Bloch, Curt Bloch and Karola Wolf, Netherlands, presumably 1941 Gift of Robert Saunders

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with the Hulshoffs for three weeks. Their oldest child’s enthusiasm for Het boek van Piet en Coba led him to write three further adventures about the young resistance fighters. With the help of the Hulshoffs and others, Bloch was able to remain in Borne and continued to produce Het ­Onderwater-Cabaret. In a letter of January 10, 1945, he told Karola Wolf that some of his poems had been published. Three months later, on April 3, 1945, Borne was liberated by the British Royal Dragoons and the Nottingham Sherwood Rangers. Bloch’s last issue of the Cabaret bears that date and is entitled “Bovenwater Finale van het O.W.C.”—Above-water Finale of the OWC. After Liberation The freedom that Curt Bloch had so longed for was unfortunately not immediately accompanied by happiness. Shortly after the end of the war, he received the devastating confirmation that his mother and sisters had not survived. Paula and Helene Bloch, together with Berthold and Elise Löwenberg, were deported from Westerbork to Sobibor and murdered upon arrival there on May 21, 1943. Curt’s sister Erna Levy perished in the concentration camp Stutthof near Danzig in fall 1944. A rekindling of the romance with Karola Wolf did not materialize. Regrettably, Bloch did not pursue any further literary ambitions. Although he had apparentely given some well-­ received readings of his poems in the weeks after liberation, his hope that his writings might be used for reeducation in Germany was not realized, something he attributed to his not having had the necessary connections. Added to this was the fact that he was obligated to provide proof of his antifascist sentiments, as testified by several letters of support written by Dutch citizens, among them Pastor Leendert Overduin, a situation that must have been particularly demoralizing for someone like Bloch who had so fiercely written against the Nazi murderers and their accomplices. After remaining for some months in Borne and Enschede, Bloch moved to Amsterdam in the first few weeks of 1946 and worked for a time in a law office. In the spring of that year, he met Ruth Kan, who like him was born in Dortmund, in 1925, and whom had known his sister Helene. The couple ­married in July. Ruth had moved to Amsterdam with her parents

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Und obwohl Bloch seine Gedichte in den Wochen nach der Befreiung scheinbar einige Male vortrug, erfüllte sich seine Hoffnung, dass seine Schriften in Deutschland zu Umerziehungszwecken verwendet werden könnten, nicht, was Bloch darauf zurückführte, dass er nicht über die ­nötigen Verbindungen verfügte. Leider verfolgte er keine weiteren ­literarischen Ambitionen. Dazu kam, dass er seine antifaschistische Gesinnung nachweisen musste, wie mehrere Unterstützerbriefe, unter anderem von Pastor Leendert Overduin, bezeugen – eine Situation, die für jemanden wie Bloch, der so leidenschaftlich gegen die Nazi-Mörder und ihre Gesinnungsgenossen angeschrieben hatte, besonders demoralisierend gewesen sein muss. Nach einigen Monaten in Borne und Enschede zog Bloch Anfang des Jahres 1946 nach Amsterdam, wo er eine Weile in einer Anwaltskanzlei arbeitete. Im Frühjahr lernte er Ruth Kan kennen, die 1925 in Dortmund geboren worden war und seine Schwester Helene gekannt hatte. Curt und Ruth heirateten im Juli 1946. Ruth war 1939 mit ihren Eltern und ihrem Bruder nach Amsterdam gezogen, weil ihr Vater Niederländer war, aber auch sie war die einzige Überlebende ihrer Familie. Benjamin und Bertha Kan wurden im Mai 1943 in Sobibor ermordet, Heinz Kan ein Jahr später in Auschwitz. Ruth selbst war im Juni 1943 in das Konzentrationslager Herzogenbusch in Nordbrabant gebracht worden, wo sie Zwangsarbeit für die Firma Philips verrichten musste. Ein Jahr später wurde sie nach Auschwitz deportiert, jedoch nach einer Woche in ein Lager in Reichenbach südlich von Breslau überstellt. Später überlebte sie verschiedene Lager, Märsche und Transporte und wurde Anfang Mai 1945 in Dänemark befreit. Im Mai 1947 wurde Stephen, das erste Kind der Blochs, geboren. Ein Jahr später, im April 1948, emigrierte die Familie in die USA und ließ sich in New York nieder. Dort kam 1959 Tochter Simone zur Welt. Curt Bloch arbeitete bis Ende der 1950er-Jahre in verschiedenen Berufen und gründete dann sein eigenes Antiquitätengeschäft, die ­Continental ­Antiques Corporation. Er starb am 14. Februar 1975 im Alter von 66 Jahren. Bevor er die Niederlande verließ, hatte Curt Bloch die 95 Ausgaben von Het Onderwater-Cabaret in vier Bänden und seine übrigen Schriften in einem fünften Band binden

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Hochzeit von Curt Bloch und Ruth Kan in der Lekstraat Synagoge, Amsterdam, 10. Juli 1946 Wedding of Curt Bloch and Ruth Kan in the Lekstraat Synagogue, Amsterdam, 10 July 1946

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lassen. Im Januar 2023 kamen alle fünf Bände in das Jüdische Museum Berlin, wo die Einzelhefte und Werke sorgfältig voneinander getrennt und restauriert wurden. Durch die Ausstellung, die Publikationen und die Online-Präsentation des gesamten Het Onderwater-Cabaret werden Blochs Verse, die zur Zeit ihrer Entstehung nur eine Handvoll Menschen kannten, nun die Anerkennung und Wertschätzung finden, die sie so sehr verdienen. Und sie bleiben auch in der heutigen Welt, in der Krieg, Desinformation, Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung allgegenwärtig sind, hochaktuell. Wir danken Simone Bloch sehr herzlich für ihr Vertrauen und die enge Zusammenarbeit. Robert Saunders, dem Sohn von Karola Saunders, geb. Wolf, danken wir für die Schenkung der 36 erhaltenen Ausgaben von Secret Service und anderer Schriften, von Briefen Curt Blochs an seine Mutter sowie weiterer Korrespondenz und Fotografien. Wir danken Tamara Goldstoff-Loewenberg und Marcel Loewenberg für Fotografien und Dokumente ihres Vaters Bruno Löwenberg, und Lide Schattenkerk, geb. Hulshoff, für die Schenkung von Schriften, die Curt Bloch für ihre Familie verfasst hat. Ein herzliches Dankeschön geht an Gerard Groeneveld für seine hilfreichen Hinweise.

Aubrey Pomerance leitet seit 2001 das Archiv des Jüdischen Museums Berlin und die dortigen D ­ ependancen des Archivs des Leo Baeck Instituts New York und der Wiener Holocaust L ­ ibrary. Zusammen mit Ulrike Kuschel ist er Kurator der Ausstellung „Mein Dichten ist wie Dynamit“ Curt Blochs Het Onderwater Cabaret. Since 2001, Aubrey Pomerance has been Head of Archives at the Jewish Museum Berlin and of the branches of the archives of Leo Baeck Institute New York and of the Wiener Holocaust Library at the museum. Together with Ulrike Kuschel, he is the curator of the exhibition "My Verses Are Like Dynamite” Curt Bloch’s Het Onderwater Cabaret.

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and brother in 1939, her father being Dutch, but she too was the only one of her family to survive. Benjamin and Bertha Kan were murdered in Sobibor in May 1943, and Heinz Kan a year later in Auschwitz. Ruth herself had been brought in June 1943 to the Vught concentration camp in Noord-Brabant, where she carried out forced labor for the Philips company. She was deported to Auschwitz a year later, but after one week was taken to a camp in Reichenbach, south of today’s Wrocław. She later survived various camps, marches, and transports and was liberated in Denmark at the beginning of May 1945. The Blochs’ first child, Stephen, was born in May 1947. One year later, in April 1948, the family emigrated to the United States and settled in New York, where their daughter Simone was born in 1959. Curt Bloch held various jobs until the late 1950s, when he established his own antique store called Continental Antiques Corporation. He died at the age of sixty-six on February 14, 1975. Before leaving the Netherlands, Curt Bloch had the ninety-five issues of Het Onderwater-Cabaret bound in four volumes, and his other writings in a fifth. In January 2023, all five volumes came to the Jewish Museum Berlin, where all the individual issues and works were carefully separated and restored in preparation for display. Through the exhibition, publications, and the presentation of the entire OWC online, Bloch’s verses, known to only a small number of people at the time of their composition, will now find the recognition and appreciation they so greatly deserve. And in today’s world, in which war, disinformation, discrimination, exclusion, and persecution are widespread, they remain highly pertinent. We extend our sincere thanks to Simone Bloch for her trust in the Jewish Museum Berlin and for the close cooperation; to Robert Saunders, son of Karola Saunders née Wolf, for his donation of the thirty-six surviving issues of Secret Service and other writings and letters of Curt Bloch to his mother, as well as further correspondence and photographs; to ­Tamara Goldstoff-Loewenberg and Marcel Loewenberg for materials pertaining to their father Bruno Löwenberg, and to Lide ­Schattenkerk née Hulshoff, for her donation of items made by Curt Bloch for her family. Last not least, many thanks to Gerard Groeneveld for the helpful information he provided.

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“ … n i b r r a n t s n u K r e h c l o s n i e h c i s s a D „ 4. März 1944 4 March 1944


Curt Blochs Titelblätter und Fotomontagen Curt Bloch’s Covers and Photomontages Das Het Onderwater-Cabaret richtete sich an einen sehr kleinen Kreis von Freund*innen und Helfer*innen – vor allem an Karola Wolf, mit der Curt Bloch eine Zeit lang zusammen im Versteck in Enschede war. Nachdem Wolf das Versteck verlassen musste, entwickelte sich eine intensive Korrespondenz, der Bloch das OWC beilegte und in der er so manches „Fotomontage­ geheimnis“ verriet. The Het Onderwater-Cabaret was meant for a very small group of Curt Bloch’s friends and supporters, especially Karola Wolf, with whom he lived for a short time in hiding in Enschede. After Wolf was forced to find a new hiding ­place, she began an intensive correspondence with Bloch, who sent her the OWC and revealed many of his “photomontage secrets.” Text

Ulrike Kuschel

Titelblätter Covers Het Onderwater-Cabaret

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DE Zwischen August 1943 und April 1945 fertigte Curt Bloch 95 Ausgaben des Het Onderwater-Cabaret. Die 16bis 24-seitigen Ausgaben enthalten drei bis zwölf Gedichte – meistens sind es vier bis sechs –, die Bloch jeweils in einem Inhaltsverzeichnis aufführte. Ein Gedicht wählte er aus, um es als Collage oder Fotomontage auf dem Titelblatt zu illustrieren. In der Regel versah Bloch diese Gedichte mit einem Hinweis auf das Cover, das er als Titel- oder Umschlagsmontage bezeichnete, wenn er mehrere Fotos oder Bildfragmente zusammenfügte, oder als Umschlagbild, Titelbild oder Titelblatt, wenn er nur eine einzige Abbildung auf den Titel klebte. Zum Teil sind auch die Rückseiten der Hefte mit Collagen versehen. Ab Januar 1944 begann Bloch, auch in den Innenteil Zeitungsartikel bzw. -ausschnitte einzukleben.

EN Between August 1943 and April 1945, Curt Bloch produced ninety-five issues of Het Onderwater-Cabaret. Each was between sixteen- and twenty-four-pages long and featured three to twelve poems—in most cases between four and six. These poems were listed in the table of contents. Bloch selected one poem from each issue and illustrated it by a collage or photomontage on the booklet’s front cover. As a rule, he included a note under the title of the poem referring to the cover, which he described as a “cover montage” when he combined several photos or fragments, or as a “cover image” when he used a single illustration. In some cases he placed these photomontages on the backs of the booklets. In January 1944, Bloch began pasting newspaper articles and clippings on the inside pages.

Künstlerisches Talent Angesichts seines Gestaltungstalents und visuellen Gespürs stellt sich die Frage, ob Bloch bereits vor dem Untertauchen Ähnliches produziert hatte. Auch lässt sich anhand der 95 Ausgaben nachvollziehen, wie Bloch immer wieder Neues ausprobierte und seine Gestaltungsmittel erweiterte. Als er im Juli 1944 erstmalig den Schriftzug des Het Onderwater-­ Cabaret auf OWC abkürzte – Bloch hatte aus der deutschen Zeitschrift Die Woche die Buchstaben O, W und C ausgeschnitten – begann er auch mit der Typo­grafie zu experimentieren, die in der Folge zu einem wesentlichen Gestaltungselement wurde. In einer Zeit, in der digitale Werkzeuge (und künstliche Intelligenz) der Kreativität kaum Grenzen setzen, beeindrucken Blochs nur mit Schere und Leim gefertigten ­Titelblätter umso mehr – insbesondere, wenn man sich Situation und Arbeitsbedingungen im Versteck vor Augen führt. „Dass ich ein solcher Kunstnarr bin, sind väterliche Züge“, schrieb Bloch in seinem Gedicht „Kleines Selbstporträt“ von 1943. Da er das Zeichentalent seines Vaters Siegfried Bloch, der „prächtig porträtieren“ konnte, bedauerlicherweise aber nicht geerbt hatte, griff er auf bestehendes Bildmaterial zurück. Die Fotos, Illustrationen, Karikaturen und Werbeanzeigen stammten zunächst aus alten nieder­ ländischen Zeitschriften aus der Zeit vor der deutschen ­Besetzung der Niederlande, die er vermutlich im Haus des Ehepaars Menneken gefunden hatte, das ihn versteckte.

Artistic Talent Bloch’s artistic talent and exceptional eye raise the question of whether he created similar works before he went into hiding. The ninety-five issues show that he was constantly trying out new ideas and expanding his artistic techniques. When he first abbreviated Het Onderwater-Cabaret as OWC in July 1944—after cutting out the letters O, W, and C from the German magazine Die Woche—he also began experimenting with typography, which became an important element in his designs. In today’s world, where digital tools and artificial intelligence have unleashed creativity, Bloch’s covers, made with just scissors and glue, are all the more impressive, especially given his situation and working conditions in hiding. In the poem “Kleines Selbstporträt” (Small Self-Portrait) from 1943, Bloch writes: “That I am such a fool for art is a paternal characteristic.” His father, Siegfried Bloch, created “splendid portraits.” However, since Bloch did not inherit his father’s drawing skills, he had to fall back on existing visual material. He mined old Dutch magazines from before the German occupation of the Netherlands for photos, illustrations, cartoons, and ads. He probably found these magazines in the house of the Menneken family, where he was living in hiding. According to the letters he wrote to his confidante ­Karola Wolf, he was given a whole stack of German illustrated magazines in March 1944 by his friend “Anny” (Anna Hertzmann), a German woman in the Netherlands who helped Bloch

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Ein Foto von Zivilisten, die im Spanischen Bürgerkrieg Schutz in einem Metro-Bahnhof suchten, montierte Bloch auf das Bild einer Grotte. Die Höhle versinnbildlicht das Versteck des jüdischen Kindes in Blochs Gedicht „Een kleine verstoppeling vraagt” (Ein kleiner Versteckter fragt) im OWC vom 25. September 1943. Bloch mounted a photo of civilians taking shelter in a metro station during the Spanish Civil War onto the picture of a grotto. The cave symbolizes the Jewish child’s hiding place in Bloch’s poem “Een kleine verstoppeling vraagt” (A Child in Hiding Asks) in OWC, 25 September 1943.

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„Nazi-Seemannslatein“: Der französische Premierminister Léon Blum hatte laut Bloch „sehr zu leiden“. Auf dem OWC-Cover vom 12. Februar 1944 gab Bloch ihm den Kopf „seines großen Gegenspielers“ Adolf Hitler. “Nazi-Seemannslatein” (Nazi Sailor’s Yarn): According to Bloch, the French prime minister Léon Blum had “to suffer a lot." Here he gave him the head of “his great adversary” Adolf Hitler (OWC, 12 February 1944).

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Aus den Briefen an seine Vertraute Karola Wolf geht hervor, dass Bloch im März 1944 durch „Anny“ (Anna Hertzmann), eine in den Niederlanden lebende Deutsche, die Bloch und andere Untergetauchte unterstützte, einen ganzen Stapel illustrierter Zeitungen aus Deutschland erhielt, darunter die Berliner Illustrierte Zeitung, Münchener Illustrierte Presse, Wiener Illustrierte, Hamburger Illustrierte, die Koralle und der Illustrierte Beobachter. Bloch fand sie zwar „furchtbar uninteressant“, aber „[a]b und zu gibt’s was zu lachen“. In den ersten Monaten nutzte Bloch wiederholt Karikaturen von einem der bekanntesten politischen Karikaturisten der Niederlande, Leendert Jurriaan Jordaan, die sich in den 1930er-Jahren scharf gegen das Hitler-Regime richteten und bis zur deutschen Besetzung und Gleichschaltung der Presse 1940 in der Zeitschrift Het Leven (Das Leben) erschienen. Mindestens acht Titelbilder hat Bloch mit Jordaans Karikaturen gestaltet, darunter Hitler als Charlie Chaplins Tramp („Deutsche Tragikomödie“, OWC 16. September 1944) oder das Cover vom 13. November 1943 zum Gedicht „Driemogendheden conferentie“ (Dreimächtekonferenz), geschrieben anlässlich der Außenministerkonferenz der Alliierten in Moskau, mit Karikaturen von Stalin, Roosevelt und Churchill (siehe S. 13).

and others in hiding. Among them were Berliner ­Illus­trierte ­Zeitung, Münchner Illustrierte Presse, Wiener Illustrierte, Hamburger Illustrierte, Koralle, and Illustrierter Beobachter. Bloch found the publications “terribly boring,” but also ­“occasionally funny.” For several of the early issues Bloch used cartoons by one of the best-known political cartoonists in the Netherlands, Leendert Jurriaan Jordaan. Jordaan’s work was sharply critical of the Hitler regime in the 1930s and appeared in the magazine Het Leven (Life) until the German occupation and the Gleichschaltung (ideological alignment) of the Dutch press in 1940. Bloch incorporated Jordaan’s cartoons into at least eight cover images, including one of Hitler as Charlie Chaplin’s Tramp (“Deutsche Tragikomödie” [German Tragicomedy], OWC, September 16, 1944) and one illustrating the poem “Driemogendheden conferentie” (Three Powers Conference, OWC, November 13, 1943). Bloch had written the poem on the occasion of the conference of Allied foreign ministers in Moscow, and his cover featured caricatures of Stalin, Roosevelt, and Churchill (see p. 13).

„Fotomontageheimnis“ Bloch übernahm Jordaans Karikaturen nicht immer eins zu eins, sondern veränderte sie für seine Zwecke. Über seine Montage von Hitler als Steuermann zum Gedicht “Nazi-Seemannslatein“ (OWC 12. Februar 1944) teilte Bloch ­Karola Wolf ein „Fotomontagegeheimnis“ mit: Der Körper des Steuermanns sei aus einer Léon Blum-Karikatur.1 Dieser habe „sehr zu leiden“, zuerst habe er ihm den Kopf von Franklin D. Roosevelt gegeben und nun den von seinem größten Gegenspieler. Bloch selbst fand die Montage sehr gelungen, „weil man, wenn man gut hinsieht, nicht einmal merkt, daß der Kopf montiert ist.“ Modifikationen wie das Aufkleben von Köpfen oder anderen Gesichtern, Austausch und Ergänzung von Kleidungsstücken nahm Bloch häufiger vor. Zum Teil setzte er Abbildungen auch einfach in einen anderen Kontext. So sind die Friedensengel, die Freiheitssym-

“Photomontage Secrets” Bloch did not always adopt Jordaan’s cartoons on a one-to-one basis, but modified them for his own purposes. In a letter describing his illustration of the poem “NaziSeemanns­latein” (Nazi Sailor’s Yarn), which depicts Hitler as a helmsman, Bloch shared one of his “photomontage secrets” with Karola Wolf: “The body of the captain is from a sketch of Léon Blum.” 1 The French politician “suffered greatly” in the making of the photomontages. Bloch first gave him the head of Franklin D. Roosevelt and then that of his greatest antagonist, Hitler. He thought that the photomontage was a great success: “If you look closely, you don’t even notice that the head is added.” Bloch often made changes to the images, pasting on faces or heads or adding or replacing items of clothing. In some cases Bloch simply recontextualized the ­images. For example, the angels of peace “rehearsing a freedom symphony” on the OWC cover of September 23, 1944, are actually Christmas angels taken from an old radio

1 Léon Blum (1872–1950) war von 1936 bis 1947 mehrfach französischer Premier­minister.

1 Between 1936 and 1947, Léon Blum (1872–1950) served several times as the French prime minister.

10 JUN 1944 “That I Am Such a Fool for Art ...”

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phonien einüben – nach der Befreiung von Maastricht hoffte Bloch auf ein baldiges Kriegsende – auf dem Umschlag des OWC vom 23. September 1944 eigentlich Weihnachtsengel, die er aus einer alten Radiozeitschrift ausgeschnitten hatte (siehe S. 99). Eine solche Kontextverschiebung nahm Bloch auch in der letzten Ausgabe des OWC vom 3. April 1945 vor. Aus der niederländischen Untergrundzeitung Ons Volk (Unser Volk) vom Juni 1944 – als einzige Originalquelle im Nachlass erhalten – schnitt Bloch ein Foto von General Bernard Law Montgomery, Befehlshaber der britischen Invasionstruppen, aus. Aufgenommen beim Besuch einer Waffenfabrik in England wird Montgomery im Kontext von Blochs Hymne „To the Allied Forces“ (An die alliierten Streitkräfte) zum umjubelten Befreier. Das Montageprinzip besteht darin, durch Zerschneiden, Deformation und Neukombination von Fragmenten ein neues Bild zu konstruieren – als Träger einer Bildaussage, die in den Fragmenten nicht enthalten war. Nach dieser Definition trifft der Begriff der Montage nur auf bestimmte OWC-Titelblätter zu, wie zum Beispiel auf das Cover vom 25. September 1943. Für die Montage zum Gedicht „Een kleine verstoppeling vraagt” (Ein kleiner Versteckter fragt) über ein jüdisches Kind im Versteck schnitt Bloch aus einer alten Ausgabe von Het Leven das Foto einer Frau aus, die während des Spanischen Bürgerkriegs mit einem Kind in der Metro Schutz vor Bombenangriffen gesucht hatte. Den Bildausschnitt platzierte er auf dem Foto einer Höhle oder Grotte aus einem Bildbericht über eine Pilgerfahrt nach Mekka, die in der Montage sinnbildlich zum Versteck der jüdischen Untergetauchten wird (siehe S. 47).

magazine (see p. 99). They reflect Bloch’s hope that after the liberation of Maastricht, the war would end quickly. He made a similar contextual modification in the last issue of the OWC, published on April 3, 1945. From the June 1944 issue of the Dutch underground newspaper Ons Volk (Our People)—the only original source to survive among Bloch’s papers—he cut a photo of General Bernard Law Montgomery, commander of the British invasion force in Europe. The original photo had been taken during the general’s visit to an arms factory in England, but in the context of Bloch’s homage “To the Allied Forces,” Montgomery comes across as a celebrated liberator. The montage technique entails constructing a new image by cutting, deforming, and re-combining fragments. This new image carries a visual message not contained in the fragments. To go by this definition, the term “montage” is applicable to just a few OWC covers, including the one from September 25, 1943. For the poem “Een kleine verstoppeling vraagt” (A Child in Hiding Asks) about a Jewish child in hiding, Bloch cut a photo of a woman and a child in a metro station from an old issue of Het Leven. It shows them seeking shelter from a bombing raid during the Spanish Civil War. The background is formed by the image of a cave or grotto taken from a photo report about a pilgrimage to Mecca, which symbolically becomes the hiding place for Jews fleeing the Nazis (see p. 47).

Satire and Sarcasm Several satirical depictions of Nazi figures such as Adolf Hitler, Hermann Göring, and Joseph Goebbels—whom Bloch ironically referred to as his “special friend, the unholy Satire und Sarkasmus Joseph”—recall the irony and sarcasm found in John HeartEinige satirische Darstellungen von Nazigrößen wie field’s photomontages. This is particularly true of the covers Adolf Hitler, Hermann Göring und Joseph Goebbels, den Bloch made for the issues of September 4, 1943, January Bloch ironisch als seinen „speziellen Freund, den unheiligen 15, 1944, and October 14, 1944. Bloch held leftwing political Joseph“ bezeichnete, insbesondere Blochs Titelblätter vom views and had worked as a journalist for a time in Germany. 4. September 1943, 15. Januar 1944 und vom 14. Oktober It is highly likely that he was familiar with Heartfield’s images, 1944 erinnern an die Ironie und den Sarkasmus von John although he never mentioned the artist by name. Published in Heartfields Fotomontagen. Auch wenn er ihn an keiner Stelle the Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ; Worker's Illustrated erwähnte, kann mit hoher Wahrscheinlichkeit davon aus- Newspaper), Heartfield’s montages reached a mainstream gegangen werden, dass Bloch – politisch links eingestellt audience in Germany, and he was also well known in the und vor der Flucht in Deutschland auch als Journalist tätig – Netherlands, to where Bloch had fled in 1933. The covers of mit Heartfields Montagen vertraut war. Durch die Arbeiter-­ the magazine Vrijheid, Arbeid, Brood (Freedom, Work, Bread)

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Illustrierte-Zeitung (AIZ) erreichten Heartfields Montagen in Deutschland ein Massenpublikum und auch in den Niederlanden, wohin Bloch 1933 geflohen war, war Heartfield kein Unbekannter, wie die Titelblätter der Zeitschrift Vrijheid, ­Arbeid, Brood (Freiheit, Arbeit, Brot) deutlich machen. Heartfield kombinierte in seinen Montagen Fragmente aus Pressebildern und eigens aufgenommenen Fotografien mit Zitaten, Kommentaren und anderen Texten. Die Fotos wurden mit Airbrush bearbeitet und Schnittkanten retuschiert, sodass die Technik der Montage kaum sichtbar ist. Durch sarkastische Gegenüberstellungen einzelner Bestandteile untergrub Heartfield die nationalsozialistische Propaganda und gab die NS-Größen, bisweilen zu Zwergen geschrumpft, der Lächerlichkeit preis. Dass der Eindruck von Ähnlichkeiten mit Heartfields Montagen zumindest teilweise trügerisch ist, macht auf verstörende Weise Blochs Titelblatt vom 4. September 1943 (siehe S. 33) zum Gedicht „De diermensch“ (Der Tiermensch) deutlich. Die grotesk wirkende Darstellung ist nämlich nicht, wie es auf den ersten Blick scheint, wie bei Heartfield aus Einzelteilen montiert, sondern als Ganzes einem in der Illustrierten Het Leven veröffentlichten Foto entnommen. Darauf ist ein Mann abgebildet, der als sogenannter Tiermensch auf einer „Kuriositätenschau“ bloßgestellt wird. Bloch ersetzte sein Gesicht durch das Adolf Hitlers, was den diskriminierenden Charakter der Darstellung nicht mindert. 2 2 Bloch verwendete auch zwei Karikaturen, die nach heutiger Bewertung als rassistisch anzusehen sind: OWC-Cover vom 21. Oktober 1944 und 2. April 1945.

Die Titelmontage für das OWC vom 15. Januar 1944 ­ rinnert an Heartfields Fotomontage „Zum Krisene Parteitag der SPD“ von 1931. The cover montage for OWC, 15 January 1944 is reminiscent of Heartfield’s 1931 photomontage “Zum Krisen-Parteitag der SPD” (On the Occasion of the C ­ risis Party Conference of the SPD). In seiner Illustration zum Gedicht „De duitsche ‚­verbondenheid‘“ (Die deutsche „Verbundenheit“) beklebte Bloch ein Hitler-Porträt mit winzigen Stückchen Pflaster. In his illustration for the poem “De duitsche ‘verbondenheid’” (The German “Bonding”), Bloch pasted tiny pieces of bandage onto a portrait of Hitler.

22 JUL 1944 “That I Am Such a Fool for Art …”

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Gräuelbilder aus der NS-Presse nutzte er nie und auch Darstellungen von Gewalt gibt es kaum, obwohl die Grausamkeiten und Tyrannei der Nationalsozialisten zentrale Themen seiner Gedichte sind. Eine der wenigen Gewaltdarstellungen ist auf dem Cover vom 3. Juni 1944 zu sehen. Im Zusammenhang mit dem Gedicht „Nazityrannie“ verwendete Bloch ein Foto aus der Illustrierten Wij, ons werk, ons leven (Wir, unsere Arbeit, unser Leben) vom 8. September 1939, auf dem bewaffnete deutsche Soldaten zu sehen sind, die polnische Zivilisten eine Landstraße entlang treiben. Indem Bloch die Gruppe vor einem grauen Hintergrund freistellte und somit von Ort und Zeit löste, wird die Szene aus den ersten Kriegstagen zu einem Sinnbild der Gewalt des NS-Regimes. Die Frage nach Heartfields Einfluss stellt sich vor allem bei der Titelmontage zu „Doktor Göbbels [sic] Mummenschanz“ für das OWC vom 15. Januar 1944 (siehe S. 51 oben). Sie erinnert an Heartfields Fotomontage „Zum Krisen-Parteitag der SPD“ von 1931, eine der eindrücklichsten, die Heartfield für die AIZ entworfen hat. Darauf verwandelte er das Porträt eines „kapitalistischen Geschäftsmanns mit Stehkragen und einem Hakenkreuz als Krawattennadel in einen fauchenden kapitalistischen Tiger“.3 Auch Bloch ersetzte in seiner Montage zu „Doktor Göbbels Mummenschanz“ ein menschliches Gesicht durch einen Raubtierkopf – allerdings durch den Kopf eines Löwen, der auch nicht aggressiv, sondern eher schläfrig wirkt. Und tatsächlich benutzte Bloch ein Foto aus Het Leven, auf dem zu sehen ist, wie ein Löwe beim Tierarzt eine Injektion erhält. Dass Bloch mit bisweilen nicht ganz passendem Bildmaterial vorliebnehmen musste, wird auch an dem, was eine Uniform darstellen soll, deutlich. Die Uniform ist vermutlich aus einer Feuerwehrjacke und einer Schirmmütze des Reichsluftschutzbundes zusammengestückelt.4 Eine „ganz neue, von mir erfundene Technik“ – so schrieb Curt Bloch an Karola Wolf – erprobte er in der Illustration zum Gedicht „De duitsche ‚verbondenheit‘“ ­ (Die deutsche „Verbundenheit“) (OWC vom 22. Juli 1944). In dem Gedicht, verfasst nach dem Attentat auf Hitler vom

make clear that the AIZ—with Heartfield’s p ­ hotomontages— was also influential in the Netherlands. In his montages Heartfield combined fragments of press images and his own photographs with quotations, commentary, and other texts. The photos were airbrushed and the cut edges retouched so that the montage technique was barely visible. Through the sarcastic juxtaposition of individual elements, he undermined Nazi propaganda and held the Nazi leaders up to ridicule, sometimes shrinking them to the size of dwarfs. Bloch’s disturbing cover illustration of the poem “De diermensch” (The Animal Person), published on September 4, 1943 (see p. 33), shows that any perceived similarities with Heartfield’s montages could be deceptive. Although the grotesque depiction appears to be assembled from individual parts, as in Heartfield’s work, it was in fact taken in its entirety from a photo in the magazine Het Leven. It shows a human presented as an “animal person” at a “curiosity show.” Bloch replaced the man’s face with that of Adolf Hitler, but this does not diminish the discriminatory nature of the image. 2 Bloch never used horrific images from the Nazi press and rarely showed depictions of violence, even though Nazi tyranny and cruelty are a central theme of his poems. One of the few depictions of violence in the OWC can be found on the cover from June 3, 1944. For the poem “Nazi­tyrannie” (Nazi ­Tyranny), Bloch cut a photograph from the issue of Wij, ons werk, ons leven (We, Our Work, Our Life) published on September 8, 1939. It shows armed German soldiers marching Polish civilians along a country road. By placing the group against a grey background and thus detaching it from a specific time and place, Bloch turned a scene from the early days of World War II into a symbol of the violence perpetrated by the Nazi regime. One image in particular raises the question of Heartfield’s influence on Bloch­­—the cover montage for “Doktor G ­ öbbels [sic] Mummenschanz” (Doctor Goebbels’ Masquerade), published on January 15, 1944 (see p. 51 top). It is reminiscent of Heartfield’s 1931 photomontage “Zum Krisen-Parteitag der SPD” (On the Occasion of the Crisis Party Conference of the

3 Anthony Coles, John Heartfield. Ein politisches Leben, Köln, Weimar, Wien 2014, S. 165. 4 Für diese Information danke ich Dr. Thomas Weißbrich, Sammlungsleiter Militaria am Deutschen Historischen Museum in Berlin.

2 Bloch used two additional cartoons that would be considered racist by today’s standards. One appeared on the OWC cover from October 21, 1944, the other on the cover from April 2, 1945.

12 AUG 1944

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20. Juli 1944, b ­ edauerte Bloch zutiefst, dass dieser nur leicht verwundet wurde. Zum Gedicht beklebte Bloch ein aus der Zeitung ausgeschnittenes Hitlerporträt mit winzigen Stückchen Pflaster und schrieb, dass er überlege, ob er diese neue Technik nun „Fotoplastik“ oder „Leukoplastik“ nennen solle (siehe S. 51 unten). Diese Collage mit Textil ist ein eindrückliches Beispiel für Blochs Kreativität und Fantasie sowie die besondere Weise, wie im Het Onderwater-Cabaret literarisches und visuelles Schaffen miteinander verflochten sind. Die Titelblätter, von denen Bloch einige unerwartet heiter und farbenfroh gestaltete, sorgten sicherlich nicht nur bei ihrem Schöpfer für Abwechslung und Freude. Mit seinem regelmäßigen Erscheinen trug Blochs Het Onderwater-Cabaret zudem zum intellektuellen Austausch mit Gleichgesinnten bei und half so auch ihnen, die ungewisse und belastende Situation im Versteck zu bewältigen. Für die große Unterstützung bei der Quellenrecherche danke ich Aubrey Pomerance, Archivleiter am Jüdischen Museum Berlin, und Stephan Lohrengel, Papierrestaurator am J­ üdischen Museum Berlin.

Ulrike Kuschel machte ihren Abschluss als Meister­ schülerin an der Hochschule der Künste in Berlin. 2019–2022 war sie in verschiedenen Projekten am Deutschen Historischen Museum tätig, u.a. als ­Kuratorin der Ausstellung „Report from Exile – Fotografien von Fred Stein“ (2020/2021). Zusammen mit Aubrey Pomerance ist sie die Kuratorin der Ausstellung „Mein Dichten ist wie Dynamit“ Curt Blochs Het Onderwater Cabaret. Ulrike Kuschel graduated from the Berlin University of the Arts. Between 2019 and 2022, she worked in various projects at the Deutsches Historisches ­Museum and curated the exhibition Report from Exile – Fotografien von Fred Stein (2020/21). Together with A ­ ubrey Pomerance, she is the curator of the exhibition “My Verses Are Like Dynamite” Curt Bloch’s Het Onderwater Cabaret.

26 AUG 1944 “That I Am Such a Fool for Art …”

SPD). The latter is one of the most impressive photomontages Heartfield created for the AIZ. It transforms the portrait of a “capitalist businessman wearing a stand-up collar and a swastika tiepin into a snarling capitalist tiger.”3 In the montage for “Doktor Göbbels [sic] Mummenschanz,” Bloch also replaced a human face with the head of a predator, but in this case it is the head of a lion that looks more drowsy-eyed than aggressive. In fact the original photo, which Bloch took from Het Leven, shows the lion getting a shot from the vet. The uniform it wears is an indication that Bloch did not always have the most suitable visual material at his disposal. It was probably pieced together from the photo of a fireman’s jacket and that of a peaked cap worn by members of the Reich Air Protection League.4 As Bloch wrote to Karola Wolf, in his montage for the poem “De duitsche ‘verbondenheit’” (The German “Bonding”, OWC, July 22, 1944), he experimented with an “entirely new technique” he developed himself. He had written the poem after the failed attempt on Hitler’s life on July 20, 1944, in order to express his profound regret that Hitler had sustained only minor injuries. To illustrate the poem, he pasted tiny pieces of an adhesive bandage onto a portrait of Hitler clipped from a newspaper (see p. 51 bottom). He considered calling this new technique “Band-Aid sculpture.” The collage, which incorporates pieces of fabric, is an impressive example of Bloch’s creativity and imaginative powers and shows the special way he interwove literary and visual art in the issues of the Het Onderwater-Cabaret. The covers, some of which have surprisingly cheerful and colorful designs, certainly brought variety and pleasure to the lives of both their creator and his readers. Published at regular intervals, the Het ­Onderwater-Cabaret contributed to the exchange of ideas with likeminded individuals and in this way helped them cope with the uncertainties and strains of life in hiding. I would like to thank Aubrey Pomerance, Head of Archives at the JMB, and Stephan Lohrengel, paper conservator at the JMB, for their valuable support in researching sources. 3 Anthony Coles, John Heartfield: Ein politisches Leben, Cologne: Böhlau Verlag, 2014, 165. 4 I would like to thank Dr. Thomas Weißbrich, head of the Militaria Collection at the Deutsches Historisches Museum in Berlin, for this information.

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“ … d erlie

’ e e m ie r u e n k I „

ll e p o t pr

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Het Onderwater-Cabaret als Zeugnis politischen Widerstands im niederländischen Exil 1943–1945 Het Onderwater-Cabaret: A Testimony to Political Resistance in the Occupied Netherlands, 1943–45 Die deutsch-niederländische Zeitschrift Curt Blochs ist ein beeindruckendes Zeugnis ­individuellen Muts und politischen Widerstands. Het ­Onderwater-Cabaret war nicht nur für ihren Verfasser, sondern auch für die wenigen Leserinnen und Leser von existenz- und sinn­stiftender Bedeutung. Het Onderwater-Cabaret, produced by Curt Bloch, is an impressive testimony to individual courage and political resistance. The GermanDutch magazine helped its author and small circle of readers to survive and find meaning and purpose in their lives. Text

Kerstin Schoor Saskia Schreuder

Titelblätter Covers Het Onderwater-Cabaret

9 SEP 1944

13 SEP 1944

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DE Mit der Verschlechterung der Lebensbedingungen in EN With living conditions in the Netherlands deteriorating den Niederlanden seit dem Frühjahr 1943 nahm der Wider- in the spring of 1943, resistance to the German occupiers stand gegen die deutschen Besatzer auch in der breiteren increased in the broader Dutch population. Small resistance niederländischen Bevölkerung zu. Kleinere Widerstands- groups formed but in most cases were not in touch with each gruppen entstanden, in der Regel ohne Kontakt zueinander.1 other.1 Among the Jewish exiles living in hiding, there was Für die versteckt lebenden jüdischen Exilantinnen und Exi- a growing sense of powerlessness, a feeling that they had lanten steigerte sich die Erfahrung eines Ohnmachtsgefühls, lost the ability to act and were no longer capable of a self-­ eines Gefühls, jede Möglichkeit aktiven Handelns verloren zu determined life. In some cases, the resulting question of how haben und nicht mehr selbstbestimmt leben zu können. Die to regain the capacity for individual and collective action led daraus resultierende Frage nach der Wiedererlangung indi- to artistic activity in isolation, which documented events, gave vidueller wie kollektiver Handlungsfähigkeit löste in manchen a small circle of likeminded individuals renewed strength to Fällen auch in der Isolation künstlerische Aktivitäten aus – die carry on, and took a stand against political developments. The underground magazine Het Onderwater-Cabaret die Ereignisse dokumentierten und Zeugnis ablegten, die den wenigen Gleichgesinnten die Kraft zum Weiterleben gaben (OWC, The Underwater-Cabaret) had its origins in these exund sich den politischen Entwicklungen entgegenstellten. periences. Curt Bloch, a German-Jewish exile who had earned Auch die Untergrundzeitschrift Het Onderwater-­ a doctorate in law and later worked as an antiques dealer, Cabaret (OWC; Das Unterwasser-Cabaret) deren erstes hand- “published” the first self-made issue in his hiding place in gefertigtes Heft der deutsch-jüdische Exilant, promovierte Enschede, the Netherlands, on August 22, 1943. 2 Jurist und spätere Antiquitätenhändler Curt Bloch am 22. AuThe First Issue of the OWC gust 1943 in seinem Versteck im niederländischen Enschede This magazine’s first issue was eighteen pages long „erscheinen“ ließ, nahm ihren Anfang in dieser Erfahrung. 2 and featured a self-designed front cover and a list of credits on the back with an advertisement for a young adult book Die erste Ausgabe des OWC Die erste, 18 Seiten umfassende Ausgabe ist von einem written by Bloch.3 The introductory table of contents is folgestalteten Deckblatt und einem Abspann mit der Werbung lowed by three poems in Dutch, “Vroeger, thans en straks” für ein von Bloch selbst verfasstes Jugendbuch umschlossen.3 (Earlier, Now, and Soon), “Groote mannen” (Great Men), and Nach einem orientierenden Inhaltsverzeichnis folgen drei Ge- “Spoken: Een griezelig verhaal” (Ghosts: A Spooky Story). dichte in niederländischer Sprache, „Vroeger, thans en straks“ These pieces deal with the misery of everyday existence (Früher, jetzt und bald), „Groote mannen“ (Große Männer) under German occupation, the lack of fuel and food, and und „Spoken. Een griezelig verhaal“ (Geister. Eine gruselige the psychological strains of life in hiding, expressed through Geschichte). Sie thematisieren das Elend alltäglichen Lebens nightmarish images. Bloch sharply criticized Hitler and Musunter der deutschen Besatzung, den Energie- und Lebensmit- solini as upstarts who were propelling their deluded nations telmangel ebenso wie die in albtraumartige Bilder gefassten into a war that would only end in defeat. The political events psychischen Belastungen des Lebens im Versteck. Scharf on the Eastern Front and in Italy, up to Mussolini’s fall in July kritisiert Bloch Hitler und Mussolini als Emporkömmlinge, die 1943, nourished hopes for a quick end to the war among those 1 Vgl. den Text von Jeroen Dewulf auf S. 72 ff. 2 Ein erstes Buch über Curt Bloch und seine Zeitschrift stammt von Gerard Groeneveld und ist unter dem Titel „Het Onderwater Cabaret. Satirisch verzet van Curt Bloch“ im Herbst 2023 bei WBooks, Zwolle, erschienen. Siehe auch das Interview mit dem Autor auf S. 89ff. 3 Der Band „Boek van Piet en Coba. Hun avonturen in oorlogstijd“ (Das Buch von Piet und Coba. Ihre Abenteuer in Kriegszeiten) ist nicht erhalten.

23 SEP 1944

1 See the text by Jeroen Dewulf, pp. 72–79. 2 The first book about Curt Bloch and his magazine, written by Gerard ­Groeneveld, was published in autumn 2023 under the title Het Onderwater Cabaret: Satirisch verzet van Curt Bloch (Zwolle: WBooks). See also the ­Interview with the author on pp. 89–93. 3 The work, titled Boek van Piet en Coba: Hun avonturen in oorlogstijd (The Book of Piet and Coba: Their Adventures in Wartime), has not survived.

30 SEP 1944

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14 OCT 1944 „Ich summe mit das Propellerlied ...“


ihre verblendeten Völker in einen Krieg treiben, der mit einer Niederlage enden werde. Die politischen Ereignisse an der Ostfront und in Italien bis zum Sturz Mussolinis im Juli 1943, die die Hoffnung der im Versteck Lebenden auf ein schnelles Ende des Krieges nähren konnten, unterliegen als historische Folie schließlich auch dem vierten – in deutscher Sprache verfassten – Gedicht des ersten Heftes. Sein Titel „Der Schleier von Catania“ lässt die Geschichte Agata von Catanias assoziieren, deren Schleier der Überlieferung nach den Ausbruch des Ätna zu stoppen vermochte. In satirischer Verkehrung dieses Bildes attackiert das Gedicht die Goebbels’sche Propaganda und Verschleierungstaktik, die die überraschende Landung der britischen und der amerikanischen Alliierten am 10. Juli 1943 auf Sizilien sowie die fast kampflose Übernahme Catanias in einen Schachzug deutscher Kriegsführung umdeutete. Mit dem Hinweis „Für das 4e Reichs-Cabaret“ versehen, wird mit diesem Gedicht ein gleichnamiges Format innerhalb der Zeitschrift eingeführt, das mit Gedichten ausschließlich in deutscher Sprache zu einem festen Bestandteil des OWC werden sollte. In kabarettistischer Manier wird darin in satirischem, teilweise sarkastischem Tonfall die deutsche Propaganda ad absurdum geführt. Ein fünftes Gedicht des ersten Heftes trägt einen für die Untergrundzeitschrift insgesamt programmatischen Charakter und ist unter dem Titel „Het Propellerlied“4 dem militärischen Widerstand gewidmet: Ein lyrisches Ich schreibt sich darin – im Blick auf die Bombardierung Hamburgs und des Ruhrgebietes durch die Royal Air Force (RAF) – aus einer Situation der Verzweiflung und Mutlosigkeit aus dem Versteck heraus: Is soms mijn moed erg diep gezonken, Ist mein Mut manchmal sehr tief gesunken, Kijk ik de dingen somber aan Seh‘ ich nur Düsteres in den Dingen En hoor dan met motorenronken Und höre dann mit Motorengedröhn De RAF naar Duitschland gaan, Die RAF nach Deutschland gehn, 4 Bei dieser und allen folgenden Übertragungen von Auszügen der Gedichte, insbesondere den im Text kursiv abgedruckten Übertragungen ins Deutsche, handelt es sich nicht um Nachdichtungen. Die Übersetzung soll hier lediglich die Verständlichkeit des Textes erleichtern.

21 OCT 1944 “I Hum Along to the Propeller Song ...”

living in hiding; these events also form the historical backdrop to the fourth poem in the first issue, written in German. Its title, “Der Schleier von Catania” (The Veil of Catania), evokes the story of Agatha of Sicily, whose veil was attributed the power to stop Mount Etna from erupting. In a satirical reversal of this image, the poem attacks Goebbels’ propaganda and cover-up tactics, which reinterpreted the surprise landing of British and American Allies on Sicily on July 10, 1943, and the relatively easy capture of Catania as part of the German war strategy. Bearing the note “Für das 4e Reichs-Cabaret” (For the Cabaret of the 4th Reich), the poem introduced a section of the magazine that presented poems exclusively in German and under the same title would become an integral part of the OWC. In a satirical and often sarcastic tone and in cabaret style, Bloch revealed the absurdities of German propaganda. The fifth poem in the first issue reads like a manifesto for the underground magazine as a whole. It is titled “Het Propellerlied” (The Propeller Song)4 and is dedicated to military resistance. With the Royal Air Force bombing Hamburg and the Ruhr region, the lyrical subject attempts to liberate himself from his desperate, gloomy situation in hiding through the act of writing: Is soms mijn moed erg diep gezonken, When my spirits have plunged to the depths, Kijk ik de dingen somber aan And the world looks so gloomy and grim, En hoor dan met motorenronken I’m relieved by the plane engines’ drone De RAF naar Duitschland gaan, RAF flying Germany-bound, The sounds of the military action and the hope of crushing the “Third Reich” bring the lyrical subject “relief from his suffering” without obscuring the ambivalence of his desire for resistance and its possible execution. The lyrical subject hums along to the propeller song and becomes part of the community-building “we” of the military struggle. 4 This and all subsequent translations of excerpts of Bloch's poems in this essay, particularly the translations into English printed in italics, are included to make the essay more understandable, not as poetic renditions.

28 OCT 1944

4 NOV 1944

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11 NOV 1944


Die Geräusche der Militäraktionen und die damit verbundenen Hoffnungen das „Dritte Reich“ zu zerschlagen, bringen dem lyrischen Ich „Linderung seines Leidens“ – ohne die Ambivalenz seines Wunsches nach Widerstand und dessen möglicher Verwirklichung aus dem Blick zu verlieren. Es nimmt das Summen des Propellerliedes auf und damit zugleich ein gemeinschaftsstiftendes „Wir“ des militärischen Kampfes. Ik neurie mee ’t propellerlied: Ich summe mit das Propellerlied: Wij vliegen met gezoem, gebrom, Wir fliegen mit Gesumm, Gebrumm, Of ziekenhuis, of Keulsche Dom, Ob Krankenhaus, ob Kölner Dom, Het wordt verbrijzeld door een bom, Es wird zerschmettert von einer Bombe, Of een fabriek of burgerhuis, Ob eine Fabrik, ob ein Wohnhaus, Wij slaan het Derde Rijk tot gruis. Wir schlagen das Dritte Reich in Scherben.

Ik neurie mee ’t propellerlied: I hum along to the propeller song: Wij vliegen met gezoem, gebrom, We fly by with a whirr and a purr Of ziekenhuis, of Keulsche Dom, Whether hospital or Cologne Cathedral Het wordt verbrijzeld door een bom, A bombshell will blast it to bits, Of een fabriek of burgerhuis, From factories to tenements, Wij slaan het Derde Rijk tot gruis. We will slice the Third Reich into slivers. Finally, representing the imagined reader, “Tante Betje” (Auntie Betsy), frightened by the bombing, is asked to reconsider her position and join the resistance.5

Schließlich wird die durch die Bombardierungen verängstigte „Tante Betje“ – stellvertretend für eine imaginierte Leserschaft – aufgefordert, ihren Standpunkt zu überdenken und sich diesem Widerstand anzuschließen.5

Daar moet ik zeggen, Tante Betje I must tell you, Auntie Betsy, Ik vind je standpunt heel verkeerd You are seeing it all upside down, Je moest het vinden een verzetje You should greet it as amusement Ik wou, dat je dat van me leert: How I wish you would learn that from me:

Daar moet ik zeggen, Tante Betje Da muss ich sagen, Tante Betje Ik vind je standpunt heel verkeerd Ich find dein’ Standpunkt ganz verkehrt Je moest het vinden een verzetje Du solltest es als Zerstreuung empfinden Ik wou, dat je dat van me leert: Ich wünschte, du würdest das von mir lernen:

Hoor jij des nachts motoren brommen When you hear engines humming at night En het beneemt je dan den slaap, And the buzzing sound robs you of sleep, Denk dan, het kan me niets verdommen, You should think “I’m not troubled at all,” Zeg vroolijk tegen Oome Jaap: And then cheerfully tell Uncle Jaap:

Hoor jij des nachts motoren brommen Hörst du des nachts Motoren brummen

Zij vliegen met gezoem, gebrom, They fly by with a whirr and a purr

5 Mit „Tante Betje“ nutzt Bloch ein Sprachspiel der doppeldeutigen Rede, einen Ausdruck, der im Niederländischen neben einer realen Person zugleich den stilistischen Fehler einer verkehrten Stellung eines Satzgliedes bezeichnet, den er hier mit einer verkehrten Haltung der Figur parallelisiert.

18 NOV 1944

5 The Dutch phrase “Tante Betje” (Auntie Betsy) is a play on words. It refers not only to a real person but also to the stylistic error of an incorrectly inverted sentence element. In the poem Bloch creates a parallel between such an “error” and the “inverted” views of the figure.

2 DEC 1944

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12 DEC 1944 „Ich summe mit das Propellerlied ...“


En het beneemt je dan den slaap, Und es raubt dir dann den Schlaf, Denk dan, het kan me niets verdommen, Denk dann, es kann mir nichts anhaben, Zeg vroolijk tegen Oome Jaap: Sag fröhlich zu Onkel Jaap:

Of ziekenhuis of Keulsche Dom Whether hospital or Cologne Cathedral Of het wordt verbrijzeld door een bom, A bombshell will blast it to bits, Of een fabriek, of burgerhuis, From factories to tenements, Zij slaan het Derde Rijk tot gruis. They will slice the Third Reich into slivers.

Zij vliegen met gezoem, gebrom, Sie fliegen mit Gesumm, Gebrumm, Of ziekenhuis of Keulsche Dom Ob Krankenhaus, ob Kölner Dom Of het wordt verbrijzeld door een bom, Es wird zerschmettert von einer Bombe, Of een fabriek, of burgerhuis, Ob eine Fabrik, ob ein Wohnhaus, Zij slaan het Derde Rijk tot gruis. Sie schlagen das Dritte Reich in Scherben. Chronist im Versteck Dass Curt Bloch als einziger Herausgeber und Verfasser des OWC schließlich mit insgesamt 95 Heften, einem Konvolut von über 1.000 Seiten, als „Chronist“6 die Ereignisse des Krieges vom August 1943 bis hin zu dessen Ende und seiner Befreiung in Borne am 3. April 1945 begleiten sollte, dürfte er anfangs selbst nicht vermutet haben. Und obgleich sich Aussehen und Gestaltung der Hefte in den folgenden Wochen und Monaten weiterentwickelten, bleiben die thematischen Schwerpunkte des ersten Heftes ebenso wie die Collagen auf dem Umschlag eine Konstante. Ab Ende Dezember 1943 integriert Bloch in seine Texte auch Zeitungsausschnitte,7 deren Umfang wie Länge zudem ab Januar 1944 6 Vgl. das Gedicht „De crisis van het OWC” (Die Krise des OWC), in: OWC vom 25. Dezember 1943. 7 Die wichtigste Quelle Curt Blochs für diese Zeitungsausschnitte war das Twentsch Nieuwsblad. Außerdem konnte die Verwendung folgender Periodika nachgewiesen werden: Twentsch dagblad Tubantia en de Enschedesche courant, De Telegraaf, NRC, Huis aan Huis (vermutlich Ausgabe Enschede), Das Hamburger Fremdenblatt, Münchner Illustrierte Presse, Illustrierter Beobachter, Volk en Vaderland sowie Neue JZ. Ab Juli 1944 wurde das Twentsch Nieuwsblad rationiert. Bloch bekommt von Helfern Illustrierte, damit er seine Tätigkeit als Chronist fortsetzen kann. Vgl. das Gedicht „Krantenbezuiniging“ (Zeitungsrationierung), in: OWC vom 5. August 1944 sowie das Gedicht „Bedankje voor geïllustreerde bladen“ (Danke für die illustrierten Blätter), in: OWC vom 9. August 1944.

19 DEC 1944 “I Hum Along to the Propeller Song ...”

A Chronicler in Hiding At the start of the project, Bloch probably did not suspect that as the sole editor and author of the OWC, which ran for ninety-five issues and totaled more than 1,000 pages, he would ultimately serve as the “chronicler”6 of the war from August 1943 to the end of the fighting and his liberation in Borne on April 3, 1945. Although the look and design of the publication evolved in the weeks and months after its launch, the thematic focuses of the first issue and the use of collages on the front cover remained the same. In late December 1943, Bloch also began integrating newspaper clippings into his texts,7 which from January 1944 grew longer and more comprehensive. In the later issues of 1943, the difficult situation and the exiles’ life in hiding were repeatedly addressed—a topic that was also illustrated on the covers of the first two issues in an impressive manner. The sometimes comic or optimistic nature of the first poems, including “De spekballade” (The Bacon Ballad) about attempts to secure food, increasingly gave way to poems that explored the impoverishment of life in hiding, the sense of despair over dashed hopes of liberation, and complete exhaustion and resignation.8 6 See the poem “De crisis van het OWC” (The Crisis of the OWC), OWC, ­December 25, 1943. 7 The most important source for Bloch’s newspaper clippings was the Twentsch Nieuwsblad, but the following periodicals have also been confirmed: Twentsch dagblad Tubantia en de Enschedesche courant, De Telegraaf, NRC, Huis aan Huis (probably the Enschede edition), Das Hamburger Fremdenblatt, Münchner Illustrierte Presse, Illustrierter Beobachter, Volk en Vaderland, and Neue JZ. From July 1944, copies of the Twentsch Nieuwsblad were rationed. Bloch received magazines from helpers so that he could continue his work as a chronicler. See the poems “Krantenbezuiniging” (Newspaper Rationings), OWC, August 5, 1944, and “Bedankje voor geïllustreerde bladen” (Thanks for the Illustrated Papers), OWC, August 9, 1944. 8 See the poems “Afscheid van het OCW“ (Farewell from the OWC), OWC, April 15, 1944, and “Der neue Prometheus” (A New Prometheus), OWC, ­October 14, 1944.

25 DEC 1944

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1 JAN 1945


noch zunimmt. Auch in den späteren Heften des Jahres 1943 kommt die schwierige Situation im Untergrund sowie des Lebens im Versteck immer wieder zur Sprache, was auch auf den Umschlägen der ersten beiden Hefte grafisch eindrucksvoll ins Bild gesetzt wird. Insbesondere der teilweise noch komische oder Happy End-artige Charakter der ersten Gedichte, beispielsweise zum Thema Lebensmittelbeschaffung in „De spekballade“, der „Ballade vom Speck“, weicht jedoch zunehmend Bildern einer verelendeten Existenz im Versteck, der Verzweiflung über das Ausbleiben der erwarteten Befreiung, bis hin zu einer vollständigen Erschöpfung und Resignation.8 Wie schwer sich angesichts der Kriegsereignisse, der Deportationen und des Hungers eine zuversichtliche Haltung aufrechterhalten ließ, zeigen auch sehr persönliche Verse Curt Blochs, die seiner Mutter Paula und seiner Schwester Helene gewidmet sind. Beide wurden Anfang 1943 verraten, in einem Versteck in Leiden verhaftet und über Westerbork nach Sobibor deportiert. In vier Gedichten des zweiten ­OWC-Hefts „Hallo Yvonne!“ vom 30. August 1943, dem 20. Geburts­tag Helenes, die hier mit den Namen „Yvonne“ (der Name, den sie im Versteck angenommen hatte), „Leni“ und „Schwesterlein“ angesprochen wird, zwingt sich das ­lyrische Ich der Texte, dem Wissen „van Nazigruweldaden […], van massamoord en massagraf“9 im Osten Europas die ungestützte Hoffnung auf einen „deus ex machina“ entgegenzusetzen: Der Ausruf „Polen is nog niet verloren“ (Polen ist noch nicht verloren) bleibt jedoch von Verzweiflung bestimmt.10 Die Gedichte oszillieren zwischen dem Wissen um die Verhaftung der im Versteck verratenen Angehörigen, der Angst um deren Schicksal und der Weigerung, die Hoffnung auf deren Überleben aufzugeben.11 8 Vgl. das Gedicht „Afscheid van het OWC“ (Abschied vom OWC), in: OWC vom 15. April 1944, das ­Gedicht „Der neue Prometheus“, in: OWC vom 14. Oktober 1944. 9 „von Nazigräueltaten (…), von Massenmord und Massengrab“, aus dem ­Gedicht „Nog is Polen niet verloren“, in: OWC vom 30. August 1943. 10 In: ebd. 11 Curt Bloch erfuhr erst nach Kriegsende, dass seine Mutter und Schwester über Westerbork nach Sobibor deportiert und dort bereits am 21. Mai 1943 ermordet worden waren. Seine Schwester Erna Levy kam 1944 in das Konzentrationslager Stutthof und starb dort am 1. Oktober 1944. Die Nachricht vom Tod seiner Angehörigen stürzte Bloch in eine tiefe Depression.

13 JAN 1945

Just how difficult it was to remain confident in the face of the deportations, hunger, and events of the war is also shown by Curt Bloch’s highly personal poems, dedicated to his mother Paula and his sister Helene. Both were betrayed in early 1943, arrested in their hiding place in Leiden, and deported to Sobibor via Westerbork. The second issue of the OWC, published on August 30, 1943—Helene’s twentieth birthday—is titled “Hallo Yvonne!” and contains four poems that address her as “Yvonne” (the name she adopted in hiding), “Leni,” and “Schwesterlein” (Little Sister). In them the lyrical subject clings to the unsupported hope for a “deus ex machina” to counter his knowledge of the “Nazigruweldaden … massamoord en massagraf” (Nazi atrocities … mass murder and mass grave[s])9 in Eastern Europe. However, his exclamation “Polen is nog niet verloren” (Poland is not yet lost) is tinged with despair.10 The poems oscillate between knowledge of the arrest of his betrayed relatives, fear for their fate, and a refusal to give up hope for their survival.11 The OWC as a Political Project Despite these impressive accounts of personal fates, the individual experiences recounted in the OWC tend to recede behind the satirical political examination of fascist Germany and the consequences of the German occupation of the Netherlands. Above all, the OWC appears to be a political project written from an antifascist socialist perspective. In the poem “Der Novemberling” (November Child) in the issue of December 11, 1943, the author programmatically links the lyrical subject’s birthday with political events in past months of November. He describes the lyrical subject as “infected” by the revolution and as an antifascist, socialist poet:12

9 From the poem “Nog is Polen niet verloren,” OWC, August 30, 1943. 10 Ibid. 11 Curt Bloch did not learn until after the war that his mother and sister had been deported to Sobibor via Westerbork and murdered there on May 21, 1943. His sister Erna Levy was sent to the Stutthof concentration camp in 1944 and died there on October 1, 1944. The news of their death plunged Bloch into a deep depression. 12 See also the poems “Ein Ziel” (A Goal), OWC, January 29, 1944, “Vrijheidslied” (Freedom Song), OWC, September 4, 1943, and “Bloedrood waaien onze vlaggen” (Blood Red Fly Our Flags), OWC, December 18, 1943.

20 JAN 1945

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3 FEB 1945 „Ich summe mit das Propellerlied ...“


Ich fühle mit der Masse, The masses and their plight Begreife ihre Not Have won my sympathy Und darum bin ich heute And that is why today Politisch ziemlich rot. I’m red politically.

Das OWC als politisches Projekt Ungeachtet dieser eindrucksvollen Zeugnisse persönlichen Schicksals tritt das individuelle Erleben im OWC dennoch tendenziell hinter eine, in kabarettistisch-satirischer Weise geführte, politische Auseinandersetzung mit dem faschistischen Deutschland und den Folgen der deutschen Besatzung in den Niederlanden zurück. Das OWC erscheint in erster Linie als ein politisches Projekt, aus einer antifaschistisch-sozialistischen Perspektive heraus geschrieben. Bereits in dem Gedicht „Der Novemberling” im Heft vom 11. Dezember 1943 verschränkt der Autor programmatisch den Geburtstag des lyrischen Ich mit politischen Novemberereignissen der Vergangenheit, bezeichnet es als von der Revolution „infiziert“ und beschreibt so den Verfasser als einen antifaschistischen, sozialistischen Dichter:12

Hab‘ ich auch heute Sorgen, Though I do worry now, Ich achte sie gering I rate my fears as mild, Ich glaube an das Morgen, And hold tomorrow high Ich bin Novemberling. As a November child.

Ich fühle mit der Masse, Begreife ihre Not Und darum bin ich heute Politisch ziemlich rot.

In the first issue of January 1945,13 the lyrical subject of the poem “De Verzetsbeweging” (The Resistance Movement) also adopts the perspective of the resistance fighters, Hab’ ich auch heute Sorgen, which runs through most of the OWC. In this poem, the lyrical Ich achte sie gering subject achieves this by describing the administrations of Ich glaube an das Morgen, Georgios Papandreou in Greece and Hubert Pierlot in BelIch bin Novemberling. gium as pseudo-democracies. The broader context is the disputes between the Allies, their partners, and resistance Noch im ersten Heft vom Januar 194513 übernimmt das groups over the formation of legitimate governments in the lyrische Ich im Gedicht „De Verzetsbeweging“ daher auch die liberated states. In the first months of the OWC’s existence, a series im OWC fast durchgehend eingenommene Perspektive der Widerstandskämpfer – hier schließlich in den Auseinanderset- of programmatic poems illustrated the main ambitions Bloch zungen zwischen den Alliierten, den Verbündeten und Wider- pursued with his project. In “Het Onderwater Cabaret” in standsgruppen über die Bildung legitimer Regierungen in den the issue of December 18, 1943, Bloch not only positions his befreiten Staaten, indem es die Regierungen von P ­ apandreou magazine as “red politically,” but also claims—in contrast to in Griechenland und Pierlot in Belgien als von „pseudo-­ other publications from the period—to be spreading the truth democraten” (Pseudodemokraten) geführt beschreibt. in an independent and free fashion, publishing what could no longer be read in other papers, and providing an antifascist education. In the issue of January 29, 1944, the poem “Ein 12 Vgl. u.a. auch die Gedichte: „Ein Ziel“, in: OWC vom 29. Januar 1944, Ziel” (A Goal) explicitly formulates this goal, stating: „Vrijheidslied” (Freiheitslied), in: OWC vom 4. September 1943, „Bloedrood waaien onze vlaggen” (Blutrot wehen unsere Flaggen), in: OWC vom 18. Dezember 1943. 13 Das Heft trägt kein Datum, es wurde vermutlich in der ersten Januarwoche 1945 erstellt.

10 FEB 1945 “I Hum Along to the Propeller Song ...”

13 The issue bears no date, but was probably produced in the first week of January 1945.

17 FEB 1945

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3 MAR 1945


In einer Reihe programmatischer Gedichte des Konvoluts wird zudem bereits in den ersten Monaten der Entstehung von Het Onderwater-Cabaret erkennbar, welche Ambitionen Curt Bloch mit diesem Projekt vor allem verfolgte: Im Gedicht „Het Onderwater Cabaret” im Heft vom 18. Dezember 1943 positioniert er seine Zeitschrift nicht nur als „ziemlich rot“, sondern beansprucht zugleich – in Abgrenzung zu öffentlichen Publikationen der Zeit – unabhängig und frei die Wahrheit zu verbreiten, zu schreiben, was in anderen Zeitungen nicht mehr zu lesen ist und damit eine antifaschistische Aufklärung zu leisten. Im Heft vom 29. Januar 1944 formuliert das Gedicht „Ein Ziel“ dieses Anliegen noch einmal ausdrücklich, wenn es darin heißt: So hat mein Dichten einen Zweck: Die Hirne zu laxieren Und Göbbels [sic] Propagandadreck Aus ihnen abzuführen. Vor dem Hintergrund der Kriegsereignisse wird im OWC vorgeführt, welche Untaten die Nationalsozialisten und deren Mitläufer und Mitläuferinnen zu verantworten haben und wie konträr sich das von ihnen propagandistisch Verkündete dazu verhält. Diese häufig satirisch angelegte Konfrontation von nationalsozialistischer und widerständischer Perspektive findet sich schon in den ersten Heften und setzt sich auch in jenen Gedichten fort, in denen Zeitungsmeldungen integriert sind. Dabei ist die Strategie umso überzeugender, als darin nun die Nationalsozialisten selbst zu Wort kommen. Ihre ­Position wird nicht, wie noch im „Schleier von Catania“, literarisch ins Bild gesetzt, sondern ist wörtlich im Dokument der Zeitung präsent. Diese Technik einer konfrontativen Collage illustriert das Gedicht „Oude kranten“ im gleichnamigen Heft vom 22. Januar 1944 exemplarisch.

So hat mein Dichten einen Zweck: In this sense my poetry has a purpose: Die Hirne zu laxieren To administer a laxative to people’s brains Und Göbbels [sic] Propagandadreck And to purge them of Aus ihnen abzuführen. Goebbels’ filthy propaganda In the context of the war, the OWC showed the atrocities for which the Nazis and their followers were responsible as well as the contradictions between these atrocities and the propagandistic statements about them. The often satirical confrontation between Nazi and resistance perspectives is already evident in the magazine’s first issues and continues in the poems that incorporate newspaper reports. This strategy is all the more persuasive because in these reports the Nazis have the opportunity to speak. Their position does not take literary form, as in “Der Schleier von Catania,” but is quite literally present in the newspaper documents. The technique of a confrontational collage, consisting of self-written texts and old newspaper articles, is exemplified by the poem “Oude kranten” (Old Newspapers) in the issue with the same title from January 22, 1944. Oude kranten Old Newspapers

Oude kranten Alte Zeitungen

Een zeldzame bekoring To me, an old newspaper Geeft mij een oude krant Is oddly captivating Men kan er veel uit leeren, It has so much to teach, Hij is interessant. It’s truly fascinating.

Een zeldzame bekoring Ein seltene Verführung Geeft mij een oude krant Ist mir eine alte Zeitung

Je kunt eraan goed merken, Inside, it’s clear to see, Hoe gauw de tijd vervliegt, How rapidly time flies,

10 MAR 1945

24 MAR 1945

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31 MAR 1945 „Ich summe mit das Propellerlied ...“


En buitendien blijkt duidelijk Besides, it plainly shows Hoezeer men ons beliegt How much we’re fed with lies.

Men kan er veel uit leeren, Man kann daraus eine Menge lernen, Hij is interessant. Sie ist interessant. Je kunt eraan goed merken, Man kann darin gut erkennen, Hoe gauw de tijd vervliegt, Wie rasch die Zeit verfliegt, En buitendien blijkt duidelijk Und außerdem zeigt sie deutlich Hoezeer men ons beliegt Wie sehr man uns belügt Zunächst kommentarlos wird dem Gedicht eine niederländische Zeitungsmeldung vom 25. September 1939 beigefügt, die eine Erklärung von Goebbels und einen Beschluss der Reichsregierung wiedergibt, nach der das Deutsche Reich die Souveränität Belgiens, der Niederlande und Luxemburgs strikt respektieren werde. Derart propagandistische Lügen werden in den Texten paraphrasiert, um sie schließlich mit dem Hinweis auf den tatsächlichen Kriegsverlauf zu desavouieren: „Er kwam wel krijg met Rusland, / Amerika kwam ook / En de krantenillusies / Zijn opgegaan in rook”.14 Eine von der nationalsozialistischen Propaganda als „roddel“ (Klatsch) denunzierte Sichtweise erweist damit ihre Wahrhaftigkeit. Erkennbare Ziele des OWC können daher – neben einer mentalen Entlastung ihres Verfassers durch kreative politische Tätigkeit und der Ermutigung einer kleinen zeitgenössischen Leserschaft – vor allem in einer Aufklärung über die zeitgenössischen politischen und militärischen Ereignisse in zweierlei Richtung gesehen werden: Attackieren die Texte einerseits die Ideologie und Praxis des faschistischen Regimes in Deutschland und in den besetzten Niederlanden, indem sie dessen Propaganda – nicht zuletzt im deutschsprachigen Format des „4e Reichs-Cabarets“ – eine entlarvende, aufklärende Haltung entgegensetzen, richten sich die Gedichte andererseits gegen die niederländischen

Initially without comment, Bloch supplements the poem with a Dutch newspaper report from September 25, 1939, that contains a declaration by Goebbels and a resolution by the Reich government to strictly respect the sovereignty of Belgium, the Netherlands, and Luxembourg. These propagandistic lies are paraphrased in the texts and ultimately exposed as falsehoods through a reference to the actual course of the war: “Er kwam wel krijg met Rusland, / Amerika kwam ook / En de krantenillusies / Zijn opgegaan in rook.” 14 A perspective denounced by Nazi propaganda as “gossip” thus proves to be true. In addition to reducing the mental strain on the author through creative political work and providing encouragement to his small readership, the recognizable aims of the OWC were mainly to provide information about current political and military events. The magazine did so in two ways. First, the texts attack the ideology and practices of the fascist regime in Germany and the occupied Netherlands by countering its propaganda with a debunking, educational perspective (not least in the German-language section “Cabaret of the 4th Reich”). Second, the poems take aim at the Dutch collaborators. The Dutch texts in particular describe the consequences of the German occupation for everyday life. As in “The Propeller Song,” the OWC repeatedly adopts the position of the military struggle and the underground resistance. In the poem “De nieuwe service” (The New Service) in the issue of September 11, 1943, it welcomes the shooting of collaborators by Dutch resistance groups such as the CS-6. The poem “Afrekening” (Settling Scores) in the issue of October 9, 1943, also discusses retribution and revenge as ethically justified actions. It states: “Het is geen laag en leelijk wraakgevoel / Dat heden zelfs de vroomste menschen gaat bezielen, / Het is een zuiver hunkern naar

14 Es kam der Krieg mit Russland, / Amerika kam auch / Und die Zeitungsillusionen / Haben sich in Rauch aufgelöst.

14 The war with Russia came, / America came, too / And the newspaper illusions / Went up in smoke.

Das letzte Heft mit dem Titel „Bovenwater Finale van het O.W.C.“ (Überwasser-Finale des O.W.C.) ist auf den 3. April 1945 datiert: der Tag, an dem Curt Bloch die Freiheit wiedererlangte. The final issue, titled “Bovenwater Finale van het O.W.C.” (Above-­ water Finale of the O.W.C.) was dated April 3, 1945, the day that Curt Bloch regained his freedom.

2 APR 1945 “I Hum Along to the Propeller Song ...”

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Kollaborateure und beschreiben insbesondere in den niederländischen Texten die Folgen der deutschen Besetzung bis in das alltägliche Leben hinein. Das OWC übernimmt – wie im „Propellerlied“ – immer wieder die Position des militärischen Kampfes sowie des Widerstands im Untergrund. Im Gedicht „De nieuwe service“ („Der neue Dienst“) im Heft vom 11. September 1943 begrüßt es in diesem Sinne die Erschießung von Kollaborateuren durch niederländische Widerstandsgruppen wie der CS-6. Auch das Gedicht „Afrekening“ („Abrechnung“) im Heft vom 9. Oktober 1943 thematisiert das Bedürfnis nach Rache und Vergeltung als ethisch gerechtfertigt, wenn es darin heißt: „Het is geen laag en leelijk wraakgevoel / Dat heden zelfs de vroomste menschen gaat bezielen, / Het is een zuiver hunkern naar gerechtigheid.“ 15 Scharf kritisieren mehrere Gedichte zudem die Kollaboration und Korrumpierung niederländischer Kulturschaffender, etwa von Willem Mengelberg, dem Chefdirigenten des Concertgebouworkest, dessen Konzerte für nationalsozialistische Funktionäre und Organisationen als ein blasphemischer Dienst am „geest van bruut geweld“ (Geist brutaler Gewalt) verurteilt werden.16 Das Gedicht „Het Rembrandthuis te Amsterdam“ im OWC vom 13. Mai 1944 verurteilt dagegen die kulturpolitische Vereinnahmung Rembrandts durch die Nationalsozialisten auf eine Weise, die sich so weder in der illegalen Presse der Zeit noch in der niederländischen Öffentlichkeit jener Jahre findet.17 So bleibt das „Rembrandthuis“ als ein Symbol für Humanität am Ende des Gedichtes aufgehoben in einer bitteren Ambivalenz: zwar ist es noch anwesend im alten Judenviertel der Stadt und „trotzt dem Wahnsinn der Zeit“ („trotseert den waanzin van den tijd“), die Menschen aber, an denen die Humanitas sich erst erweisen würde, wurden „verschleppt und getötet“ („weggevoerd en zijn gedood“).

gerechtigheid.” 15 Several poems sharply criticize the collaboration and corruption of Dutch cultural figures such as Willem Mengelberg, chief conductor of the Concertgebouworkest, whose concerts for Nazi functionaries and organizations Bloch condemns as a blasphemous service to a “geest van bruut geweld” (spirit of brutal violence).16 By contrast, the poem “Het Rembrandthuis te Amsterdam” (The Rembrandt House in Amsterdam) in the issue of May 13, 1944, denounces the Nazis’ appropriation of Rembrandt for cultural policy. This type of criticism was not found in the illegal press or the Dutch public sphere of the day.17 At the end of the piece, the Rembrandt House remains suspended in a bitter ambivalence: while it continues to be present in the old Jewish quarter, where it “defies the madness of the times” (“trotseert den waanzin van den tijd“), the people on whom this humanitas might have been demonstrated were in the midst of being deported and killed (“weggevoerd en zijn gedood”).

Jüdische Erfahrung und Widerstehen Das Judentum, das in diesem Text mit zum Thema wird, spielt in den Gedichten Curt Blochs – von einigen bereits erwähnten persönlichen Texten abgesehen – eine eher untergeordnete Rolle. Der Autor, der eine universalistisch ausgerichtete Botschaft von Freiheit und Gerechtigkeit vertritt, erlebt seine jüdische Herkunft vor allem in den Erfahrungen von Ausgrenzung, Verfolgung und eines Lebens im Versteck. Man ist nun, wie es in einem Gedicht vom 25. September 1943 heißt, „een […] verstoppeling“,18 – eine wortspielerische Zusammenführung von „verstoppen“ („verstecken“) und „verschoppeling“ („Verstoßener“). Und als Bloch im Dezember 1944 sein Versteck in Enschede verlassen und bei einer Familie in Borne untertauchen muss,

Jewish Experience and Resisting Apart from the few personal texts discussed above, Judaism, which is one of the themes of “Het Rembrandthuis te Amsterdam,” plays a somewhat subordinate role in Curt Bloch’s poems. The author, who stands for a universalist message of freedom and justice, experienced his Jewish heritage primarily in his marginalization, persecution, and life in hiding. He was—as he put it in a poem from September 25, 1943—a “verstoppeling,” 18 for which he playfully combined the words “verstoppen” (to hide) and “verschoppeling” (outcast). In December 1944, when Bloch was forced to leave his hiding place in Enschede and seek refuge with a family in Borne, the lyrical subject of his poetry once again identifies with the Jewish community, asking, “Wohin wird Euch, wohin wird mich das Schicksal führen?” (Where will fate lead / For you and me?).19 We encounter this question in the poem “Abschied” (Farewell) in the OWC issue of December 31, 1944. Like “Ahasver” from January 13, 1945, it is one of the few poems in the magazine to explicitly address the fate of Jews. In both pieces the literary reference to the “eternally wandering Jew” is linked not only to the identification with a persecuted community, but also to the anticipation of the desired liberation and concerns about the uncertain fate of those in hiding. In “Abschied,” the lyrical subject expresses his hope for an end to all suffering 20 and the “happy reunion” of a scattered community. By contrast, “Ahasver” uses the traditional image of the “wandering Jew” who roams from place to place and is “gehöhnt, verfolgt, geschlagen” (oppressed, derided, beaten). But it also gives the antisemitic topos a dual oppositional twist. Through the figure, the author once again identifies in an explicitly positive

15 Es ist keine niedrige und hässliche Rache / Die heute selbst die frommsten Menschen begeistern wird, / Es ist die reine Sehnsucht nach Gerechtigkeit. 16 In: „Aan een Verdwaalde“ (An einen Verirrten), in: OWC vom 30. August 1943. 17 Vgl. zur ideologischen Instrumentalisierung von Rembrandt durch die ­Nationalsozialisten: Kees Bruin, „Hoe fout was Rembrandt in de oorlog? Over bezit en gebruik van een cultuursymbool“, De Gids, Jg. 157 (1994), S. 839–852, hier S. 847. Nach Bruin gab es in den Niederlanden während der Besatzung keinen Protest gegen den ideologischen Missbrauch von Rembrandt. Auch die illegale Presse habe sich hierzu nicht geäußert. 18 Vgl. das Gedicht „Een kleine verstoppeling vraagt“ (Ein kleiner "Ver­ stoppeling" fragt), in: OWC vom 25. September 1943.

15 It is not low and ugly revenge / That will inspire even the most pious today, / It is pure longing for justice. 16 In “Aan een Verdwaalde,” OWC, August 30, 1943. 17 On the ideological instrumentalization of Rembrandt by the Nazis see, Kees Bruin, “Hoe fout was Rembrandt in de oorlog? Over bezit en gebruik van een cultuursymbool,” De Gids 157 (1994): 839–852, here 847. According to ­Bruin, there was no protest against the ideological abuse of Rembrandt during the occupation of the Netherlands. The illegal press did not comment on it either. 18 See the poem “Een kleine verstoppeling vraagt” (A Small "Verstoppeling" Asks) OWC, September 25, 1943. 19 In “Abschied,” OWC, December 31, 1944, see also “Ahasverus in dezen tijd,” OWC, September, 1944. 20 These worries are bygone, / A brand-new day will dawn / And leave all pain behind. / With faith in our good star, / We each must go our way.

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„Ich summe mit das Propellerlied ...“


identifiziert sich das lyrische Ich erneut mit der jüdischen Gemeinschaft, indem es sich fragt: „Wohin wird Euch, wohin wird mich das Schicksal führen?“ 19 Das Gedicht „Abschied“, das im Heft vom 31. Dezember 1944 diese Frage formuliert, gehört wie das Gedicht „Ahasver“ vom 13. Januar 1945 zu den wenigen Texten der Zeitschrift, in denen jüdisches Schicksal explizit zum Thema wird. In beiden Texten ist die literarische Bezugnahme auf den „ewig wandernden Juden“ nicht nur an die Identifikation mit einer verfolgten Gemeinschaft, sondern zugleich an eine Vorwegnahme der erhofften Befreiung und an die Sorge um ein ungewisses Schicksal der Versteckten gebunden. So gibt das lyrische Ich im Gedicht „Abschied“ vor allem seiner Hoffnung auf ein Ende aller Leiden Ausdruck20 und auf das „frohe Wiedersehen“ einer auseinandergetriebenen Gemeinschaft. Dagegen greift das Gedicht „Ahasver“ zwar das überkommene Bild des „ew’ge(n) Jude(n)“ auf, der „von Ort zu Ort“ irrt, „Gehöhnt, verfolgt, geschlagen“. Er gibt dem antisemitischen Topos jedoch eine zweifache widerständige Wendung: Einerseits identifiziert sich der Autor in der Figur noch einmal explizit positiv mit einem jüdischen Kollektiv als einer Schicksalsgemeinschaft, wobei die Ewigkeit der Wanderung zugleich ins Bild setzt, dass die Gemeinschaft „nicht zu besiegen“ ist: Ewig wandern bedeutet auch ewig überleben. Diese Perspektive wird andererseits noch gesteigert, indem im Bild des Wucherns ein weiterer antisemitischer Topos umgekehrt und an die Ankündigung einer Bestrafung gebunden wird: Nicht die Juden, sondern ihre Peiniger werden für ihre Untaten hohe Zinsen empfangen – „Die Schläge, die ihr gabt, / Kriegt ihr zurück mit Zinsen, / Mit Zins und Zinseszins“. 21 „Was wird geschehn?“ Das Ende des OWC Dass aber die Zuversicht einer angemessenen Vergeltung der faschistischen Verbrechen nicht ungebrochen blieb, zeigen Gedichte wie „Was wird geschehn?“ im Heft vom 6. Januar 1945. Es formuliert bereits die Sorge, was nach dem Krieg mit den Nazis und was mit Hitler passieren werde, ob das „Weltgericht“ die richtige Entscheidung fällen und eine Vergeltung der Schuld der Nationalsozialisten erfolgen werde. Als das letzte Heft des OWC am 3. April 1945 schließlich vorlag, hatte sich, nach dem Willen seines Verfassers, der unmittelbare Zweck seiner Zeitschrift zunächst erfüllt. Denn „als er eindelijk komt de vreê, / Verdwijnt direct het OWC.“, 22 hatte Bloch bereits am Anfang seines Projektes, im Heft vom 18. Dezember 1943, in dem Gedicht „Het Onderwater ­Cabaret“ bekundet. Konnte die Zeitschrift vor dem Ende des Krieges zunächst aus nachvollziehbaren Gründen nur einem kleinen Kreis von Helfern und Vertrauten zugänglich gemacht werden, 23 da ihr Auffinden ihren Verfasser ebenso gefährdet hätte wie deren Leserinnen und Leser, 24 lassen die Texte zugleich eine intendierte Leserschaft in niederländischen Mitläuferinnen und Mitläufern und einer verblendeten deutschen

19 In: „Abschied“, in: OWC vom 31. Dezember 1944, vgl. auch „Ahasverus in dezen tijd“, in: OWC vom 2. September 1944. 20 Daß am Ende dieser Sorgen, / Einmal tagt ein neuer Morgen / Ohne Schmerz und ohne Leid. // Bauend auf den guten Stern / Laßt uns auseinandergehen. 21 Vgl. das Gedicht „Ahasver“, in: OWC vom 13. Januar 1945. 22 Denn wenn endlich der Frieden kommt, / verschwindet das OWC sofort. “I Hum Along to the Propeller Song ...”

way with a Jewish collective as a community of fate. At the same time, the eternal nature of the wandering is emphasized by the fact that the community cannot be defeated (“nicht zu besiegen ist”): a life of eternal wanderings means eternal survival. This perspective is further enhanced by reversing another antisemitic topos—that of usury—and linking it to the announcement of punishment: it is not the Jews who will receive “high interest” for their crimes, but their tormentors: “Die Schläge, die ihr gabt, / Kriegt ihr zurück mit Zinsen, / Mit Zins und Zinseszins” (The blows you gave, / You’ll get back with interest, / With interest and compound interest). 21 “What Shall Transpire?” The End of the OWC However, poems such as “Was wird geschehn?” (What Shall Transpire?) in the issue of January 6, 1945, show that people did not remain confident that adequate retribution would be exacted for the fascist crimes. The poem expresses concern about what will happen to the Nazis and Hitler after the war. It questions whether the “World Court” will reach the proper verdict and whether there will be vengeance for the Nazis’ guilt. When the last issue of the OWC was published on April 3, 1945, the immediate purpose of the magazine had been fulfilled. At the beginning of the project, in the poem “Het Onderwater Cabaret” in the issue of December 18, 1943, Bloch had declared: “als er eindelijk komt de vreê, / Verdwijnt direct het OWC.”22 Understandably, before the war ended, the magazine was only made available a small group of helpers and confidants, 23 as its discovery would have jeopardized the life of its author and these readers. 24 But the texts reveal an intended readership of Dutch Nazi followers and a deluded German public, whom they would help reeducate after the war. Bloch discussed the problems and opportunities for future readers in the poem “An meine deutschen Leser” (To My German Readers) in the issue of June 3, 1944: Und lest ihr sie, müßt ihr nicht denken, And reading them, you mustn’t think Die sind nun nicht mehr aktuell, They are no longer relevant, Drum kann man sich das Lesen schenken, And merely skim them, swift and quick, Drum weg damit und möglichst schnell. Before you cast my words aside. 21 See the poem “Ahasver,” OWC, January 13, 1945. 22 “Because when peace finally comes, / The OWC will disappear immediately.” 23 The poem “Het Onderwater Cabaret” in the issue of December 18, 1943, explicitly states that the magazine is only directed at a small circle of readers: “De lezerkring waarvoor het werkt / Is wel zeer klein thans en beperkt, / Maar men begrijpt, het is geen tijd, / Voor al te grote rugbaarheid. / Doch wie tot nu is abonnée, / Is met het OWC tevrêe” (The readership for which it works / Is currently very small and limited, / But one understands that now is not the time / For too much promotion. / However, those who have subscribed so far / Are satisfied with the OWC.) Among the readers were Bruno Löwenberg and Karola Wolf, with whom Bloch shared a hiding place in Enschede, as well as the married couple Bertus and Aleida Menneken, who had taken him in. In Borne he was hidden by Jeronimo and Johanna Hulshof and probably also stayed with other, unknown helpers. For a more detailed discussion, see Gerard Groeneveld, Het Onderwater Cabaret: Satirisch verzet van Curt Bloch (Zwolle: WBooks, 2023), esp. 47, 62ff., as well as the article by Aubrey Pomerance in this issue, pp. 34–45. 24 See the poem “Het Onderwater Cabaret” in the issue of December 18, 1943, which warned: “Zorgvuldig houdt met het verstekt, / Men wenscht niet, dat men het ontdekt / Want vindt men het, vriend geloof het maar, / Dan was men werkelijk de sigaar” (You keep it carefully hidden, / You don’t want it to be discovered / Because if they find it, my friend, / Believe me, you’re be in serious trouble).

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Bevölkerung erkennen, zu deren Aufklärung und Umerziehung sie nach Ende des Krieges beitragen sollten. Damit verbundene Probleme und Chancen einer künftigen Lektüre thematisierte Curt Bloch selbst in seinem Gedicht „An meine deutschen Leser“ im Heft vom 3. Juni 1944: Und lest ihr sie, müßt ihr nicht denken, Die sind nun nicht mehr aktuell, Drum kann man sich das Lesen schenken, Drum weg damit und möglichst schnell. Denn amüsant ist die Lektüre Für manche Leute sicher nicht, Die sehn, man sitzt hier über ihre Verfloss’ne Dummheit zu Gericht, Die Dummheit der vergangnen Zeiten, Denn die steht grausam hier zu Buch, Die sie schwer büßten und bereuten Für ihr Gefühl schon schwer genug. Die Hoffnung Curt Blochs auf eine Publikation seiner Gedichte nach dem Krieg hat sich schließlich nicht erfüllt. Dennoch hatte die Zeitschrift Het Onderwater-Cabaret nicht nur für ihren Verfasser, sondern auch für ihre wenigen Leserinnen und Leser eine wichtige existenzerhaltende wie sinnstiftende Funktion. Sie bleibt heute ein beeindruckendes Zeugnis mutigen individuellen politischen Widerstands während der deutschen Besetzung der Niederlande.

Denn amüsant ist die Lektüre Because for certain eyes at least Für manche Leute sicher nicht, These words will hardly entertain Die sehn, man sitzt hier über ihre To read their past stupidity Verfloss’ne Dummheit zu Gericht, On trial within these pages’ court,

Dieser Text ist eine Kurzfassung des gleichnamigen Essays, der auf der Website des Jüdischen Museums Berlin in voller Länge zu lesen ist: www.jmberlin.de/essay-schoor-schreuder

23 So heißt es auch im Gedicht „Het Onderwater Cabaret” im Heft vom 18. Dezember 1943 ausdrücklich, dass die Zeitschrift sich lediglich an einen kleinen Kreis von Leserinnen und Lesern richten kann: „De lezerkring waarvoor het werkt / Is wel zeer klein thans en beperkt, / Maar men begrijpt, het is geen tijd, / Voor al te grote rugbaarheid. / Doch wie tot nu is abonnée, / Is met het OWC tevrêe.“ (Die Leserschaft, für die es arbeitet, / Ist zwar jetzt sehr klein und beschränkt, / Aber man versteht, es ist nicht die Zeit, / Für allzu große Werbung. / Aber diejenigen, die bisher abonniert haben, / Sind mit dem OWC zufrieden.) Zu dieser Leserschaft des OWC gehörten Bruno Löwenberg und Karola Wolf, mit denen Bloch das Versteck in Enschede teilte, sowie das Ehepaar Bertus und Aleida Menneken, das ihm Unterschlupf gewährte. In Borne nahmen Jeronimo und Johanna Hulshof Curt Bloch auf. Wahrscheinlich blieb er in dieser Stadt noch bei anderen, unbekannten Helfern. Vgl. dazu ausführlicher Gerard Groeneveld: Het Onderwater Cabaret. Satirisch verzet van Curt Bloch, ­Zwolle 2023, hier u.a. S. 47, 62ff., sowie den Artikel von Aubrey Pomerance in diesem Heft S. 32–43. 24 Vgl. das Gedicht „Het Onderwater Cabaret“ im Heft vom 18. Dezember 1943 warnend: „Zorgvuldig houdt met het verstekt, / Men wenscht niet, dat men het ontdekt / Want vindt men het, vriend geloof het maar, / Dan was men werkelijk de sigaar.“ (Sorgfältig hält man es versteckt, / Man will nicht, dass man es entdeckt / Denn findet man es, mein Freund, / Glaub mir, man wäre angeschmiert.)

Die Dummheit der vergangnen Zeiten, Stupidity of times gone by, Denn die steht grausam hier zu Buch, Recorded here most gruesomely, Die sie schwer büßten und bereuten For which they’ve paid a sorry price Für ihr Gefühl schon schwer genug. Enough already, they will say. Ultimately, Bloch’s hopes were dashed that a postwar publication of his poems would support the reeducation of Germans and Dutch collaborators. Nevertheless, the magazine Het Onderwater-Cabaret played an important role in helping the author and his small circle of readers carry on and find meaning and purpose in their lives. Today the magazine remains an impressive testimony to individual courage and political resistance during the German occupation of the Netherlands. This text is an abridged version of the essay of the same title, which can be read in full on the website of the Jewish Museum Berlin: www.jmberlin.de/en/essay-schoor-schreuder

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„Ich summe mit das Propellerlied ...“


31. Dezember 1944 31 December 1944

Abschied

Farewell

Von der Erde ausgespien Und geächtet und verloren Stets verdammt zum Weiterziehen Scheint zum Wandern man geboren.

We’re spit out by the earth And ostracized and lost, Condemned to wander on As though born just to drift.

Ohne festen Zufluchtsort, Stets verjagt und stets vertrieben, Einmal hier und einmal dort Und kein Platz ist uns geblieben. [...]

Without a safe retreat, Chased off and driven out, First here and later there, And no place ours for good. [...] Translated by Jake Schneider

Kerstin Schoor ist Professorin an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) und Mitglied im Direktorium des Selma Stern Zentrums für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Als Literatur- und Kulturwissenschaftlerin beschäftigt sie sich unter anderem mit deutschsprachiger Exilliteratur nach 1933 und deutsch-jüdischer Literatur vom 18. bis zum 21. Jahrhundert. Kerstin Schoor is a professor at the European University Viadrina Frankfurt (Oder) and Member of the Board of D ­ irectors of the Selma Stern Center for Jewish Studies Berlin-Brandenburg. As a Literary and Cultural Studies scholar she sets a focus on topics such as German exile literature after 1933 as well as German-Jewish literature from the eighteenth to the twenty-first centuries. Saskia Schreuder ist Lehrerin an der weiterführenden Schule in Lochem und Teacher in Residence an der Radboud Universität in N ­ ijmegen (Niederlande). Sie setzt sich in ihrer Forschung mit deutsch-jüdischer Literatur auseinander und promovierte zu jüdischer Erzählliteratur im nationalsozialistischen Deutschland. Saskia Schreuder is teaching at the secondary school in Lochem and is a Teacher in Residence at the Radboud University in Nijmegen. Her research focuses on German-Jewish literature, and she completed her doctorate on Jewish fiction in Nazi Germany.

“I Hum Along to the Propeller Song ...”

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Unvergänglichkeit Timelessness Interview mit Thilo von Debschitz Interview with Thilo von Debschitz

Thilo von Debschitz ist Designer und Autor. Er betreibt in Wiesbaden die vielfach ausgezeichnete Kommunikationsagentur Q und zählt zur Jury des internationalen Red Dot Award. Zusammen mit Simone Bloch, der Tochter von Curt Bloch, sowie mit Unterstützung deutscher Rotary Clubs und weiterer ­Förderer hat er die Website www.curt-bloch.com ins Leben gerufen. Dank seines persönlichen Einsatzes wurde der auf das Jahr 2014 zurückreichende Kontakt zwischen der Familie Bloch und dem JMB wieder aufgenommen. Thilo von Debschitz is a designer and author. He runs Q, the much-­ acclaimed communication design agency based in Wiesbaden, and is on the jury for the international Red Dot Award. Together with Simone Bloch, daughter of Curt Bloch, and with the support of the German Rotary Clubs and other sponsors, he ­created the website www.curt-bloch.com. Thanks to his personal commitment, the contact between the Bloch family and the JMB, which began in 2014, has been resumed.

DE Herr von Debschitz, was ist das Besondere an Het Onderwater-Cabaret (OWC) aus Sicht eines Gestalters? Und was be­ geistert Sie persönlich am OWC? Als ich die Magazine von Curt Bloch in New York das erste Mal in Händen hielt, war ich überwältigt. Zum einen von den collagierten Umschlägen, die mich an die

EN Arbeiten von John Heartfield erinnerten. Auch die Art, wie kreativ Bloch ohne jegliche gestalterische Ausbildung mit den Titelschriftzügen umging, ließ mein Designerherz höherschlagen. Doch die Gedichte haben mich ebenso stark berührt. Sie sind traurig, witzig, zornig, hoffnungsvoll – mit ihnen unternimmt man regelrecht eine emotionale Achterbahnfahrt. Es ist also

Thilo von Debschitz, what is special about Het ­Onderwater-Cabaret (OWC) from a designer’s perspective? And what do you personally find most exciting about the OWC? When I first held Curt Bloch’s magazines in my hands in New York, I was overwhelmed. For one thing by the cover collages that reminded me of the works of

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John Heartfield. And I found the way Bloch ­creatively worked with the cover typography without having had any design training whatsoever very exciting. But his poems also deeply moved me. They are sad, funny, angry, hopeful—they set off a veritable emotional rollercoaster ride. It is the overall package that continues to fascinate me in my engagement with the OWC. Unvergänglichkeit


DE das Gesamtpaket, das mich in der Beschäftigung mit dem OWC immer wieder fasziniert. Sie haben viele Vorträge über Curt Bloch und das OWC gehalten – gab es Reaktionen, die Sie über­ raschten? Simone Bloch und ich sprechen seit drei Jahren gemeinsam vor unterschiedlichen Gruppen, vor Schülerinnen und Schülern ebenso wie vor Erwachsenen über Curt Bloch. Dabei fand die Überraschung bislang vor allem auf Seiten des Auditoriums statt: Warum wird das OWC erst jetzt publik, rund achtzig Jahre nach seiner Entstehung? Und warum sind diese kleinen Papierhefte nicht nur in einem vergleichsweise guten Zustand, sondern auch als Serie lückenlos erhalten? Interessant fanden wir, dass zur nationalsozialistischen Besetzung der Niederlande eher wenig Kenntnis vorhanden war – bei Jugendlichen und Erwachsenen gleichermaßen. Und es war erstaunlich, dass wir bei allen Präsentationen einen gegenwärtigen Nerv trafen: Ob es um die Auswirkungen kriegerischer Auseinandersetzungen, Antisemitismus oder den Wunsch nach Frieden ging – die in Blochs Versen behandelten Themen wurden in den Gesprächen mit unserem Publikum stets auf das Heute übertragen. Das hat uns eindrucksvoll gezeigt, wie unvergänglich das OWC ist. Sie haben gemeinsam mit ihrer Schwester bereits zum jüdischen „Infografik-Pionier“ Fritz Kahn geforscht und Timelessness

EN You have given many talks on Curt Bloch and the OWC—were you surprised by any of the reactions you received?

einen Bildband heraus­ gegeben. Curt Bloch wird von Ihnen auf einer ­Website mit allen OWCAusgaben präsentiert. Was eint die Künstler? Die Freude an kreativen Motiv-Ideen und einer bildhaften Sprache haben beide gemeinsam. Ebenso kann man Bloch und Kahn attestieren, dass sie Zusammenhänge mit großem Scharfsinn untersuchten und hinterfragten – der eine in Bezug auf politische Entwicklungen, der andere zu Phänomenen der Natur und des menschlichen Körpers. Beide mussten ihr Heimatland verlassen, weil sie ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen durften: Bloch stand am Beginn einer juristischen Karriere, als die Nazis an die Macht kamen und Juden die Ausübung von Rechtsberufen verboten wurde. Kahn war Arzt und erfolgreicher Autor, als Jude musste er seine Praxis in Charlottenburg schließen, seine schriftstellerische Tätigkeit konnte er in Berlin ebenfalls nicht mehr weiterführen. Wie Bloch emigrierte auch Kahn nach New York; dank Varian Frys Emergency Rescue Committee und der Fürsprache seines Freundes Albert Einstein gelang ihm 1941 die rettende Emigration in die USA per Schiff ab Lissabon. Trotz der Ermordung seiner engsten Verwandten kehrte Curt Bloch später häufig nach Deutschland zurück, das hat Fritz Kahn nie getan. Das Interview führten / The interview was conducted by Marie Naumann & Katharina Wulffius

Simone Bloch and I have been giving talks on Curt Bloch to different groups for three years now—to school groups as well as to adults. So far it has mostly been the audience that was surprised: Why is the OWC only now receiving public attention, around eighty years after it was made? Why have these small paper booklets survived not only in ­relatively

an illustrated book on him. You also created a website presenting Curt Bloch and all the issues of the OWC. What do the artists have in common? They both shared a joy in creative motif ideas and a figurative language. It can also be said of Bloch and Kahn that they both examined and questioned their contexts with great acumen—one with respect to political developments and the other to phenomena of nature and the human body. Both of them had to leave

Subjects that Bloch’s poetry dealt with were always transferred to the present day. good condition, but also complete as a series, with no missing issues? We found it interesting that the audiences—adolescents and adults alike—tended to know very little about the Nazi occupation of the Nether­lands. And it was amazing that at all our presentations we clearly struck a chord: Whether it was about the effects of armed military conflict, antisemitism, or the wish for peace— in the conversations with our ­audiences, the subjects that Bloch’s poetry dealt with were always transferred to the present day. That showed us quite impressively how timeless the OWC is. Together with your sister, you have previously done research on the Jewish “infographics pioneer” Fritz Kahn and published

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their homeland because they were prohibited from continuing their work: Bloch was at the beginning of his legal career when the Nazis took power and Jews were banned from legal professions. Kahn was a doctor and successful author; as a Jew he had to close his medical practice in Charlottenburg and was also banned from writing in Berlin. Both Bloch and Kahn emigrated to New York. Thanks to Varian Fry’s Emergency Rescue Committee and the advocacy of his friend Albert Einstein, Kahn was able to emigrate to the United States by ship via Lisbon in 1941. Despite the murder of his closest relatives, Curt Bloch later often returned to Germany, something that Fritz Kahn never did.


BEGLEITPROGRAMM PROGRAM Als die Deportationen aus den Niederlanden begannen, tauchte Alice Bergmann bei Bekannten unter. Sie besorgte sich einen gefälschten Ausweis, der nicht mit einem „J“ markiert war. Aus Alice Bergmann wurde Mia van Beelen. Schenkung von Marion J. Bergmann Alice Bergmann was hidden by friends when deportations from the Netherlands began. She procured a forged identity card that was not marked with a “J” for “Jew” and assumed the identity of Mia van Beelen. Gift of Marion J. Bergmann

JOODSE VLUCHTE­LINGEN – SCHICKSALE DEUTSCH-JÜDISCHER EMIGRANT*INNEN IN DEN NIEDERLANDEN

Präsentation von Familiensammlungen im Rahmen des Tags der Archive Sonntag, 3. März 2024

JOODSE VLUCHTE­LINGEN— FATES OF GERMAN– JEWISH ÉMIGRÉS IN THE NETHERLANDS

Presentation of family collections as part of the Day of the Archives Sunday, 3 March 2024

Die Kolleg*innen aus dem JMB-Archiv laden ein: Im Rahmen der Ausstellung „Mein Dichten ist wie Dynamit“ Curt Blochs Het Onderwater Cabaret präsentieren sie Geschichten deut­ scher Jüdinnen und Juden, die während der NS-Zeit im niederländischen Exil Zuflucht suchten. Die Kinder Edgar Lax, Arno und Ulli Rosenfeld flohen 1939 ohne ihre Eltern aus Berlin in die Niederlande und kamen im Flüchtlingsheim Dommelhuis bei Eindhoven unter. Familie Beck aus Chemnitz emigrierte wegen des zu­ nehmenden Antisemitismus schon 1932 nach Amsterdam. Nachdem sich die Becks zu­ nächst eine neue Existenz aufgebaut hatten, wurden sie nach dem Einmarsch der Deut­ schen zunehmend bedroht und überlebten die Verfolgung schließlich im Versteck. Ebenfalls im Untergrund überlebte das Ehepaar Hans und Alice Bergmann aus Frankfurt am Main, deren Tochter Marion 1944 im Versteck zur Welt kam. 3. März 2024, 14–17 Uhr, Beginn zu jeder vollen Stunde Auditorium, EG Altbau Eintritt frei

The JMB archivists invite visitors to show-andtell events. In connection with the exhibition “My Verses Are Like Dynamite” Curt Bloch’s Het Onderwater Cabaret, they will present stories of German Jews who sought refuge in the Netherlands during the Nazi period.

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Begleitprogramm


Marina Frenk und Richard Gonlag während der Aufzeichnung der Performance „Auf dem Flügel meiner Phantasie“, November 2023. Marina Frenk and Richard Gonlag during the recording of the performance “On the Piano of My Fantasy,” November 2023.

Edgar Lax and Arno and Ulli Rosenfeld fled Berlin without their parents in 1939. After ar­ riving in the Netherlands they were placed in the Dommelhuis refugee home near Eindhoven. The Beck family from Chemnitz emigrated to Amsterdam as early as 1932 due to the growing antisemitism. After the Becks had started a new life in the Netherlands, they were increasingly at risk once the Germans invaded. They ultimately survived in hiding. Hans and Alice Bergmann from Frankfurt am Main also survived in hiding. Their daughter Marion was born in their hiding place in 1944. 3 March 2024, 2–5 pm, every hour on the hour Auditorium, ground level, Old Building Admission free German only

IM NETZ ONLINE Das Online-Feature zur Ausstellung bietet vertiefende, multimediale Einblicke in drei ausgewählte Hefte des Het Onderwater-­ Cabaret, von der zweiten Ausgabe 1943 bis zur letzten 1945, dem „Überwasser-Finale des O.W.C.“. Außerdem finden Sie Hintergründe zu Curt Blochs Leben und seiner Leserschaft im Versteck sowie einen Blick hinter die Kulissen der Museumsarbeit, insbesondere die sorg­ same Restaurierung der 95 Ausgaben. An online feature on the exhibition offers indepth, multimedia insights into three selected issues of Het Onderwater-Cabaret, from the 2nd in 1943 to the last in 1945, the “AboveWater Finale of the O.W.C.”. Here, you can find background information on Curt Bloch’s life and his readership in hiding, and you can take a look behind the scenes of the museum’s work, in particular the careful restoration of the 95 booklets. www.jmberlin.de/feature-owc www.jmberlin.de/en/feature-owc Program Events

HET ONDERWATER ­CABARET LIVE

Ein musikalisch-­literarischer Abend mit Marina Frenk, Richard Gonlag und anderen

HET ONDERWATER CABARET LIVE

A musical-literary evening with Marina Frenk, Richard Gonlag and friends Erstmals ist das Het Onderwater-Cabaret live auf der Bühne zu erleben. Eine Auswahl an Curt Blochs Gedichten und Liedern wurde von der Schauspielerin Marina Frenk vertont. Ge­ meinsam von ihr und dem niederländischen Schauspieler und Sprecher Richard Gonlag rezitiert und gesungen, erscheinen die Stücke heute so aktuell wie damals in ihrer satiri­ schen Auseinandersetzung mit politischer Rhetorik, in ihrer Entlarvung von Propaganda und Verschleierung. 11. April 2024, 19 Uhr Großer Saal, 2. OG Altbau 6 Euro, ermäßigt 3 Euro Deutsch, mit Liedern auf Deutsch, Englisch und Niederländisch

Het Onderwater-Cabaret can be experienced live on stage for the first time. A selection of Curt Bloch’s poems and songs were set to music by the actress Marina Frenk. Sung and recited by Frenk and the Dutch actor and speaker Richard Gonlag, the pieces seem as relevant today as when they were written in their satirical treatment of political rhetoric and by exposing propaganda and cover-ups. 11 April 2024, 7 pm 6 euros, reduced 3 euros Great Hall, 2nd level, Old Building German, with songs in German, English, and Dutch

#JMBERLIN 73


Untergrundliteratur in den Niederlanden 1940–1945 Clandestine Literature in the Netherlands 1940–45

In Reaktion auf die strikte und brutal durchgesetzte K ­ ontrolle der Nationalsozialisten über Medien, Literatur und Kultur entstand die niederländische Untergrundliteratur. Sie leistete vor allem geistigen Widerstand gegen die nationalsozialistische Aggression. In keinem anderen Land unter deutscher Besat­ zung wurde mehr Untergrund­ literatur veröffentlicht. Dutch clandestine l­iterature developed in opposition to ­German policy and its strict control over the media during the Nazi-occupation. It was essentially spiritual resistance against the aggression. In no other country under German occupation more clandestine literature was ­published than in the Netherlands. Text

Jeroen Dewulf

Plakat des freien Verlags De Bezige Bij, 1945 Der Amsterdamer Untergrundverlag publizierte während der deutschen Besetzung das umfangreichste Programm. Nach dem Krieg entwickelte sich De Bezige Bij zum größten Literaturverlag in den Niederlanden. Poster of the independent publishing house De Bezige Bij, 1945 The Amsterdam clandestine publishing house published the most extensive program during the German occupation. After the war, De Bezige Bij became the largest literary publishing house in the Netherlands.


Clandestine Literature in the Netherlands

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DE Nach der verheerenden Bombardierung von Rotterdam am 14. Mai 1940 kapitulierte die niederländische Armee vor Nazi-Deutschland. Kurze Zeit später ging die Kontrolle über die Niederlande von der deutschen Militärregierung auf eine von dem Österreicher Arthur Seyß-Inquart geführte zivile Regierung über. Die Wahl von Seyß-Inquart kann man als Hinweis auf Hitlers langfristige Ziele für die Niederlande interpretieren: die Nazifizierung des Landes und sein Anschluss an Großdeutschland, ähnlich wie bei Österreich. Als Reichskommissar verschärfte Seyß-Inquart die natio­ nalsozialistische Kontrolle über die Medien. Buchhandlungen und Bibliotheken wurden von „deutschfeindlicher“ Literatur „gesäubert“ und neue Veröffentlichungen von den Zensurbehörden streng kontrolliert. Im November 1941 gründete Seyß-Inquart außerdem die Kultuurkamer (Kulturkammer). Sie sollte die Germanisierung der niederländischen Literatur vorantreiben, was sich auch in der Schreibweise des Wortes Kultuur (mit deutschem „K“ anstelle des niederländischen „C“) widerspiegelt. In Opposition zu dieser Politik entwickelte sich die niederländische Untergrundliteratur. Dieser Begriff ist eine Sammelbezeichnung für jegliche Literatur, die ohne Genehmigung der deutschen Behörden veröffentlicht wurde. Einige dieser Werke stellten sich offen gegen die Besatzermacht, während es in anderen um allgemeine Themen ging, die aus bestimmten Gründen gegen die Vorschriften der Nazis verstießen. In beiden Fällen riskierten Autor*innen, Herausgeber*innen und Drucker*innen ihr Leben, um die Pressefreiheit, die Freiheit des Denkens und des künstlerischen Ausdrucks zu bewahren. Mindestens 700 Männer und Frauen, die der Untergrundpresse angehörten, kamen während der Besatzung ums Leben. In keinem anderen Land unter deutscher Besatzung wurde mehr Untergrundliteratur veröffentlicht als in den Niederlanden. In seiner Bibliografie „Het vrije boek in onvrije tijd“ (Das freie Buch in einer unfreien Zeit) wies Dirk de Jong über tausend Titel nach.1 Vielleicht noch beeindruckender als die Anzahl der Veröffentlichungen war die außerordentliche Popularität der Untergrundliteratur, insbesondere der Gedichtbände, die teilweise über 40.000 Mal verkauft wurden.

EN Following the devastating bombardment of Rotterdam on May 14, 1940, the Dutch army surrendered to Nazi ­Germany. Soon after, control over the Netherlands passed from a German military to a civilian government, led by the Austrian Arthur Seyss-Inquart. The choice of Seyss-Inquart can be interpreted as a reflection of Hitler’s long-term ambitions with the Netherlands: the Nazification of the country, followed by its absorption into a greater Germany, similar to what had occurred to Austria. As Reich Commissioner, Seyss-Inquart tightened Nazi control over the media. Bookshops and libraries were “cleansed” of “anti-German” literature, and censorship bureaus imposed strict controls over new publications. In November 1941, he also established the Kultuurkamer (Chamber of ­Culture). As is reflected in its spelling of the word kultuur (with the German “k” instead of the Dutch “c”), its task was to push along the Germanization of Dutch literature. In opposition against this policy, Dutch clandestine literature developed. The latter is a general term for all literature that was published without permission from the German authorities. Some of these works openly challenged the occupier, whereas other books only dealt with general themes that for specific reasons were in defiance of Nazi regulations. In both cases the authors, editors and printers risked their lives in defense of freedom of the press, thought and artistic expression. At least 700 men and women of the underground press perished during the occupation. In no other country under German occupation more clandestine literature was published than in the Netherlands. In Het vrije boek in onvrije tijd (The Free Book in an Unfree Time), Dirk de Jong identified over a thousand titles.1 Perhaps even more impressive than the number of publications was the unprecedented popularity of clandestine literature, poetry bundles in particular, some of which sold over 40,000 copies.

Bücher aus dem niederländischen Untergrund Die Tatsache, dass die Nationalsozialisten in den Niederlanden strengere Vorschriften als anderswo im besetzten Europa erließen, erklärt nicht nur die hohe Zahl der im Untergrund gedruckten Bücher, sondern auch deren Inhalt. Die aggressive deutsche Politik wurde als Angriff auf die niederländische Le-

Dutch Clandestine Books The fact that the Nazis imposed stricter regulations than elsewhere in occupied Europe accounts not only for the high number of clandestinely printed book titles, but also for their content. The aggressive German policy was felt as an attack against the Dutch way of life, shared values and familiar conceptions of freedom and justice. Dutch clandestine literature was essentially spiritual resistance against this Nazi aggression and, at its core, deeply patriotic. Its main ambition was to oppose German propaganda by preserving

1 Dirk de Jong, Het vrije boek in onvrije tijd. Bibliografie van illegale en clandestine belletrie, Leiden 1958.

1 Dirk de Jong, Het vrije boek in onvrije tijd. Bibliografie van illegale en ­clandestine belletrie, Leiden: Sijthoff, 1958.

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Untergrundliteratur


bensart, auf die gemeinsamen Werte und die gewohnten Vorstellungen von Freiheit und Recht empfunden. Die niederländische Untergrundliteratur leistete vor allem geistigen Widerstand gegen diese nationalsozialistische Aggression und war im Kern zutiefst patriotisch. Ihr Hauptziel bestand darin, der deutschen Propaganda Selbstachtung und Treue zu demokratischen und nationalen Idealen entgegenzusetzen. Bewaffneter Widerstand war nicht ihr dominierendes Thema. Vielmehr standen geistige, humanitäre und historische nationalistische Motive im Vordergrund, die als wesentliche Elemente der niederländischen Identität betrachtet wurden. So entstanden zahllose Gedichte und Erzählungen, die eine emotionale Verbindung zu alltäglichen, aber symbolträchtigen Elementen wie einem alten Stadtzentrum oder einer typisch niederländischen Landschaft herstellten. Selbst Gedichte, die sich auf die Verfolgung von Jüdinnen und Juden bezogen, waren meist insofern patriotisch, als sie dem deutschen Antisemitismus die jahrhundertealte Verbundenheit der jüdischen Gemeinschaft mit den Niederlanden gegenüberstellten. Die Deutschen und ihre niederländischen Kollaborateur*innen hingegen wa­ren häufig Zielscheibe von Spott und Hohn. Diese Gedichte ließen sich aufgrund ihrer Schlichtheit oder Vulgarität leicht auswendig lernen. Der größte Untergrundverlag war De Bezige Bij (Die fleißige Biene), gegründet von Geert Lubberhuizen. Er hatte Verbindungen zu einer Gruppe von Studierenden der Universität Utrecht, die ein Komitee zur Unterstützung untergetauchter jüdischer Kinder gegründet hatten. Die Gruppe

self-respect and allegiance to democratic and national ideals. The armed resistance as such was not the dominant topic of clandestine literature. Rather, its focus was on the spiritual, humanitarian and historical-nationalistic motives that were considered essential elements of Dutch identity. This ambition reflected itself in the production of countless poems and stories in which an emotional connection to ordinary, yet highly symbolic, elements was recovered, such as an old city center or a typically Dutch landscape. Even poems that referred to the persecution of Jews tended to be patriotic in the sense that German antisemitism was contrasted by the Jewish community’s century-old attachment to the Netherlands. The Germans and their Dutch collaborators, on the other hand, were often the victim of mockery and scold. In their simplicity or vulgarity, such poems could easily be memorized. The largest clandestine publishing house was De Bezige Bij (The Busy Bee), founded by Geert Lubberhuizen. Lubberhuizen was linked to a group of students from Utrecht University who had formed a committee to help Jewish children in hiding. The group saved the lives of some 400 children. Without Lubberhuizen’s financial support this would not have been possible. In 1943 he had published an illustrated broadsheet of Jan Campert’s dramatic poem “De achttien dooden” (The Eighteen Dead) about the first group of Dutch resistance members who were executed in 1941. Some 15,000 copies of the broadsheet were sold, which brought in so much money that it could secure not only the subsistence

Auszug aus einer Infobroschüre des Verlags De Bezige Bij, 1945 Enthalten war auch eine Liste der während des Krieges veröffentlichten Publikationen. Excerpt from an booklet published by De Bezige Bij, 1945 The booklet also contained a list of publications published during the war. Clandestine Literature

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rettete das Leben von etwa 400 Kindern. Ohne die finanzielle Unterstützung Lubberhuizens wäre dies nicht möglich gewesen. 1943 veröffentlichte er eine illustrierte Ausgabe von Jan Camperts dramatischem Gedicht „De achttien dooden“ (Die achtzehn Toten) über die erste Gruppe niederländischer Widerstands­kämpfer, die 1941 hingerichtet wurden. Die Flugschrift wurde in einer Auflage von 15.000 Exemplaren verkauft und brachte so viel Geld ein, dass damit nicht nur der Lebensunterhalt der jüdischen Kinder gesichert werden konnte, sondern auch die Finanzierung eines Untergrundverlages. Anders als das französische Pendant Les Éditions de Minuit, bei dem sich der Anspruch, die Ehre des französischen Denkens zu retten, in der hohen literarischen Qualität seiner Publikationen widerspiegelte, veröffentlichte De Bezige Bij alles, was Geld einbrachte, von Gedichten von Edgar Allan Poe und Guy de Maupassant bis hin zu Postkarten mit Karikaturen von Nazis. Was die künstlerische Qualität betrifft, stechen Hendrik Werkmans Veröffentlichungen im Verlag De Blauwe Schuit (Die Blaue Schute) hervor. Zu den berühmtesten Ausgaben gehören die wunderschön illustrierten „Chassidischen Legenden“ (ab 1941), die auf Martin Bubers Ausgabe jüdischer mystischer Geschichten basieren. Im März 1945 führte die Polizei eine Razzia in Werkmans Büro durch; er wurde umgehend verhaftet und hingerichtet. Überall in den Niederlanden gab es Hunderte ähnlicher kleiner (und oft dilettantischer) Untergrundverlage. Die Auflagenhöhe war meist begrenzt; in 25 Prozent der Fälle

of the Jewish children, but also the ­financial basis for a clandestine publishing company. Unlike its French counterpart Les Éditions de Minuit, whose concern for saving the honor of French thought was reflected in the high literary quality of its publications, De Bezige Bij published anything that could bring in money, from poems by Edgar Allan Poe and Guy de Maupassant to postcards with caricatures of the Nazis. In terms of artistic quality, Hendrik Werkman’s publications for De Blauwe Schuit (The Blue Bark) were exceptional. Among its most famous editions are the beautifully illustrated Chassidische legenden (Hasidic Legends, since 1941), based on Martin Buber’s edition of Jewish mystic tales. In March 1945 the police raided Werkman’s office; he was summarily arrested and executed. There were hundreds of similar small-scale (and often dilettantish) clandestine publishing houses all over the Netherlands. Their print numbers were usually limit­­ed; in 25 percent of cases, fewer than a hundred copies per book were printed. As the use of noisy printing machines implied a serious risk, most of these publishers used lithography as their printing method, often in combination with a primitive hand press, a hectograph, a platen press that had to be powered by foot or, as a last resort, a mimeograph. Another problem was paper shortage. Since the Chamber of Culture had a monopoly in the distribution of paper for book printing, clandestine books relied on stolen paper and were, thus, usually thin. This also explains why most of the production of clandestine literature consisted of poetry and short stories.

Druck des Gedichts „De achttien dooden“ (Die achtzehn Toten) von Jan Campert (1902–1943) mit Illustrationen von Coen van Hart (Pseudonym von Fedde Weidema), vermutlich Utrecht, März/April 1943 Print of the poem “De achttien dooden” (The Eighteen Dead) by Jan Campert (1902–1943) with illustrations by Coen van Hart (pseudonym of Fedde Weidema), probably Utrecht, March/April 1943

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Untergrundliteratur


Relevance of Clandestine Literature Dutch literary histories have traditionally paid little attention to clandestine literature. Scholars tended to look at 1945 as a “Year Zero,” as if Dutch literature restarted from scratch after the war, and focused on the rebellious postwar generation. However, many of the “new” tendencies in the late 1940s were already present in clandestine literature. Anna Blaman’s openly lesbian novel Eenzaam avontuur (Lonely Adventure, 1948), for instance, was preceded by her clandestinely published story Ontmoeting met Selma (Encounter with Selma, 1943). Rein Blijstra’s libertarian sexual morality, his relativistic approach to a “hero” of the

wurden weniger als hundert Exemplare pro Buch gedruckt. Da der Einsatz von lauten Druckmaschinen ein ernsthaftes Risiko darstellte, druckten die meisten dieser Verlage im Lithografieverfahren, oft in Kombination mit einer einfachen Handpresse, einem Hektografen, einer mit den Füßen angetriebenen Tiegeldruckpresse oder, als letztem Mittel, einem Mimeografen. Ein weiteres Problem war die Papierknappheit. Da die Kultuurkamer ein Monopol auf die Verteilung von Papier für den Buchdruck hatte, wurden die illegalen Veröffentlichungen auf gestohlenem Papier gedruckt und waren daher in der Regel sehr dünn. Auch deshalb bestand der größte Teil der Untergrundliteratur aus Gedichten und Kurzgeschichten.

H. N. Werkman (1882–1945), Illustration zu „De ge­dwongen terugkeer“ (Die erzwungene Rückkehr), in: Chassidische Legenden I, 1942 H. N. Werkman (1882–1945), illustration for “De ge­dwongen terugkeer” (The Forced Return), in: Chassidische Legenden I, 1942 Clandestine Literature

H. N. Werkman (1882–1945), Illustration zu „De drie aartsvaders“ (Die drei Erzväter), in: Chassidische ­Legenden II, 1943 H. N. Werkman (1882–1945), illustration for “De drie aartsvaders” (The Three Patriarchs), in: Chassidische Legenden II, 1943

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Die Bedeutung von Untergrundliteratur Die niederländische Literaturgeschichte hat die Untergrundliteratur bisher kaum zur Kenntnis genommen. Als hätte die Literatur nach dem Krieg noch einmal ganz von vorne angefangen, betrachtete die Literaturwissenschaft das Jahr 1945 zumeist als „Jahr Null“ und konzentrierte sich auf die rebellische Nachkriegsgeneration. Viele der „neuen“ Tendenzen in den späten 1940er-Jahren waren jedoch bereits in der Untergrundliteratur vorhanden. So ging beispielsweise Anna Blamans offen lesbischem Roman „Eenzaam avontuur“ (Einsames Abenteuer, 1948) ihre heimlich veröffentlichte Erzählung „Ontmoeting met Selma“ (Begegnung mit Selma, 1943) voraus. Rein Blijstras libertäre Sexualmoral, seine relativistische Darstellung eines „Helden“ des Widerstands und sein ausgeprägter Zynismus in „Bij nadere kennismaking“ (Bei näherer Betrachtung, 1944) machen ihn zusammen mit Blaman zu einem Vorboten des moralischen Wertewandels in der niederländischen Literatur. Auch Blijstras andere Untergrundpublikation, „Haaien voor Nabatoe“ (Haie vor Nabatu, 1945), nimmt wegen ihrer antikolonialen Botschaft eine Sonderstellung ein. Mit diesem Roman nahm Blijstra eine Diskussion vorweg, die bald nach der Befreiung in der niederländischen Gesellschaft aufflammte: Wie konnte ein Land, das seinen Widerstand als Befreiungskampf rechtfertigte, noch immer ein Kolonialreich gutheißen? Diese Beispiele zei­gen, dass das Vorurteil, die niederländische Untergrundliteratur hätte nur wenig mehr zu bieten als niederländischen Patriotismus, ungerecht ist. Tatsächlich besteht ein beträchtlicher Teil dieser Literatur aus Übersetzungen von Kafka, Baudelaire, Dickinson und sogar Omar Khayyam und James Langston Hughes – alles kaum Namen, hinter denen eine reaktionäre Literaturauffassung stehen würde. Zur Untergrundliteratur gehört auch das erste niederländische Selbstzeugnis über den Holocaust. Lange vor der Veröffentlichung des Tagebuchs von Anne Frank wurden Briefe von Etty Hillesum aus dem Lager Westerbork in der Tarnschrift1 „Drie brieven van den Kunstschilder Johannes Baptiste van der Pluym“ (Drei Briefe des Malers Johannes Baptiste van der Pluym, 1943) gedruckt. Eine weitere faszi-

resistance and his deep-seated cynicism in Bij nadere kennismaking (Upon Further Acquaintance, 1944) make him, together with Blaman, a herald of changing moral values in Dutch literature. Blijstra’s other clandestine publication, Haaien voor Nabatoe (Sharks near Nabatu, 1945), is also exceptional because of its anti-colonial message. With this novel, Blijstra pointed to a discussion that would flare up in Dutch society soon after the liberation: how can a country that justified its resistance as a fight for freedom still defend the rightness of a colonial empire? As these examples show, the prejudice that clandestine literature has little more to offer than a simplistic celebration of Dutch patriotism is unfair. In fact, a considerable part of this literature consists of translated work by Kafka, Baudelaire, Dickinson, even Omar Khayyam and James Langston Hughes — hardly names that reflect a reactionary conception of literature. Clandestine literature also contains the first Dutch ego-document on the Holocaust. Long before Anne Frank’s diary was published, letters written by Etty Hillesum from Westerbork Camp were printed clandestinely in the camouflaged publication (Tarnschrift) Drie brieven van den Kunstschilder Johannes Baptiste van der Pluym (Three Letters by the Painter Johannes Baptiste van der Pluym, 1943). Another fascinating Tarnschrift is Albert Helman’s Aldus sprak Zarathustra (Thus Spoke Zarathustra, 1944), a critical portrait of Germany’s authoritarian history composed of quotes taken from German authors such as Christian Schubart, Ludwig Tieck, Ludwig Börne, and Heinrich Heine. Few poems in Dutch literature contain a more radical confrontation with existential questions than those of Herman Salomonson in Recrutenschool (School for Recruits, 1941). As a “crusader of Christ,” Salomonson opposed Nazism from a Christian perspective and condemned the cowardice of all those who before the invasion spoke loudly about resistance but became silent as soon as danger threatened. The assumption that critical voices about the general passiveness of the Dutch population during the occupation could only be heard

1 Anm. d. Red.: Als Tarnschrift bezeichnet man ein Schriftstück, dessen Urheber*in und Aussage bewusst kaschiert werden, etwa durch die Verwendung von Pseudonymen, falschen Werktiteln und unauffälligen Umschlägen.

„Drie brieven van den Kunstschilder Johannes ­Baptiste van der Pluym“ (Drei Briefe des Malers Johannes ­Baptiste van der Pluym), Tarnschrift mit Briefen von Etty Hillesum aus dem Lager Westerbork, 1943 Drie brieven van den Kunstschilder Johannes Baptiste van der Pluym (Three Letters by the Painter Johannes Baptiste van der Pluym), Tarnschrift (camouflaged publication) with letters by Etty Hillesum from Westerbork Camp, 1943

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Untergrundliteratur


nierende Tarnschrift ist „Aldus sprak Zarathustra“ (So sprach Zarathustra, 1944) von Albert Helmans, ein kritisches Porträt der autoritären deutschen Geschichte, das aus Zitaten deutscher Autoren wie Christian Schubart, Ludwig Tieck, Ludwig Börne und Heinrich Heine besteht. Nur wenige Gedichte in der niederländischen Literatur setzen sich so radikal mit existenziellen Fragen auseinander wie die von Herman Salomonson in „Recrutenschool“ (Rekrutenschule, 1941). Als „Kreuzritter Christi“ trat Salomonson dem Nationalsozialismus aus einer christlichen Haltung heraus entgegen und verurteilte die Feigheit all derer, die zwar vor dem Einmarsch lautstark von Widerstand sprachen, aber schwiegen, sobald Gefahr drohte. Dass kritische Stimmen über die allgemeine Passivität der niederländischen Bevölkerung während der Besatzung erst nach der Befreiung laut wurden, ist ein Mythos. Solche Stimmen waren in der Untergrundliteratur laut und deutlich zu vernehmen, und zwar von Autor*innen, die mit ihrer Kritik nicht nur die rebellierende Nachkriegsgeneration der 1960er-Jahre vorwegnahmen, sondern dies zu einer Zeit taten, als Protest tödliche Folgen haben konnte. Eines der anrührendsten ­Beispiele ist Martinus Nijhoffs Neufassung seines Gedichts „De kinderkruistocht“ (Der Kinderkreuzzug). Während die erste Fassung sich mit einer unbestimmten Vergangenheit auseinandersetzte, richtet sich der „Moderne kinderkruistocht“ voller Empörung gegen die passive und manchmal sogar kollaborative Haltung der niederländischen Gesellschaft gegenüber dem Drama der jüdischen Kinder, das sich vor den Augen der Öffentlichkeit abspielte. Vielleicht liegt die Bedeutung der Untergrundliteratur aber vor allem darin, dass das Vertrauen in das geschriebene Wort aufrechterhalten werden konnte. Bemerkenswerterweise erreichte der Glaube an die Macht der Literatur in den Niederlanden ausgerechnet zu dem Zeitpunkt seinen Höhepunkt, als die deutsche Propaganda die Literatur derart instrumentalisierte, dass die traditionelle Auffassung vom Buchdruck als Verbündetem des Humanismus untergraben wurde. In den besetzten Niederlanden gelang es den Akteur*innen der geheimen Buchproduktion, ein Gegengewicht zu diesem Missbrauch der Literatur zu schaffen. Ihre ästhetische Qualität war vielleicht nicht so glänzend, wie es sich manche gewünscht hätten, aber in einer Zeit völliger Dunkelheit verbreitet selbst die kleinste Flamme viel Licht.

after the liberation is, in fact, a myth. Those voices were to be heard loud and clearly in clandestine literature by authors who not only anticipated the rebellious post-war generation of the 1960s in their criticism but did so at a time when protest could have deadly consequences. One of the most touching examples is Martinus Nijhoff’s new version of his poem “De kinderkruistocht” (The Children’s Crusade). While the previous version dealt with a topic from a vague past, ­“Moderne kinderkruistocht” (Modern Children’s Crusade) points angrily at the passive and sometimes even collaborative attitude in Dutch society vis-à-vis the Jewish children’s drama that was taking place before the public’s eyes. Perhaps more than anything else, however, the importance of clandestine literature lies in the fact that faith in the written word could be maintained. It is remarkable that the belief in the power of literature reached its height in the Netherlands precisely at a time when German propaganda misused literature in such a way that the traditional perception of printing as an ally of humanism became corrupted. In the occupied Netherlands, clandestine printing had been able to produce a contrast to this abuse of literature. Its aesthetic quality was perhaps not as bright as some had hoped, but at a time of total darkness, even the smallest flame sheds a lot of light. This article offers a summary, in slightly revised form, of Spirit of Resistance: Dutch Clandestine Literature during the Nazi Occupation. Rochester, NY: Camden House, 2010.

Dieser Beitrag ist eine Zusammenfassung mit einigen überarbeitenden Ergän­ zungen von Jeroen Dewulf, Spirit of Resistance. Dutch Clandestine Literature during the Nazi Occupation, Rochester, NY 2010.

Clandestine Literature

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Jeroen Dewulf ist Professor am Fachbereich Germa­ nistik und Niederlandistik der University of California, Berkeley. Als Inhaber des Königin-Beatrix-Lehrstuhls leitet er die Abteilung für Niederlandistik in Berkeley. Seine Spezialgebiete sind darüber hinaus Kolonial­ geschichte, Sprache und Identität, Kulturanthropologie, Postkoloniale und Kosmopolitistische Theorie. Jeroen Dewulf is Professor at the UC Berkeley Department of German & Dutch Studies. As the incumbent of the Queen Beatrix Chair, he is director of Berkeley’s Dutch Studies Program. His areas of specialization are Colonial History, Language and Identity, Cultural Anthropology, Postcolonial and Cosmopolitan Theory.


Jüdische Flüchtlinge in den Niederlanden 1933–1945 Jewish Refugees in the ­Netherlands 1933–45

Rund 24.000 Jüdinnen und ­Juden aus Deutschland ­flohen in den 1930er-Jahren in die ­benachbarten Niederlande. ­Tausende weitere passierten das kleine Land auf ihrer Durch­ reise in andere Länder. Mit dem Einmarsch der deutschen ­Truppen im Mai 1940 fand die erhoffte Zuflucht in den Nieder­ landen ein jähes Ende. Roughly 24,000 Jews fled ­Germany to the neighboring Netherlands in the 1930s. ­Thousands more passed through the small country on their way abroad. When German troops invaded the Netherlands in May 1940, the longed-for ­ refuge t­ here had come to an abrupt end. Text

Christine Kausch

Hilfsaufruf des Komitees für jüdische Flüchtlinge, 1937 Relief campaign of the Committee for Jewish Refugees, 1937


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DE „Ich liebe die Niederländer, liebe unser Land, ich liebe die Sprache und möchte hier arbeiten.“ 1 Diese Zeilen schrieb Anne Frank am 11. April 1944 in ihrem Amsterdamer Versteck. Seit zehn Jahren lebte die ­damals 14-Jährige bereits in den Niederlanden, die ihr ­dadurch deutlich vertrauter waren als Deutschland, das sie nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten mit ihrer Familie verlassen hatte. Ihr berühmtes Tagebuch schrieb sie nicht in ihrer Muttersprache, sondern auf Niederländisch. Ihr junges Alter und der Kindergarten- und Schulbesuch hatten es ihr – im Gegensatz zu anderen Zufluchtsuchenden – in den 1930er-Jahren erleichtert, sich in den Niederlanden ­einzuleben. Die geographische Nähe, das positive Bild als tolerantes Land der Glaubensfreiheit sowie die Neutralität während des Ersten Weltkriegs machten die Niederlande auf den ersten Blick als Einwanderungsland durchaus attraktiv; zumal es anfangs kaum Beschränkungen für deutsche Staatsangehörige gab: Man benötigte kein Visum, eine Niederlassung war – wenn man über ausreichend Finanzmittel verfügte – grundsätzlich möglich, und auch auf dem Arbeitsmarkt gab es für Neuankömmlinge Anfang 1933 keine größeren Hindernisse. Das sollte sich aber bald ändern. Einen Großteil der Emigrant*innen zog es nach Amsterdam, wo sich besonders im Süden der Stadt viele Jüdinnen und Juden aus Deutschland niederließen. Emigranten-Cafés und Geschäfte entstanden und Deutsch war häufig auf den Straßen zu hören. Künstler wie der Kabarettist Rudolf Nelson brachten mit ihren Auftritten „ein Stück Berlin“2 mit nach Amsterdam und für Exilautor*innen gab es mit dem Allert de Lange Verlag und dem Querido Verlag gleich zwei Verlagshäuser, die ihre Werke auf Deutsch publizierten. Die räumliche Nähe ermöglichte es, in der fremden Stadt relativ leicht Kontakte untereinander aufzubauen und sich über das gemeinsame Schicksal austauschen zu können. Zugleich trug dies aber auch zu einer gewissen Absonderung bei, die im niederländischen Umfeld nicht immer positiv aufgenommen wurde. Insbesondere die geistige Bindung an Deutschland, die auch nach der Flucht oftmals bestehen blieb, war manchen ein Dorn im Auge. So hieß es etwa 1938 im Het Liberale Weekblad: „Die natürliche Sympathie, die wir den jüdischen Emigranten entgegenbringen, und unsere von Herzen kommende Hilfsbereitschaft werden hierzulande beeinträchtigt durch diejenigen Emigranten, die uns unsympathisch sind, nicht, weil sie deutsche Juden, sondern weil sie deutsche

EN “I love the Dutch, I love this country, I love the language, and I want to work here.” 1 Anne Frank wrote those lines on Tuesday, April 11, 1944, while in hiding in Amsterdam. Then fourteen years old, she had already spent ten of those years in the Netherlands, which was therefore much more familiar to her than Germany, which she had abandoned with her family after the Nazis came to power. She wrote her famous diary not in her mother tongue, but in Dutch. Her youth and the fact that she had gone to kindergarten and elementary school in Amsterdam made it easier for her—in contrast to others seeking refuge­—to feel at home in the Netherlands of the 1930s. The geographic proximity and its positive image as a tolerant country with religious freedom, as well as its neutrality during the First World War initially made the Netherlands an attractive place to immigrate to, especially since there were hardly any restrictions for German citizens. No visa was required and it was generally possible to settle there—if you had sufficient financial resources. Also, in early 1933 there were no major barriers on the labor market for newcomers. That would soon change, however. Most of the émigrés were drawn to Amsterdam, where many German Jews settled, especially in the southern part of the city. Émigré cafes and shops opened and German could often be heard on the street. Artists, such as the cabaret artist Rudolf Nelson, brought “a piece of Berlin”2 with them to Amsterdam and for authors in exile, there were two publishing houses—Allert de Lange and Querido—that published their works in German. Living in the same neighborhood made it possible for newcomers to get to know each other relatively easily in the unfamiliar city and discuss their shared fate. At the same time, however, it also led to a certain segregation that was not always viewed positively by those around them. In particular, the ties to Germany that remained intact even after the refugees fled was sometimes a thorn in the side of their Dutch neighbors. In the Dutch weekly Het Liberale Weekblad, for instance, around 1938 someone wrote: “The natural sympathy we have for the Jewish émigrés and our heartfelt willingness to help are diminished in this country by those émigrés whom we find disagreeable not because they are German Jews but rather because they are German Jews. Their preference for the German language and German customs and their glorification of Germany in contrast to Holland are offensive, not only to our national spirit but also to our philosemitic feelings. We recently received a letter from an

1 „Ik houd van de Nederlanders, ik houd van ons land, ik houd van de taal, en wil hier werken.“, in deutscher Übersetzung: Das Tagebuch der Anne Frank, 12. Juni 1942 – 1. August 1944, Frankfurt a.M. 1990, S. 158. 2 Eleonore Hertzberger, Durch die Maschen des Netzes. Ein jüdisches Ehepaar im Widerstand gegen die Nazis, Zürich/München 2000, S. 35.

1 “Ik houd van de Nederlanders, ik houd van ons land, ik houd van de taal, en wil hier werken.”; English translation from Anne Frank, The Diary of a Young Girl: The Definitive Edition, ed. Mirjam Pressler, trans. Susan Massotty, New York: Doubleday, 1995, in: Anne Frank, The Collected Works, London: Bloomsbury Continuum, 2019, 164. 2 Eleonore Hertzberger, Durch die Maschen des Netzes. Ein jüdisches Ehepaar im Widerstand gegen die Nazis, Zurich and Munich: Pendo, 2000, 35.

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Jüdische Flüchtlinge in den Niederlanden


Junge Männer beim Kartenspielen im Flüchtlingslager Westerbork, 1941 Young men playing cards in front of a barrack in the Westerbork refugee camp, 1941 Jewish Refugees in the Netherlands

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Juden sind. Ihre Vorliebe für die deutsche Sprache, die deutschen Sitten, ihre Verherrlichung Deutschlands im Vergleich zu Holland sind widerwärtig, nicht nur für unser Nationalgefühl, sondern auch für unsere philosemitischen Gefühle. Kürzlich empfingen wir einen Brief von einer gebildeten Dame, die wirklich sehr viel für die Sache der Juden und der Emigranten getan hat. Sie schrieb uns: Ich ‚koche‘ wenn ich sehe, wie Amsterdam sich in eine deutsche Stadt verwandelt.“3 Auch von Seiten der niederländischen Regierung wurde die Ankunft der Flüchtlinge von Anfang an mit Skepsis betrachtet. Die Folgen der Weltwirtschaftskrise waren in dem kleinen Land noch bis weit in die 1930er-Jahre zu spüren und gingen mit einer hohen Arbeitslosigkeit einher. Teils begründete, teils vorgeschobene Sorgen um den eigenen Arbeitsmarkt trugen – ebenso wie etwa die Angst vor einer „Überfremdung“4 des Landes oder vor einer Zunahme des Antisemitismus – dazu bei, dass die niederländische Regierung ihre zunächst abwartende Haltung aufgab. Bereits 1933/34 wurden mehrere Gesetze geändert bzw. neu erlassen, die Auswirkungen auf die Arbeitsmöglichkeiten von Ausländer*innen hatten. Insbesondere in akademischen Berufen, beispielsweise als Ärztin oder Jurist, war es dadurch sehr schwer, weiterhin arbeiten zu können. Zudem benötigten ausländische Arbeitnehmer*innen in immer mehr Branchen eine Arbeitserlaubnis. Zwangsläufig versuchten viele Flüchtlinge daher ihr Glück als Unternehmer, vor allem im Industrieoder Handelssektor. Ab 1937 wurde Ausländer*innen jedoch auch die Gründung eines eigenen Unternehmens erschwert. Wer es nicht schaffte, in den Niederlanden beruflich Fuß zu fassen, versuchte in der Regel in ein anderes Land weiterzuwandern. In der Zwischenzeit waren viele mittellos gewordene Flüchtlinge auf die Hilfe einer eigens gegründeten jüdischen Hilfsorganisation, dem Comité voor Joodsche Vluchtelingen, angewiesen. Schließlich wurden auch die Einreise- und Nieder­ lassungsmöglichkeiten begrenzt. Ab Mai 1938 galten Flüchtlinge „als ein unerwünschtes Element für die niederländische Gesellschaft“5; die Einreise war ihnen nun nahezu gänzlich verwehrt. Erst die gewaltsamen antijüdischen Ausschreitungen in Deutschland im November 1938 führten zu einem vorübergehenden Kurswechsel der niederländischen Regierung. Etwa 10.000 Jüdinnen und Juden konnten in den folgenden Monaten in die Niederlande einreisen; darunter auch einige, die die Grenze heimlich überquert hatten. Ein Teil der Neuankömmlinge musste in Flüchtlingslagern leben,

educated woman who had really done a lot for the cause of the Jews and the émigrés. She wrote to us: I ‘boil’ when I see how Amsterdam is turning into a German city.”3 From the outset, the arrival of the refugees was viewed skeptically also by the Dutch government. The repercussions of the world economic crisis could be felt in the small country well into the 1930s, and unemployment was high. The Dutch government abandoned its original wait-and-see attitude due to worries about its labor market, some justified, others more of a pretext. It was also afraid of foreign domination or increased antisemitism. As early as 1933–34, a number of laws were amended or passed that impacted the work options for foreigners. In professions requiring a university degree, such as medicine and law, it became very difficult to continue working. Also, foreign workers in an increasing number of fields then needed a work permit. Many refugees inevitably tried their luck as entrepreneurs, especially in the industrial and trade sector. Starting in 1937 it was made more difficult for foreign nationals to start their own business. Anyone who could not manage to establish themselves professionally in the Netherlands generally attempted to emigrate further to another country. Meanwhile, many refugees who had become destitute became dependent on the assistance of the Comité voor Joodsche Vluchtelingen (Committee for Jewish Refugees), a Jewish charitable organization founded specifically for that purpose. Ultimately, the options for entering and settling in the country also became limited. As of May 1938, refugees were regarded as “an undesirable element for Dutch society”4 and entry became virtually impossible. The violent anti-Jewish pogroms in Germany in November 1938 led the Dutch government to temporarily change its course. Roughly 10,000 Jews were able to enter the Netherlands in the months that followed, including some who had crossed the border in secret. Some of the newcomers had to live in provisional refugee camps, and starting in the fall of 1939 many were placed in Westerbork, the Central Refugee Camp built for that purpose. Later declared a transit camp by the German occupiers, Westerbork became the starting point for most of the deportation trains departing from the Netherlands. From the perspective of the Dutch government, the Netherlands was to be merely a transit country for the newly arriving refugees from Germany. Their professional and social integration was not desired, so they were generally condemned to inactivity. An entry in Hans Jacoby’s diary clearly expresses what a burden that

3 Het Liberale Weekblad, 15. Juli 1938, zit. nach: Dan Michman „Die jüdische Emigration und die niederländische Reaktion zwischen 1933 und 1940“, in: Kathinka Dittrich / Hans Würzner: Die Niederlande und das deutsche Exil 1933–1940, Königstein/Ts. 1982, S. 73–90, hier S. 80. 4 Michman: Die jüdische Emigration, S. 77. 5 Runderlass Carel Goseling 7. Mai 1938, zit. nach: Corrie K. Berghuis, Joodse vluchtelingen in Nederland 1938–1940. Documenten betreffende toelating, uitleiding en kampopname, Kampen 1990, S. 223 (Übersetzung aus dem Niederländischen).

3 Het Liberale Weekblad, July 15, 1938, cited in part in: Katja Happe, Michael Mayer, and Maja Peers, eds. The Persecution and Murder of the European Jews by Nazi Germany, 1933–1945, vol. 5: Western and Northern Europe 1940–June 1942, Dutch documents translated by David Lee and Hilde ten Hacken Munich: Oldenbourg, 2012, 18. 4 Circular directive of (Minister of Justice) Carel Goseling May 7, 1938, cited in Corrie K. Berghuis, Joodse vluchtelingen in Nederland 1938–1940. Documenten betreffende toelating, uitleiding en kampopname, Kampen: Kok, 1990, 223; cited in English in: The Persecution and Murder of the European Jews by Nazi Germany, 1933–1945, 141.

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ab Herbst 1939 unter anderem im eigens errichteten Zentralen Flüchtlingslager Westerbork, das später von den deutschen Besatzern zum Polizeilichen Durchgangslager erklärt und zum Ausgangspunkt der meisten Deportationszüge aus den N ­ iederlanden wurde. Aus Sicht der niederländischen Regierung sollten die Niederlande für die neu eingetroffenen Flüchtlinge nur ein Durchgangsland sein: Ihre berufliche und soziale Integration war nicht erwünscht, mit der Folge, dass sie in der Regel zum Nichtstun verdammt waren. Was für eine Belastung das für die Betroffenen ­darstellen konnte, verdeutlicht ein Ta­ gebucheintrag des Malers Hans Jacoby. Der ­gebürtige Dresdener, der die deutsch-niederländische Grenze Ende 1938 heimlich überquert hatte und deshalb in einem speziellen Lager für illegal eingereiste Flüchtlinge leben musste, schrieb am 20. November 1939: „Gestern, auf den Tag, bin ich elf Monate interniert. Welch lange Zeit ist da unnütz für mich vergeudet, ich könnte verrückt werden, wenn ich daran denke. Elf Monate, in dieser Zeit kann sogar ein Elefant ein Junges kriegen, u. ich hab nichts tun können als dasitzen u. warten.“6 Entsprechend setzten die meisten dieser Flüchtlinge alles daran, um in ein anderes Land weiteremigrieren zu können. Das war jedoch alles andere als einfach, da – noch verschärft durch den Kriegsausbruch 1939 – immer weniger Länder bereit waren, Flüchtlinge aufzunehmen. Im Gegensatz zu Hans ­Jacoby, der es Anfang 1940 noch schaffte nach Shanghai weiterzureisen, befand sich die Mehrheit von ihnen weiterhin in den Niederlanden, als im Mai 1940 die deutsche Wehrmacht einmarschierte.

represented for those affected. Born in Dresden, the painter Jacoby had secretly crossed the German-Dutch border in late 1938 and thus he was placed in a special camp for refugees who entered the country illegally. On November 20, 1939, he wrote: “As of yesterday I have been interned for exactly eleven months. What a long time has been senselessly squandered for me; I could go crazy if I think about it. Eleven months. In that amount of time even an elephant can give birth and I have nothing to do besides sitting around and waiting.”5 Consequently, most of these refugees did all they could to be able to emigrate further. That was anything but simple­—and it became even more difficult once the war started in 1939, as fewer and fewer countries were willing to take in refugees. In contrast to Hans Jacoby, who managed to travel to Shanghai in early 1940, a majority of these refugees were still in the Netherlands when the German Wehr­macht invaded in May 1940. A total of roughly 16,000 Jews who had fled the Nazis, some as early as 1933, were living in the Netherlands at that time and in the following years they again had to endure persecution. Anti-Jewish measures and laws were then introduced there and both local and foreign Jews were increasingly stripped of all rights, pushed out of their jobs, and socially ostracized. Initially, it was the Jewish refugees in particular who became caught in the crosshairs of the occupiers. They were the first to suffer arrests, forced relocation, and registration. Preliminary plans forged by the occupiers were to deport the Jewish émigrés first. Thus, the foreign Jews were the first in late 1941 to be forced to register for a supposed “emigration” and provide detailed information

Hans Jacoby in Shanghai, 1940 Hans Jacoby in Shanghai, 1940 6 Hans Jacoby: Aus meinem Tagebuch in Holland, Eintrag vom 20. November 1939, Leo Baeck Institut (LBI), MM 113. Jewish Refugees in the Netherlands

5 Hans Jacoby, Aus meinem Tagebuch in Holland (March 1940), entry for ­November 20, 1939 (original in German), Leo Baeck Institut (LBI), MM 113.

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Ab dem Frühjahr 1941 wurden die sogenannten „Judenviertel“ von den Besatzern mit Schildern gekennzeichnet. Starting in the spring of 1941, the so-called "Jewish quarters" were marked with signs by the occupying forces.

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Rund 16.000 Jüdinnen und Juden, die vor den ­ atio­nalsozialisten geflohen waren, befanden sich zu diesem N Zeitpunkt noch in dem kleinen Land. Erneut waren sie in den folgenden Jahren der Verfolgung ausgeliefert: Antijüdische Maßnahmen und Gesetze wurden nun auch in den Niederlanden eingeführt und die einheimischen wie ausländischen Jüdinnen und Juden zunehmend entrechtet, aus ihren ­Berufen verdrängt und sozial ausgegrenzt. Die jüdischen Flüchtlinge gerieten anfangs besonders in den Fokus der Besatzer: Sie waren als Erste Verhaftungen, Zwangsumsiedlungen und Registrierungen ausgesetzt. Pläne der Besatzer, die jüdischen Immigrant*innen zuerst zu deportieren, wurden vorbereitet. So wurden diese Ende 1941 gezwungen, sich zur vermeintlichen „Auswanderung“ zu registrieren und dabei detaillierte Auskünfte über ihr Vermögen zu machen. Kurz darauf wurden Hunderte Menschen zu einem Umzug nach Westerbork gezwungen. Durch ihre früheren Erfahrungen mit den Nationalsozialisten und die eintreffenden Deportationsberichte aus Deutschland zusätzlich alarmiert, führten diese Ereignisse mit dazu, dass ein Teil der geflohenen Jüdinnen und Juden frühzeitig Maßnahmen ergriff, sich zu retten. Manche versuchten in unbesetzte Länder wie die Schweiz zu fliehen, andere fingen an, Verstecke für den Ernstfall vorzubereiten oder tauchten bereits dauerhaft unter. Als im Juli 1942 die systematischen Deportationen – sowohl der deutschen als auch der niederländischen Jüdinnen und Juden – aus den Niederlanden anfingen, waren einige vorbereitet. Darunter auch die Familie von Anne Frank, deren Vater Otto Frank bereits Monate zuvor mit dem Herrichten des Verstecks begonnen hatte. Andere versuchten den Deportationen durch eine vorläufige „Rückstellung“, wie sie etwa an Mitarbeiter*innen des auf deutschen Befehl errichteten Judenrates vergeben wurde, zu entkommen. Letztendlich konnten jedoch nur die wenigsten ihr Leben und das ihrer Familien retten. Mehr als 100.000 Menschen und damit rund 75 Prozent der damals in den Niederlanden lebenden Jüdinnen und Juden wurden von den Deutschen ermordet.

about their assets. A short time later hundreds of them were forced to move to Westerbork. Additionally alarmed by their early experiences with the Nazis and the reports of deportations that they were receiving from Germany, these events led some of the Jewish refugees to take action very early on to save themselves. Some tried to flee to unoccupied countries such as Switzerland and others started preparing hiding places for the worst-case scenario, or they proactively went into long-term hiding. When the systematic deportations of Jews in the Netherlands— both German and Dutch Jews—began in July 1942, some were prepared. Among those were the family of Anne Frank, whose father Otto Frank had already spent months setting up their hiding place. Others tried to avoid deportation by obtaining a provisional “deferment,” as were given to members of the Jewish Council (Judenrat) that was established on orders of the Germans. In the end, however, only very few were able to save themselves and their families. More than 100,000 people—around 75 percent of the Jews living in the Netherlands at the time—were murdered by the Germans. The present text is a revised summary of Christine Kausch: Zuflucht auf Zeit. Juden aus Deutschland in den Niederlanden 1933–1945, Göttingen: Wallstein Verlag, spring 2024.

Der vorliegende Text ist eine überarbeitete Zusammenfassung von C ­ hristine Kausch, Zuflucht auf Zeit. Juden aus Deutschland in den Niederlanden 1933–1945, Wallstein Verlag, Göttingen, Frühjahr 2024.

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Christine Kausch studierte Geschichte, Politik- und Musikwissenschaft in Bochum, Sydney und Groningen. Sie schrieb ihre Doktorarbeit über jüdische Flüchtlinge in den Niederlanden 1933–1945 an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Aktuell ist sie in Berlin als Bildungsreferentin in der (historischen) Vermittlungs­ arbeit tätig und gibt unter anderem Führungen im Jüdischen Museum Berlin. Christine Kausch studied history, political science, and musicology in Bochum, Sydney, and Groningen. She wrote her doctoral thesis on Jewish refugees in the Netherlands 1933–1945 at the Westphalian W ­ ilhelm University in Münster. She is presently working in historic-­political education and is a tour guide at the Jewish Museum Berlin.


10. März 1945 10 March 1945

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Artikel_Headline_DE


Kraftquelle Kreativität Creativity, a Source of Strength Ein Interview mit Gerard Groeneveld An Interview with Gerard Groeneveld

Gerard Groeneveld ist der Verfasser des Buches Het ­Onderwater Cabaret – Satirisch verzet van Curt Bloch (Curt Blochs Satirischer Widerstand), das im November 2023 bei WBooks in den Niederlanden erschien. Er hat fast drei Jahre lang zu Curt Blochs außergewöhnlichem Werk geforscht, und wenn er in die Vergangenheit reisen könnte, hätte er viele Fragen an den Autor. Gerard Groeneveld is the author of the book Het Onderwater Cabaret—Satirisch verzet van Curt Bloch (Curt Bloch’s Satirical Resistance), published in the ­Netherlands by WBooks in November 2023. He spent almost three years researching Curt Bloch’s extraordinary work, and would have many q ­ uestions for Curt Bloch if he could travel back in time.

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DE JMB: Wie erfuhren Sie von Curt Bloch und seiner Arbeit? Gerard Groeneveld: Einer meiner Bekannten, Marcel van den Boogert, hatte Kontakt zu Simone Bloch. Er erzählte mir vom Nachlass ihres Vaters, der von 1943 bis 1945 untergetaucht war und eine Zeitschrift namens Het Onderwater-Cabaret herausgebracht hatte. Mein erster Gedanke war: Was für ein treffender Titel! Marcel sagte mir, dass Simone auf der Suche nach jemandem sei, der die Zeitschrift wissenschaftlich untersuchen oder ein Buch über sie schreiben könnte. Nachdem ich mehr darüber erfahren hatte, wurde ich neugierig und beschloss, das Projekt zu übernehmen. Doch es war zunächst schwierig, einen Verlag zu finden, der ein Buch zu diesem Thema herausbringen würde, oder ein Museum für die Ausstellung der Werke.

EN Aber obwohl ich mich intensiv mit dem Krieg und der Nazi-Besatzung in den Niederlanden beschäftigt habe, war mir so etwas wie das OWC noch nie begegnet: Hier setzte jemand seine Kreativität nicht nur ein, um Gedichte zu schreiben oder eine Zeitschrift zu gründen, sondern um jede Woche ein „Cabaret“ zusammenzustellen, eine wöchentliche Auswahl von Gedichten und Skizzen mit unglaublichen Titelseiten. Es gibt nur ein weiteres bekanntes Beispiel für eine Untergrundzeitschrift, die, wie das OWC, in je nur einem Exemplar kursierte: De schone zak­doek (Das saubere Taschentuch). Aller­ dings wurde sie von einer größeren Gruppe Künstler*innen gestaltet und erschien etwa alle zwei Mo­­nate, und nicht, wie das OWC, jede Woche. Jede Woche!

Können Sie sich erklären, warum das so war?

Curt Bloch war auch ei­ ner unter ganz wenigen, die ihre Werke manuell herstellten. Gibt es noch etwas, das das OWC ­einzigartig macht?

Vielleicht ist eine solche Geschichte schon zu oft erzählt worden. In den Niederlanden sind viele Menschen in Verstecken untergetaucht; am bekanntesten ist natürlich Anne Frank mit ihrer Fa-

Ja, die Form des satirischen Cabarets – das OWC war für die Bühne bestimmt. Außerdem die Tatsache, dass es erst nach so vielen Jahren bekannt geworden ist. Wir wissen natürlich nicht, was

Gerard Groeneveld: An acquaintance of mine, Marcel van den Boogert, had gotten into contact with Simone Bloch; he told me of the legacy of her father who, while in hiding from 1943 to 1945,

noch alles im Verborgenen schlummert, aber bisher gibt es nichts, das mit dem OWC vergleichbar wäre. Es ist absolut einzigartig. So wie Curt Bloch selbst.

is only one other known example of an underground magazine distributed in just one copy, and that’s De schone zakdoek, the Clean Handkerchief. But that was created by artists, in a big group of people, and published every two months or so, not every week like the OWC. Every week!

What a well-chosen title! created a magazine called Het Onderwater-Cabaret. My first reaction was: What a well-chosen title! Marcel told me that Simone was looking for somebody who could carry out a study on the magazine or write a book about it. Learning more, I became curious— and I decided to take on the project. But at first it was difficult to find a publisher for a book or a museum to exhibit the works. Why?

Es ist absolut einzig­artig. So wie Curt Bloch selbst. milie und Freunden. Es gibt zahlreiche Untergrundzeitschriften und -publikationen aus dieser Zeit und eine Fülle historischer Erkenntnisse darüber.

JMB: How did you hear about Curt Bloch and his work?

Well, maybe it is a story too often told. In the Netherlands, many people went into hiding, among them, of course, Anne Frank. We have a lot of underground magazines and publications from that period and a lot of historical information. But despite working extensively on the war and Nazi occupation in the Netherlands, I had never before come across anything quite like this: here, somebody is using his creativity not only to write some poems or to start a magazine, but to compose a weekly “cabaret,” a weekly collection of poems and sketches including amazing covers! There

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Also, Curt Bloch was one of the very few who did work like this by hand, wasn’t he? Is there any­ thing else that makes the OWC stand out? Yes, its form as a satirical cabaret—the OWC is meant to be put on stage. This, and the fact that it came to light after so many years. Of course, we don’t know what else might still be lurking in the dark, but so far there’s nothing like the OWC. It is absolutely unique. As was Curt Bloch himself. What impression of Curt Bloch did you get while working on your book? Could you describe what kind of man he was? He’s definitely somebody I would like to meet, quite apart from his work and the OWC. He was an interesting character with a great sense of humor—and he never lost his curiosity. He had a broad horizon; we know he had received a classical education and was a very cultured person. What’s remarkable in his work is that he starts out with a lot of classical material, things he learned at the Gymnasium, the GerKraftquelle Kreativität


DE Welchen Eindruck haben Sie im Verlauf der Arbeit an Ihrem Buch von Curt Bloch gewonnen? Er war definitiv jemand, den ich gerne kennengelernt hätte, auch jenseits seiner Arbeit und des OWC. Er war eine interessante Persönlichkeit mit einem wunderbaren Sinn für Humor, und er hat seine Neugierde nie verloren. Er hatte einen weiten Horizont. Er hat eine klassische Ausbildung genossen, war ein ausgesprochen kultivierter Mensch. Bemerkenswert ist, dass er sich anfangs viel aus dem klassischen Wissen bediente, das er auf dem Gymnasium erworben hatte. Aber im Laufe der Zeit passten sich seine Texte an sein Publikum an – vermutlich Menschen, die nicht den gleichen Bildungshintergrund hatten. Er verfügte über ein ausgeprägtes Gespür für Kritik und Rezension, vermutlich, weil er Jura studiert hatte. Außerdem war er überaus scharfsichtig, und als jemand, der miterlebt hatte, wie die Nazis an die Macht kamen, verurteilte er von Anfang an entschieden, wofür sie standen – und nicht nur, weil er Jude war. Gibt es etwas, das Sie überrascht hat? Die künstlerische Gestaltung der Titelseiten! Außerdem fand ich interessant, dass Bloch nicht nur gegen Nazi-Größen angeschrieben hat. Es gibt zwar zahlreiche Gedichte über Hitler, Göring und Goebbels, aber er wandte sich auch direkt an die deutsche Bevölkerung. Warum machte er das? Vielleicht, weil das OWC in einem kleinen, Creativity, a Source of Strength

EN ausgewählten Kreis anderer deutscher Oonderduiker (Untergetauchter) zirkulierte. Oder weil er hoffte, dass das OWC nach dem Krieg zur Umerziehung verwendet werden könnte. Was mich ebenfalls überraschte, war sein detailliertes Wissen über die Geschehnisse in den besetzten Niederlanden. Er las eine Reihe von Zeitungen, auch wenn diese in Kriegszeiten natürlich an der deutschen Nazi-Politik ausgerichtet waren. Aber Bloch gelang es, weitergehende Informationen daraus zu ziehen, indem er sich die Werbeanzeigen ansah oder die verheerende Entwicklung des Krieges verfolgte. Er durchschaute die deutsche Propaganda und setzte sich in seinen Gedichten mit den Falschmeldungen auseinander. Als er 1943 mit dem OWC begann, wusste er, dass sich das gesamte Deutsche Reich bereits im Niedergang befand. Was würden Sie Curt Bloch fragen, wenn Sie die Möglichkeit hätten, ihn zu treffen? Oh, ich hätte viele Fragen! Die wichtigste wäre: Was geschah noch während seiner Jahre im Versteck? Wenn man sich wie ich mit Geschichte befasst und auch zu den Kollaborateuren forscht, kann man auf viele Quellen wie Gerichtsakten und Urteile zurückgreifen. Aber zu untergetauchten Menschen gibt es nichts. Ich wusste zunächst gar nicht, wo ich ansetzen sollte. Curt Bloch versteckte sich in Enschede. Das war sein Glück, denn der dortige „Judenrat“ war sich der heiklen Lage sehr viel

man high school. But later his texts adapt to his audience—presumably people who did not have the same educational background. He had a keen sense of criticism, I assume because he studied law. He was a very perceptive person, and having witnessed the Nazis coming to power, he harshly condemned what they stood for from the very beginning—and not just because he was Jewish.

Curt Bloch was also hoping the OWC would be used for reeducation after the war. Another thing that surprised me was his detailed knowledge of what was going on in the Netherlands. He read a lot of newspapers, though of course during wartime these were aligned with Nazi German policy. But Bloch managed to go beyond that, for example by looking at advertisements or by reading about the disastrous

He was a very per­ ceptive person, and having witnessed the Nazis coming to power, he harshly condemned what they stood for from the very beginning— and not just because he was Jewish. Was there anything that surprised you? Well, the art on the covers itself surprised me. What struck me as well was the fact that Bloch didn’t only write against the Nazi big shots. There are a lot of p ­ oems about Hitler or ­Goering or Goebbels, yes, but he also addressed the German population directly. Why did he do that? Perhaps because the OWC circulated among a small, select audience of other German onderduikers (people in hiding, lit. who had “dived underwater”). Or maybe

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development of the war—he looked through the German propaganda, and addressed in his poems the fake news. So when he started the OWC in 1943, he knew that the whole German Reich was already in decline. What would you ask Curt Bloch if you had had the chance to meet him? Oh, I’d have a lot of questions! The most important being: What happened during his years in hiding? When studying history, as I did, looking at people who collaborated with the


DE ­ e­wusster als die „Juden­ b räte“ in anderen Städten und unterstützte die deutschen Behörden auch weniger. Und vermutlich hatte Curt Bloch bereits Kontakte. Er war ein hervorragender Netzwerker und wusste, an wen er sich wenden konnte. Er ist mit zwei anderen Personen untergetaucht. Die eine war Bruno Löwenberg, der eine Freundin hatte, Karola Wolf. Curt überredete die Familie Menneken, bei der er und Bruno untergekommen waren, auch Karola aufzunehmen, obwohl diese sich dagegen sträubten. Auch hatte Karola Tuberkulose, was Curt und Bruno natürlich niemandem sagen konnten. Zu dritt teilten sie sich den Dachboden in der Plataanstraat. Als ich das Interview mit Karola Wolf entdeckte, das sie Kati Curtis am 11. Februar 1998 für die USC Shoah Foundation gegeben hatte, war das ein großer Durchbruch bei meinen Recherchen über die Zeit, die Curt Bloch im Versteck verbracht hatte. Ihr Zeugnis war für den Lebensabschnitt Curt Blochs im Versteck entscheidend. Nachdem Karola den gemeinsamen Unterschlupf verlassen musste, begann Curt, ihr Liebesgedichte zu schreiben. Doch warum ging er dieses enorme Risiko ein? Er war ja nicht naiv. Ich würde gerne hören, was er dazu zu sagen hätte. Selbst innerhalb der Un­ tergrundliteratur ist das OWC etwas Besonderes. Welche Herausforde­ rungen stellen sich Ihrer Meinung nach, wenn man es einem breiteren Publikum zugänglich machen möchte?

EN Seine Komplexität! Normalerweise kann man in ein, zwei Sätzen erklären, woran man gerade arbeitet. In diesem Fall ist das unmöglich. Was ist das Außergewöhn­liche an Curt Bloch? Bevor er anfing, das OWC zu veröffentlichen, war er einer von vielen Jüdinnen und Juden, die sich in den Niederlanden durchzuschlagen versuchten und dann untertauchten. Man muss sehr viel erklären, um die Einzigartigkeit von Curt Blochs Werk zu begreifen. Und nach dem Krieg hör­ te er auf zu schreiben. Genau, abgesehen von zahlreichen Briefen hat er aufgehört zu schreiben. Was er im Untergrund verfasst hatte, bedeutete ihm jedoch nach wie vor sehr viel, und der Wert dieser Schriften war ihm durchaus bewusst. So hat er alle 95 Ausgaben des OWC über den Krieg gerettet. Später ließ er sie auch binden und nahm sie bei seiner Auswanderung nach New York mit, um sie zu Hause in einem Regal aufzubewahren. Schon das ist etwas ganz Besonderes! Und dann gibt es noch weitere literarische Werke von ihm, zum Beispiel ein Theaterstück, das er während des Krieges auf Deutsch geschrieben hat: Irrfahrt durch den Weltenraum. Darin sind Hitler und Mussolini bereits tot und klopfen als von der Erde vertriebene Flüchtlinge an kosmische Türen. Doch niemand lässt sie herein, niemand will irgendetwas mit ihnen zu tun haben. Weder auf dem Saturn noch auf irgendeinem anderen Planeten. Das Stück zeigt, wie man durch Kreativität seine eigenen Welten erschaffen

­ ermans, there are court G files and verdicts that were kept, there are a lot of sources. But for people in hiding, there’s nothing. It’s like walking in the dark, and I did not know where to start. Curt Bloch went into hiding in Enschede. That was his good luck because there the Jewish council was much more aware of what was going on and less helpful to the German authorities than in other towns. And I think Curt Bloch already had contacts. He was a great networker, so he knew where to go. We know that he was in hiding with two other people. One was Bruno Löwenberg, who had a girlfriend, Karola Wolf. Curt persuaded the Menneken family, who had taken him and Bruno in, to take Karola as well, although they were reluctant to do so. Besides that, she had tuberculosis—which, of course, Curt and Bruno couldn’t tell anyone. The three of them shared the attic on Plataan­ straat. Discovering the interview that Karola Wolf gave to Kati Curtis on February 11, 1998 for the USC Shoah Founda-

Even among under­ ground literature the OWC is special. What are the challenges for you in bringing it to a broader audience? Its complexity! Normally you can communicate what you’re working on in one or two sentences. Here, that’s impossible. What makes Curt Bloch stand out? There was nothing special about him before he started writing the OWC; he was one of very many Jews trying to make a living in the Netherlands and then going into hiding. You have to explain a lot in order to grasp the uniqueness of Curt Bloch’s work. And he stopped writing after the war. Yes, apart from many letters, he stopped writing. However, what he had written underground remained precious to him, and he was very much aware of its value. Not only had all ninety-five issues of the OWC survived the war, but Bloch bound them and took them with him when he emigrated to

I would love to hear his side of the story. tion was a very big break in my research on the obscure period when Curt Bloch was in hiding. Her testimony was vital for this episode. Curt started writing love poems to Karola after she had to leave the shared hiding place. Why would he do that, taking this enormous risk? He was not a naïve person. I would love to hear his side of the story.

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New York, where he kept them on a shelf in his house. You know, that’s special in itself! And then there are other literary works, for example a play he wrote in German during the war called Irrfahrt durch den Weltenraum (Odyssey through the Universe). In it, Hitler and Mussolini are already dead and expelled from Earth, and are knockKraftquelle Kreativität


DE kann, und Bloch schuf eine Welt, in der er die für sein Schicksal Verantwortlichen bestrafen konnte. Nach dem Krieg übersetzte er das gesamte Stück auch ins Niederländische und verfasste eine Version für das Puppentheater – womit die Nazis sozusagen zu seinen Marionetten wurden. Curt Blochs Wunsch war, dass das OWC nach dem Krieg zu pädagogischen Zwecken eingesetzt wür­ de. Leider wurde daraus nichts – bis jetzt. Wie kann Curt Blochs Werk Ihrer Ansicht nach die heutigen Leser*innen er­ reichen? Und mit welcher Botschaft? Das ist nicht ganz einfach, denn um die Gedichte zu verstehen, braucht man einen Kontext. Man muss erklären, wer die Menschen waren, um die es geht, man muss die Situation erklären, in der sie sich befanden. Blochs Gedichte sind nicht so universell wie Shakespeare. Zwar offenbaren

EN manche von ihnen seine persönlichen Gefühle angesichts der Ereignisse. Aber diese Gefühle stehen in einem größeren Kontext von Leid und Verzweiflung. Das OWC ist meiner Meinung nach deshalb so wichtig für nachfolgende Generationen, weil es zeigt, dass es etwas geben kann, das einen in einer ausweglosen Lage trösten kann: die eigene Kreativität. Kreativität ist eine echte Kraftquelle. Ich denke, dass dies auch ein wichtiger Teil der Arbeit von Autor*innen, Verleger*innen und Museumsmitarbeiter*innen ist. Und in gewisser Weise hat Curt Bloch genau das gewollt: Er bekommt eine Ausstellung, ein Buch und hoffentlich auch Zeitungsberichte, damit viele Menschen etwas über Het Onderwater-Cabaret erfahren. Und vielleicht hat eines Tages irgendjemand eine brillante Idee, wie man auf andere kreative Weise etwas daraus machen kann! Wir werden sehen.

Nach dem Krieg übersetzte er das gesamte Stück auch ins Niederländische und verfasste eine Version für das Puppentheater – womit die Nazis sozusagen zu seinen Marionetten wurden. Creativity, a Source of Strength

ing on cosmic doors as refugees. But nobody takes them in, no one wants anything to do with them. Not on Saturn, not on any other planet. The play illustrates how, with creativity, you can build your own worlds, and Bloch created a world in which he could punish those who were responsible for his fate. After the war, he translated the whole play into Dutch as well and made a puppet version—thus becoming the puppet master of the Nazis.

against a wider background of despair and suffering. What I think makes the OWC important for subsequent generations is the way it shows that no matter how dark your situation, there’s always something that can take you out of it: your creativity. Creativity is such a source of strength. I think this is also an important part of what authors, publishers, and museum staff do. And in a way, that’s what Curt Bloch wanted: he gets an exhibition, he gets a

After the war, he translated the w ­ hole play into Dutch as well and made a puppet version—thus ­becoming the puppet master of the Nazis. Curt Bloch’s wish was that the OWC should become a source of education after the war. Unfortunately, this didn’t happen—until today. How do you think Curt Bloch’s work could reach present-day readers? Is there a message for people today? Well, to be able to understand the poems, you have to have context. You’d have to explain who the people were, you’d have to explain the situation they were dealing with. These poems are not universal, like Shakespeare. True, some reveal Bloch’s personal feelings about what has happened. But his feelings are set

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book and hopefully articles in newspapers, so that many people find out about Het Onderwater-Cabaret. And maybe someday, somebody will have a brilliant idea on how to do something with it in another creative way! We’ll have to see. Das Interview führten / The interview was conducted by Marie Naumann & Katharina Wulffius


SEX

17.05.2024 – 06.10.2024

JÜDISCHE POSITIONEN JEWISH POSITIONS

AUSSTELLUNGSVORSCHAU UPCOMING EXHIBITION


„Unorthodox“, „Shtisel“ oder „Jewish Matchmaking“ – diese beliebten Serien und Datingshows scheinen ein überraschendes Verlangen danach zu bedienen, einen Blick in das Beziehungsleben von Jüdinnen und Juden zu werfen – seien sie u ­ ltraorthodox, säkular oder irgendwo dazwischen. Doch der Popkultur steht innerhalb der jüdischen Welt eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Thema Sex entgegen: Sexualtherapeut*innen, religiöse Persönlichkeiten und Akteur*innen aus Wissenschaft und Kunst setzen sich mit den aktuellen ge­ sellschaftlichen Herausforderungen auseinander und erkunden, was jüdische ­Sexualität heute ausmacht. Zwischen so weitverbreiteten wie widersprüchlichen Stereotypen, nach denen die jüdische Tradition Sexualität entweder befürwortet oder aber durch strenge Vorschriften einschränkt, ist viel zu entdecken. Die Ausstellung „Sex. Jüdische Positionen“ präsentiert das Spektrum der unter­ schiedlichen Vorstellungen über Sexualität im Judentum. Mit zeitgenössischer Kunst, historischen Objekten, Manuskripten, Filmen, Tonaufnahmen und sozialen Medien zeigt sie jüdische Haltungen in allen Nuancen – vielstimmig, divers und leicht zugänglich für alle Besucher*innen. „Sex. Jüdische Positionen“ entsteht in Kooperation mit dem Joods Museum ­Amsterdam und wird von 22. November 2024 bis 25. Mai 2025 auch in Amsterdam zu sehen sein. Eine Publikation zur Ausstellung erscheint auf Deutsch und Englisch im Hirmer Verlag, München. Unorthodox, Shtisel, and Jewish Matchmaking—these popular series and dating shows appear to satisfy a surprising desire for a peek into the relational life of Jews, whether ultra-Orthodox, secular, or something in-between. But pop culture stands in contrast to a more profound discourse on the subject of sex within the Jewish world: sex therapists, religious figures, scholars, and artists have been grappling with the current social challenges and exploring what makes up Jewish sexuality today. There is a lot to discover between widespread and contradictory stereotypes, according to which Jewish tradition either supports sexuality or restricts it through stringent regulations. The exhibition Sex: Jewish Positions presents the broad spectrum of differing ideas about sexuality in Judaism. Through contemporary and modern art, his­ torical objects, manuscripts, films, audio recordings, and social media, Jewish attitudes are presented in all their nuances­—multivoiced, diverse, and easily accessible for all visitors. Sex: Jewish Positions will be presented in cooperation with the Jewish Museum Amsterdam and will also be shown in Amsterdam from November 22, 2024 to May 25, 2025. A publication accompanying the exhibition will be published in German and English by Hirmer Verlag, Munich.

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Seit jeher steht der Mensch bei uns im Mittelpunkt. Eine große Marke setzt nicht nur im Markt Zeichen. Wie wichtig uns der Mensch ist, erkennen Sie nicht nur an unserem Firmenlogo. Der faire und verantwortungsvolle Umgang mit unseren Mitarbeitern, Kunden und Geschäftspartnern war immer schon ein fester Bestandteil unserer Unternehmenskultur. Diesen Anspruch füllen wir gerne auch außerhalb unserer Werkstore mit Leben. In Stiftungen, zahlreichen Projekten und Partnerschaften machen wir mit Herz und Engagement deutlich, dass wir auch in Zukunft vor allem auf eins setzen: den Menschen.

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Impressum Credits © 2024, Stiftung Jüdisches Museum Berlin Herausgeberin / Publisher: Stiftung Jüdisches Museum Berlin Direktion / Director: Hetty Berg Redaktion / Editors: Marie Naumann, Katharina Wulffius, Anna Reindl (wiss. Volontärin), Helena Lutz (stud. Hilfskraft) E-Mail: publikationen@jmberlin.de Übersetzungen / Translations Soweit nicht anders angegeben / If not noted otherwise: Ins Englische / English translations: Malcolm Green (S./pp. 6/7), Allison Brown (S./pp. 3, 9, 68–71, 80–87, 94/95), Adam Blauhut (S./pp. 45–67) Ins Deutsche / German translations: Sylvia Zirden (S./pp. 21–29, 33–43, 72–79, 89–93) Englisches Korrektorat / Copy editing English: Kate Sturge (S./pp. 21–43) Layout: Eggers + Diaper, Aachen Lithografie / Lithography: Michaela Müller, bildpunkt Druckvorstufen GmbH, Berlin Druck / Printed by: Druckhaus Sportflieger, Berlin ISSN: 2195-7002 Gefördert durch / Sponsored by

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Stiftung Jüdisches Museum Berlin Lindenstraße 9-14, 10969 Berlin Tel.: +49 (0)30 25993 300 www.jmberlin.de info@jmberlin.de

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Falls Rechte (auch) bei anderen liegen sollten, werden die Inhaber*innen gebeten, sich zu melden. / Should rights (also) lie with others, please inform the publisher. Wir danken allen Autor*innen und Mitwirkenden! / With many thanks to all authors and staff!

Das Copyright für Het Onderwater-Cabaret und weitere Werke Curt Blochs, Fotografien, Korrespondenz und Dokumente liegt bei der Charities Aid Foundation America dank der großzügigen Unterstützung der Familie Bloch. Reproduktion: JMB The copyright for Het Onderwater-Cabaret and further works of Curt Bloch, photographs, correspondence and documents is held by the Charities Aid Foundation America thanks to the generous support of the family of Curt Bloch. Reproduction: JMB S./p. 3: JMB, photo: Yves Sucksdorff S./pp. 5 (2–3 von oben nach unten/2-3 top down), 20, 25, 26, 30–32, 35 (oben & unten links/top & bottom left), 42: Charities Aid Foundation America dank der großzügigen Unterstützung der Familie Bloch / Charities Aid Foundation thanks to the generous support of the family of Curt Bloch S./p. 23: mit freundlicher Genehmigung von Simone Bloch / Courtesy of Simone Bloch S./pp. 37, 38, 41: JMB, Schenkung von / Gift of Robert Saunders S./p. 35 (unten rechts/bottom right): Kreisarchiv Viersen S./p. 70: JMB, Schenkung von / Gift of Marion J. Bergmann S./p. 71: Photo: Ulrike Kuschel S./pp. 5 (unten/bottom), 73, 75, 81, 86: NIOD Institute for War, Holocaust and ­Genocide Studies

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S./pp. 76, 77: Koninklijke Bibliotheek S./p. 78: Leiden University Library S./p. 83: Archief Herinneringscentrum Kamp Westerbork S./p. 85: Courtesy of the Leo Baeck Institute, New York S./p. 94: © Andi Arnovitz, photo: Issac Fisch Umschlag/Jacket vorne/front: OWC, 18. Dezember 1943 hinten/back: OWC, 3. April 1945


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Foto: Yves Sucksdorff

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Ausstellungsimpressum Colophon

Das Jüdische Museum Berlin dankt Simone Bloch und der Charities Aid Foundation America sowie ­Tamara Goldstoff-­Loewenberg, Marcel Loewenberg, Robert Saunders und Lide Schattenkerk für ihre ­großzügige ­Unterstützung. The Jewish Museum Berlin thanks Simone Bloch and Charities Aid Foundation America as well as ­Tamara Goldstoff-­Loewenberg, Marcel Loewenberg, Robert Saunders and Lide Schattenkerk for their ­generous support.

Kurator*innen Curators Ulrike Kuschel, Aubrey Pomerance

Digital & Publishing Barbara Thiele (Leitung | Head), Immanuel Ayx, Mirjam Bitter (Website)

Projektmanagement Project Management Susanne Wagner

Marketing & Kommunikation Marketing & Communication Sascha Perkins (Leitung | Head), Ha Van Dinh, Melanie Franke, Julia Jürgens, Margret Karsch, Amelie Neumayr, Judith Westphal, Petra Wiege, Sylvia Winkler

Dieses JMB Journal erscheint anlässlich der ­Ausstellung „Mein Dichten ist wie Dynamit“ Curt Blochs Het Onderwater Cabaret im Jüdischen Museum Berlin, 9. Februar bis 26. Mai 2024. This JMB Journal is published on the occasion of the exhibition “My Verses Are Like Dynamite” Curt Bloch’s Het Onderwater Cabaret at the Jewish Museum Berlin, 9 February to 26 May 2024.

Ausgestellte Werke Exhibited Works and Objects Sammlung Curt Bloch, Konvolut/816 Het Onderwater-Cabaret und weitere Werke Curt Blochs, Fotografien, Korrespondenz und Dokumente – Leihgabe der Charities Aid Foundation America dank der großzügigen Unterstützung der Familie Bloch Curt Bloch Collection, Konvolut/816 Het Onderwater-Cabaret and further works of Curt Bloch, photographs, correspondence and documents— loan from the Charities Aid Foundation America thanks to the generous support of the family of Curt Bloch Sammlung Karola Wolf, Konvolut/1047 Secret Service und andere Schriften Curt Blochs für Karola Wolf, Briefe an sie von Curt Bloch, Bruno Löwenberg und anderen, Fotografien­– JMB, Schenkung von Robert Saunders

Karola Wolf Collection, Konvolut/1047

Secret Service and other writings by Curt Bloch for Karola Wolf, letters to her from Curt Bloch, Bruno Löwenberg and others, photographs— JMB, gift of Robert Saunders Sammlung Bruno Löwenberg, 2023/194 Fotografien und Dokumente von Bruno Löwenberg – JMB, Schenkung von Tamara Goldstoff-Loewenberg und Marcel Loewenberg Bruno Löwenberg Collection, 2023/194 Photographs and documents of Bruno Löwenberg— JMB, gift of Tamara Goldstoff-Loewenberg and Marcel Loewenberg Dokumente und eine Fotografie von Curt Bloch, 2023/90 – JMB, Schenkung von Lide Schattenkerk Documents and a photograph of Curt Bloch, 2023/90—JMB, gift of Lide Schattenkerk

Freiwilliges Soziales Jahr Voluntary Social Year August Went Gedenkdiener Austrian Holocaust Memorial Service Volunteer Daniel Scheibner Ausstellungsgestaltung (Konzept, Architektur, Grafik) Exhibition Design (concept, architecture, graphic design) anschlaege.de Ausstellungstexte Texts Ulrike Kuschel, Aubrey Pomerance, Katharina Wulffius (Lektorat | Copy Editing) Übersetzung Translations Allison Brown, Christine Kausch, Jake Schneider, SprachUnion Transkription OWC Transcripts OWC Hannah Jacobi, Christine Kausch Kommunikationskampagne Campaign Design buerominimal Berlin Videoproduktion Video Production Marina Frenk, Richard Gonlag, Mathias Schäfer (Darsteller*innen | Performers), Dalia Castel (Kamera & Schnitt | Camera & Editing), Alex Badham (Kamera | Camera), Daniel Adasinskiy, Mark Volkov (Licht & Ton | Lighting & Sound) Projektpartner für Deutsche Gebärdensprache Project Partner for German Sign Language Yomma GmbH Audioproduktion Audio Production Richard Gonlag (Sprecher | Narrator), audioberlin audiotainment GmbH Ausstellungen Exhibitions Nina Schallenberg (Leitung | Head), Deniz Roth Sammlungsmanagement Collection Management Gisela Märtz (Leitung | Head), Stephan ­Lohrengel (Restaurierung | Conservator), Katrin Strube (Registrarin | Registrar), Birgit Maurer-Porat, Valeska Wolfgram (Dokumentation | Documentation) Archiv Archive Aubrey Pomerance (Leitung | Head), ­Franziska Bogdanov, Ulrike Neuwirth, Jörg Waßmer Bildung und Vermittlung Education Program Diana Dressel (Leitung | Head) Begleitprogramm Accompanying Program Daniel Wildmann (Leitung | Head), Maria Röger, Signe Rossbach, Katja Vathke

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Veranstaltungen Events Yvonne Niehues (Leitung | Head), Katja Rein, Falk Schneider, Danny Specht-Eichler, Gesa Struve, Stefan van Zwoll Visitor Experience & Research Christiane Birkert (Leitung | Head), Susann Holz, Johannes Rinke Development Anja Butzek (Leitung | Head) Justiziariat & Vergabe Legal Department & Tendering Julia Lietzmann (Leitung | Head), Sascha Brejora, Olaf Heinrich, Martina Krause, Jonas Nondorf Finanzen & Controlling Finances & Controlling Grit Schleheider (Leitung | Head), Odette Bütow, Rainer Christoffers, Stefan Rosin, Katja Schwarzer Personal HR Brit Linde-Pelz (Leitung | Head), Manuela Gümüssoy, Mario Krogulec Gebäudemanagement Building Management Manuela Konzack (Leitung | Head), Guido Böttcher, Mirko Dalsch, Christian Michaelis IKT ICT Michael Concepcion (Leitung | Head), Anja Jauert, Kathleen Köhler, Sebastian Nadler Ausstellungsbau Exhibition Construction viva Ausstellungs- und Messebau GmbH, Achilles GmbH Stahl- und Anlagenbau Medienplanung & Installation Media Planning & Installation Geier Tronic GmbH Malerarbeiten Painting Marotzke Malerbetrieb GmbH Grafikproduktion Graphics Production Heerlein Werbetechnik Licht Lights Victor Kegli Ausstellungswartung Maintenance Leitwerk Servicing Reinigung Cleaning Services Piepenbrock Service GmbH + Co. KG Sicherheit Security Pütz Security AG




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