Jewish Museum Berlin: JMB Journal Nr 2

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JMB

2010 / Nr. 2

+ INSIDE JMB Aktuelle Ausstellungen Aus dem Archiv Die Akademie des J端dischen Museums Berlin Current Exhibitions From the Archives The JMB Academy

J端disches Museum Berlin / Jewish Museum Berlin

JOURNAL Micha Brumlik Lale Akg端n Judith T. Shuval Detlev Claussen Cilly Kugelmann Dalia Moneta Nancy Foner Nelly Sachs Aris Fioretos

Migration Migration


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Editorial Editorial

W. Michael Blumenthal, Direktor des Jüdischen Museums Berlin W. Michael Blumenthal, Director, Jewish Museum Berlin

Globalization, the increasing integration of markets, economic inequality, advanced technologies—all these factors have long led to migration being a 21st century global phenomenon. And the trend is growing: A nation comprised solely of immigrants would be the fourth largest country in the world. Migration affects professionals as well as asylum seekers, refugees, repatriates, families, and, not least, the societies in which they live. The religious, ethnic, and cultural diversity of these societies poses new challenges for coexistence—and simultaneously offers new opportunities. Jewish history is also migration history. This is one reason why the Jewish Museum Berlin concentrates on the precarious relationship between the immigrant minority and the established majority. The museum not only explains Jewish customs and history, it also promotes exchange between cultures. In this issue of the JMB Journal, Micha Brumlik explains just how important the transmission of German-Jewish history to a younger generation with immigrant backgrounds is. Lale Akgün illuminates how diversity does not just mean a difference in ancestry, but also in individual lifestyles. Social diversity may also be intoned in matters of ethno-religious collectives, as is the case in the Zionist motivated “return to the homeland;” Judith Shuval’s essay observes astounding parallels in German and Israeli immigrant histories. Similarities are also found among the structures of immigration of Jewish families to the United States around 1900 and of Asian or Latin American immigrants today, as Nancy Foner shows. Where shared interests exist within a society, however, differences may be surmounted, whether through fishing or on the soccer field: Dalia Moneta and Detlev Claussen offer two compelling case studies. The exhibition “Flight and Metamorphosis” in the Jewish Museum is devoted to the emigrant Nelly Sachs, who used language to create a universe of her own. Aris Fioretos’ speech for the exhibit opening appears, too, in these pages. We wish you much enjoyment reading this issue of the Journal and diving into the foreign worlds it presents.

Globalisierung, die zunehmende Integration der Märkte, wirtschaftliches Ungleichgewicht, fortschreitende Technologien – all diese Faktoren führen dazu, dass Migration im 21. Jahrhundert längst zu einem globalen Phänomen geworden ist. Mit zunehmender Tendenz: Ein Land bestehend aus allen Migranten wäre heute das viertgrößte der Welt. Migration betrifft qualifizierte Arbeiter ebenso wie Asylbewerber, Flüchtlinge, Spätaussiedler oder Familien und nicht zuletzt die Gesellschaft, in der sie leben. Die religiöse, ethnische und kulturelle Vielfalt dieser Gemeinschaft stellt das Zusammenleben vor neue Herausforderungen – und bietet zugleich Chancen. Jüdische Geschichte ist auch Migrationsgeschichte. Nicht zuletzt deshalb konzentriert sich das Jüdische Museum Berlin auf das prekäre Verhältnis von der zugereisten Minderheit zur alteingesessenen Mehrheit. Damit klärt es nicht nur über jüdische Gebräuche und Geschichte auf, sondern fördert den Austausch zwischen den Kulturen. Wie wichtig die Vermittlung der deutsch-jüdischen Geschichte gerade an Jugendliche mit Migrationshintergrund ist, macht in diesem JMB Journal Micha Brumlik deutlich. Dass Vielfalt sich nicht allein auf Unterschiede der Herkunft bezieht, sondern auch einzelne Lebensentwürfe dazu beitragen, beschreibt Lale Akgün. Von gesellschaftlicher Vielfalt muss man selbst dann sprechen, wenn es sich, wie bei der zionistisch motivierten „Rückkehr in die Heimat“, um ein ethno-religiöses Kollektiv handelt: Judith Shuvals Essay stellt in der deutschen und israelischen Einwanderungsgeschichte erstaunliche Parallelen fest. Ähnlichkeiten finden sich auch in der Struktur der Immigration jüdischer Familien in die USA um 1900 und der asiatischen oder lateinamerikanischen von heute, wie Nancy Foner zeigt. Wenn es innerhalb einer Gesellschaft um gemeinsame Interessen geht, sind Unterschiede leicht überwunden, sei es beim Angeln oder auf dem Fußballfeld: Dalia Moneta und Detlev Claussen stellen zwei Fallbeispiele vor. Die Ausstellung „Flucht und Verwandlung“ im Jüdischen Museum widmet sich der Emigrantin Nelly Sachs, die in der Sprache ihr eigenes Universum schuf. Aris Fioretos’ Rede zur Ausstellungseröffnung können Sie hier nachlesen. Wir wünschen Ihnen bei der Lektüre des Journals viel Freude und Anregung beim Eintauchen in fremde Welten.

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Kenntnisse Knowledge Am Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin. At the Memorial to the Murdered Jews of Europe, in Berlin.

Bei einer Umfrage unter „Deutschtürken“ im Januar 2010 gaben beinahe 68 Prozent an, wenig oder nichts über den Holocaust zu wissen. Wie wichtig ist es, dass Immigranten bzw. deren Nachfahren sich mit diesem Kapitel deutscher Geschichte befassen? The results from a survey among “Deutschtürken,” so-called “German Turks,” in January 2010 revealed that almost 68 percent of the interviewees knew little to nothing about the Holocaust. How important is it for immigrants and their descendants to take issue with this chapter of German history?

8 > 13


Vielfalt Diversity Die Plakatkampagne „Liebe verdient Respekt“ setzt ein Zeichen gegen Homophobie und Fremdenhass – in drei Sprachen. The campaign “Love Deserves Respect” fights against homophobia and xenophobia in three languages.

Die gesellschaftliche Vielfalt, in der wir heute leben, speist sich aus Einwanderung. Sie entsteht aber auch aufgrund anderer sozialer und demografischer Entwicklungen und einer immer größeren Diversität von Lebenswelten. The diverse society in which we live is fuelled by immigration. But diversity today also derives from other demographic developments, among them the increasingly different lifestyles.

8 > 17


Ethnie Ethnicity Ankunft jüdischer Immigranten an Bord der „Atzmaut“ am 11. Februar 1949 in Haifa. Arrival of Jewish immigrants in Haifa on board the “Atzmaut”, 11 February 1949.

Seit weit über 50 Jahren ist Migration eines der wesentlichen Themen der soziologischen Forschung in Israel. Meist wird dabei die Einzigartigkeit der israelischen Situation betont – und doch gibt es, gerade im Vergleich mit der Einwanderung nach Deutschland, etliche Parallelen. Migration has been a major social issue in Israel for well over 50 years. So far, studies have focused almost exclusively on Israel’s unique situation and have generally emphasized its singularity. Comparing it with Germany, however, presents many parallels.

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Nationalteam National Team Trikot des TuS Makkabi Berlin e.V. Der vor über 100 Jahren gegründete jüdische Sportverein TuS Makkabi setzt sich auch für gesellschaftspolitische Ziele ein und fördert den Dialog zwischen Juden und Nichtjuden. Jersey of the TuS Makkabi Berlin Founded over 100 years ago the Jewish sports club TuS Makkabi also has a socio-political agenda, encouraging the dialog among Jews and Gentiles.

Nur zwei Spieler der deutschen Fußball-Nachwuchsmannschaft stammen nicht aus Familien mit Migrationshintergrund. Auf dem Spielfeld wird heute der multikulturellen Realität der Gesellschaft Rechnung getragen – bei den Männern wie bei den Frauen. All but two players in the German national under-21 soccer team come from families with histories of immigration. On the field, the teams live up to the multicultural reality of society—in both men’s and women’s soccer.

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Integration Integration Coryphaena Pentadactyla. Das Sechsauge stammt aus dem westindischen Pazifik. Druck aus Marcus Elieser Blochs „Naturgeschichte der ausländischen Fische“, 1786. The Coryphaena Pentadactyla lives in the Indo-West Pacific. Print from Marcus Elieser Bloch’s “Natural History of Foreign Fish”, 1786.

Dürfen hessische Fische nicht von einem jüdischen Fischer der ehemaligen Sowjetunion aus dem Wasser gezogen werden? Die Geschichte einer gelungenen Integration. Is a Jew from the former Soviet Union allowed to pull Hessian fish out of the water? The story of a successful integration.

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Schmelztiegel Melting Pot Mietshäuser, Lower East Side, 1928. Die Fotografin Ruth Jacobi schuf in den späten 1920er Jahren eine Serie, die jüdische Einwanderer in New York zeigt. Tenements, Lower East Side, 1928. The photographer Ruth Jacobi took a series of pictures of Jewish immigrants in New York in the late 1920s.

Die größten Zuströme an Immigranten kamen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in die Vereinigten Staaten, doch auch heute ist die Zahl der Einwanderer wieder riesig. Inwiefern unterscheidet sich die heutige Einwanderung von der damaligen? One of the greatest waves of immigration to the United States took place in the early 20th century. Today, the number of immigrants is again very high. How does it compare to past cultures of immigration?

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Außerhalb Outside Nelly Sachs’ Wohnung in der Bergsundstrand 23, Stockholm 1970. Nelly Sachs’ apartment on Bergsundstrand 23, Stockholm 1970.

„Hineingeworfen in ein Außerhalb“ fühlte sich die spätere Nobelpreisträgerin Nelly Sachs im schwedischen Exil. In der Fremde erst konnte das entstehen, was sie berühmt machte: ein poetisches Universum, das auch heute noch berührt. ”Thrown into an outside,” is how Nobel Prize winner Nelly Sachs described living in Swedish exile. But only in the foreign country did she create what made her famous: a poetic universe that to this day continues to move its readers.

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JMB JOURNAL

Editorial...................................................................................3

Editorial .................................................................................................... 3

Daten und Fakten...................................................................1 2

Facts and Figures .................................................................................. 1 2

Zeitgeschichte und staatsbürgerliche Integration ....................1 3 Micha Brumlik

Contemporary History and Civic Integration ..................................1 3 Micha Brumlik

Wie organisieren wir gesellschaftliche Vielfalt? .......................1 7 Lale Akgün

How Can We Organize Social Diversity?...........................................1 7 Lale Akgün

Migration in Israel: der Mythos der „Einzigartigkeit“ ...........2 1 Judith T. Shuval

Migration to Israel: The Mythology of “Uniqueness” ....................2 1 Judith T. Shuval

Ein Goal für alle.....................................................................41 Detlev Claussen

A Common Goal .................................................................................... 41 Detlev Claussen

Der Ewige Jude ......................................................................4 6 Cilly Kugelmann

The Wandering Jew ............................................................................. 4 6 Cilly Kugelmann

Onkel Itzig und die Fische im Main.......................................48 Oder: Was ist Integration? Dalia Moneta

Uncle Itzig and the Fish in the Main River or .................................48 What Is Integration? Dalia Moneta

Weltfenster.............................................................................52

Worldwide .............................................................................................. 52

Einwanderung in die Vereinigten Staaten – einst und heute ...5 4 Nancy Foner

Immigration to the United States, Old and New ............................5 4 Nancy Foner

Kommt einer ..........................................................................59 Nelly Sachs

Someone Comes................................................................................... 59 Nelly Sachs

Hineingeworfen in ein Außerhalb ..........................................6 0 Aris Fioretos

Thrown into an Outside ...................................................................... 6 0 Aris Fioretos

INSIDE JMB

Aktuelle Ausstellungen ...........................................................26 Aus dem Archiv .....................................................................30 Freundeskreis .........................................................................32 Die Akademie des Jüdischen Museums Berlin ........................3 4 Bildung & Medien .................................................................36 Porträt....................................................................................38 Vorschau ................................................................................4 0

Current Exhibitions .............................................................................. 27 From the Archives................................................................................. 31 Friends of the Museum........................................................................ 33 The JMB Academy................................................................................ 35 Education & Media................................................................................ 37 Portrait................................................................................................... 39 Preview................................................................................................... 4 0

IMPRESSUM / CREDITS

Der Text von Judith T. Shuval stammt aus / The article by Judith T. Shuval was first published in: International Migration, Volume 36, Number 1, March 1998, pp. 3–26.

© Stiftung Jüdisches Museum Berlin, Berlin, 2010 Herausgeber / Publisher: Stiftung Jüdisches Museum Berlin Redaktion / Editor: Marie Naumann, Assistenz / Assistance: Eva Kaufmann Email: publikationen@jmberlin.de Übersetzungen ins Englische / English Translation: Tanja Maka, R.Jay Magill Übersetzungen ins Deutsche / German Translation: Michael Ebmeyer (Judith T. Shuval), Dr. Antje Korsmeier (Nancy Foner) Englisches Lektorat / English Copy Editing: Liesel Tarquini Englisches Korrektorat / English Proof Reading: Naomi Lubrich Anzeigen / Advertising: Anja Butzek, Assistenz / Assistance: Anne Saure Gestaltung / Design: Eggers + Diaper Druck / Printed by: Medialis, Berlin Abonnements und Bestellungen / Subscription and Ordering Janine Lehmann, Tel.: +49 (0)30 25993 410, info@jmberlin.de Gefördert durch den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Sponsored by the Federal Commissioner for Cultural and Media Affairs. Stiftung Jüdisches Museum Berlin, Lindenstraße 9–14, D–10969 Berlin Tel.: +49 (0)30 25993 300, www.jmberlin.de

Wir danken dem Suhrkamp Verlag, Berlin für die Bereitstellung des Gedichts von Nelly Sachs. Es wurde entnommen aus: Nelly Sachs, Kommentierte Ausgabe, Band 2: Gedichte 1951–1970. © Suhrkamp Verlag Berlin 2010. “Someone comes from afar” translated by Ruth and Matthew Mead from O THE CHIMNEYS by Nelly Sachs. Translation copyright © 1967, renewed 1995 by Farrar, Straus & Giroux, Inc. Reprinted by permission of Farrar, Straus and Giroux, LLC. Falls Rechte (auch) bei Anderen liegen sollten, werden die Inhaber gebeten, sich zu melden. Should rights (also) lie with others, please inform the publisher. BILDNACHWEIS / COPYRIGHTS © BBZL, Landschaftsarchitekten, S. 34/35 © Dorling Kindersley, S. 46/47 © dpa, S. 4 © FD Harry Järv/Königliche Bibliothek Stockholm, S. 10 © Fritz Freudenheim, S. 52/53 © picture alliance / dpa, Foto: Arno Burgi, S. 5 © JMB, S. 31 © JMB, Foto: Ruth Jacobi, S. 9, 56, 58 © JMB, Foto: Sönke Tollkühn, S. 3, 38 © JMB, Foto: Jens Ziehe, S. 6, 7, 8, 26/27, 29 © JMB, Foto: Ernst Fesseler, S. 37 © ullstein bild - Reuters, Foto: Johannes Eisele, S. 41

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Daten und Fakten Facts and Figures

Menschen weltweit, die in einem anderen Land leben als sie geboren sind

214.000.000

Ein Land bestehend aus allen Migranten wäre das viertgrößte Land der Welt. Jedes dritte Kind in Deutschland unter sechs Jahren hat einen Migrationshintergrund. Anteil der Gymnasialschüler in Deutschland, die einen Migrationshintergrund haben

4%

Anteil der Schüler mit Migrationshintergrund an deutschen Hauptschulen

20%

Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund an der deutschen Bevölkerung

19%

Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund in Israel

65%

Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion, die zwischen 1989 und 2004 nach Israel kamen

962.458

Eingewanderte Spätaussiedler in Deutschland zwischen 1987 und 1999

2.700.000

Ethnische Gruppen in Deutschland

200

Religiöse Strömungen in Deutschland mit über 200.000 Mitgliedern

9

Mitglieder in jüdischen Gemeinden in Deutschland im Jahr 1990 (davon 600 in der ehemaligen DDR)

29.000

Als jüdisch eingestufte Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland zwischen 1991 und 2007

210.000

Green Cards, die das Außenministerium der USA im Jahr 2010 verlost

50.000

Davon für Lateinamerikaner

1.893

Davon für Europäer

26.815

Kategorien auf der Checkliste, die bei der Einbürgerung in die USA den erforderlichen „Good moral character“ nachweisen

36

Spieler ohne Migrationshintergrund unter der Startelf der deutschen Nachwuchsnationalmannschaft beim Finale der EM 2009

2

1955 verbot der DFB den Frauenfußball via Platzsperre mit der Begründung, dass „Körper und Seele unweigerlich Schaden erleiden“. Fußballerinnen, die im Jahr 2008 Mitglieder im DFB sind

People worldwide living in a country other than their country of birth

955.188

214,000,000

A country consisting of all immigrants would be the fourth most populous country in the world. Every third child in Germany under the age of six has family history involving immigration. Percentage of students at German upper secondary schools (Gymnasien) who have immigration in their family history

4%

Percentage of pupils at German lower secondary schools (Hauptschulen) who have immigration in their family history

20%

Percentage of people in the German population that come from a family with a history of immigration

19%

Percentage of people in Israel who have immigration in their family history

65%

People from the former Soviet Union who immigrated to Israel between 1989 and 2004 Ethnic German repatriates in Germany between 1987 and 1999 Ethnic groups in Germany Religious movements in Germany with over 200,000 members Members of the Jewish Communities in Germany in 1990 (including 600 in the former GDR) Immigrants to Germany from the former Soviet Union classified as Jewish between 1991 and 2007 Number of Green Cards distributed by the U.S. Ministry of Foreign Affairs in the 2010 Green Card lottery Number of Green Cards provided for Latin Americans Number of Green Cards provided for Europeans Categories proving “good moral character” on a checklist, which is part of the U.S. naturalization process Players among the German under-21 national soccer team’s starting eleven in 2009 with no immigration in their family history

962,458 2,700,000 200 9 29,000 210,000 50,000 1,893 26,815 36 2

In 1955, the German Soccer Association (DFB) banned women’s soccer stating that “body and soul are bound to suffer damage.” Number of female soccer players in the German Soccer Association in 2008

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955,188


Zeitgeschichte und staatsbürgerliche Integration Contemporary History and Civic Integration

Micha Brumlik

In late January 2010 the weekly newspaper DIE ZEIT published the results from a survey among the socalled “German Turks” concerning their knowledge of the National Socialist era, the persecution of the Jews, and the Holocaust. The results are unsettling: nearly 68 percent of the interviewees indicated that they knew little to nothing about the Holocaust; more than half agreed with the statement that Germans should worry less about Jewish persecution and more about Israeli policies towards Palestinians. At least 43 percent held that the Germans’ intense focus on Jewish persecution was a sign of weakness imposed on them by others, whereas only 27 percent considered it to be a sign of strength. The way Germany has taken issue with the Second World War—according to 60 percent— is considered less than exemplary. As disturbing as these numbers are at first glance, they are also meaningless because there was no verified control group, representative of the entire German population. Nevertheless, the study poses the question of whether and to what degree (im)migrants or their descendants, whose personal roots have nothing to do with Germany in the first half of the twentieth century, should deal with this chapter of German history and possibly even identify with it. In fact: According to demographers and sociologists, 20 years from now at least 40 percent of young people in major German cities will be connected to Islam in some way, and Germany will not only be a multicultural society, but also a truly multi-religious one. Is this a problem for the civic, normative integration of German society? In the end, the survey regarding immigrant children’s knowledge about the Holocaust and Jewish persecution leads one to ask how they value their citizenship. In doing so it also poses the question of how the volk in the German Federal Republic is perceived. Is it simply the sum of people that live on German soil or of the shrinking core of “ethnic” Germans? Or is it the sum of everyone who lives in this country and exercises his or her civic rights and responsibilities? Insofar as the concept of “nation” is understood as an ancestral ethnic community—as traditional nationalism did—immigrants or their children have every right to reject better historical knowledge or identification. It is, in point of fact, not actually their history. If “nation” is understood to be the membership of immigrants— certified through the immigration process—to a political future and communal responsibility however, then dismissing knowledge regarding recent German

Ende Januar 2010 publizierte die Wochenzeitung DIE ZEIT Ergebnisse einer Umfrage, die unter sogenannten „Deutschtürken“ veranstaltet wurde und speziell deren zeitgeschichtliche Kenntnisse des Nationalsozialismus, der Judenverfolgung und des Holocaust erhob. Das Ergebnis könnte beunruhigen: Beinahe 68 Prozent der Befragten gaben an, wenig oder nichts über den Holocaust zu wissen, mehr als die Hälfte stimmte einer Aussage zu, wonach sich die Deutschen weniger mit der Judenverfolgung und mehr mit Israels Politik gegenüber den Palästinensern befassen sollen. Immerhin 43 Prozent meinten, dass die intensive Befassung der Deutschen mit der Judenverfolgung eher ein von außen aufgezwungenes Zeichen von Schwäche sei, während nur 27 Prozent dies für ein Zeichen von Stärke hielten. Deutschlands Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg – so urteilten schließlich 60 Prozent – sei für andere Nationen eher abschreckend. So verstörend diese Zahlen auf den ersten Blick wirken, so nichtssagend sind sie freilich, da eine Kontrollgruppe, die repräsentativ für die ganze deutsche Bevölkerung stand, nicht überprüft wurde. Gleichwohl wirft die Untersuchung jedoch die Frage auf, ob und in welchem Ausmaß (Im)migranten bzw. deren Nachfahren, deren persönliche Wurzeln mit der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nichts zu tun haben, sich mit diesem Kapitel deutscher Geschichte befassen und gegebenenfalls auch identifizieren sollen. Tatsächlich: Darf man Jugendforschern und Demografen glauben, so werden zumindest in den großen Städten in 20 Jahren mindestens 40 Prozent der Jugendlichen auf die eine oder andere Weise dem Islam verbunden sein und die Bundesrepublik nicht nur zu einer multikulturellen, sondern einer wahrhaft multireligiösen Gesellschaft machen. Stellt dieser Umstand für die staatsbürgerliche, die normative Integration der deutschen Gesellschaft ein Problem dar? So zeigt sich schließlich, dass die Frage nach den Kenntnissen von Immigrantenkindern im Hinblick auf Holocaust und Judenverfolgung in die Frage nach der Bedeutung ihrer Staatsbürgerschaft und damit in die Frage mündet, wie das „Volk“ der Bundesrepublik Deutschland verstanden wird. Handelt es sich einfach um die Summe der Menschen, die auf deutschem Territorium leben, handelt es sich um den schrumpfenden Kern der „ethnisch“ Deutschen oder um die Summe all jener, die in diesem Land ihre staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten wahrnehmen?

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history would be unfounded. For: the central principle of the German Basic Law, the “human dignity” that is particularly and forcefully emphasized in Article 1 of the Federal Constitution, is indeed primarily a response to the degrading and murderous politics of the National Socialist state, made most clear through the murder of the mentally ill, the persecution of homosexuals, and the eradication of Sinti, Roma, and six million European Jews. Contemporary history and this central constitutional principle have an unspoken, corresponding relationship; so much so that the founding axiom of the Basic Law, and thereby the entire political and legal order of the Federal Republic, can only be fully comprehended by those who know this chapter of German history. What exactly is at stake with this principle? The concept of “human dignity” addresses the minimum requirement, the lowest common denominator not of society, but of any political community worthy of being called “civilized.” There can be no doubt that the dividing line between all societies and nations is comprised of the question we are dealing with here— namely, in what way a political community institutionally protects human dignity. It has been said that the concept of human dignity may have its historical roots in the biblical tradition, but it is not fundamentally couched as such in order to achieve a broader reach. The understanding of human dignity is bound neither to the dictates of Judaism or Christianity, nor to those of the Occidental civilization as a whole. In this respect, the comprehension of human dignity is not restricted to a cognitive, intellectual operation alone, but quite to the contrary: the understanding of human dignity is rooted in a moral sense. This sense is moral because it provides criteria for actions or the lack thereof, and it is a sense because it does not concern calculated measurement, but instead a comprehensive, spontaneously-engaged, world-opening attitude. Anyone who has to think over whether this or that person should also be accorded this human dignity has not yet understood what it is. In other words: This is a matter of a moral sense with universal entitlement and that is subject to the most demanding conditions. If it is correct that human dignity is understood as an assessment of the corporal, personal, and sociocultural integrity of others, then the following three thoughts apply—if we are interested in the life-world conditions necessary for fostering this: First, the recognition of integrity among others is bound to

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Sofern man – wie es der klassische Nationalismus tat – „Nation“ als Herkunfts- und Abstammungsgemeinschaft versteht, haben Immigranten oder deren Nachkömmlinge jedes Recht, eine genauere Kenntnis oder Identifikation zurückzuweisen – tatsächlich ist es ja nicht ihre Geschichte. Versteht man unter „Nation“ jedoch die durch Einwanderung beglaubigte Zugehörigkeit von Immigranten zu einer politischen Zukunftsund Verantwortungsgemeinschaft, so ist die Zurückweisung von Kenntnissen der jüngeren deutschen Geschichte unbegründet. Denn: Das zentrale Prinzip der deutschen Verfassung, die in Artikel 1 des Grundgesetzes besonders hervorgehobene und maßgebliche „Würde des Menschen“ ist ja vor allem eine Reaktion auf die millionenfach mörderische und entwürdigende Politik des NS-Staates, die ihren deutlichsten Ausdruck in der Ermordung von Geisteskranken, der Verfolgung von Homosexuellen und der Ausrottung von Sinti und Roma und von sechs Millionen europäischer Juden bestand. Zeitgeschichte und zentrales Verfassungsprinzip stehen somit in einem unausgesprochenen Entsprechungsverhältnis und zwar so, dass den Sinn des Verfassungsgrundsatzes und damit der politisch-rechtlichen Ordnung der Bundesrepublik nur voll erfasst, wer diesen Abschnitt der deutschen Geschichte kennt. Worum geht es bei diesem Prinzip? Mit dem Begriff der „Würde des Menschen“ ist ein Minimum angesprochen, gleichsam der kleinste gemeinsame Nenner nicht von Gesellschaften, sondern von politischen Gemeinwesen, die wir jener Welt zurechnen würden, die wir als „zivilisiert“ bezeichnen. Dabei kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Trenn- und Bruchlinie durch alle Gesellschaften und Staaten geht, wir uns hier aber mit der Frage befassen, in welchen politischen Gemeinwesen die menschliche Würde auch institutionell geschützt wird. Zudem sei darauf hingewiesen, dass der Begriff der „Würde des Menschen“ seine historischen Wurzeln vielleicht in der biblischen Tradition hat, er aber grundsätzlich nicht auf diese Tradition angewiesen ist, um in seiner ganzen Tragweite verstanden zu werden. Das Verständnis für Menschenwürde ist weder an die Voraussetzungen von Judentum und Christentum, noch gar an die abendländische Zivilisation im Ganzen gebunden. Dabei ist die Einsicht in die Würde des Menschen nicht alleine auf eine kognitive, intellektuelle Operation beschränkt,


the experience of one’s own integrity and recognition, articulated in terms of a sense of self, self-respect, and self-esteem. Second, no one who has not been tolerated, accepted, and appreciated in all regards can develop a sense of self, self-respect, and self-esteem. And third, a sense of self, self-respect, and self-esteem are the logical and developmental requirements for being able to develop empathy and compassion in others. That’s why the question regarding the mental and social conditions of a constitutionally corresponding citizenship is raised—a question that surely does not only, and perhaps even least of all, affect immigrants and their children. With regard not only to immigrants, the question then arises as to whether they see their affiliation with the German nation as a mere coincidence, the political and moral consequences of which they must unfortunately answer for, or as an open, conscious choice that eventually leads to the deliberate adoption of civic responsibility—not for the past—but for the acceptance of its political and moral burdens. But before these demands are placed upon immigrants, one should in all fairness keep in mind that the Federal Republic of Germany needed decades before it could

mehr noch oder gar anders: Das Verständnis für die Würde des Menschen wurzelt in einem moralischen Gefühl. Dieses Gefühl ist moralisch, weil es Beurteilungsmaßstäbe für Handlungen und Unterlassungen bereitstellt, es ist indes ein Gefühl, weil es sich bei ihm nicht um einen kalkulatorischen Maßstab, sondern um eine umfassende, spontan wirkende, welterschließende Einstellung handelt. Wer erst lange darüber nachdenken muss, ob einem oder mehreren Menschen die proklamierte Würde auch tatsächlich zukommt, hat noch nicht verstanden, was „Menschenwürde“ ist. Mit anderen Worten: Es handelt sich um ein moralisches Gefühl mit universalistischem Anspruch, das unter höchst voraussetzungsreichen Bedingungen steht. Wenn es also richtig ist, dass sich das Verständnis für Menschenwürde am Verständnis für die körperliche, personale und soziokulturelle Integrität anderer bemisst, dann gilt – wenn wir uns für die lebensweltlichen Voraussetzungen dieser Haltung interessieren – dreierlei: Die Anerkennung der Integrität anderer ist an die Erfahrung eigener Integrität und Anerkennung, die sich in Selbstgefühl, Selbstrespekt und Selbstachtung artikuliert, gebunden. Niemand kann Selbstgefühl, Selbstrespekt und Selbst-

©

UNRECHT BRAUCHT ZEUGEN HUMAN RIGHTS WATCH IST EINE UNABHÄNGIGE NICHTREGIERUNGSORGANISATION, die sich weltweit für den Schutz und die Verteidigung der Menschenrechte einsetzt. Wir machen die internationale Öffentlichkeit auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam, um den Opfern eine Stimme zu geben und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Um unsere Unabhängigkeit bewahren zu können, ist Human Rights Watch auf Ihre private Spende angewiesen: Human Rights Watch e.V. Commerzbank-Frankfurt/Main Konto: 602 929 200 BLZ: 500 400 00 Human Rights Watch Poststraße 4-5, 10178 Berlin T: 030 2593060 F: 030 25930629 berlin@hrw.org

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admit it had become an immigrant society (even today the term “integration society” is uttered with a kind of shame by government officials). The result is that immigrants are not really counted among the “German people.” Today these traditional ideas of “volk” and “nation” are beginning to change. With this comes the legitimate political imposition of knowing about National Socialism and its crimes—even for those whose grandparents, and even great-grandparents, lived out the years 1933–1945 on the eastern or western shores of the Mediterranean. Yet what may seem an imposition to adolescent citizens is, on the other hand, a duty within German society and its educational and non-academic institutions: They have the moral and political obligation to provide the future mature citizen with the knowledge and perspective that enables him or her to successfully engage in these rights and responsibilities. In Germany this necessitates an extensive, serious education in contemporary history. Micha Brumlik is professor of education at the Goethe University of Frankfurt / Main. From October 2000 to 2005 he was director of the Fritz Bauer Institute for the Study and Documentation of the History of the Holocaust.

achtung entfalten, der nicht seinerseits in allen wesentlichen Bezügen toleriert, akzeptiert und respektiert worden ist. Selbstgefühl, Selbstrespekt und Selbstachtung sind die logischen und entwicklungsbezogenen Voraussetzungen dafür, Einfühlung, Empathie für andere entfalten zu können. Damit ist auch die Frage nach den psychischen und sozialen Voraussetzungen einer dem Grundgesetz entsprechenden Staatsbürgerlichkeit aufgeworfen – eine Frage, die keineswegs nur, womöglich noch am wenigsten, Immigranten und ihren Nachwuchs betrifft. Im Blick nicht ausschließlich auf Immigranten stellt sich dann die Frage, ob sie ihre Zugehörigkeit zur deutschen Nation lediglich als einen Zufall, für dessen politische und moralische Folgen sie bedauerlicherweise mit haften müssen, ansehen oder als eine bewusst getroffene Wahl, die endlich in die gewollte Übernahme staatsbürgerlicher Verantwortung – nicht für die Vergangenheit – aber für die Übernahme ihrer politischen und moralischen Hypotheken mündet. Bevor man jedoch nun vor allem Immigranten in besonderer Weise mit derlei Forderungen überzieht, sollte man sich fairerweise vor Augen halten, dass die Bundesrepublik Deutschland mehrere Jahrzehnte gebraucht hat, bis sie sich eingestehen konnte, eine Einwanderungsgesellschaft zu sein (sogar heute noch wird regierungsamtlich verschämt von „Integrationsgesellschaft“ gesprochen); mit der Folge, dass die Immigranten nicht wirklich zum „deutschen Volk“ gerechnet wurden. Heute beginnt sich dieser klassische Begriff von „Volk“ und „Nation“ zu ändern: Damit wird aber auch die Kenntnis der NS-Zeit und ihrer Verbrechen eine legitime politische Zumutung auch an jene, deren Großeltern oder gar Urgroßeltern in den Jahren 1933–1945 an den östlichen oder westlichen Rändern des Mittelmeers lebten. Was jedoch heranwachsenden Staatsbürgern als Zumutung erscheinen mag, erweist sich auf der anderen Seite als Verpflichtung der deutschen Gesellschaft sowie ihrer schulischen und außerschulischen Bildungsinstitutionen: Ihnen obliegt die politische und moralische Pflicht, den künftigen mündigen Bürgern jene Kenntnisse und Perspektiven zu vermitteln, die sie zu einer erfolgreichen Ausübung ihrer staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten benötigen. In Deutschland erfordert dies jedoch eine nicht unerhebliche, aufwendige zeitgeschichtliche Bildung. Micha Brumlik ist Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt am Main. Von 2000 bis 2005 leitete er das Fritz Bauer Institut, Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust.

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Wie organisieren wir gesellschaftliche Vielfalt? How Can We Organize Social Diversity?

Lale Akgün

One of the biggest challenges facing us in the coming decades is the increasing social diversity. The well-meaning contemporary may think that “diversity” means a lively exchange between religions— the peaceful coexistence of Christians, Jews, and Muslims, or the right to practice any given religion. Or perhaps one thinks of the benefit for our country that could come from children and youth being raised bilingually—German and Turkish, Arabic, or Russian, for example. Yet all too often a less-than-positive hint of supposed dangers, represented by the headscarf, burka, minaret, and forced marriage accompany these thoughts. Both views are false. Diversity is neither a threat nor limited to the presence of Muslims in our country. The diverse society in which we already live and which continues to grow is simultaneously a fact and an opportunity. This diversity is fuelled by immigration—soon we will have to deal with a 50-50 society of half native-born and half immigrant citizens. But diversity derives from other social and demographic developments as well, such as the decrease in the birthrate and the differentiation of “lifeworlds.” More is then meant by the idea of diversity as a challenge than the “Muslims and their mosques” or the “Turkish women with their headscarves.” First of all, we must understand that immigrants within Germany do not only come from Turkey and that they are not all Muslims, even if the public debate attempts to lead us to believe otherwise. They primarily come from the former states of the Soviet Union, the former Yugoslavia, from Poland, and from the Arabic world—thus resulting in enormous ethnic and linguistic plurality. Religious diversity can be added to this mix. It is also clear that there are not only Jews, Christians, and Muslims in Germany, but also Buddhists and Hindus, each of which can then be further subcategorized within their own individual groups. Quite a bit is hidden behind the concept of diversity. Not only does it refer to culture, religion, and language, but also to social and lifestyle issues: In the coming years and decades, diversity of lifestyles will become even more differentiated, whether via more patchwork families, through more same-sex partnerships and socalled rainbow families, due to single parents, or due to a further increase in single households. At the same time, traditional lifestyles will remain for immigrant as well as German families, in both cities and in the country. Additionally, there will be more elderly and

Eine der größten Herausforderungen, vor denen wir in den nächsten Jahrzehnten stehen werden, ist die Zunahme von gesellschaftlicher Diversität. Der wohlmeinende Zeitgenosse denkt bei „diversity“ vielleicht an einen lebendigen Austausch zwischen den Religionen, das friedliche Miteinander von Christen, Juden und Muslimen, an das Recht auf freie Religionsausübung, vielleicht auch daran, welche Ressource es für unser Land darstellt, dass Kinder und Jugendliche zweisprachig, also mit Deutsch und Türkisch, Arabisch oder Russisch als Muttersprache aufwachsen. Allzu oft aber schwingt bei dem Gedanken an Vielfalt ein nicht so positiver Hauch von vermeintlichen Bedrohungen wie Kopftuch, Burka, Minarett und Zwangsheirat mit. Beides ist falsch. Weder ist Vielfalt eine Bedrohung noch beschränkt sie sich auf die Anwesenheit von Muslimen in unserem Land. Die gesellschaftliche Vielfalt, in der wir schon heute leben und die weiter zunimmt, ist eine Tatsache und zugleich eine Chance. Diese Vielfalt speist sich aus Einwanderung – schon bald werden wir es mit einer fifty-fifty Gesellschaft zu tun haben, was das Verhältnis von Einheimischen und Migranten anbelangt – sie entsteht aber auch aufgrund anderer sozialer und demografischer Entwicklungen wie dem Geburtenrückgang und der Ausdifferenzierung der Lebenswelten. Mit Diversität als Herausforderung ist also mehr gemeint als die „Muslime mit ihren Moscheen“ oder die „Türkinnen mit ihren Kopftüchern“. Zunächst einmal müssen wir sehen, dass, auch wenn die öffentlichen Debatten uns dies glauben machen möchten, die Eingewanderten in Deutschland natürlich nicht nur aus der Türkei stammen und dass nicht alle Muslime sind. Sie kommen zu großen Teilen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, des ehemaligen Jugoslawiens, aus Polen und aus dem arabischen Raum, es herrscht also eine enorme ethnische und sprachliche Vielfalt. Dazu kommt die religiöse Vielfalt. Auch das ist klar, sie bedeutet, dass in Deutschland Juden, Christen, Muslime, aber auch Buddhisten und Hindus leben, deren einzelnen Gruppierungen untereinander noch einmal zu differenzieren sind. Es steckt also viel mehr hinter dem Begriff Diversität. Nicht nur in kultureller, religiöser und sprachlicher Hinsicht, sondern auch, was soziale und lebensweltliche Belange angeht: In den

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fewer young people living in Germany. Diversity today is thus far more varied than we commonly think. Immigration and intercultural and inter-religious coexistence are just a few of the elements of the shift in society as a whole that is leading to more heterogeneity. There is nevertheless much that can be gained regarding how to secure social cohesion through the careful examination of the debates on immigration as well as on intercultural and inter-religious coexistence in Germany. Immigration is the focal point of diversity. If we reflect on the discussions over the last few years regarding the erection of mosques, Islamic religious lessons, or the headscarf, we can learn a lot about what holds society together and what destabilizes cohesion. To phrase it mildly: These debates have not advanced full societal integration in all cases. This has little to do with the concrete responses to the debated issues. I find it entirely correct, for instance, that teachers are not allowed to wear headscarves in the classroom, I consider a ban on the burka to be worthy of discussion, and wonder whether every mosque in Germany really needs to have a minaret. It is not the individual positions that are worrisome, however, but rather the spirit in which they are lead that reveals what is lacking in the debates. The discussions over immigration, religion, culture, and language were, and are, too often shaped by a sense of “one against the other,” by a division between “us” and “them.” Depending on the perspective, it is often “we,” the native citizens, who have to tolerate “them,” the immigrants with their mosques, headscarves, and prayer carpets. Or it’s a matter of “we,” the immigrants, are not being tolerated, accepted, or respected as we would like to be by “them,” the native population. Where does this kind of thought and discussion stem from? I believe it feeds off an asymmetrical mindset, which in turn derives from an attitude of tolerance. As much as the idea of tolerance since the Enlightenment may have given us from a historical perspective, and as important as tolerance remains to this day—above all within the realm of cultural policy—it is not fitting for coexistence in an immigrant society. It is a hindrance. The idea of tolerance brings in tow something akin to sufferance, it implies a “beneath” and an “over,” and harbors the danger of a repressive tolerance, which Herbert Marcuse warned of. This was on display in 2006 over the course of the German Islam Conference (DIK), summoned to life by former Minister of the Interior, Wolfgang Schäuble,

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nächsten Jahren und Jahrzehnten wird sich die Vielfalt der Lebenswelten noch weiter ausdifferenzieren, sei es durch mehr Patchwork-Familien, dadurch, dass es mehr gleichgeschlechtliche Partnerschaften und sogenannte Regenbogen-Familien geben wird, durch mehr Alleinerziehende oder durch die weitere Zunahme von Single-Haushalten. Gleichzeitig wird es weiterhin eher traditionelle Lebensformen geben, in Einwandererfamilien ebenso wie in deutschen, in den Städten genauso wie auf dem Land. Außerdem werden mehr alte und sehr viel weniger junge Menschen in Deutschland leben. Vielfalt ist also schon heute vielfältiger als wir gemeinhin denken. Einwanderung, interkulturelles und interreligiöses Zusammenleben sind nur einige Elemente eines gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozesses hin zu mehr Heterogenität. Und dennoch können wir durch die genauere Betrachtung der Diskussionen um Einwanderung sowie um das interkulturelle und interreligiöse Zusammenleben in Deutschland viel darüber lernen, wie wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt sichern können. Einwanderung ist das Brennglas der Diversität. Wenn wir die Debatten der letzten Jahre, zum Beispiel um Moscheebauten, islamischen Religionsunterricht oder das Kopftuch, betrachten, so können wir viel darüber lernen, was den gesellschaftlichen Zusammenhalt sichert und was ihn ins Wanken bringt. Um es vorsichtig zu formulieren: Nicht in allen Fällen haben diese Debatten die gesamtgesellschaftliche Integration befördert. Das liegt weniger an den konkreten Antworten, die gefunden wurden. Ich finde es zum Beispiel vollkommen richtig, dass Lehrerinnen im Dienst keine Kopftücher tragen dürfen, ein Verbot der Burka halte ich für diskussionswürdig und ich frage mich auch, ob tatsächlich jede Moschee in Deutschland ein Minarett braucht. Es sind aber nicht die einzelnen Positionen, es ist vor allem der Geist, in dem diese Debatten geführt wurden, der bedenklich ist und der zeigt, woran es mangelt. Zu oft waren und sind die Debatten um Einwanderung, Religion, Kultur und Sprache noch von einem Gegeneinander, von einer Unterteilung in „wir“ und „sie“ geprägt. Je nach Perspektive geht es oft darum, dass „wir“, die Einheimischen, „sie“, die Eingewanderten, mit ihren Moscheen, Kopftüchern und Gebetsteppichen tolerieren müssen oder darum, dass „wir“, die Eingewanderten, von „ihnen“, den Einheimischen, nicht so tole-


where the question was raised whether the Islamic associations present were the right partners for a conversation about Islamic religion classes in German schools. In view of religious tolerance and under the aegis of Article 7, Paragraph 3 of the Basic Law, one could answer this question in the affirmative. But such purely formal equal treatment overlooks that these Islamic associations do not yet presently meet the requirements for the rule of law and democracy required by teachers of religion. The main reason for this is that the majority of Islamic associations in Germany represent a conservative-to-orthodox worldview, one which often counteracts scholarly-based theology and which as such is not appropriate for Islamic instruction in public schools. In this way the transformation of the Islam Conference is a welcome occurrence, most of all the exclusion of the Islamic Council, initiated by the current Minister of the Interior, Thomas de Maizière, in March 2010. Discerning such subtle intricacies can occur only when we assume a basic posture of active and positive recognition based on human and constitutional rights. Recognition does away with asymmetry, does away with “us” and “them,” and ends both positive and negative discrimination. My thesis is therefore that social cohesion can be assured in times of heterogeneity only if we can substitute the basis of tolerance with an attitude of recognition. Recognition accepts “the Other,” the foreigner in his identity, and treats him equally. For this we need a new social self-image that must be grounded upon a republican credo, a constitutional patriotism; a self-image that is based upon the values and norms of the constitution and simultaneously recognizes cultural, religious, linguistic, and lifestyle diversity as a positive structural feature of our society. Recognition is a basic requirement, but it also has its limits. Recognition ends where the Basic Law begins. In the name of recognition, neither excusing female Muslim school children from swimming lessons nor teachers wearing headscarves are legitimate. The primacy of individual rights before that of any collective claim to rights also remains intact. Positively stated, the attitude of recognition demands the internalization of the shared values as inscribed in the Basic Law from each citizen of this country. The attitude of acceptance is not only meaningful for the relationship between various ethnic and cultural groups. A reciprocal recognition of each individual

riert, akzeptiert, respektiert werden, wie wir das gerne hätten. Woher kommt diese Art zu denken und zu diskutieren? Ich glaube, sie speist sich aus einer asymmetrischen Denkweise. Diese wiederum entspringt einer Grundhaltung der Toleranz. So groß die Dienste auch sind, die uns die Idee der Toleranz in historischer Perspektive seit der Aufklärung erwiesen haben mag, und so wichtig Toleranz auch heute noch, vor allem im Bereich der internationalen Kulturpolitik, ist: Für das Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft ist sie nicht geeignet. Sie ist sogar hinderlich. Denn die Idee der Toleranz enthält immer etwas Duldendes, sie impliziert ein Unten und ein Oben und birgt damit die Gefahr der repressiven Toleranz, auf die Herbert Marcuse hingewiesen hat. So stellte sich im Zuge der von dem damaligen Innenminister Wolfgang Schäuble im Jahre 2006 ins Leben gerufenen Deutschen Islamkonferenz (DIK) die Frage, ob die dort vertretenen islamischen Verbände die geeigneten Ansprechpartner für einen islamischen Religionsunterricht an deutschen Schulen sind. Mit Verweis auf religiöse Toleranz und unter Berufung auf Artikel 7 des Grundgesetzes, Absatz 3 könnte man diese Frage bejahen. Allerdings würde eine solche, rein formale Gleichbehandlung verkennen, dass die islamischen Verbände zum jetzigen Zeitpunkt den rechtsstaatlichen und demokratischen Anforderungen für Träger von Religionsunterricht noch nicht entsprechen. Der Hauptgrund dafür ist, dass die Mehrzahl der islamischen Verbände in Deutschland ein konservatives bis orthodoxes Weltbild vertritt, das sich zudem vielfach einer wissenschaftlich fundierten Theologie widersetzt und damit nicht für einen Islamunterricht an öffentlichen Schulen geeignet ist. Insofern ist die Umbildung der Islamkonferenz, vor allem der Ausschluss des Islamrates, den der jetzige Innenminister Thomas de Maizière im März 2010 veranlasst hat, zu begrüßen. Der Blick auf solche Feinheiten wird aber erst frei, wenn wir zu einer menschen- und verfassungsrechtlich fundierten Grundhaltung der aktiven und positiven Anerkennung finden. Anerkennung macht Schluss mit Asymmetrie, sie macht Schluss mit „wir“ und „sie“ und beendet positive wie negative Diskriminierung. Meine These lautet daher, dass wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Zeiten von Heterogenität nur dann gewährleisten können, wenn wir die Grundhaltung der Toleranz durch eine Grundhaltung der Anerkennung ersetzen, die den Anderen, den Fremden, in seiner Identität akzeptiert und als gleichberechtigt betrachtet.

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citizen’s lifestyle, cultural practices, and worldviews, as well as their social and material conditions is encompassed therein as is the coexistence of different social and lifestyle milieus. The debate over immigration, over religious, cultural, and linguistic diversity—as postulated earlier—functions merely as a magnifying lens through which we see how social cohesion can be secured in light of a comprehensive trend towards diversity. In order to safeguard social integration, we must allow equal terms for our identities as Muslim, Christian, Jew, Bosnian, Russian German, man, woman, single, or family father: we must acknowledge each other. If, based on this, we work on the creation of a “sense of us,” we will not only be coping with the challenges of diversity, we will also be recognizing that diversity is not a threat, but that it represents an enormous resource for our society. Dr. Lale Akgün is a psychologist. She represented the SPD in the Bundestag from 2002 to 2009, during which she was, among other things, the acting speaker for the working group “Migration and Integration.”

Dazu brauchen wir ein neues gesellschaftliches Selbstverständnis, dessen Grundlage ein republikanisches Credo, ein Verfassungspatriotismus sein muss – ein Selbstverständnis, das sich auf die Werte und Normen des Grundgesetzes stützt und gleichzeitig kulturelle, religiöse, sprachliche und lebensweltliche Vielfalt als positives Strukturmerkmal unserer Gesellschaft begreift. Anerkennung ist ein grundlegendes Bedürfnis; sie hat aber auch ihre Grenzen. Anerkennung hört da auf, wo das Grundgesetz anfängt. Im Namen der Anerkennung kann weder die Befreiung muslimischer Schülerinnen vom Schwimmunterricht noch das Tragen des Kopftuches durch Lehrerinnen legitimiert werden. Auch das Primat der Individualrechte vor jeglichen kollektiven Rechtsansprüchen bleibt bestehen. Positiv gesprochen verlangt die Grundhaltung der Anerkennung jedem Bürger dieses Landes die Verinnerlichung der geteilten Werte, wie sie im Grundgesetz festgeschrieben sind, ab. Die Grundhaltung der Akzeptanz ist nicht nur für das Verhältnis der verschiedenen ethnischen und kulturellen Gruppen von Bedeutung. Mit ihr ist eine wechselseitige Anerkennung der individuellen Lebensentwürfe, kulturellen Praktiken und Weltanschauungen der einzelnen Bürgerinnen und Bürger genauso gemeint wie das Zusammenleben verschiedener sozialer und lebensweltlicher Milieus. Die Debatte um Einwanderung, um religiöse, kulturelle und sprachliche Vielfalt wirkt also wie eingangs postuliert nur wie ein Brennglas, durch das wir deutlicher erkennen können, wie wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt angesichts eines viel umfassenderen Trends zu mehr Diversität sichern können. Um die gesellschaftliche Integration zu gewährleisten, müssen wir uns auf Augenhöhe unsere Identität als Muslim, als Christ, als Jude, als Bosnier, als Russlanddeutscher, als Mann, als Frau, als Alleinstehende oder als Familienvater zugestehen: Wir müssen uns gegenseitig anerkennen. Wenn wir auf dieser Grundlage an einem geteilten „Wir-Gefühl“ arbeiten, so sind wir nicht nur den Herausforderungen der Diversität gewachsen, sondern wir können auch erkennen, dass Vielfalt eben keine Bedrohung, sondern eine enorme Ressource für unsere Gesellschaft darstellt. Dr. Lale Akgün ist Diplom-Psychologin. Von 2002 bis 2009 saß sie für die SPD im Bundestag, wo sie unter anderem stellvertretende Sprecherin der Arbeitsgruppe „Migration und Integration“ war.

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Migration to Israel: The Mythology of “Uniqueness” Migration in Israel: der Mythos der „Einzigartigkeit“ Judith T. Shuval

Migration ist in Israel schon seit weit über 50 Jahren eines der großen sozialen Themen. Seine zentrale Stellung im Wertekontext der israelischen Gesellschaft reicht bis in die Zeit vor der Staatsgründung 1948 zurück. Von Beginn an wurde dem sozialen Konstrukt „Migration nach Israel“ das Etikett der Einzigartigkeit angeheftet. Migranten gelten gemeinhin als Menschen, die den Ort, den sie als ihre Heimat betrachten, verlassen. Dagegen wurden Juden in den Ländern, aus denen sie kamen, als „Fremdlinge“ gesehen, und ihre Heimat sollte der Ort sein, in den sie auswanderten. Diese Haltung spiegelt auch das 1950 in Kraft getretene Rückkehrgesetz wider. Es schreibt eine Politik der offenen Türen für Juden aus aller Welt fest, einschließlich großzügiger Hilfen für Immigranten, vor dem Hintergrund eines angenommenen gesellschaftlichen Konsenses in Bezug auf ein Thema, das allgemein als sui generis verstanden wurde. Während israelische Demografen danach streben, die Migration nach Israel in den größeren historischen Zusammenhang jüdischer Migrationsbewegungen zu stellen, hat die Soziologie in Israel bisher fast ausschließlich den lokalen Rahmen in den Blick genommen, dabei durchweg dessen Einzigartigkeit betont und nur selten den dieses Konzept einbettenden Mythos infrage gestellt. Die folgende Analyse will sich der Migration nach Israel aus einer breiteren, globalen Perspektive nähern.

enacted in 1950, which established an open-door policy for Jews

Diaspora-Migration

migration to Israel in a broader, global context.

Im Hinblick auf das Thema Migration ist ein Vergleich zwischen Israel und Deutschland erhellend. Philip Martin weist darauf hin, dass deutsche Politiker immer wieder erklärt haben: „Die Bundesrepublik ist kein Einwanderungsland und wird auch keines werden.“ Tatsache ist aber, dass Westdeutschland im Zeitraum 1960 bis 1989 auch prozentual gesehen mehr Einwanderer aufnahm als Israel. Und verschiebt man den Bezugsrahmen auf die Jahre 1965 bis 1994 (wodurch in Deutschland die Phase der Wiedervereinigung mit abgedeckt ist und in Israel die Immigration von über 600.000 Menschen aus der ehemaligen UdSSR), so erhält man für Israel nur eine unwesentlich höhere Durchschnittsrate an Zuwanderern pro Jahr als für Deutschland: In Israel kamen auf 1.000 Einwohner im Mittel 11,9 Immigranten, in Deutschland 11,2. An diesen Zahlen gemessen, gehören beide Staaten zu denjenigen mit den weltweit höchsten Einwanderungsraten. Die Parallelen zu Deutschland sind besonders interessant im Hinblick auf das Konzept der DiasporaMigration – eine der vielen Varianten von Migration, die postindustrielle Gesellschaften prägen. Der Begriff Diaspora, früher meist auf Juden, Armenier und Griechen beschränkt, ist in jüngerer Zeit auf viele andere Gruppen ausgeweitet worden – seien es Einwanderer, Flüchtlinge, Vetriebene, Gastarbeiter, Exilierte oder

Migration Not available hasonline been a major social issue in Israel for well over 50 years. Indeed, its centrality in the value context of the society goes back to well before the establishment of the state in 1948. From its earliest stage, the notion of migration to Israel has been socially constructed as a unique phenomenon. Migrants to other destinations generally leave the place they consider home to find a new home; in the Israeli case, Jews were viewed as “strangers” in their countries of origin and sought to find a new home by means of migration. This view is reflected in the Law of Return and extensive support benefits for immigrants in a context of presumed social consensus surrounding the topic which has generally been thought to be sui generis. While Israeli demographers have sought to place migration to Israel in the context of more general historical processes of Jewish migration to a variety of destinations, the sociological community in Israel has focused almost exclusively on the local context, generally emphasizing its uniqueness and only infrequently challenging the mythology surrounding this notion. The following analysis considers

Diaspora Migration Germany provides an interesting comparison with Israel in the area of immigration. Martin states that Germany’s leaders have declared that “the Federal Republic of Germany is not, nor shall it become, a country of immigration”. Nevertheless, the facts are that during the period 1960 to 1989 West Germany admitted a higher ratio of immigrants per thousand of its population than did Israel. Between 1965 and 1994 (which includes the period of reunification of Germany as well as the immigration to Israel of over 600,000 persons from the former Soviet Union), the mean of the yearly rate of immigrants per thousand population was only slightly higher to Israel than to Germany (11.9 and 11.2 per thousand population, respectively). Judged by this criterion, both countries are among the world’s highest in their rates of immigration. The German parallel is especially interesting with regard to the concept of diaspora immigration, one of the many types of immigration that typify post-industrial societies. The notion of diaspora,

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Literature Tova Benski: “Ethnic convergence processes under conditions of persisting socio-economic-decreasing cultural differences: the case of Israel society,” International Migration Review 28, pp. 256–280, 1994 Naomi Carmon: Immigration and Integration in Post Industrial Societies: Theoretical Analysis and Policy-Related Research, MacMillan, New York 1996 Gérard Chaliand / Jean-Pierre Rageau: Atlas des Diasporas, Editions Odile Jacob, Paris 1991 James Clifford: “Diasporas.” In: Cultural Anthropology, 9 (3), pp. 302–338, 1994 Elazar Leshem / Judith T. Shuval: Immigration to Israel: Sociological Perspectives, Transaction Publishers, New Brunswick 1998

kleine Übersee-Gemeinden. Die Diaspora-Migration spielt für Israel zwar eine sehr große Rolle, doch es gibt sie keineswegs nur dort. In der israelischen Rhetorik sind „Immigranten“ Menschen, die in ihre historische Heimat, ihr „Vaterland“ zurückkehren und deren Identität sich dort mittels einer askriptiv legitimierten Bindung an ein territorial begrenztes Kollektiv knüpft. Aus dem Blick der Forschung erfüllt Israel sämtliche Kriterien der Diaspora-Migration, wie sie Chaliand und Rageau aufgestellt haben: erzwungene Zerstreuung, Aufrechterhaltung eines kollektiven historischen und kulturellen Gedächtnisses, der Wille, ein Erbe weiterzugeben, und die Fähigkeit, über all die Zeit ein Selbstverständnis als Gruppe zu bewahren. Auch wenn diese Kriterien nicht immer von Zuwanderern und Gastgebern gleichermaßen anerkannt werden, so liegen sie doch zweifellos der Ideologie, der Praxis und der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit zugrunde, wie sie das politische Establishment in Israel vertritt: Juden werden als Exilierte in den Länden, aus denen sie kommen, aufgefasst und sollen bei der Einwanderung nach Israel ein Gefühl der Heimkehr empfinden. Diese soziale Konstruktion legitimiert die bedingungslose Akzeptanz der Zuwanderer als vollwertige Mitglieder der israelischen Gesellschaft vom Moment ihres Eintreffens an. Ein anderes Beispiel für Diaspora-Migration bildet die Rückkehr von „Aussiedlern“ nach Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Mit dem Holocaust als Vorgeschichte wirkt es paradox, dass der Begriff Diaspora-Migration ausgerechnet auf ethnisch Deutsche besonders gut anwendbar sein soll – nämlich auf Menschen, deren Eltern oder Großeltern bis zum 31. Dezember 1937 im Deutschen Reich als Flüchtlinge oder Vertriebene deutscher Herkunft anerkannt waren. Nach deutschem Recht gelten Menschen von deutscher Ethnizität als Deutsche, auch wenn sie nicht die deutsche Staatsbürgerschaft haben. Diese Identität wird anhand von Abstammung, Sprache und Kultur bestimmt. Artikel 116, Absatz 1 des Grundgesetzes legt fest, dass sie „und ihre Abkömmlinge“ deutsche Staatsbürger geblieben sind, auch wenn sie infolge von Flucht oder Okkupation vormals deutscher Gebiete zu polnischen, rumänischen oder sowjetischen Staatsbürgern wurden. Das askriptive Kriterium des ius sanguinis gibt diesen Menschen das Recht zur Einreise nach Deutschland, wo sie sofort Staatsbürgerschaft, Wahlrecht, Sozialleistungen, besondere Sprachkurse etc. erhalten können. Formal werden sie nicht als Ausländer oder Zuwanderer betrachtet, sondern als Heimkehrer. Sie benötigen keine Arbeitserlaubnis, um sich um eine Stelle zu bewerben. Da sie den vollen Staatsbürgerstatus haben, werden sie in den amtlichen Registern gar nicht als separate Gruppe geführt.

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Not which available in the past online was generally exemplified by Armenians, Greeks and Jews, has been expanded in recent years to include many other groups of immigrants, expatriates, refugees, displaced persons, guest workers, exiles and overseas communities. While diaspora migration is extremely prominent in Israel, it is not unique to that society and there are other countries in which this type of migration occurs. In Israeli rhetoric, the concept “immigrants” is defined as persons returning to their historic homeland and “Fatherland” where their identity is tied to a territorially bounded collective entity through an ascriptive, legitimate connectedness. In the context of contemporary migration theory, Israel meets the full set of criteria for diaspora migration proposed by Chaliand and Rageau: forced dispersion, retention of a collective historical and cultural memory of the dispersion, the will to transmit a heritage, and the ability of the group to survive over time. Although at any one time the above criteria are not necessarily accepted by both migrants and hosts, they undoubtedly represent the ideology, practice and social construction of reality of the policy-making establishment in Israel which defines Jews as exiles in their countries of origin who feel a sense of homecoming upon immigration to Israel. It is this social construction that legitimizes the unconditional acceptance of immigrants into full membership in the society upon arrival. The return of Aussiedler to Germany after World War II provides an additional example of diaspora migration. Given the history of the Holocaust, it is paradoxical that the notion of diaspora migration is most applicable to ethnic Germans, or Aussiedler, persons whose parents or grandparents were admitted to the German Reich as refugees or expellees of German stock by 31 December 1937. According to German law, persons who are of German ethniticy without having German citizenship are considered German. Such identity is confirmed by lines of descent, language, education and culture. Article 116, Paragraph 1 of the German Basic Law provides that they and their children remained German citizens even though they may have become Polish, Romanian or Soviet citizens as a result of exile or the occupation of German territories by these countries. By the ascriptive criterion of ius sanguinis, these persons have the right to enter Germany and attain immediate citizenship,


Fran Markowitz: “Israelis with a Russian accent.” In: The Jewish Journal of Sociology, XXXV / (2), pp. 97-114, 1993 Philip Martin: “Germany: reluctant land of immigration.” In: Wayne Cornelius / Philip Martin / James Hollifield (Eds.): Controlling Immigration: A Global Perspective, Stanford University Press 1994, pp. 189–236 Rainer Münz / Rainer Ohliger: “Long-distance Citizens: Ethnic Germans and Their Immigration to Germany.“ In: Peter Schuck and Rainer Münz: Paths to Inclusion. The Integration of Migrants in the United States and Germany, Berghahn Books 2001, pp. 155–201

Die strukturellen Übereinstimmungen zwischen Israel und Deutschland im Umgang mit der Diaspora-Immigration sind erstaunlich groß, sowohl, was die soziale Konstruktion des Themas, als auch, was die daraus abgeleiteten Aufnahmekriterien betrifft. Die Konsequenzen, die beide Gesellschaften aus ihrer askriptiv begründeten Politik der offenen Tür ziehen, weisen neben vielen Gemeinsamkeiten aber auch signifikante Unterschiede auf. Parallelen lassen sich etwa im Kontrast zwischen der offiziellen und der informellen Haltung der Gastgeber-Bevölkerung gegenüber den Diaspora-Immigranten feststellen. In beiden Gesellschaften drückt sich durch weitreichende institutionelle Unterstützungsprogramme eine Ideologie des „Willkommen zu Hause!“ aus. Und in beiden Gesellschaften gelten die Immigranten und die eingesessene Bevölkerung als ethnisch identisch. Jedoch sind die grundsätzlich „jüdischen“ bzw. „deutschen“ Identitäten der Einwanderer überlagert von anderen ethnischen Selbstverständnissen, mitgebracht aus den Ländern und Kulturen, in denen sie vor der Migration lebten. So hat die zugewanderte Bevölkerung in Israel zwar eine grundsätzliche jüdische Identität gemeinsam, doch fächert sich diese in eine große Vielfalt an Kulturtraditionen, Arten der Religionsausübung, Ausbildungshintergründen und Sozialverhalten auf, geprägt von den jeweiligen Herkunftsländern. Offiziell werden sie alle willkommen geheißen und gleichermaßen gefördert, doch die Bevölkerung begegnet ihnen keineswegs immer so herzlich, sondern teils auch gleichgültig und teils auch versteckt oder offen feindselig. In Israel äußern vor allem benachteiligte Gruppen mit niedrigem sozioökonomischem Status zunehmend offen ihr Unverständnis für die Beihilfen, die neue Einwanderer genießen. Ende der 1990er Jahre, zur Hochzeit der Einwanderungswelle aus der vormaligen UdSSR, wurden Forderungen laut, die Politik der offenen Tür zu überdenken: zum einen, weil unter den Neubürgern viele Nichtjuden waren (die über ihren jüdischen Ehepartner Einlass fanden), zum anderen, weil behauptet wurde, die russische Mafia schleuse Prostituierte nach Israel und betreibe Geldwäsche. Weiteren Zündstoff für die Debatte um eine strengere Fassung des Rückkehrgesetzes lieferten die von orthodoxen und rechtsgerichteten Gruppen erhobenen Zweifel daran, dass der Anspruch russischer oder äthiopischer Zuwanderer auf jüdische Identität durchweg wahrheitsgemäß sei. Auch in Deutschland werden die ethnisch deutschen Zuwanderer, ihrem offiziellen Status zum Trotz, gemeinhin als Ausländer wahrgenommen, und viele eingesessene Deutsche missgönnen ihnen die großzügigen staatlichen Hilfen. Philip Martin stellt fest, dass die „Aussiedler“ willkommen waren, solange nur wenige von ihnen kamen. Als ihre Zahl anstieg, wuchs auch der Widerwille in der

Not voting available rights, online unemployment payments, and other benefits including special language courses. On the formal level, they are not viewed as foreigners or as immigrants, but as returnees to their rightful homeland. They do not require a work permit to obtain employment. Indeed, since they are full-fledged citizens, they are not categorized as separate entity in the official records. The structural parallels between Israel and Germany in their open door policies regarding the admission of diaspora immigrants are striking in terms of social construction of the situation and the consequent definition of criteria for admission. The “open door” policies based on ascriptive criteria in the two societies have been accompanied by some interesting differences and similarities in their consequences. Some parallels can be seen in the contrast between formal and informal attitudes of the host population toward diaspora immigrants. In both societies there is a formal ideology of welcome and acceptance expressed in extensive institutional support mechanisms. In both societies the immigrants are ethnically identical to the host population. However, their basic Jewish or German identities are overlaid with other ethnic identities associated with the countries and cultures in which they lived before immigrating. Thus in Israel the population of immigrants has in common its basic Jewish identity but at the same time is highly differentiated in terms of a variety of cultural traditions, modes of practising religious rituals, occupational skills and social resources imported from specific countries of origin. While all are formally accepted, and benefits are universally distributed, the host population responds in a variety of informal modes, ranging from adherence to the official welcoming stance to indifference as well as covert or overt hostility. In Israel, deprived social groups, especially those of lower socioeconomic status, have increasingly expressed overt resentment regarding benefits given to new immigrants. In the late 1990s, during the large immigration from the former Soviet Union, voices were raised to reconsider the open-door policy on grounds that there was a large proportion of non-Jews among the arrivals (who gained admission through marriage to Jews), and because of claims that the Russian mafia was bringing in prostitutes and

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Bevölkerung. Dieser Haltungswandel steht außerdem im Zusammenhang mit der Wirtschaftslage. Als die Arbeitslosenzahlen stiegen, wurden die Zweifel an der deutschen Identität der Zuwanderer lauter. Man beschuldigte sie etwa, Nachweise über einen Dienst ihrer Vorfahren beim deutschen Militär gefälscht zu haben. Auch für steigende Mieten in Deutschland wurden sie verantwortlich gemacht, und es mehrte sich Kritik an den kostenlosen Deutschkursen, die sie belegen konnten. Die israelische und die deutsche Gesellschaft unterscheiden sich allerdings in ihrer Grundeinstellung zur Diaspora-Migration. In Israel wird die Einwanderung offiziell uneingeschränkt befürwortet und gefördert, während die Position der Bundesregierung ambivalent ist. Auf der einen Seite stehen politische Forderungen nach einer „Rückkehr unserer deutschen Brüder und Schwestern“, und ein prominenter Leitartikler schrieb 1988, die Heimkehr von Deutschen müsse Vorrang vor der Zuwanderung von Ausländern haben. Auf der anderen Seite setzten sich Sozialdemokraten und Grüne für eine Streichung des Grundgesetzartikels 116 ein, der ein Relikt überkommenen völkischen Denkens sei; stattdessen machten sie sich für ein Quotensystem nach US-amerikanischem Vorbild stark, in dem ethnische Deutsche anderen Zuwanderergruppen gleichgestellt wären. Judith T. Shuval ist emeritierte Professorin für Soziologie an der Hebräischen Universität Jerusalem, wo sie das Programm für Gesundheitssoziologie leitete.

Not streaming available money online to Israel in order to launder it. In addition, doubts raised by orthodox religious and right-wing groups regarding the authenticity of the claims for Jewish identity among groups of Russian and Ethiopian immigrants have resulted in some political discussion calling for limitations to be set on the Law of Return. Similarly, in Germany there is evidence that, despite the formal acceptance of ethnic Germans, they are generally perceived and categorized as foreigners. Veteran Germans resent the fact that newly arrived ethnic Germans receive generous social benefits, Martin notes that when few ethnic Germans arrived, they were welcomed. But when numbers increased, there was growing overt hostility. These shifting attitudes were associated with processes of economic expansion and recession. When unemployment increased, suspicion was voiced regarding the authenticity of their German credentials. They were accused of buying and selling documents to prove that their ancestors had served in the German army. The high costs of housing have been attributed to ethnic Germans and there is resentment with regard to their access to German language courses. In 1990, there were voices calling for quotas in order to reduce social tensions. The two societies differ in their basic orientation to diaspora immigration: The Israeli stance seeks to encourage Jewish immigration while the German government’s position regarding admission of ethnic Germans is ambivalent. There are political demands for the “return of our German brothers and sisters” who wish to live as Germans among Germans; and a prominent columnist wrote in 1988 that “the coming home of Germans…has priority over the reception of aliens.” However the Social Democrats and Greens favoured the elimination of Article 116, describing it as an anachronistic relic of völkisch nationhood; they expressed support for an American-style immigration quota system in which ethnic Germans would be defined as just another immigrant group. Judith T. Shuval is professor emerita at the Hebrew University of Jerusalem, where she was director of the Program in the Sociology of Health.

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INSIDE JMB A KT U E L L E AU SST E L LU N G E N AU S D E M A RC H I V D I E A K A D E M I E D ES JÜDISCHEN MUSEUMS BERLIN CU R R E N T E X H I B I T I O N S F RO M T H E A RC H I V ES T H E J M B AC A D E M Y


A KT U E L L E AU SST E L LU N G E N

30. A P R I L B I S 8 . AU G U ST 20 1 0

Helden, Freaks und Superrabbis. Die jüdische Farbe des Comics Comic-Hefte aller Art brachten es ab Anfang der 1950er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland zu hohen Auflagen. Wie in vielen Bereichen des kulturellen und künstlerischen Lebens hatte die Nazizeit auch in der gezeichneten Bildergeschichte für Kinder eine Entwicklung unterbrochen, die erst lange nach Kriegsende wieder Fuß fassen sollte: Entgegen alle Ressentiments des Bildungsbürgertums bahnten sich die Comic-Geschichten aus den USA einen Weg in die deutschen Kinderzimmer. Dass es von Anfang an eine nennenswerte Zahl von Juden in allen Sparten dieses Unterhaltungsbusiness’ gab, war damals wie heute den meisten Lesern und Fans sicher unbekannt. Dem „jüdischen“ Beitrag zu diesem Medium nachzuspüren entschlossen sich das Pariser Musée d’art et d’histoire du Judaïsme und das Amsterdamer Joods Historisch Museum in einer Ausstellung, die vom Jüdischen Museum Berlin übernommen und in Teilen neu konzipiert wurde. Wenn wir die Geschichte des Comics aus einem jüdischen Blickwinkel heraus betrachten, geht es zunächst weniger darum, „jüdische“ Themen zu identifizieren, sondern vielmehr um historische Besonderheiten, die dazu führten, dass Comics zu einem „jüdischen“ Medium wurden. Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA die Zeitungen ihren Siegeszug antraten, wurden die gezeichneten Spaßgeschichten zu einer populären Alltagskunst. Nicht selten

stammten ihre Autoren und Zeichner – jüdische wie christliche – aus Emigrantenkreisen, und nicht selten wurde dieses Milieu in den Strips aufgegriffen, in denen die verschiedenen Einwanderertypen karikiert wurden. Jüdische Zeichner finden sich in den frühen Zeitungsstreifen noch eher selten – und dennoch war die Anzahl von Juden, die um 1940 in die Comic-Heft-Branche einstieg, erstaunlich hoch. Auch wenn Superman und seine Mitstreiter Captain America, Batman, Spiderman oder Wonder Woman keine jüdischen Themen bedienen, fließen doch in viele Geschichten die Lebenserfahrungen ihrer Schöpfer ein: die Hoffnung auf ein Leben in einer gerechten Gesellschaft, auf Bildung und Wohlstand, kurz, auf den American Way of Life. Doch auch hier ist die „jüdische Farbe des Comics“ eher zwischen den Zeilen zu finden. Ganz selten wird sie unmissverständlich angesprochen, wie in der Figur des Incredible Hulk von Stan Lee und Jack Kirby aus den 1960er Jahren, die dem Golem nachempfunden ist. Eine nächste Generation von politisierten Künstlern mit jüdischem Hintergrund, radikal säkular und links, kommentierte und kritisierte die Super-Saubermänner in Satiren und legte damit den Grundstein für eine neue ComicTradition, die in eine Entmythologisierung des US-amerikanischen Patriotismus mündete. Und es ist diese und die darauf folgende Generation von Künstlern, die beginnt, sich in meist autobiografischen Comics mit ihrer jüdischen Herkunft auseinanderzusetzen. Der bahnbrechende Comic-Roman „Maus“ von Art Spiegelman über den Massenmord an den europäischen Juden hat nicht nur vor Augen geführt, dass jüdische Geschichte als Familiengeschichte auf eine ganz neue Weise erzählt werden kann, er hat auch die Comic-Kunst revolutioniert und zum Vorbild für eine neue Erzählform, den grafischen Roman gemacht. Weitgehend unbemerkt von der europäischen Öffentlichkeit hat sich in den Vereinigten Staaten in den letzten zwei Jahrzehnten eine Comic-Literatur entwickelt, in der jüdische Themen und jüdische Geschichtserzählung eine

M O N TAGS K I N O I M RA H M E N D E R AU SST E L LU N G M O N TAG, 7. J U N I 20 1 0, 1 9 : 30 U H R CO M I C B O O K CO N F I D E N T I A L Dokumentarfilm von Ron Mann (USA 1988, 85 min, englische Originalversion) In „Comic Book Confidential“ porträtiert Ron Mann die bekanntesten Comic-Zeichner der USA. M O N TAG, 1 4. J U N I 20 1 0, 1 9 : 30 U H R WA LTZ W I T H BAS H I R Dokumentarischer Animationsfilm von Ari Folman (IL/D/F 2008, 87 min, FSK ab 12 Jahren) Mit einer Einführung durch Margret Kampmeyer, Projektleiterin der Ausstellung „Waltz with Bashir“ erzählt die Nachgeschichte eines Kriegstraumas. Die israelisch-deutsch-französische Koproduktion wurde seit ihrer Weltpremiere im Wettbewerb der Filmfestspiele in Cannes vielfach prämiert.

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innovative und vielseitige Strömung bilden. Diese neue Ausdrucksform mit einigen der besten Comic-Erzählungen vorzustellen, ist auch ein Angebot, über das Verhältnis von Dokumentation, Kunst und Erinnerung zu diskutieren. Die Ausstellung “Helden, Freaks und Superrabbis“ bietet Einblick in die reiche Vorgeschichte, auf die der jüdische Comic-Roman gründet und präsentiert mit einem Exkurs auf die französisch-jüdische und die israelische Comic-Produktion eine weitgehend unbekannte Beziehung von Juden zur populären Comic-Kultur. Cilly Kugelmann und Margret Kampmeyer (Aus der Einleitung des Begleitbuchs zur Ausstellung)

Marcus Wittmers: Auch Helden haben schlechte Tage, 2005. Galerie Gitte Weise. Marcus Wittmers: Heroes Have Bad Days, Too, 2005. Gallery Gitte Weise.

M O N DAY C I N E M A ACCO M PA N Y I N G T H E E X H I B I T I O N M O N DAY, 7 J U N E 20 1 0, 7. 30 P M CO M I C B O O K CO N F I D E N T I A L

M O N TAG, 2 1 . J U N I 20 1 0, 1 9 : 30 U H R CRUMB Dokumentarfilm von Terry Zwigoff (USA 1994, 119 min, englische Originalversion) Um Robert Crumb ranken sich viele Geschichten – die meisten sind wahr. Terry Zwigoff gelang es 1993, in die sonst hermetisch verschlossene Welt des Comic-Künstlers Eintritt zu bekommen und ein intimes Porträt zu drehen.

Documentary film, directed by Ron Mann (USA 1988, 85 min, OV) In “Comic Book Confidential,” Ron Mann profiles the best-known comic artists from the USA.

M O N TAG, 28 . J U N I 20 1 0, 1 9 : 30 U H R AMERICAN SPLENDOR Biografischer Spiel- und Animationsfilm von Robert Pulcini und Shari Springer Berman (USA 2003, 96 min) In dem semi-biografischen Filmportrait „American Splendor“ kommen sowohl der Künstler Harvey Pekar und seine Figur zu Wort – aber auch die Familie und Freunde des Künstlers sowie ihre gezeichneten Versionen.

Animated documentary film, directed by Ari Folman (IL/D/F 2008, 87 min, suitable for kids aged 12+, OV) Introduced by Margret Kampmeyer, curator of the exhibition “Waltz with Bashir” narrates the overcoming of trauma: The scriptwriter and director Ari Folman fought as an Israeli soldier in the first Lebanese war. This Israeli/German/French coproduction has been awarded several prizes since its world premiere at the Cannes Film Festival.

M O N DAY, 1 4 J U N E 20 1 0, 7. 30 P M WA LTZ W I T H BAS H I R


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30 A P R I L TO 8 AU G U ST 20 1 0

Heroes, Freaks, and SuperRabbis. The Jewish Dimension of Comic Art Beginning in the 1950s, comic books began to spread across the Federal Republic of Germany. As was the case in so many areas of cultural and artistic life, the Nazi period had interrupted the development of sequential picture stories for children, an area that was not to gain ground again until long after the war. Despite resentment among the educated classes, comic stories found their way from the USA into the bedrooms of German children.

Many fans and readers, both then and now, were likely not aware that a significant number of Jews could be found within all sections of this entertainment business. The Parisian Musée d’art et d’histoire du Judaïsme and the Joods Historisch Museum in Amsterdam decided to trace and exhibit the “Jewish” contribution to this medium in an exhibit that the Jewish Museum Berlin acquired and in part redesigned. If we look at the history of comics from a Jewish perspective, it’s initially less about identifying “Jewish” themes than it is about the historical characteristics that led to comics becoming a “Jewish” medium. As newspapers in the United States began their triumphal advance, these playfully drawn stories became a popular form of everyday art. Their authors and illustrators —both Jewish and Christian—not infrequently came from immigrant circles and this milieu was often taken up in the comic strips, in which various immigrant types were caricatured. Jewish illustrators are rarely found in the earliest newspaper comic strips. By 1940 however, the number of Jews entering the comic book business was astonishingly high. Even if Superman and

his comrades-in-arms—Captain America, Batman, Spiderman, or Wonder Woman—don’t take on Jewish themes, the life experiences of their creators do find their way into many of these stories: hope for a life in a just society, for education and prosperity; in short, for the American Way of Life. Yet the “Jewish Dimension of Comic Art” is etched between the lines here as well. Quite seldom are the themes so unambiguously addressed as they are in the figure of the Incredible Hulk by Stan Lee and Jack Kirby in the 1960s, based as it is upon the Golem. A new generation of politicized artists with Jewish backgrounds, radically secular and leftist, used satires to comment upon and criticize the super magical men, and in doing so laid the groundwork for a new comic tradition that led to a demythologization of American patriotism. And it is this and the following generation of artists that have begun to deal with their Jewish heritage in mostly autobiographical comics. The trail-blazing comic novel “Maus,” by Art Spiegelman, about the mass murder of European Jews, not only brought home that Jewish history as family history can be told in an entirely new way; it also revolutionized comic art and became a model for a new narrative form—the graphic novel. Widely unnoticed by the European public, a comic literature has developed over the last two decades in the United States within which Jewish themes and Jewish historical narratives constitute an innovative and eclectic trend. With some of the best comic narratives, these new forms of expression also offer an opportunity to discuss the relationship between documentation, art, and memory. The exhibition “Heroes, Freaks, and Super-Rabbis” and its accompanying catalogue provide a peek into the rich prehistory of the Jewish comic novel and present a largely unknown relationship between Jews and popular comic culture via an excursus on French Jewish and Israeli comic production. Cilly Kugelmann and Margret Kampmeyer (from the Introduction in the accompanying exhibition catalog)

M O N DAY, 2 1 J U N E 20 1 0, 7. 30 P M CRUMB Documentary film, directed by Terry Zwigoff (USA 1994, 119 min, OV) Robert Crumb is entwined in a wealth of stories, most of them true. Terry Zwigoff managed to find a way into the comic artist’s otherwise hermetic existence and paints an intimate portrait in this film.

M O N DAY, 28 J U N E 20 1 0, 7. 30 P M AMERICAN SPLENDOR Animated feature documentary, directed by Robert Pulcini and Shari Springer Berman (USA 2003, 96 min, OV) In the semi-autobiographical film portrait “American Splendor,” both have their say: the artist and his comic hero, as well as the artist’s family and friends and their comic figures.

Begleitend zur Ausstellung erschien ein Katalog, der mit sieben Texten von Künstlern, Sammlern und Wissenschaftlern die Themen der Ausstellung vertieft. € 19,80 The catalog accompanying the exhibition includes seven essays by known comic experts. German edition only. € 19,80

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A KT U E L L E AU SST E L LU N G E N

1 8 . F E B R UA R B I S 1 5. AU G U ST 20 1 0

Heiligtümer, Papyri und geflügelte Göttinnen – Der Archäologe Otto Rubensohn Im Jahr 2006 erhielt das Jüdische Museum Berlin den Nachlass des klassischen Archäologen Otto Rubensohn als Schenkung von seinem Schwiegersohn Dr. phil. Fortunatus SchnyderRubensohn. Seine Ausgrabungen und wissenschaftlichen Arbeiten sind mit der Berliner Papyrussammlung und der Erforschung der antiken Geschichte der griechischen Insel Paros untrennbar verbunden. Mit einer Kabinettausstellung würdigt das Jüdische Museum Berlin Leben und Werk dieses heute nur noch in Fachkreisen bekannten jüdischen Gelehrten. Der aus Kassel stammende Otto Rubensohn (1867–1964) promovierte in Straßburg bei Adolf Michaelis. Von 1897 bis 1899 war er am Deutschen Archäologischen Institut in Athen tätig. 1898 wurde er beauftragt, die Heiligtümer von Apollo und Asklepios auf der Insel Paros auszugraben, wo er auch ein Museum für die zahlreichen Fundstücke gegründet hat. Von 1901 bis 1907 leitete Rubensohn das Papyrusunternehmen der Königlichen Museen zu Berlin und fungierte ebenfalls als Leiter des 1902 gegründeten Papyrus-Kartells. Neben dem Erwerb wichtiger Papyri aus dem Handel führte er mehrere Ausgrabungen durch, bei denen bedeutende Funde gemacht wurden, darunter das prähistorische Begräbnisfeld von Abusir el Meleq, das sogenannte TaurinosArchiv in Eshmunen sowie die aramäischen

Papyri auf der Insel Elephantine. Im Jahr 1909 wurde er zum Direktor des neu entstandenen Pelizaeus-Museums in Hildesheim ernannt, das er bis 1915 leitete. Die folgenden Jahre bis zu seinem Ruhestand 1932 verbrachte er als Gymnasiallehrer in Berlin, widmete sich aber weiterhin seiner wissenschaftlichen Arbeit. In der NS-Zeit mehr und mehr isoliert und den Schikanen des Regimes zunehmend ausgesetzt, floh Otto Rubensohn mit seiner Frau im März 1939 in die Schweiz. In Basel führte er seine Forschungen fort und veröffentlichte im 95. Lebensjahr sein bedeutendstes Werk über das Delion von Paros. Aubrey Pomerance

SY M P OS I U M Z U R E R Ö F F N U N G D E R AU SST E L LU N G „HEILIGTÜMER, PAPYRI UND GEFLÜGELTE GÖTTINNEN – D E R A RC H Ä O LO G E OT TO R U B E N S O H N “

Am 18. Februar wurde im Auditorium des Jüdischen Museums Berlin vor 85 Teilnehmern, zumeist Fachleute aus verschiedenen Gebieten, in sechs Vorträgen erstmals eingehend das Leben und Werk dieses bisher nur in Fachkreisen bekannten jüdischen Archäologen beleuchtet.

25. M Ä RZ B I S 27. J U N I 20 1 0

Flucht und Verwandlung Nelly Sachs, Schriftstellerin, Berlin/Stockholm 1966 erhielt Nelly Sachs (1891–1970) den Literaturnobelpreis „für ihre hervorragenden lyrischen und dramatischen Werke, die das Schicksal Israels mit ergreifender Deutlichkeit interpretieren“. Entstanden waren diese Werke größtenteils im schwedischen Exil, wo es ihr – nicht zuletzt durch die veränderten biografischen Bedingungen – gelungen war, ein poetisches Universum zu erschaffen, das auch heute noch berührt, erschüttert, verblüfft. Anlässlich ihres 40. Todestages befasst sich das Jüdische Museum Berlin in einer Sonderaus-

Otto Rubensohn in Ägypten, um 1905 Otto Rubensohn in Egypt, around 1905

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stellung mit Leben und Werk der deutsch-jüdischen Dichterin und schenkt dabei vor allem ihrer Flucht nach Schweden besondere Aufmerksamkeit. Erst im Exil entstehen Nelly Sachs’ bekannteste Gedichte. Nachts, wenn „alle außer den Toten schlafen“, ist Sachs nicht mehr in der Lage, den Eindrücken des unmittelbar Erlebten Widerstand zu leisten. Um sich selbst zu schützen, „um zu überleben“, schreibt sie sie auf und versucht die ihr und ihrem Volk zugefügten Wunden lesbar zu machen. Sie schreibt in einer Küchenecke und im Dunkeln, um die Mutter nicht zu wecken. Hier findet Sachs zu der ihr eigenen ästhetischen Radikalität: Metaphern, die sie schon in ihrer jugendlichen Stimmungslyrik verwandte, füllen sich nun mit kompromisslosen Inhalten, die schrecklichen Erlebnisse fügen dem Koordinatensystem ihrer Sprache eine neue Achse hinzu. Anhand von Dokumenten, Fotos sowie ausgewählter Objekte beleuchtet die Ausstellung neben dem Werk der Dichterin auch den sozialhistorischen Kontext ihres „gelebten Lebens“. Entlang der in die konvexen und konkaven Stellwände integrierten Exponate entstehen dabei überraschende Blickachsen und Querbezüge. So tritt das Glanzbildalbum aus Sachs’ behüteter Jugend im assimilierten jüdischen Großbürgertum in Verbindung mit dem abgewetzten braunen Lederkoffer, den sie 1940 am Flughafen Tempelhof in eines der letzten von dort startenden zivilen Flugzeuge mitnahm. Praktisch gleichzeitig mit der allmählichen Anerkennung ihres Werkes in der jungen DDR und der Bundesrepublik wird Sachs von einer wieder ausbrechenden psychischen Erkrankung heimgesucht. In ihrer Wohnung, die vom Knipsen und Rascheln einer Nazi-Spiritisten-Liga erfüllt scheint, fühlt sie sich nicht mehr sicher, sodass wiederholte Aufenthalte in der Klinik Beckomberga im Norden Stockholms mit den Ehrungen einhergehen: Neben den Auszeichnungen für ihr Werk zeigt die Ausstellung Gaben mit vermeintlich magischen Eigenschaften, die Sachs von ihren Freunden am Krankenbett erhielt. Katharina Erben


CU R R E N T E X H I B I T I O N S

(secondary school) in Berlin, and after the National Socialists came to power, Rubensohn became increasingly isolated and exposed to growing discrimination. In March 1939 he fled with his wife to Switzerland. There he continued his research in Basel and at the age of 94 published his most important book, “Das Delion von Paros.” Aubrey Pomerance

1 8 F E B R UA RY TO 1 5 AU G U ST 20 1 0

Sanctuaries, Papyri and Winged Goddesses – The Archaeologist Otto Rubensohn In 2006, Dr. phil. Fortunatus Schnyder-Rubensohn donated the estate of his father-in-law, the classical archaeologist Otto Rubensohn to the Jewish Museum Berlin. Rubensohn’s excavations and his academic work are intrinsically connected with Berlin’s collection of papyri and with the study of the ancient history of the Greek island of Paros. A cabinet exhibition at the Jewish Museum honors the life and work of this Jewish scholar, who is still highly recognized by academics in his field. Born and raised in Kassel, Otto Rubensohn (1867–1964) wrote his dissertation in Strasbourg under the supervision of Adolf Michaelis. He worked at the German Archaeological Institute in Athens from 1897 to 1899, and excavated the sanctuaries of Apollo and Asclepius on the island of Paros, where he also erected a museum for his many findings. From 1901 to 1907, Rubensohn led the papyrus enterprise of the Berlin Royal Museums. Aside from purchasing important papyri, his excavations uncovered significant findings, among them a prehistoric cemetery in Abusir el Melek, the so-called Taurinus archive in Eshmunen and the Aramaic Papyri on the island of Elephantine. In 1909, he was appointed director of the newly-established Pelizaeus Museum in Hildesheim, which he oversaw until 1915. In the following years until his retirement in 1932, he taught at a Gymnasium

SY M P OS I U M ACCO M PA N Y I N G T H E O P E N I N G O F T H E E X H I B I T I O N “ S A N C T U A R I E S , PA P Y R I A N D W I N G E D GODDESSES – THE ARCHAEOLOGIST OTTO RUBENSOHN”

On February 18 a symposium took place in the Museum’s auditorium. 85 participants, most of them specialists in the fields of archaeology and Egyptology, were treated to six lectures on Rubensohn’s life and work.

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Flight and Metamorphosis Nelly Sachs, Writer, Berlin/Stockholm

In 1966, Nelly Sachs (1891–1970) received the Nobel Prize for Literature “for her outstanding lyrical and dramatic writing, which interprets Israel’s destiny with touching strength.” A major portion of this work was produced while she was in exile in Sweden, where she—not least due to the changed biographical situation—succeeded in creating a poetic universe that to this day continues to move, unsettle, and amaze. On the occasion of the 40th anniversary of her death, the Jewish Museum Berlin is celebrating the life and work of the German-Jewish poet with a special exhibition, with particular attention being given to her escape to Sweden. It was during her exile that Nelly Sachs’ most notable poems were produced. At night, when “all but the dead are asleep,” Sachs could no longer keep the impressions of the day at bay. In order to protect herself, “and to survive,” she wrote

them down and tried to make the wounds inflicted upon her and her people readable. She wrote in a kitchen corner and in the dark, in order not to wake her mother. And it is here that Sachs developed her aesthetic radicalism: metaphors that she had earlier deployed in her sentimental teenage poetry now brimmed with uncompromising content, the awful experiences giving a new axis to the coordinate system of her language. With the help of documents, photographs, and selected objects, the exhibition highlights not only the poet’s work, but the socio-historical context of her “lived life” as well. Surprising lines of sight and cross-references arise when moving along the exhibition pieces integrated into the concave and convex exhibition walls. In this way the friendship books of Sachs’ sheltered childhood in an assimilated Jewish bourgeois household are contrasted with the weathered, brown leather suitcase that she took with her in 1940 on one of the last civilian flights from Tempelhof Airport. At almost the same time that Sachs’ work was becoming recognized in the young GDR and the Federal Republic, she began suffering a recurring psychological disorder. She no longer felt safe in her apartment, which was seemingly haunted by the whispers and rustling of a league of Nazi spiritualists; as a result, she spent repeated stays at the Beckomberga Hospital in northern Stockholm even as she was simultaneously being recognized for her talents: Alongside her numerous honors, the exhibition displays tokens with alleged magical powers given to Sachs at her sickbed by friends. Katharina Erben

Die Ausstellung „Flucht und Verwandlung. Nelly Sachs, Schriftstellerin, Berlin/Stockholm“, kuratiert von Dr. Aris Fioretos, entstand in Kooperation zwischen dem Gestaltungsbüro gewerk, der Schwedischen Botschaft in Berlin, der Königlichen Bibliothek Stockholm sowie dem Suhrkamp Verlag, der den die Ausstellung begleitenden Essayband und eine vierbändige revidierte Gesamtausgabe von Nelly Sachs’ Werken herausgibt. The exhibition, “Flight and Metamorphosis. Nelly Sachs, Writer, Berlin/Stockholm,” curated by Dr. Aris Fioretos, was made possible via a cooperation between the design firm gewerk, the Swedish Embassy in Berlin, the Royal Library of Stockholm, as well as Suhrkamp Verlag, which published the accompanying volume of essays and a four-volume, revised edition of Nelly Sachs’ complete works.

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AU S D E M A RC H I V

Unerwartete Schätze Aus dem Nachlass Eduard Bernsteins Zu den überraschendsten Schenkungen, die das Jüdische Museum Berlin in den letzten Jahren erhalten hat, zählt eine Sammlung von Materialien aus dem Nachlass des berühmten Sozialisten Eduard Bernstein (1850–1932). Geboren in Berlin als Sohn eines jüdischen Lokomotivführers, das siebte von fünfzehn Kindern, wurde Bernstein zu einem der bedeutendsten Theoretiker des Sozialismus und übte maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung der Sozialdemokratie in Deutschland aus. Als Wegbegleiter der beiden Begründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, August Bebel und Wilhelm Liebknecht, verbrachte Bernstein 20 Jahre im politischen Exil in Zürich und London, wo er mit Friedrich Engels eng befreundet war. Am bekanntesten wurde er durch seine Kritik an der orthodoxen marxistischen Lehre und seine Forderung zur Verwirklichung des Sozialismus durch Reform statt Revolution, weshalb er auch als „Vater des Revisionismus“ bezeichnet wird. Der Großteil seines Nachlasses liegt im International Institute for Social History in Amsterdam als Teil des Archivs der SPD, das 1933 aus Nazideutschland gerettet und vier Jahre später an das Institut verkauft wurde. Weitere Dokumente und Korrespondenz Bernsteins gelangten etwa zur gleichen Zeit nach Moskau, wo sie heute im Russischen Staatsarchiv für sozialpolitische Geschichte aufbewahrt werden. Die Tatsache, dass sich Unterlagen von Bernstein noch im Familienbesitz befanden, war lange Zeit völlig unbekannt. Die ins Museum gekommene Sammlung von über 240 Dokumenten und 35 Fotografien stif-

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tete Zev Chajes; sein Vater, der Mediziner, Professor für Sozialhygiene und Gesundheitspolitiker Benno Chajes (1880–1938), war mit Eduard Bernsteins Stieftochter verheiratet gewesen. Die Sammlung enthält neben Korrespondenzen mit Verwandten, Freunden und politischen Wegbegleitern einige Ministerialund Reisepässe – unter anderem einen für Bernsteins Teilnahme als Sachverständiger an den Friedensverhandlungen in Versailles 1919. Dazu kommen vereinzelte Schriften und Zeitungsausschnitte, die Testamente von Bernstein und seiner Frau Regina sowie Dokumente zu seiner Beerdigung und Nachlassverwaltung. Prunkstück der Sammlung bildet jedoch ein über hundertseitiges Album mit den gesammelten Glückwünschen, die Bernstein anlässlich seines 70. Geburtstages am 6. Januar 1920 erhalten hat. Es bringt ein breites Spektrum von Gratulanten zum Vorschein und gibt somit einen Einblick in die vielfältigen Beziehungen, die Bernstein pflegte: Neben zahlreichen Politikern und Genossen gratulierten viele Akademiker und Intellektuelle, Schriftsteller, Frauenrechtler und Künstler sowie Verwandte dem Jubilar mit Telegrammen, Briefen, Postkarten, Gedichten und Zeichnungen. So finden wir neben den Glückwünschen des damaligen Reichspräsidenten Friedrich Ebert und des Reichskanzlers Gustav Bauer Schreiben von sozialistischen Verbänden, Institutionen und Organen aus dem In- und Ausland. Hierzu zählt die zionistisch-marxistische Bewegung Poale Zion, die den „sozialistischen Forscher und Lehrer, wahrhaften Internationalisten, treuen Jünger der jüdischen Propheten sozialer Gerechtigkeit und Völkerfriedens“ lobpreist, verbunden mit dem Wunsch, dass sein „schaffender Geist [und] großes Herz der kämpfenden Arbeiterklasse lange erhalten bleiben“. Die Russische Sozialistische Demokratie dankt Bernstein für sein „mutiges Auftreten gegen das barbarische, dem Sozialismus schadende Regime der Bolschewiki, das die russische Arbeiterklasse entrechtet, unterjocht und dem Untergang entgegenführt“. Die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit rühmt ihn

als einen der „wenigen Männer in Deutschland, die die Frauen als gleichwertige Kämpferinnen betrachten,“ während Heinrich Brückmann, Generaldirektor der Erdöl- und Kohleverwertungs A.G. und Erster Vorsitzender des Deutschen Wirtschafts-Kongresses Bernstein als herausragende Persönlichkeit schätzt: „Wenn die Führer auch anderer politischer Parteien nur 10% Ihrer Klugheit, Einsicht, Duldsamkeit und individueller Rüstigkeit hätten, würde es um unser Wirtschaftsleben um 100% besser aussehen.“ Bernsteins schwieriger Lebensweg, sein politischer Kampf und die ihm entgegengebrachte erbitterte Gegnerschaft wird in einem geistreichen, zehnseitigen Gedicht – „Ede zu seinem 70. Geburtstage“ – aus der Feder des Journalisten und Historikers der Gewerkschaftsbewegung Siegfried Nestriepke besungen. An einer Stelle heißt es pointiert: „Ede, na, es ist nicht alles, was du wolltest, auch geglückt, und es war auch keinesfalles jeder stets davon entzückt.“ Zu den vielen weiteren Schreiben im Album gehört auch ein am 26. Januar 1920 verfasster Brief von Käthe Kollwitz, aus dem hervorgeht, dass sie ihrem Freund Bernstein eine ihrer Arbeiten zum Geburtstag geschenkt hat. Dem vehementen Gegner des Ersten Weltkrieges kündigt sie darin außerdem das Schaffen von Lithografien zum Thema Krieg an, ein Zyklus, der zwei Jahre später in Form der bekannten Holzschnittfolge vollendet wurde. Mitte Dezember 1932 starb Eduard Bernstein, sechs Wochen vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. Ihm blieb somit die sofort einsetzende Verfolgung gegen Sozialisten und Juden zugleich erspart. Aubrey Pomerance


F RO M T H E A RC H I V ES

Unexpected Treasures From the Estate of Eduard Bernstein Among the most surprising donations that the Jewish Museum has received over the past few years is a collection of materials from the estate of the famous socialist Eduard Bernstein (1850–1932). Born the son of a Jewish railroad engineer in Berlin, the seventh of fifteen children, Bernstein became one of the most important theoreticians of socialism and had a major impact on the development of social democracy in Germany. A companion of the founders of the Social Democratic Labor Party (SPD), August Bebel and Wilhelm Liebknecht, Bernstein spent 20 years in political exile in Zurich and London, where he was a close friend of Friedrich Engels. He became well-known for his critique of orthodox Marxist theory and his demand to implement socialism through reform rather than revolution, a position that earned him the title “father of revisionism.” The majority of Bernstein’s estate is deposited at the International Institute of Social History in Amsterdam as part of the SPD archive that had been rescued from Nazi Germany in 1933 and sold to the Institute four years later. At around the same time, additional documents and correspondence made their way to Moscow, where they are today kept at the Russian State Archive of Social and Political History. That Bernstein’s family was in possession of further materials remained entirely unknown. In 2006, more than 240 documents and 35 photographs were donated to the Jewish Museum by Zev Chajes. His father, Benno Chajes (1880–1938)— a medical doctor, professor of social hygiene, and a politician dedicated to public health—was married to Eduard Bernstein’s stepdaughter. The

collection contains correspondence with relatives, friends and colleagues, as well as passports, identity cards and ministerial papers, among them a travel document issued to Bernstein in connection with his participation at the Paris Peace Conference in 1919. Included as well are a number of essays and newspaper clippings, the last will and testaments of Bernstein and his wife Regina, as well as documents concerning his funeral and the administration of his estate. The centerpiece of the collection is an album of more than one hundred pages comprising congratulatory wishes in the form of telegrams, letters, postcards, poems and drawings that Bernstein received on the occasion of his seventieth birthday on 6 January 1920. It reveals a broad spectrum of well-wishers and offers insight into the numerous and varied relationships that Bernstein cultivated: with politicians and comrades, suffragists, academics and intellectuals, writers and artists, as well as relatives. Alongside greetings from the German president Friedrich Ebert and the chancellor Gustav Bauer are letters from national and international socialist associations and institutions. Among these is the Zionist-Marxist association Poale Zion, that praise the “Socialist researcher and teacher, true internationalist, devoted follower of the Jewish prophets of social equality and peace between nations” and express the hope that Bernstein’s “creative spirit [and] generous heart will serve the struggling working class for a long time to come.” The Russian Social Democractic Party thanks Bernstein for his “brave stance against the barbaric regime of the Bolsheviks, which has damaged Socialism and is disenfranchising, subjugating and decimating the Russian working class.” The Women’s International League for Peace and Freedom extols Bernstein as one “of the few men in Germany who regard women as equals in the struggle,” while Heinrich Brückmann, General Director of Erdöl- und Kohleverwertungs AG and first chairman of the German Economic Congress sees in him a man of exceptional character, noting: “If the leaders of other political parties would possess just 10% of your wisdom, insight, forbear-

ance and individual vigor, our economic situation would be 100% better.” Bernstein’s difficult life, his political struggle, and the strong opposition he experienced are expressed in a witty ten-page poem written by the journalist and historian Siegfried Nestriepke entitled “Ede on his 70th birthday.” At one point the poem reads “Well Ede, not everything you wanted came about nor was everyone happy about everything you wanted.” Among the album’s many further letters is one from the artist Käthe Kollwitz, written on 26 January 1920, which reveals that she had given Bernstein one of her artworks as a birthday present. In her letter she informs the vehement opponent of the First World War that she had begun work on a series of lithographs devoted to the subject of war, which evolved into the well-known cycle of woodcuts completed two years later. Eduard Bernstein died in December 1932, six weeks before Hitler was named chancellor. He was thus spared the persecution of both Socialists and Jews that would begin immediately thereafter. Aubrey Pomerance

Zeichnung des bekannten Pazifisten Otto Koester zu Bernsteins 70. Geburtstag. Drawing by the well-known pacifist Otto Koester for Bernstein’s 70th birthday.

Personalausweis für Bernstein als Mitglied des Reichstages. Bernstein’s Identity Card as member of the Reichstag.

JMB INSIDE

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F R E U N D ES K R E I S

Freunde und Förderer des Jüdischen Museums Berlin Was im Leben gilt, gilt auch für das Jüdische Museum Berlin: Die wichtigsten Unterstützer sind Freunde. Sei es das Outreach-Programm „On.tour – Das JMB macht Schule“ (siehe JMBJournal 2009/2010 Nr. 1, S.40–43) oder die Aktionswoche „Darfur – Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ – ohne die Hilfe der Gesellschaft der Freunde und Förderer der Stiftung Jüdisches Museum Berlin e.V. hätten zahlreiche wertvolle Projekte des Museums nicht realisiert werden können. In diesem Jahr ermöglichte der Freundeskreis bereits den Kauf des Areals gegenüber dem Jüdischen Museum und schuf so die Basis für die dringend benötigte Erweiterung: Die bisherige Blumengroßmarkthalle soll in Zukunft die Bildungsabteilung, die Archive und die Bibliothek unter einem Dach vereinen und damit Synergien zwischen wissenschaftlicher Arbeit und pädagogischer Vermittlung schaffen. Dem Museum stehen jedoch nicht nur in Deutschland Freunde und Förderer zur Seite. Bereits 1999 schlossen sich in den USA die Friends of the Jewish Museum Berlin zusammen, ebenfalls mit dem Ziel, das Jüdische Museum Berlin bei seinen Aufgaben zu unterstützen. Ihren zahlreichen Mitgliedern und kontinuierlichen Spenden ist es zu verdanken, dass das Museum für die Umgestaltung des Blumengroßmarkts erneut Daniel Libeskind gewinnen konnte: Sie schenkten dem Haus den Entwurf des Stararchitekten. Zusammen mit den beiden bestehenden Libeskind-Bauten – dem verzinkten Museumsbau und dem Glashof im Kollegien-

KU LT U R P RO G RA M M D E R G ES E L L S C H A F T D E R F R E U N D E U N D F Ö R D E R E R D E R ST I F T U N G J Ü D I S C H ES M U S E U M B E R L I N E .V.

haus – wird so ein faszinierendes Architekturensemble mitten in Kreuzberg entstehen. Mit dem amerikanischen Schwesterverein war der Freundeskreis des Museums bereits bei seiner Gründung eine Ausnahme in der deutschen Museumslandschaft. Anders als die Freundeskreise anderer Museen orientierte sich der Verein als einer der ersten in Deutschland an den seit Jahrzehnten etablierten und erfolgreichen Strukturen amerikanischer Kulturinstitutionen: Freunde des Museums konnten sich von Anfang an individuell und aktiv bei der Unterstützung der Museumsarbeit engagieren. Jeder kann dem passenden Kreis beitreten und damit verbundene Angebote rund um das Veranstaltungsprogramm des Museums in Anspruch nehmen. Das diesjährige Programm unseres Fördervereins begann mit einer exklusiven Führung durch die Sonderausstellung „Helden, Freaks und Superrabbis. Die jüdische Farbe des Comics“. Die Teilnehmer erfuhren von Projektleiterin Margret Kampmeyer nicht nur Faszinierendes über die Geschichte der Werke von mehr als 40 Comic-Künstlern, sondern auch Details über die ungewöhnliche Ausstellungsgestaltung. Weiter ging es im Juni mit einem Ausflug an den Wannsee. Dr. Martin Faass, Leiter der Villa Liebermann, führte die Teilnehmer durch die große Jubiläums-Ausstellung „Die Idee vom Haus im Grünen“ anlässlich des 100-jährigen Bestehens des Sommerhauses von Max Liebermann. Nach einer kurzen Pause im Café Max begleitete Inka Bertz, Chefkuratorin des Jüdischen Museums Berlin, die Mitglieder durch die Villenkolonie Wannsee und wusste Spannendes über die Besonderheiten der Architektur und der jüdischen Geschichte der Häuser und Gärten zu berichten. Bereits zum zweiten Mal laden im Sommer die Freunde und Förderer Mitglieder anderer Freundeskreise von Berliner Kulturinstitutionen zu einem gemeinsamen Gedankenaustausch in den Garten des Museums. Zum Auftakt werden die Mitglieder den Pianisten Matan Porat mit Werken von Schumann und Strawinski hören können.

In das Berliner Neue Museum geht es im Rahmen der Kabinett-Ausstellung „Heiligtümer, Papyri und geflügelte Göttinnen“: Aubrey Pomerance, Archivleiter des Jüdischen Museums, wird den Teilnehmern einen Überblick über das Leben und Werk des jüdischen Archäologen Otto Rubensohn geben und sie anschließend zu einer exklusiven Führung durch das wiedereröffnete Haus auf der Museumsinsel einladen. Viele weitere Aktivitäten stehen im Herbst auf dem Programm: Cilly Kugelmann, stellvertretende Direktorin und Programmleiterin des Museums, wird eine Reise des Fördervereins nach Israel begleiten. Gemeinsam mit den Freunden der Staatsoper ist ein Konzert im Glashof geplant. Höhepunkt des Jahres bildet erneut die Verleihung des Preises für Verständigung und Toleranz am 13. November 2010. Die Preisverleihung wird auch in diesem Jahr mit Freunden und Förderern aus der ganzen Welt im Rahmen eines festlichen Jubiläums-Dinners gefeiert. Ausgezeichnet werden zwei Persönlichkeiten, die sich auf herausragende Weise für Menschenwürde, Völkerverständigung, Bildung sowie für soziale und gesellschaftliche Belange eingesetzt haben. Seit Mai 2010 ermöglicht die neue Struktur des Freundeskreises Museumsbegeisterten die Unterstützung des Museums auch mit einem geringeren Beitrag. Viele neue Freunde des Museums können damit den Verein unterstützen, sich noch nachhaltiger an Aktivitäten zu beteiligen, die in den neuen Räumen des Erweiterungsbaus geplant sind: an den Programmen der pädagogischen Abteilung, des Archivs und der Bibliothek.

S O M M E R 20 1 0

H E R B ST 20 1 0

S O N N TAG, 20. J U N I 20 1 0, 1 9 : 0 0 U H R VO N F R E U N D E N – F Ü R F R E U N D E Ein musikalischer Abend der Freunde und Förderer des Jüdischen Museums Berlin mit dem Pianisten Matan Porat und einem anschließenden Empfang im Garten des Museums.

M I T T WO C H , 0 8 . S E PT E M B E R 20 1 0, 1 9 : 0 0 U H R „ S C H A N A TOVA U ’ M E T U K A “ – E I N G U T ES U N D S Ü SS ES JA H R Empfang der Stiftung Jüdisches Museum Berlin anlässlich der jüdischen Neujahrstage.

Mit freundlicher Unterstützung der Freunde Junger Musiker e.V. Berlin

S O N N TAG, 31 . O KTO B E R 20 1 0, 1 9 : 0 0 U H R FREUNDE, SCHÖNER GÖTTERFUNKEN Ein Konzert in Kooperation mit den Freunden und Förderern der Staatsoper Unter den Linden.

S O N N TAG, 27. J U N I 20 1 0, 1 3 : 0 0 U H R BEGRABENE SCHÄTZE Führung mit Aubrey Pomerance, Leiter des Archivs, durch die Kabinettausstellung „Heiligtümer, Papyri und geflügelte Göttinnen. Der Archäologe Otto Rubensohn“ mit einer anschließenden Führung durch das Neue Museum. S O N N TAG, 1 1 . J U L I 20 1 0, 1 0 : 0 0 U H R AUSSEN B ET RACH TU NG E N Dieser Vormittag bietet die Gelegenheit, den einzigartigen, vom Architekten Hans Kollhoff entwickelten Garten des Museums während einer Führung kennenzulernen und anschließend das Christoph Spangenberg Trio bei „Jazz in the Garden“ zu genießen. 32

JMB INSIDE

Johanna Brandt

SA M STAG, 1 3. N OV E M B E R 20 1 0, 1 8 : 30 U H R Jubiläums-Dinner anlässlich der „Verleihung des Preises für Verständigung und Toleranz“. R E I S E N AC H I S RA E L mit Cilly Kugelmann, Programmdirektorin des Jüdischen Museums Berlin und Stellvertreterin des Direktors.


F R I E N DS O F T H E M U S E U M

Friends and Supporters of the Jewish Museum Berlin What’s true in life is also true for the Jewish Museum Berlin: The most important sources of support are friends. Whether it is the outreach program “On.tour – The JMB Tours Schools” (see JMB Journal 2009/2010, Nr. 1, pp. 40–43) or an awareness week like “Darfur: Crimes against Humanity”—without the help of the Gesellschaft der Freunde und Förderer der Stiftung Jüdisches Museum Berlin e. V. numerous valuable museum projects would never have been realized. So far this year the Friends of the Museum have already made possible the purchase of the area across from the Jewish Museum and thereby enabled the foundation for a much needed expansion: What has been a wholesale flowermarket hall will in the future house the educational department, archives, and library. Combining these departments under one roof will create a synergy between scholarly work and educational exchange. The museum not only has the help of friends and supporters in Germany; since 1999 there has been the American Friends of the Jewish Museum Berlin in the United States, which likewise aims to support the museum via a variety of efforts. The group’s many members and their continuous donations have made it possible for the museum to again hire Daniel Libeskind to transform the flower market: They have sponsored the star architect’s design. In addition to the two existing Libeskind structures—the museum with its zinc-façade and the Glass Courtyard in the Old Building—a fascinating ensemble of architecture will emerge at the center of Berlin’s Kreuzberg district.

S E L EC T I O N F RO M T H E F R I E N DS A N D S P O N S O R S O F T H E J E W I S H M U S E U M B E R L I N P RO G RA M

By having an American sister association the museum’s membership program was already exceptional among German museums at its founding. Unlike the membership programs at other museums, the Jewish Museum Berlin’s association is oriented upon the established, successful, and decades-old model of American cultural institutions: Friends of the Museum were able to individually and actively engage in supporting the museum’s work from the very beginning. Each member can enter a level of support that is individually fitting, thereby opening the doors to a range of exclusive invitations and events surrounding the museum’s program. This year’s program for our members began with an exclusive tour through the special exhibition “Heroes, Freaks, and Super-Rabbis.” Participants not only learned about the history of the work of over forty comic artists from project leader Margret Kampmeyer, they were also privy to details about the extraordinary exhibit. The program continued in June with an excursion to the Wannsee, where Dr. Martin Faass, director of the Villa Liebermann, guided participants through the special exhibition “The Idea of the House in the Country” for the hundred year anniversary of Max Liebermann’s summerhouse. After a short break at Café Max, Inka Bertz, chief curator of the Jewish Museum Berlin, led members through the colony of villas dotting the shores of the Wannsee, providing insight into special features about the architecture and the Jewish history behind the houses and their gardens. For the second time the Friends of the Museum have invited members from other Berlin cultural institutions to take part in an exchange of ideas in the Jewish Museum’s garden this summer. To set the pace, pianist Matan Porat will play works by Schumann and Stravinsky. In connection with the special exhibition “Sanctuaries, Papyri, and Winged Goddesses,” Aubrey Pomerance, head of the Jewish Museum archives, will give participants an overview of Jewish archaeologist Otto Rubensohn’s work and then lead them on an exclusive tour through the newly re-opened New Museum building on Berlin’s Museum Island.

A variety of further activities are planned for this fall: Cilly Kugelmann, deputy director and head of programming for the museum, will accompany a group of supporters on a trip to Israel. A concert in the Glass Courtyard has been planned together with the Friends of the Staatsoper. The highlight of the year will be the awarding of the Prize for Understanding and Tolerance on 13 November 2010. The award ceremony will be celebrated again this year in conjunction with a dinner for friends and supporters from around the world. Two personalities will be recognized for the extraordinary ways in which they have forwarded respect for human dignity, cultural understanding, and education, as well as for their engagement in social projects. Starting May 2010, structural changes to the Friends of the Museum enable enthusiasts to support the museum more easily. A lower minimum contribution invites more members to join and thereby to help the association support various activities planned for the new JMB Academy, including programs of the education department, the archives and the library.

S U M M E R 20 1 0

AU T U M N 20 1 0

S U N DAY, 20 J U N E 20 1 0, 7 P M F RO M F R I E N DS – FO R F R I E N DS

W E D N ES DAY, 8 S E PT E M B E R 20 1 0, 7 P M “ SHAN A TOVA U ’ ME T U KA” – A G O O D A N D SW E E T Y E A R

A musical evening of Friends and Supporters of the Jewish Museum Berlin with pianist Matan Porat, followed by a reception in the museum garden. With the generous support from the Freunde Junger Musiker e.V. Berlin.

Reception in celebration of the Jewish New Year.

S U N DAY, 27 J U N E 20 1 0, 1 P M H I D D E N T R E AS U R ES A guided tour with Aubrey Pomerance, head of the Jewish Museum archives, through the special exhibition “Sanctuaries, Papyri, and Winged Goddesses: Archaeologist Otto Rubensohn” followed by a tour through the New Museum.

S U N DAY, 1 1 J U LY 20 1 0, 1 1 A M A N O U TS I D E V I E W

Johanna Brandt

S U N DAY, 31 O C TO B E R 20 1 0, 4 P M F R I E N DS, B E AU T I F U L S PA R K O F D I V I N I T Y A concert in cooperation with the Friends of the Staatsoper Unter den Linden.

SAT U R DAY, 1 3 N OV E M B E R 20 1 0, 6 : 30 P M Anniversary Dinner on the occasion of the 9th award ceremony of the Prize for Understanding and Tolerance.

T R I P TO I S RA E L with Cilly Kugelmann, deputy director and head of programming of the Jewish Museum Berlin.

This late morning gathering offers the unique opportunity to become better acquainted with the Museum Garden, designed by architect Hans Kollhoff, during a guided tour. Also to be enjoyed: the Christoph Spangenberg Trio at Jazz in the Garden.

JMB INSIDE

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D I E A K A D E M I E D ES JÜDISCHEN MUSEUMS BERLIN

Vom Blumengroßmarkt zum Stadtquartier Das Jüdische Museum Berlin gehört zu den erfolgreichsten Museen in Deutschland. Um seinen wachsenden Aufgaben in den Bereichen Bildung und Forschung nachzukommen, ist eine Erweiterung des Standortes auf dem Areal des Berliner Blumengroßmarktes geplant. Der zwischen 1962 und 1965 entstandene Hallenbau des Architekten Bruno Grimmek wird dazu nach einem Entwurf von Daniel Libeskind umgebaut. Die JMB Akademie wird das kulturelle Zentrum des von den Stadtplanern böhm benzer zahiri entworfenen neuen Quartiers bilden.

Gegenüber dem Jüdischen Museum Berlin liegt ein kleiner, mit Bäumen bewachsener Platz, der durch eine Betonmauer begrenzt wird. Ein Pförtner überwacht den Zugang zu den sich anschließenden Flächen des Berliner Blumengroßmarkts, der nur von Händlern und Fachleuten betreten werden darf. Das ändert sich 2011, denn hier entsteht mit der Akademie des Jüdischen Museums Berlin das Zentrum eines neuen Stadtquartiers. Das rund drei Hektar große Areal wird nördlich durch den Besselpark begrenzt. Südlich verläuft die E.T.A.-HoffmannPromenade, einer der wichtigsten Zugänge für die Besucher des Jüdischen Museums. Die Fläche der zukünftigen Akademie liegt damit innenstadtnah, an der Grenze zwischen Köpenicker Vorstadt und der südlichen Friedrichstadt. Diese beiden Stadtbereiche unterscheiden sich durch ihr Ordnungsmuster und ihren Entstehungsprozess stark voneinander: Der Stadtgrundriss entlang der Lindenstraße entwickelte sich in einem allmählichen Verstädterungsvorgang. Charakteristisch dafür ist der Erhalt ehemals landschaftlicher Strukturen, wie der Verlauf der Lindenstraße als übergeordnete Wegeverbindung ins Umland oder der Rich-

Blick vom Besselpark auf das neue Areal. View from the Besselpark to the new buildings.

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JMB INSIDE

tungsverlauf der alten Feldgrenzen. Dagegen entstand der südliche Teil der Friedrichstadt innerhalb eines geplanten Blockrasters. Ihr Autor, Johann Philipp Gerlach, königlicher Oberbaudirektor unter Friedrich Wilhelm I, konzipierte sie ab 1732 in Fortsetzung der orthogonalen Ordnung der Dorotheenstadt. Die Übergänge und Richtungswechsel zwischen den beiden Stadtbereichen betonte er dabei durch städtebauliche Blickpunkte, zu denen auch das Kollegienhaus, der heutige Sitz des Jüdischen Museums, gehört. Selbst als oberstem preußischen Baubeamten gelang es Gerlach nicht, die feinmaschige und damit sehr durchlässige Gliederung der Friedrichstadt auf ihre südlichen Baufelder zu übertragen. Die Friedrichstädtischen Blöcke umfassen jeweils eine Fläche von knapp einem Hektar. Dagegen betrug die Ausdehnung des Baufeldes gegenüber dem Kollegiengebäude rund 154 Hektar. Unter Ausnutzung dieses besonders großzügigen Flächenzuschnittes entstanden hier 1835 die Königliche Sternwarte und um 1880 die zweite Berliner Großmarkthalle. Nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmten Planungen der 1960er Jahre Teile des Baufeldes zum Standort des Berliner Blumengroßmarktes. Zusätzlich sollte hier ein Autobahnknoten entstehen. Diesen großflächigen Nutzungen standen von Beginn an immer wieder Eingriffe gegenüber, die darauf abzielten, das Baufeld in Teilbereiche zu gliedern und damit stärker mit seiner Umgebung zu vernetzen. Dazu gehörte 1835 die Anlage des Enckeplatzes und des Gartens an der Sternwarte sowie 1913 der Durchbruch der Enckestraße zur Lindenstraße. In den 1980er Jahren wurden im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA) die E.T.A.-HoffmannPromenade und der Besselpark angelegt. Als Planer haben wir versucht diese wechselvolle Geschichte des Ortes zu berücksichtigen, der heute von einem etwas abweisenden Charakter geprägt ist. Besonders wichtig schienen uns die Verknüpfung der Fläche mit dem angrenzenden Stadtgefüge und die bauliche Fassung der öffentlichen Räume. Das städtebauliche Konzept sieht jetzt zwischen Fried-

Blick vom Platz vor der JMB Akademie auf das Kollegienhaus. View as seen from the square in front of the JMB Academy.

richstraße und dem Kollegienhaus eine Platzfolge vor: Vor dem Akademiegebäude des JMB entsteht ein neuer Eingangsplatz, der sich zum Kollegienhaus und dem Libeskind-Bau öffnet. Der Übergang zum Besselpark wird durch eine zweite, kleinere Platzfläche betont. In seiner Fortsetzung ist eine Querung des Parks zur Friedrichstraße vorgesehen. Der Besselpark erhält an seiner Südseite eine neue räumliche Fassung. Der Akademiebau des Jüdischen Museums bildet den Mittelpunkt dieses neuen Quartiers. Die in den 1960er Jahren errichtete SheddachHalle des Architekten Bruno Grimmek wird gegenüber dem Kollegiengebäude und dem Besselpark als plastischer Baukörper inszeniert. An ihren übrigen Seiten wird die Halle durch eine Randbebauung umfasst werden. Diese Bebauung ergänzt den zunächst ausschließlich kulturell geprägten Standort um Wohnungen, Büros und Geschäfte. Die Standortentscheidung des Jüdischen Museums zugunsten des Geländes des Blumengroßmarktes bereichert Berlin auf verschiedenen Ebenen: Neben einem neuen Standort für Bildung und Kultur leistet das Projekt einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der südlichen Friedrichstadt. Nicht zuletzt wird auch ein Zeitzeugnis der Spätmoderne vor dem Abriss geschützt. Das ist insbesondere dem Engagement der beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Museums sowie der Unterstützung seitens der begleitenden öffentlichen Stellen zu verdanken. böhm benfer zahiri – landschaften städtebau


J M B AC A D E M Y

From Wholesale Flower Market to District Center The Jewish Museum Berlin ranks among the most successful museums in Germany. In order to house an increasing number of projects in research and education, it is planning to extend its work to the premises of the Berlin wholesale flower market. The industrial building erected between 1962 and 1965 by architect Bruno Grimmek will be reconstructed by Daniel Libeskind. The JMB Academy will be the core of the new city quarter developed by urban planners böhm benzer zahiri.

Across from the Jewish Museum Berlin is a small, tree-lined square hemmed in by a concrete wall. A gatekeeper watches over the entry to the adjacent grounds of the Berlin wholesale flower market, open solely to buyers and professionals. But this will all change in 2011, as the center of a new city quarter will emerge with the Academy of the Jewish Museum Berlin. Besselpark borders the approximately three-hectare property to the north; the border to the south is the E.T.A. Hoffmann Promenade, one of the most important entryways for visitors to the Jewish Museum Berlin. As such, the plot for the future Academy is close to the center of Berlin, on the border between

the district Köpenicker Vorstadt and the south end of Friedrichstadt. These two city districts are starkly different in both layout and in their historical development. The city layout along Lindenstrasse grew gradually during the urbanization process. The preservation of former scenic structures is characteristic of this—for example, Lindenstrasse’s broad course as a former thoroughfare into the countryside, and the still traceable partitioning of farm fields. In contrast, the southern area of Friedrichstadt developed as part of a planned grid. Its author, Johann Philipp Gerlach, the royal planning director under Friedrich Wilhelm I, began conceptualizing it in 1732 as a continuation of the orthogonal organization of Dorotheenstadt. He emphasized the intersections and directional shifts between the two city sections with architectural focal points, among them the Kollegienhaus, the present location of the Jewish Museum Berlin. Yet even as the highest Prussian city planner, Gerlach could not transfer the intricately woven—and thus impressively permeable— organization of Friedrichstadt onto the construction area to its south. The blocks of Friedrichstadt are close to a hectare each. In contrast, the expansion of the construction site across from the Kollegienhaus building came to approximately 154 hectares. In order to make use of this generous expanse of land, the Royal Berlin Observatory was built here in 1835, and then in 1880, the second Berlin wholesale market. After the Second World War plans were drawn up in the 1960s to turn part of the site into the location of Berlin’s wholesale flower market. There was also to be a highway junction. From the beginning, these large-scale uses continuously accompanied changes that aimed to organize the site into subsections and thus better link it with the surrounding area. The 1835 construction of Enckeplatz and the garden adjoining the observatory and in 1913, the opening of Enckestrasse onto Lindenstrasse were both in connection with this. In the 1980s, the E.T.A. Hoffmann Promenade and Besselpark were created in conjunction with the International Building Exhibition (IBA).

While planning, we have tried to take into account the varied and complex history of the entire area, which today is tinged by a somewhat unfavorable character. Especially important was the connection between this area and the surrounding urban fabric, as well as the maintenance of the structural balance of public space. The urban development concept for building between Friedrichstrasse and the Kollegienhaus envisions a series of city squares: In front of the JMB Academy building there will be a new entry plaza, which will open towards the Kollegienhaus and the Libeskind building. The crossover to the park will be underscored by a second, smaller square—envisioned as a path through to Friedrichstrasse. The south side of Besselpark will be redefined. The Jewish Museum Berlin’s Academy building forms the focal point of this new quarter. The hall with its characteristic saw-tooth roof, erected in the 1960s by the architect Bruno Grimmek, will be staged as a vivid element across from the Kollegienhaus and Besselpark. The hall’s remaining sides will be surrounded by new developments. This construction will compliment the current exclusive cultural charm of the location with conveniently located apartments, offices, and businesses. The decision to locate part of the Jewish Museum’s campus on the grounds of the wholesale flower market enriches Berlin on several levels: In addition to a new location for education and culture, the project gives an important contribution to the development of south Friedrichstadt. Not least, this architectural late modern time capsule will be saved from demolition. This is largely thanks to the museum’s dedicated staff as well as to the support of Berlin’s public-works departments. böhm benfer zahiri – urban planners

Blick auf die JMB Akademie. View towards the JMB Academy.

Ansicht des Gesamtareals mit der JMB Akademie im Zentrum. View of the area with the JMB Academy in its center.

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BILDUNG & MEDIEN

RA FA E L ROT H L E A R N I N G C E N T E R

Was heißt koscher für dich? – Ein Interviewprojekt Das Rafael Roth Learning Center – der multimediale Knotenpunkt im Untergeschoss des Libeskind-Gebäudes – hat sich in den vergangenen Jahren verschiedenen Aspekten und Persönlichkeiten der deutsch-jüdischen Geschichte gewidmet. Dass es aber auch eine jüdische Gegenwart in Deutschland gibt, wurde bisher kaum vermittelt. Diese Lücke wird nun geschlossen. Das neue Angebot unter dem Titel „Gesichter“ zeigt die individuellen Lebensentwürfe von Juden und Jüdinnen unterschiedlichen Alters, Herkunft und religiöser Praxis, die heute in Deutschland leben, und lässt sie in Videointerviews zu Wort kommen. „Was heißt koscher für dich?“, lautete die Ausgangsfrage der ersten Staffel, die wir zusammen mit der Regisseurin Ruth Olshan realisierten. Uns interessierte, welche Rolle die jüdischen Speisegesetze, die Kaschrut, für die Interviewten spielen und welche Auswirkungen das auf ihren Alltag in einer nichtjüdischen Gesellschaft hat. Ausgehend von den Normen der Speisegesetze entwickelten sich auf diese Weise Gespräche über die Rolle von Religion und Tradition, über Familie und Freunde, ökologisch korrekte Ernährung und Vegetarismus, Ab- und Ausgrenzung. In ihrer Gesamtheit erzählen die Interviews von den vielfältigen Möglichkeiten, wie inmitten einer nichtjüdischen Umgebung Traditionen gelebt, Gesetze interpretiert und nicht zuletzt Identitäten entworfen werden

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JMB INSIDE

können. Wie es Hillel, einer der Interviewten, ausdrückt: „Die Regeln sind irgendwie ein Vorschlag … Sie sind ein Rahmen, man muss in diesem Rahmen spielen.“ Im Ergebnis geht es also weniger darum, die Speisegesetze zu erklären, als vielmehr den vielfältigen Umgang mit ihnen zu zeigen. Deutlich wird dabei, dass es keine richtige oder falsche Interpretation gibt. Dem versucht auch die interaktive Präsentation der Interviews im Learning Center Rechnung zu tragen. Sie baut auf dem „Korsakow-System“ auf, einem innovativen Programm des Berliner Künstlers Florian Thalhofer zur Erstellung nicht linearer Filme. Aus jedem Interview wurden fünf bis zehn prägnante Ausschnitte ausgewählt. Anders als im traditionellen Film werden diese Clips jedoch nicht in einer bestimmten, argumentierenden Reihenfolge gezeigt, sondern die Besucher selbst entscheiden am Bildschirm, welche Ausschnitte sie anschauen wollen. Angeboten werden jeweils mehrere thematisch zueinander passende Clips. Auf diese Weise geraten die Protagonisten in einen imaginären Dialog über die Themen, die sie bewegen. Das Interviewprojekt ist ab dem Sommer 2010 zu sehen. Eine gekürzte Fassung wurde bereits als große Videoinstallation in der Ausstellung „Koscher & Co.“ gezeigt. Henriette Kolb

„Ich fü(h)r dich“ – Kinderguides im Jüdischen Museum Kinder führen Kinder – dieses Format gibt es, angelehnt an das Konzept des sogenannten peer-teachings, seit einem guten Jahrzehnt in zahlreichen Kunstmuseen. Dass aber in einem kulturhistorischen Museum junge Schüler anderen Kindern Exponate und deren Geschichten erklären, ist neu. Für das Jüdische Museum stellte sich daher die

Frage, wie man kindliche Neugier und Begeisterung während einer Kinderführung nutzen kann. Zudem wollten wir erfahren, wie Kinder eine Ausstellung sehen, was sie daran spannend finden und wie sich ihr Blick von dem der Erwachsenen oder professionellen Museumspädagogen unterscheidet. Sind Kinder vielleicht die besseren Guides für andere Kinder? Zugleich mit der ersten Erprobung dieses Projekts sollte eine Kooperation mit einer Schule Aufschluss darüber geben, wie sich Unterricht und Projektarbeit an einem außerschulischen Lernort ergänzen und gegenseitig bereichern können. Von November 2009 bis Januar 2010 kamen 15 Schüler der Freien Waldorfschule Kreuzberg jede Woche für zwei Stunden ins Jüdische Museum, um zu lernen, wie sie andere Kinder durch die Sonderausstellung „Koscher & Co. Über Essen und Religion“ führen können. Die 12- bis 13-jährigen Mädchen und Jungen entdeckten dabei ihre Lieblingsexponate, lernten vieles über die jüdischen Speisegesetze, nahmen an einem Rhetoriktraining teil und erprobten nicht zuletzt, wie man kleine Museumsbesucher am besten zum Staunen und Mitmachen bewegt. Bei der Langen Nacht der Museen am 30. Januar hatten die Kinderguides Premiere: In mehreren Teams zeigten sie Kindern im Alter von 6 bis 12 Jahren „ihre“ Ausstellung. Im Laufe des Februars fanden noch 16 weitere Führungen statt. Die Kinderguides empfanden ihre Ausbildung und Führungen als sehr positiv. Besonders gefiel ihnen, dass sie vieles selbst gestalten durften – so entstand zum Beispiel ein kleines Mitmach-Theater über den Kampf Jakobs mit dem Engel. Auch die jungen Teilnehmer der Führungen waren begeistert: Sie hätten sich mit den Kinderguides sehr wohl gefühlt und waren froh über deren Erklärungen – zum Beispiel zu der Frage, wer den zweiten Tempel in Jerusalem zerstört hatte: „Ihr kennt doch die Römer von Asterix und Obelix. Die waren das.“ Dorothea Parak


E D U C AT I O N & M E D I A

RA FA E L ROT H L E A R N I N G C E N T E R

What Does Kosher Mean to You? – An Interview Project Over the past few years, the Rafael Roth Learning Center—the multimedia hub located on the lower level of the Libeskind Building—has been devoted to various aspects and personalities of German-Jewish history. Yet that contemporary Jewish life in Germany also exists has rarely been acknowledged thus far. This gap is now being filled. The new project, entitled “Faces,” uses video interviews to share the variety of lifestyles lead by individual Jews of different ages, ancestry, and religious practices living in Germany today. “What does kosher mean to you?” was the opening question of the first series, which we produced with director Ruth Olshan. We were interested in how the interviewees applied or ignored kashrut, the Jewish dietary laws, and the effects this has on their day-to-day lives in a non-Jewish society. Beginning with the norms of dietary law, conversations continued on to the role of religion and tradition, family and friends, ecologically correct nutrition, vegetarianism, and separation and exclusion. As a whole, the interviews tell of the diverse possibilities of how tradition can be upheld in non-Jewish surroundings, how laws can be interpreted, and not least, how identities are shaped. As expressed by Hillel, one of the interviewees: “In a way, the rules are a suggestion…they are a framework, one has to act within this framework.”

Videostills aus dem Interviewprojekt „Was heißt koscher für dich?“. Video stills from the interview project “What Does Kosher Mean to You?”

Instead of simply explaining dietary laws the film presents diverse ways of dealing with them. In the process it becomes clear that there are no right or wrong interpretations. This is also attempted through the interactive presentation of the interviews, which are organized according to the “Korsakov System,” an innovative program by the Berlin artist Florian Thalhofer that orders film content in a non-linear manner. Five to ten pithy sections are selected from each interview, but in contrast to traditional film, the clips are not presented in a set and reasoned order; instead, visitors can decide on the screen which sections, organized thematically, they wish to view. In this way, the protagonists join in on an imaginary dialog around specific themes that they themselves determine. The interview project can be seen beginning in summer. A shorter version was shown as a video installation in the “Kosher & Co.” exhibition. Henriette Kolb

“Kid to Kid”– Children as Tour Guides at the Jewish Museum Children leading children: Based on the concept of peer teaching, children have been guiding tours for a solid decade in numerous art museums. Young students explaining exhibits and the stories surrounding them to other children in a museum of cultural history however—this is new. In light of this, the Jewish Museum raised the question as to how childhood curiosity and enthusiasm might best be utilized during a guided tour for children. We also wanted to learn how children experience an exhibit, what they find exciting, and how their views differ from those of adults or professional museum pedagogues. Are children better tour guides for other children? For the first trial in this project a collaboration with a school was to provide us with a better understanding of how teaching

and project work at a location outside the classroom can complement and mutually enhance each other. Fifteen students from the Free Waldorf School in Kreuzberg came to the Jewish Museum for two hours a week from November 2009 to January 2010 in order to learn how to lead other children through the special exhibition “Kosher & Co. On Food and Religion.” During the visits, the 12 to 13-year-old girls and boys discovered favorite exhibits, learned quite a bit about Jewish dietary laws, took part in a rhetoric class, and not least, tested ways to inspire participation and awe among small museum visitors. The child tour guides premiered during the Long Night of the Museums on 30 January. Split into several teams, they showed children aged 6 to 12 “their” exhibit. Sixteen additional tours were given during the month of February. The young tour guides found both the training and leading the tours incredibly positive. They particularly liked that they were permitted to organize so much themselves—for example a short play about Jacob’s struggle with the angel, performed by students on tour. The children receiving the tour were also thrilled: They felt comfortable with the child tour guides and appreciated the explanations that they provided. For example, in response to the question of who destroyed the Second Temple in Jerusalem, came the answer, “You know the Romans from Asterix and Obelix? It was them.” Dorothea Parak

Drei Schülerinnen führen eine Kindergruppe durch die Sonderausstellung „Koscher & Co. Über Essen und Religion“. Three students guide a group of children through the special exhibition “Kosher & Co. On Food and Religion.”

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P O RT R Ä T

Daniel Barenboim Wer es wagt, in der Knesset aus der Unabhängigkeitserklärung Israels zu zitieren und auf diese Weise die Politik des Landes scharf zu kritisieren, scheut nicht den Konflikt. Als Daniel Barenboim, weltberühmter Musiker und Pianist, im Rahmen der Wolf-Preisverleihung durch seine Rede für Aufruhr im israelischen Parlament sorgte, blieb er dabei vor allem sich selbst treu: „Am wichtigsten ist Courage.“ Den Mut, auch das scheinbar Unmögliche anzugehen und Unbequemes anzusprechen, beweist Barenboim immer wieder. Das wird sicher durch kein Projekt so deutlich wie durch das West-Eastern Divan Orchestra, das der Dirigent zusammen mit dem inzwischen verstorbenen Edward Said ins Leben rief. Das Jugendorchester, dessen Name sich von Goethes Gedichtsammlung ableitet, galt bei seiner Entstehung als Sensation und Tabubruch zugleich, bringt es doch Musiker aus Palästina, Israel, dem Libanon, Syrien, Jordanien, dem Iran, der Türkei und Ägypten zusammen. Mehr als einmal wurde Barenboim gefragt, warum er mit den „Feinden“ spiele, wurde ihm Naivität vorgeworfen oder wurde er gar der Spionage verdächtigt. Dabei ist das Ziel, das die beiden Freunde mit der Gründung des Orchesters verfolgten, sehr klar: Die Verständigung zwischen den Völkern des Nahen Ostens. Dass sich die schweren politischen Konflikte nicht an den Instrumenten lösen lassen, ist Barenboim, der sowohl die palästinensische als auch die israelische Staatsbürgerschaft besitzt, dabei sehr bewusst. Immer wieder betont er, dass es ihm nicht um politische Ambitionen

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geht, sondern vielmehr darum, einen Dialog zwischen den Kulturen überhaupt zu ermöglichen. Dass Musik dabei die treibende Kraft sein kann, ist für den Dirigenten selbstverständlich, denn „Musik hilft uns, die Welt zu verstehen“, sie ist Mittel der interkulturellen Verständigung und prägende Sprache, die Vorurteile überwinden und Feindbilder abbauen kann. Die Erfolge des West-Eastern Divan Orchestra geben ihm Recht: Dass die Jugendlichen 2005 in Ramallah spielen konnten, ist außergewöhnlich – und darf sicher als kleiner Schritt für eine Verständigung zwischen Ost und West gelten. Daniel Barenboim, 1942 als Sohn jüdischer Emigranten in Buenos Aires geboren, zog zehnjährig mit seinen Eltern nach Israel, wo er die Aufbruchsstimmung des jungen Landes erlebte. Zugleich lernte er auf zahlreichen Tourneen, während derer er mit namhaften Orchestern aus aller Welt arbeitete, das vom Krieg zutiefst zerrüttete Europa kennen. Er selbst sieht sich seitdem als Reisender zwischen den Welten, und ohne Zweifel schlägt Daniel Barenboim mittels Musik Brücken. Das gilt für die Krisengebiete des Nahen Ostens ebenso wie für den Alltag in Berlin. Getreu seiner Überzeugung, dass Musik uns hilft, die Welt zu verstehen, gründete er sowohl in Ramallah als auch in Berlin Musikkindergärten. Dabei geht ihm es nicht um Musikerziehung, sondern vielmehr um Erziehung durch Musik, die es uns ermögliche, gerade soziale Kompetenzen zu entwickeln: Zuhören, miteinander in den Dialog treten, komplexes Denken gehören in der Musik ebenso dazu wie Widersprüche, Streit und Diskussionen. Daniel Barenboims Engagement kommt immer wieder auch dem Jüdischen Museum Berlin zugute, dem der Dirigent seit der Eröffnung eng verbunden ist. Damals wünschte er dem Museum, es möge „ein sehr energievolles Zentrum für alles, was Juden und Deutsche gemeinsam beschäftigt“ werden, ein Haus, „das nicht nur auf die Vergangenheit blickt, sondern auch in die Zukunft.“ Seinen Wunsch nach fruchtbaren Diskussionen setzte er auch

hier immer wieder um: Sei es durch sein Engagement im Freundeskreis des Museums oder durch außergewöhnliche Konzerte, wie zum Beispiel seine Aufführung des Kol Nidre, das er sehr bewusst zusammen mit einem ägyptischen Kontrabassisten, Nabil Shehata, spielte. 2006 verlieh ihm das Jüdische Museum in Anwesenheit der Bundeskanzlerin Angela Merkel für seine Verdienste den Preis für Verständigung und Toleranz. 2007 gab er spontan mit Mitgliedern des West-Eastern Divan Orchestra ein Benefizkonzert, um auf die Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Darfur aufmerksam zu machen. Den neuen Glashof des Museums weihte seine Frau Elena Bashkirova mit einem Kammerkonzert ein. Im Jahr 2011 möchte Daniel Barenboim gemeinsam mit der Staatskappelle den glanzvollen Festakt anlässlich der Eröffnung der neuen Akademie des Jüdischen Museums Berlin musikalisch begleiten. „Musik ist eine Kunst, die alle Grenzen überschreitet.“ Das hat der Weltbürger und musikalische Virtuose im sprichwörtlichen Sinne erreicht. Marie Naumann, Anja Butzek


P O RT RA I T

Daniel Barenboim Anyone who dares to quote Israel’s Declaration of Independence in the Knesset, and does so in order to harshly criticize national policy, does not shy away from conflict. When the worldfamous musician and pianist Daniel Barenboim did so in a speech he gave at the Wolf Prize ceremony, he created quite a stir in the Israeli Parliament but also stayed true to his own motto: “Most important is courage.” The courage to undertake the seemingly impossible and to address uncomfortable topics is something Barenboim has done repeatedly. This is shown most clearly through the West-Eastern

Divan Orchestra, which the conductor founded with the late scholar of literature Edward Said. When the youth orchestra, which is named after a collection of poems by Goethe, was founded it was simultaneously a sensation and a taboobreaker: It brings together musicians from Palestine, Israel, Lebanon, Syria, Jordan, Iran, Turkey, and Egypt. On more than one occasion Barenboim has been asked why he plays with “the enemy,” and has been accused of espionage and of naiveté. The goal the two friends had in mind for founding the orchestra was very clear: communication between the peoples of the Middle East. Barenboim, who holds both Palestinian and Israeli citizenship, is well aware that difficult political conflicts cannot be solved with musical instruments. Time and again, he emphasizes that his aim is to facilitate a dialog between cultures, rather than to broker political peacedeals. That music can be the driving force in the process is natural for the conductor, because “music helps us to understand the world.” Music is the means of intercultural understanding, and the formative language to overcome prejudice and abolish images of the enemy. The success of the West-Eastern Divan Orchestra has proven such claims correct: The orchestra’s 2005 performance in the conflict-ridden region of Ramallah was an extraordinary event—and a step forward towards understanding between East and West. Daniel Barenboim was born in 1942 to Jewish immigrants in Buenos Aires. When he was ten years old, he moved to Israel with his parents, where he experienced the atmosphere of excitement at the dawn of a new nation. At the same time, while touring with world-renowned orchestras he came to know a Europe that had been torn asunder by war. Ever since, he has viewed himself as a traveler between worlds, and is without doubt able to build bridges with music. This is true in the crisis area of the Middle East just as in daily life in Berlin. True to his conviction that music helps us to understand the world, he founded music kindergartens in both

Ramallah and in Berlin. These schools are not about music education, per se, but instead about education through music. Music fosters social competence. Listening, engaging in dialog, and complex thought processes belong to music just as much as opposition, argument, and debate. The Jewish Museum Berlin has also repeatedly benefited from Daniel Barenboim’s dedication. The conductor has been affiliated with the museum since its opening when he wished for the museum to “develop into an energetic center for mutual Jewish and German interests,” and that it would become a house “that does not just look to the past but also into the future.” In order to realize this vision for fruitful discussion, Barenboim becomes actively engaged: Whether through his involvement in the museum’s Association of Friends and Supporters or through his extraordinary concerts—for example, his presentation of the Kol Nidre, which he performed with the Egyptian contra-bass player Nabil Shehata. In 2006, in the presence of chancellor Angela Merkel, the Jewish Museum honored Barenboim with the Prize for Understanding and Tolerance. In 2007, he gave a spontaneous charity concert with members of the West-Eastern Divan Orchestra to call attention to the crimes against humanity being committed in Darfur. Barenboim’s wife, Elena Bashkirova performed in a chamber concert for the inauguration of the new Glass Courtyard of the Jewish Museum. In 2011, Daniel Barenboim, together with the national orchestra, will musically accompany the opening ceremony of the new Academy of the Jewish Museum. “Music is an art that transcends all borders.” The world citizen and musical virtuoso has kept his word. Marie Naumann, Anja Butzek

Daniel Barenboim und Mitglieder des West-Eastern Divan Orchestra während eines Konzerts im Jüdischen Museum Berlin im Jahr 2007. Daniel Barenboim and members of the West-Eastern Divan Orchestra performing at the Jewish Museum Berlin in 2007.

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VO R S C H AU

PREVIEW

> KO M M E N D E AU SST E L LU N G E N

> CO M I N G E X H I B I T I O N S

27. S E PT E M B E R 20 1 0 B I S 30. JA N UA R 20 1 1

27 S E PT E M B E R 20 1 0 TO 30 JA N UA RY 20 1 1

Zwangsarbeit

Forced Labor in the National Socialist Era

Die Deutschen, ihre Zwangsarbeiter und der Krieg Das Deutsche Reich war 1944 mit einem Netz von über 20.000 Lagern für Zwangsarbeiter überzogen. Allein innerhalb des Reichsgebiets wurden während des Zweiten Weltkrieges über 13 Millionen „Fremdarbeiter“, „Arbeitsjuden“, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge zur Arbeit für die deutsche Kriegswirtschaft gezwungen. Weitere Millionen arbeiteten in den besetzten Gebieten. Mussten bereits vor dem Krieg Menschen Arbeit für die deutsche „Volksgemeinschaft“ leisten, wurde Zwangsarbeit nach 1939 zum Massenphänomen. Die Ausstellung, für die weltweit recherchiert wurde und die weitgehend unbekanntes Material präsentiert, liefert eine umfassende Geschichte der NS-Zwangsarbeit. Historische Ereignisse und Schicksale werden rekonstruiert, so dass der Besucher die Geschichte anhand originaler Zeugnisse nachvollziehen kann. Die nächste Station der internationalen Wanderausstellung wird Warschau sein.

By 1944, a dense network of more than twenty thousand camps for forced labor had spread out over the German Reich. Within the German Reich alone, more than 13 million “foreign workers,” “work Jews,” prisoners of war and concentration camp inmates were exploited. A further several million women, men and children performed labor for the Germans in the occupied areas. People had already been made to work for the German Volksgemeinschaft (“people’s community”) even before the war. After 1939, forced labor became a mass phenomenon. The exhibition presents a comprehensive history of NS forced labor, research for which was conducted worldwide, unearthing hitherto unknown material. Historical events and personal stories are reconstructed guiding visitors through history by means of original testimony. The next station of the international travelling exhibition will be Warsaw.

Ein Projekt der Stiftung Gedenkstätte Buchenwald und Mittelbau-Dora Gefördert durch die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“

A project of the Foundation Memorial Sites of Buchenwald and Mittelbau-Dora Supported by the Foundation “Remembrance, Responsibility, and Future” (EVZ)

23. J U L I B I S 1 2 . S E PT E M B E R 20 1 0

23 J U LY TO 1 2 S E PT E M B E R 20 1 0

Jüdisches Leben in Argentinien

Jewish Life in Argentina

Die jüdische Gemeinschaft in Argentinien ist die größte in der spanischsprachigen Welt. In einer Ausstellung in der Eric F. Ross Galerie beschäftigt sich das Jüdische Museum Berlin mit dem soziokulturellen Beitrag jüdischer Einwanderung in dem südamerikanischen Land. Sie stellt dabei das besondere Modell von Integration vor, das zum Aufbau einer Nation geführt hat, deren konstituierendes Merkmal nicht das Verschmelzen der Kulturen zu einer, sondern die kulturelle und ethnische Vielfalt ist. Schwerpunkte sind ferner die besondere Entwicklung der Jiddischen Kultur, die Militärdiktatur und die Wurzeln argentinischer Künstler wie Pedro Roth und Marcelo Brodsky.

The Jewish community in Argentina is the largest in the Spanish-speaking world. An exhibition in the Eric F. Ross Gallery addresses the sociocultural contribution of Jewish immigrants in this South American country. Through it we learn of a particular model of immigration and integration, one which led to a nation characterized less by its “melting pot” than by its inhabitants’ cultural and ethnic variety. The exhibition illuminates connections between Jewish, German, and Argentine cultures. Main focal points are the Jewish immigration to the countryside and cities, the particular development of Yiddish culture, the military dictatorship, and the roots of Argentine artists such as Pedro Roth and Marcelo Brodsky.

Eine Ausstellung in Kooperation mit dem argentinischen Außenministerium und der argentinischen Botschaft

An exhibition in cooperation with the Argentine Foreign Ministry and the Embassy of Argentina

S E PT E M B E R 20 1 0 B I S JA N UA R 20 1 1

S E PT E M B E R 20 1 0 TO JA N UA RY 20 1 1

Kabinettausstellung

Showcase Exhibition

„Du bist bei Parfümören angekommen“

“You’ve arrived at the perfumers”

Die Kosmetikfirmen Scherk und Albersheim

The Cosmetic Companies Scherk and Albersheim

Die Ausstellung im Rafael Roth Learning Center erzählt die Geschichte der Berliner und Frankfurter Kosmetikfirmen Scherk und Albersheim. Beide wurden – nach Arisierung und Restitution – in der Nachkriegszeit von den Familien der Firmengründer in Deutschland wieder aufgebaut und weitergeführt. Das familiengeschichtliche Material aus dem Nachlass von Fritz Scherk (1918–1995) bildet die Grundlage der Ausstellung. Wir danken Irene Alice Scherk für ihre Schenkung an das Jüdische Museum Berlin.

The exhibition in the Rafael Roth Learning Center tells the story of the Berlin/Frankfurt cosmetic companies Scherk and Albersheim. Both companies were rebuilt and reestablished in Germany in the postwar period by the founders’ families. The exhibition is based upon family-related material from the estate of Fritz Scherk (1918–1995). We are grateful to Irene Alice Scherk for her gift to the Jewish Museum Berlin.

S E PT E M B E R B I S N OV E M B E R 20 1 0

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Die Architektur der Sukka

The Architecture of the Sukkah

Rechtzeitig zum Laubhüttenfest Sukkot eröffnet im September die Ausstellung „Die Architektur der Sukka“ in der Eric F. Ross Galerie. Eine FotoInstallation der Architektin und Kulturwissenschaftlerin Miriam Levy Lipis zeigt zeitgenössische Laubhütten aus Europa, Israel und den USA.

Just in time for Sukkot the exhibition “The Architecture of the Sukkah” will open in the Eric F. Ross Gallery. A photo installation by the architect and cultural historian Miriam Levy Lipis shows contemporary Sukkahs from Europe, Israel, and the USA.

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Auf dem Fußballfeld – und zur WM-Zeit auf den Balkonen – zeigt sich die multikulturelle Realität der Gesellschaft. On the soccer field—and during the world championship on the city’s balconies—one can trace the multicultural social reality.


Ein Goal für alle A Common Goal

Detlev Claussen

Everyone will be watching on July 11, or at least, almost everyone: The FIFA World Cup Finale, the soccer Championship, which, since 1990, has become the media event most likely to bring humans all over the world together, in front of televisions. The mood is set over a period of three weeks. More than 600 million people watched the final game, which was played in Berlin four years ago. But most of the people tuned in were not in Italy or France—the finalists’ countries—but in China, Brazil, Vietnam, and Germany. Soccer keeps a promise: Everyone can watch and potentially anyone can play. This media event’s global reach hides the true local roots of soccer enthusiasm. The derby, the battle between neighboring rivals, has an enormous allure. In Germany the most famous is Dortmund versus Schalke; in Italy, Inter against Milan, or Lazio against Roma; in Spain, Real versus Barça. National competitions didn’t start until the end of the long 19th century, with England against Scotland. Though national cultural legends have explained it otherwise, the modern game developed as a part of English sports and pastimes and was regulated by the public schools, the educational institutions for gentlemen. Aristocratic offspring played soccer, but so did everyone else—or, nearly everyone. First, the bourgeoisie, who dragged the performance principle into soccer through school reform, which then in turn brought with it, as one indignant gentleman stated, “a mindset of the unconditional desire to win.” Pub owners and businessmen then used the local reservoir of talent and allowed the working class to join in. They brought professionalism to the game in the ’80s of the Long Century. Essential to migration history is that the heart of soccer beat not in London but in the cotton mills of Lancaster. Scottish and Irish laborers poured into the mills, bringing the ability to play soccer with them as an additional qualification. Traditional clubs like the Blackburn Rovers and Preston North End began this way and kept up until the ’20s of the short twentieth century. The Manchester United and FC Liverpool teams from this period, whose roots lie deep in the Scottish and Irish constituency of the English working class, still remain in global consciousness. The more the working class disappears worldwide, the more the proletarian myth of soccer lives—a myth with which it emerged as a mass sport. Soccer first spread across the continent with the First World War. During the boring, grueling days of trench warfare,

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Zuschauen wollen am 11. Juli alle – fast alle, zumindest die meisten. Das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft ist in den neuen Zeiten nach 1990 das Weltmedienereignis geworden, das die Menschheit vor dem Fernseher zusammenbringt. Drei Wochen wird man auf das Finale eingestimmt. Das letzte vor vier Jahren in Berlin sahen über 600 Millionen Menschen. Aber die meisten schauten über diese Wochen weder in Italien noch in Frankreich, den Ländern der Finalisten, zu, sondern in China, Brasilien, Vietnam und Deutschland. Fußball hält ein Versprechen: Potenziell kann jeder mitspielen, zuschauen können alle. Die Globalität des Medienereignisses WM verdeckt dabei die Wurzeln der Fußballbegeisterung: Sie stecken im Lokalen. Das Derby, der Kampf benachbarter Rivalen, hat einen enormen Reiz. In Deutschland heißt das berühmteste Dortmund gegen Schalke, in Italien Inter gegen Milan oder Lazio gegen die Roma, in Spanien Real gegen Barça. Auf der Ebene der Nationalmannschaften begann alles am Ende des langen 19. Jahrhunderts mit England gegen Schottland. Entstanden ist das moderne Spiel entgegen nationalkultureller Legenden als ein Teil der english sports and pastimes, reguliert wurde es an den Public Schools, den Erziehungsanstalten der Gentlemen. Aber mitspielen wollten nicht nur die Abkömmlinge der Aristokraten, sondern alle, zumindest fast alle. Zunächst die Bürger, die vermittelt über die Reformpädagogik das Leistungsprinzip in den Fußball trugen und, wie ein indignierter Gentleman konstatierte, „eine Mentalität des Unbedingt-Gewinnen-Wollens“ mitbrachten. Wirtshausbesitzer und Unternehmer schöpften das lokale Talentreservoir aus und ließen Arbeiter mitspielen. Mit ihnen kam in den achtziger Jahren des long century die Professionalisierung ins Spiel, die konstitutiver Teil der Migrationsgeschichte ist: Das Herz des Fußballs schlug nicht in London, sondern in den cotton mills von Lancashire. Hierher strömten die schottischen und irischen Arbeiter, die Fußballspielen als Zusatzqualifikation mitbrachten. Die so entstandenen Traditionsclubs wie Blackburn Rovers und Preston North End konnten noch bis in die zwanziger Jahre des kurzen 20. Jahrhunderts mithalten; übrig geblieben im Weltgedächtnis sind aus dieser Zeit Manchester United und der FC Liverpool, deren Wurzeln tief in dem schottischen und irischen Teil der englischen Arbeiterklasse stecken.


men who formerly had had little spare time, now engaged in soccer. Matches between battle lines also played a role in the fraternization that officers were so wary of. While men were at the front, women began to work in the defense industry—and to adopt the male game. Female top teams traveled throughout the AngloAmerican world; but it took nearly sixty years until women established themselves in male, bourgeoisiedominated sport associations and received recognition for their style of playing. Today, the Women’s World Cup Championship, which will be played in Germany for the first time in 2011, is a national event. The relatively short history of women’s soccer reads like a summary of the class and migratory history of men’s soccer. Without simply repeating it: In the female version of the game, the USA and China are superpowers, in contrast to the men, who in these countries do not (yet) play at the highest level. And well-known faces, such as that of World Cup organizer Steffi Jones, have come to represent the multicultural reality of society more quickly than have those of her male colleagues. Soccer, once nicknamed “the world’s greatest pastime,” is now much more. That was perhaps what the world still looked like circa 1960 from the perspective of those notables who still dominated the clubs and continental and world associations. In contrast, the legendary team manager of FC Liverpool from 1959 to 1974, Bill Shankly, formulated the perspective from the stadium seats: “Soccer is not a matter of life and death. It’s more important than that.” During his time top-level soccer left the proletarian milieu, came under the control of bourgeois functionaries, and developed towards international big business, which gave more rights to the players. A weeklong continental league empire that initiated enormous migration among qualified players emerged from what had been simply a manly game of weekend enjoyment. With the famous Bosman Judgment—which repealed rules in 1995 concerning the transfer of players and limits on those who came from other countries—the right to choose one’s workplace went into force Europe-wide, against the wishes of old club chairmen. As a result, limits on the number of foreign players also shifted among national soccer associations. Now, the best local teams are made up of the world’s best players most suited to the team…and most fans accept them, because they want their teams to be successful. The blue-white Star of David waves in the Ajax bleachers; in Arsenal’s new

Je mehr die Arbeiterklasse weltweit verschwindet, desto mehr erhält sich der proletarische Mythos des Fußballs am Leben, der an seiner Wiege als Massensport entstanden ist. Auf dem Kontinent breitete Fußball sich erst mit dem Ersten Weltkrieg richtig aus. Menschen, die bis dahin noch nie Freizeit gekannt hatten, kamen während des langweiligen, zermürbenden Stellungskriegs mit dem Ball in Berührung. Auch bei den von den Offizieren gefürchteten Fraternisierungen spielten Matches zwischen den Linien eine Rolle. Während die Männer an der Front waren, begannen Frauen in der Rüstungsindustrie zu arbeiten – und das männliche Spiel zu übernehmen. Weibliche Topteams tingelten durch die angloamerikanische Welt; aber es dauerte noch nahezu sechzig Jahre, bis sich Frauen in den männlich-bürgerlich dominierten Sportverbänden durchsetzen konnten und eine Anerkennung ihrer Spielweise erreichten. Die Fußballweltmeisterschaft der Frauen, die 2011 erstmals in Deutschland ausgetragen wird, hat inzwischen den Stellenwert eines Staatsereignisses. Diese relativ kurze Geschichte des Frauenfußballs liest sich wie eine Kurzfassung der Klassen- und Migrationsgeschichte des männlichen Soccer, ohne allerdings dessen lange Geschichte einfach zu wiederholen: Im weiblichen Spiel sind etwa die USA und China Großmächte, während beide Länder bei den Männern (noch) nicht auf höchstem Niveau mitspielen. Und schneller als bei den Männern repräsentieren bekannte Gesichter wie die der WM-Organisatorin Steffi Jones die multikulturelle Realität der Gesellschaft. Von Fußball als der „schönsten Nebensache der Welt“ kann längst nicht mehr sinnvoll gesprochen werden. So sah die Welt vielleicht um 1960 aus der Perspektive von Honoratioren noch aus, die Vereine, Welt- und Kontinentalverbände dominierten. Der legendäre Teammanager des FC Liverpool von 1959 bis 1974, Bill Shankly, brachte dagegen die Stadionperspektive des Profifußballs auf den Punkt: „Football is not a matter of life and death. It’s more important than that.“ In seiner Zeit entwickelte sich der Spitzenfußball aus dem proletarischen Milieu, das von bürgerlichen Funktionären dominiert wurde, heraus in ein internationales Big Business, das dem Spieler mehr Rechte zubilligen musste. Aus dem männlichen Wochenendvergnügen wurde ein ganzwöchiger kontinentaler Spielbetrieb, der enorme Wanderungsbewegungen unter qualifizierten Kickern auslöste. Mit dem

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Emirates Stadium the French flag is the most important supporting accoutrement. The local fan divides his or her soccer libido between the village or suburban team and the Champions League. If the country that someone identifies with does not get into the World Cup, he or she picks a new favorite team. Right before the World Championship starts, the feature pages of newspapers use intellectual sounding half-truths to pounce on soccer—grandiose stupidity from the mouths of famous authors that can only be laughed at as the last gasp from a dying educated bourgeoisie: “Only one thing is more pointless than soccer: thinking about soccer,” announced Martin Walser. Yet someone who hasn’t a clue about the sport should also remain silent about the society in which it is played. Soccer is in no way a “reflection of society,” a phrase worthy of fine that is often used by speakers at grand public ceremonies, which have historically had an apologetic function: If society is racist, then soccer can also not be free. This phrase expresses a laissez-faire attitude towards xenophobic excesses and violence surrounding the games, which endangers them. In Italy, the country of the last world champion, fear rules every weekend, not because Italian soccer reflects Italian society, but because within Italian soccer a very specific group of people cavort about, a group that throws into question the normal functioning of Italian society—Berlusconi, mafiosi, and extremely politicized gangs. The Italian soccer league pays for this grievance with a striking drop in performance and spectators—there’s no way to paint a bella pittura of this. The world of German soccer has experienced enormous change over the last ten years. The catastrophic nadir of the national soccer team at the 2004 European World Championship in Portugal lead to a cultural war around coach Jürgen Klinsmann leading up to the World Cup in 2006, which then became a German summer fairytale. Reactionary soccer traditionalists, led by a massive campaign in the tabloid Bild, were forced to pay tribute to enthusiastic, attack-oriented soccer, which made a mass audience unreceptive to the populist propaganda about “German virtues.” But the reaction did not disappear; and it did not rest until it mobbed Klinsmann of his job as coach of Bayern München, although he still had the chance to lead the team to a national championship in 2009. Last summer, when the German national team’s junior players looked likely to become European champion,

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berühmten Bosman-Urteil, das 1995 die bis dahin gültigen Transferregelungen und Ausländerbeschränkungen in den Mannschaftssportarten aufhob, wurde auf europäischer Ebene das Recht auf freie Wahl des Arbeitsplatzes gegen die alten Vorstandsherren durchgesetzt. Folgerichtig wurden auch die Ausländerbeschränkungen der nationalen Verbände gekippt. Die besten lokalen Teams bestehen aus den weltbesten Spielern, die in diese Mannschaft passen ... und die meisten Zuschauer machen das gerne mit, weil sie erfolgreich sein wollen. Auf den Tribünen von Ajax weht der blau-weiße Davidstern, im neuen Emirates Stadion von Arsenal ist die Trikolore das wichtigste supporter-Utensil. Der lokale Fan verteilt seine Libido vom Dorf- oder Vorortverein bis zur Champions League. Nimmt das Land, mit dem man sich identifiziert, nicht an der WM teil, sucht man sich einen neuen Liebling. Vor Weltmeisterschaften beginnen die Feuilletons mit intellektuell klingenden Halbwahrheiten über den Fußball herzufallen; vollmundige Dummheiten berühmter Schriftsteller können nur noch als das letzte Aufbäumen eines verrotteten Bildungsbürgertums belächelt werden: „Sinnloser als Fußball ist nur noch eins: Nachdenken über Fußball“, hat Martin Walser verlauten lassen. Wer aber vom Fußball keine Ahnung hat, sollte auch über die Gesellschaft schweigen, in der er gespielt wird. Keineswegs ist der Fußball ein „Spiegel der Gesellschaft“, wie eine bußgeldwürdige Phrase von Festtagsrednern besagt, die in der Vergangenheit eine apologetische Funktion hatte: Wenn die Gesellschaft rassistisch ist, kann der Fußball davon auch nicht frei sein. Die diese Phrase begleitende Laissez-faire-Haltung gegenüber xenophoben Ausschreitungen und Gewalttaten rund um die Spiele kann den ganzen Spielbetrieb gefährden. Im Lande des Weltmeisters muss man beispielsweise an jedem Wochenende zittern – nicht weil der italienische Fußball die italienische Gesellschaft widerspiegelt, sondern weil sich im italienischen Fußball ganz bestimmte Gruppen tummeln, die das normale Funktionieren der italienischen Gesellschaft infrage stellen: Berlusconi, Mafiosi, politisierte Ultrabanden. Der italienische Ligafußball zahlt für diese Missstände mit einem eklatanten Leistungsabfall und Zuschauerrückgang – mit ihm ist keine bella figura zu machen. Die deutsche Fußballwelt erlebt in den letzten zehn Jahren einen gewaltigen Umbruch. Der katastrophale Tiefpunkt des


Literatur: Diethelm Blecking / Gerd Dembowski: Der Ball ist bunt. Fußball, Migration und die Vielfalt der Identitäten in Deutschland, Frankfurt am Main 2010 Detlev Claussen: Béla Guttmann. Weltgeschichte des Fußballs in einer Person, Berlin 2006 Christiane Eisenberg (Hg.): Fußball, soccer, calcio. Ein englischer Sport auf seinem Weg um die Welt, München 1997 Dietrich Schulze-Marmeling (Hg.): Strategen des Spiels. Die legendären Fußballtrainer, Göttingen 2005

Bild discovered at the semi-finale that there was hardly a name that sounded German among the players. It also aptly noted that “No one sings the national anthem!” and that not one of the players put his hand to his heart. But who cares? With an energetic, technical, and tactically high-level game, and amidst waving black-red-gold flags, the team became the European champion. One of the team’s star players, Mesut Özil, got his international break with the club Werder Bremen that season. He decided to play for the German national team in the future as well, a team that finally took society’s ethnically heterogeneous reality into account: 60 percent of the children that play soccer in the metropolitan areas of densely populated Germany have an immigrant background. On the way to Weser Stadium I witnessed a young, thin woman with a fashionable headscarf looking for a Werder soccer jersey for her son at the Karstadt Sport store. “What player’s name?” asked the salesman. “Özil, of course,” answered the little boy. An accolade for secularization that one need not fear: Soccer allows belief, love, and hope in the people we choose. Detlev Claussen is publicist and professor for sociology and theory of culture at Hannover University.

Nationalmannschaftsfußballs bei der Europameisterschaft in Portugal 2004 führte zum Kulturkampf um den Trainer Jürgen Klinsmann im Vorfeld der WM 2006, die dann zum deutschen Sommermärchen wurde. Die fußballreaktionären Traditionalisten, angeführt von einer gewaltigen Bildzeitungskampagne, mussten dem begeisternden Angriffsfußball Tribut zollen, der das Massenpublikum für die populistische Propaganda der „deutschen Tugenden“ unempfänglich machte. Aber die Reaktion schläft nicht; sie ruhte und rastete nicht, bis sie Klinsmann als Trainer von Bayern München gemobbt hatte, obwohl er 2009 noch die Chance hatte, Deutscher Meister zu werden. Im letzten Sommer, als die deutsche Nachwuchsmannschaft Europameister zu werden drohte, entdeckte BILD beim Halbfinale, dass unter den Spielern kaum ein deutsch klingender Name zu finden war und beobachtete haargenau: „Keiner singt die Hymne mit!“ und niemand legt die Hand aufs Herz. Doch welchen Trottel interessiert das? Mit schwungvollem, technisch und taktisch elaboriertem Spiel wurde man mit fliegenden schwarz-rot-goldenen Fahnen Europameister. Ein Starspieler dieser Mannschaft, Mesut Özil, erlebte mit Werder Bremen in dieser Saison seinen internationalen Durchbruch. Er entschied sich in Zukunft auch für die deutsche Nationalmannschaft zu spielen, die endlich der ethnoheterogenen Realität der Gesellschaft Rechnung trägt: In den Ballungsgebieten des dicht besiedelten Deutschland machen die organisiert Fußball spielenden Kinder mit Migrationshintergrund schon 60 Prozent aus. Auf dem Weg ins Weserstadion konnte ich bei Karstadt Sport eine Szene beobachten, als eine junge schlanke Frau mit schickem Kopftuch für ihr Kleines ein Kindertrikot von Werder suchte. „Was soll denn da draufstehen?“, fragte der Verkäufer. „Özil natürlich!“, antwortete der Winzling. Ein Lob der Säkularisierung, um die einem nicht bange sein muss, wenn der Fußball es ermöglicht, Glaube, Liebe, Hoffnung an den zu heften, den man sich erwählt hat. Detlev Claussen ist Publizist, Professor für Gesellschaftstheorie, Kultur- und Wissenschaftssoziologie an der Universität Hannover.

This article was published in the JMB Journal, Nr 2, 2010

Dieser Artikel erschien im JMB Journal, Nr. 2, 2010

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Spielwiese By the Bye

Der Ewige Jude The Wandering Jew

Cilly Kugelmann

After her experience of expulsion and exile, Hannah Arendt saw certain true friends as “the only home we were willing to accept,” as she wrote to Martin Heidegger in 1970. Anti-Semites may perceive this attitude as a triumph over Judaism, believing as they do that Jews do not deserve a homeland. The image of the homeless Jew, forced to live as a “sub-letter” among the peoples of the world, is a theme already visible in the Christian Ahasver legend, the story of the “Wandering Jew.” The original motif for this figure, who is denied both peace and death because he delivered Jesus to the cross, or, depending on which version of legend, renounced him, has changed over time and as such become an attribute of the universal destiny for Jews: Restlessly wandering through the world, never and nowhere finding peace. Similar to the “Flying Dutchman”—that captain who curses the divine forces of nature and as a consequence is damned to sail the seas with a “ghost ship”— the figure of the “Wandering Jew” originates from a period of social upheaval: The “Flying Dutchman” processes the risks of colonial expeditions; the legend of the “Eternal Jew” emerged as Europe was being shaken by reformation, counterreformation, and various religious conflicts. The theme became politically loaded in the 19th century via emancipation legislation that was meant to make Jews into citizens and loyal patriots. But antiSemites held Jews to be an economically destructive force—wandering foreigners that could not be integrated. They imputed Jews with the trope provided by the Ahasver Legend: Under the pretense of wanting to mix with “host nations,” Jews secretly wanted to

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Nach der Erfahrung von Vertreibung und Exil sah Hannah Arendt in besonderen Beziehungen zu wahren Freunden „die einzige Heimat, die wir anzunehmen bereit waren“, wie sie 1970 an Martin Heidegger schrieb. Antisemiten mögen diese Haltung als Triumph über das Judentum halten, dem eine Heimat, nach ihrer Vorstellung, nicht gegönnt wird. Das Bild von den heimatlosen Juden, die zur „Untermiete“ unter den Völkern der Welt zu leben haben, findet sich schon in der christlichen Ahasverlegende, der Erzählung vom „Ewigen Juden“. Das ursprüngliche Motiv für diese Figur, der Frieden und Sterben verweigert wird, weil sie Jesus ans Kreuz geliefert oder, je nach Volkslegende, verleugnet hat, wandelte sich im Laufe der Zeit und wurde zum Attribut für die allgemeine Bestimmung der Juden schlechthin: rastlos durch die Welt zu irren, niemals und nirgendwo Ruhe zu finden. Ähnlich dem „Fliegenden Holländer“, jenem Kapitän, der sich fluchend gegen die göttlichen Naturgewalten stellt und dazu verdammt wird, mit einem „Geisterschiff“ durch die Meere zu segeln, stammt die Figur des Ewigen Juden aus einer sozialen Umbruchszeit: Im Fliegenden Holländer werden die Gefahren kolonialer Expeditionen verarbeitet; die Legende vom Ewigen Juden entsteht, als die Staaten Europas von Reformation, Gegenreformation und religiösen Auseinandersetzungen erschüttert werden. Politisch wurde das Thema im 19. Jahrhundert durch die Emanzipationsgesetzgebung aufgeladen, die aus Juden Staatsbürger und loyale Patrioten machen sollte. Juden aber, die den Antisemiten als ökonomisch zerstörerische Kraft, als umher-


infiltrate and destroy the nations of the world. The most radical version of this anti-Semitic projection can be found in Fritz Hippler’s 1940 movie “Der Ewige Jude” (The Eternal Jew). Inspired by a traveling exhibition of the same title, which since 1937 was designed to indoctrinate the people of Europe with National Socialist racial anti-Semitism, the movie created an image of Jews as a biological and economically disintegrative power that could only be fought by total physical annihilation. Since this time we have come to live in a world wherein mobility, communication, and global economy make national borders increasingly less relevant, while at the same time cultural differences are becoming more important. Social upheavals motivate millions of people to leave their place of birth and to try to seek happiness elsewhere. The conception of “exile” gives way to a lifestyle that measures its “home-base” by criteria other than fatherland, mother tongue, and national loyalty. It is not only in this sense that the world population is well on its way to becoming Eternal Jews, but also with regard to the desire and search for eternal life taking place here and now. Cilly Kugelmann is an educationist and deputy director of the Jewish Museum Berlin. She co-publishes the magazine “Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart.”

schweifende Fremde und als nicht integrierbar galten, wurde angedichtet, was die Ahasverlegende anbot: die Vortäuschung, sich mit den „Gastvölkern“ vermischen zu wollen, im Geheimen aber die Völker der Welt zerstörend zu unterwandern. Die radikalste Ausprägung dieser antisemitischen Projektionen findet sich in dem 1940 von Fritz Hippler gedrehten Film „Der Ewige Jude“. Inspiriert von der gleichnamigen Wanderausstellung, die seit 1937 die Bevölkerung Europas auf den nationalsozialistischen Rassenantisemitismus einschwören sollte, wurde in diesem Film ein Bild von den Juden verbreitet, die – als biologisch und ökonomisch zersetzende Macht – nur durch ihre ausnahmslose physische Vernichtung bekämpft werden könnten. Inzwischen leben wir in einer Welt, in der durch Mobilität, Kommunikation und globale Ökonomie staatliche Grenzen zunehmend belanglos werden, während gleichzeitig kulturelle Differenzen an Bedeutung gewinnen. Soziale Verwerfungen motivieren Millionen von Menschen, ihren Geburtsort zu verlassen und ihr Glück woanders zu suchen. Die Vorstellung vom „Exil“ weicht einer Lebensform, die ihren „heimatlichen“ Lebensort an anderen Kriterien als denen des Vaterlandes, der Muttersprache und der nationalen Loyalität misst. Nicht nur in diesem Sinne ist die Weltbevölkerung auf dem besten Weg, zum Ewigen Juden zu werden, sondern auch, was die Sehnsucht und Suche nach dem ewigen Leben im Diesseits anbetrifft. Cilly Kugelmann ist Erziehungswissenschaftlerin und stellvertretende Direktorin des Jüdischen Museums Berlin. Sie ist Mitherausgeberin der Zeitschrift Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart.

A supposed Jewish „restlessness“ is likely to have inspired the name of the plant tradescantia zebrina: This evergreen shrub will thrive under any given condition. In Hebrew as well as in English, it goes by the name “Wandering Jew.”

Die angeblich „jüdische Rast- und Heimatlosigkeit“ inspirierte wohl den Namensgeber der Pflanze Tradescantia zebrina. Der immergrüne Bodendecker, dessen Triebe – unabhängig von Licht und Pflege – unaufhörlich wachsen, heißt auf Englisch sowie auf Hebräisch „Wandernder Jude“.

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Onkel Itzig und die Fische im Main. Oder: Was ist Integration? Uncle Itzig and the Fish in the Main River or What Is Integration? Dalia Moneta

When I asked my friend Maria if she felt integrated in Germany, she said, without a moment of hesitation: No! And this even though Maria, who came to Germany from Moscow in 1990, is a woman that any integration representative could proudly present. She is beautiful, intelligent, young, divorced, a single mother, and nevertheless employed full-time. She speaks perfect German with a charming rolling “r,” she pays her taxes and social security punctually, and is not a burden on the state. She is a highly skilled architect who was successful in her home country, the former Soviet Union. Now, in the small metropolis of Frankfurt am Main she works for a company close to the city, in a position for which she is overqualified. Maria works very hard— more than is necessary—she is committed and devoted, and she knows that she will not receive any recognition. She is a foreigner; she is a woman; and she is very good at what she does. “No, my dear,” Maria said. “I am not integrated. I fall between the cracks. But my Uncle Itzig, he is integrated.” But who is Uncle Itzig? Maria experienced a lot after coming to Germany: temporary housing in a hotel near the train station with junkies out front and a bordello next door; finally, an apartment; then separation and divorce, after which Maria remained alone with her little son. She began working, her parents came shortly thereafter, and later her sister and her family. And then came Uncle Itzig. From Minsk. “Where is the river?” Uncle Itzig asked when Maria picked him up at the airport. “Which river?” Maria asked warily. Uncle Itzig had just left Minsk for the first time in his life. There was no longer anyone there that he knew. He wanted to live in Frankfurt. He had no luggage, only a narrow package, two meters in length. “You have a river here, don’t you?” Uncle Itzig said, “Something with ‘M’.” “Yes,” Maria said, “there’s the Main River. We’re going to my parents now, we’ll eat, you can relax and will have time to unpack.” “I don’t have anything to unpack,” Uncle Itzig replied. “And I’d like to go to the river.” “Fine,” said Maria. “We’ll go and have a look at the river.” “Where are the fishermen?” asked Uncle Itzig, as Maria stopped off at the Eiserne Steg Bridge with him.

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Als ich meine Freundin Maria fragte, ob sie sich in Deutschland integriert fühlt, sagte sie, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern: Nein! Dabei ist Maria, die 1990 aus Moskau nach Deutschland kam, eine Frau, die jeder Integrationsbeauftragte stolz herzeigen kann. Sie ist schön, intelligent, jung, geschieden, allein erziehend und dennoch Vollzeit berufstätig. Sie spricht perfekt Deutsch mit einem rollenden „R“, das ihren Charme noch unterstreicht, zahlt pünktlich ihre Steuern und die Sozialversicherung und fällt dem Staat nicht zur Last. Sie ist eine hoch qualifizierte Architektin, die in ihrem Herkunftsland, der untergegangenen Sowjetunion, beruflich erfolgreich war und die heute, in der kleinen Metropole Frankfurt am Main, in unterqualifizierter Position in einem stadtnahen Betrieb angestellt ist. Maria arbeitet sehr hart, mehr als sie muss, sie engagiert sich gewissenhaft und hingebungsvoll und weiß jetzt, dass sie keine Anerkennung finden wird. Sie ist Ausländerin, sie ist eine Frau und sie ist sehr gut in ihrem Fach. Nein, sagte Maria. Ich, meine Liebe, bin nicht integriert. Ich bin so zwischen den Stühlen. Aber mein Onkel Itzig, der ist integriert. Doch wer ist Onkel Itzig? Maria hat nach ihrer Einreise einiges erlebt: Die vorläufige Unterbringung in einem Hotel im Bahnhofsviertel, mit Fixern vor der Türe und einem Bordell nebenan, endlich eine Wohnung, dann Trennung und Scheidung, Maria blieb mit dem kleinen Sohn allein. Sie fing an zu arbeiten, die Eltern kamen nach, später die Schwester mit ihrer Familie. Und dann kam Onkel Itzig. Aus Minsk. Wo ist der Fluss, sagte Onkel Itzig, als Maria ihn vom Flughafen abholte. Welcher Fluss, fragte Maria misstrauisch. Onkel Itzig hatte Minsk zum ersten Mal in seinem Leben verlassen. Dort war niemand mehr, den er kannte. Er wollte in Frankfurt leben. Er hatte kein Gepäck dabei. Nur ein schmales, fast zwei Meter langes Paket. Ihr habt doch hier einen Fluss, sagte Onkel Itzig. Irgendwas mit M. Ja, sagte Maria, wir haben hier den Main. Wir fahren jetzt zu meinen Eltern, wir essen, du kannst dich ausruhen und in Ruhe auspacken. Ich habe nichts zum Auspacken, erwiderte Onkel Itzig. Und ich möchte zum Fluss. Gut, sagte Maria, wir schauen uns den Fluss an. Wo sind hier die Angler, sagte Onkel Itzig, als Maria mit ihm am Eisernen Steg haltmachte. Hier sind keine Angler, Onkel Itzig, und ich weiß nicht, wo die sind. Maria hatte den ganzen Tag


“There are no fishermen here, Uncle Itzig, and I don’t know where they are.” Maria had worked hard all day. She had no patience for Uncle Itzig and the long package that laid diagonally across the length of her car and that—as she had worried—contained a fishing rod. But Uncle Itzig was the son of her great aunt Bascha, a respected anti-Fascist fighter, who with great effort had brought him up through the war and postwar periods. So Maria trekked along the great Frankfurt river to find fishermen. It was a cool evening. Maria had had quite enough but Uncle Itzig joyfully sang out, “We’re not there yet, but soon I’ll be with you. I can hear you already, little fishies in your strange river. Can you hear me, fishies? Uncle Itzig from Minsk is here!” A few days later Maria finally found a spot where Uncle Itzig could fish that was not far from the city. In West Frankfurt, between Nied and Höchst, they saw the fishermen on the riverbanks. Uncle Itzig—who before leaving Minsk had his Soviet fishing license translated into beautiful, old-fashioned German, replete with notarization and furnished with a bright red seal with a Soviet star—joined in alongside the others on the water, at a respectful distance. He unpacked his gear, his net, rod, rod-holder, his leather fishing bag with lures, a jar of worms that he had gathered in preparation from parks and gardens. He assembled his fishing rod, sat down on a folding stool, cast the rod, inhaled deeply, and happily sighed. He had arrived. Or so Uncle Itzig thought. But our Uncle Itzig hadn’t reckoned with the Frankfurt City Magistrate’s Lower Fisheries Board. Even though he hadn’t caught too many fish, Uncle Itzig spent two days in bliss and felt—forgive the pun— like a fish in the sea. While inhaling the special smell of the Main River near Höchst, sitting in a lush field full of sour sorrel and stinging nettle, the end of the angler’s dream on the beautiful river in the free West came in the form of a young and beautiful woman. She took out documents that identified her as an officer for the Lower Fisheries Board, responsible for checking fishing permits, and in this case for verifying Uncle Itzig’s fishing license. He proudly presented the translation of his Soviet fishing license. The young woman regretfully shook her head. A Soviet license may be valid in the Soviet Union, but here, in Hesse, it was not. Here, the Hessian fishing laws apply, whoever breaks the law must pay a fine. Uncle Itzig didn’t understand much, but he did

hart gearbeitet. Sie hatte keine Geduld mit Onkel Itzig und seinem langen Paket, das quer in ihrem Auto steckte und das, wie sie befürchtet hatte, eine Angelrute enthielt. Aber Onkel Itzig war der Sohn ihrer Großtante Bascha, einer verdienten antifaschistischen Kämpferin, die hatte ihn unter großen Mühen durch den Krieg und die Nachkriegszeit gebracht. Also unternahm Maria den langen Marsch entlang des großen Frankfurter Flusses, um die Angler zu finden. Es war ein kühler Abend. Maria hatte wirklich genug. Onkel Itzig sang vergnügt vor sich hin: Hier ist es noch nicht, aber bald bin ich bei euch. Ich höre euch schon, Fischlein in eurem komischen Fluss. Hört ihr, ihr Fischlein? Onkel Itzig aus Minsk ist da! Einige Tage später hatte Maria endlich einen stadtnahen Platz zum Angeln für Onkel Itzig gefunden. Im Frankfurter Westen, zwischen Nied und Höchst sahen sie die Angler am Ufer. Onkel Itzig, der seinen sowjetischen Anglerschein bereits in Minsk in ein sehr schönes, altmodisches Deutsch hatte übersetzen lassen, beglaubigt und mit einem knallroten Lacksiegel mit Sowjetstern versehen, gesellte sich ans Wasser und suchte, in respektvollem Abstand, einen ruhigen Platz. Er packte seine Utensilien aus, seinen Kescher, Rute, Rutenhalter, sein ledernes Anglertäschchen mit den Ködern, ein Schraubglas mit Würmern, die er seit seiner Ankunft vorsorglich in Parks und Anlagen ausgebuddelt hatte, schraubte seine Angel zusammen, setzte sich auf seinen Klapphocker, legte aus, atmete tief ein und seufzte zufrieden. Er war angekommen. Dachte Onkel Itzig. Unser Onkel Itzig hatte seine Rechnung ohne die Untere Fischereibehörde des Magistrates der Stadt Frankfurt gemacht. Nach zwei Tagen voller Wonne, wenn auch fast ohne Fische, Tagen, an denen sich Onkel Itzig, ja, so kann man es sagen, wie ein Fisch im Wasser fühlte, den ganz besonderen Geruch des Mains bei Höchst aufsaugend, auf satter Wiese sitzend zwischen Sauerampfer und Brennnesseln, kam das Ende des Anglertraums am schönen Fluss im Freien Westen in Form einer jungen und hübschen Frau daher. Diese wies sich mit einer Bescheinigung aus, auf der stand, dass sie als Beamtin der Unteren Fischereibehörde dazu berechtigt sei, die Erlaubnisse zum Angeln, in diesem Falle den Fischereischein des hier anwesenden Onkel Itzig, zu überprüfen. Der zog stolz die Übersetzung seiner sowjetischen Anglerberechtigung hervor. Die junge Frau schüttelte bedauernd den

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know bureaucracy, even when in a pretty disguise and answered in Yiddish, entirely convinced he was speaking the purest German: “Gaj mir aweg mit den Papierele, Maiderle! Fischn sennen gewein schon geangelt fan mir vile Juhrn.” (Get away from me with that paperwork, girlie. I’ve been catching fish for many years now.) The young officer remained fully unimpressed and kindly invited Uncle Itzig to have his Soviet permit transferred to a Hessian one. It’s very easy; she had done it often enough. The next morning at 8:30 my friend Maria was standing with her uncle Itzig in the offices of the Lower Fisheries Board, where the young official received them. She asked for Uncle Itzig’s Soviet fishing license, began to transcribe it, and asked to see his identification. He gladly pulled out his Soviet passport. The officer shook her head and asked, “Why don’t you have a German passport?” To be brief: It turns out that converting a Soviet permission form into a Hessian fishing license may only be done when the person has German heritage, that is, when he is German. But Uncle Itzig, from Minsk, is not. Uncle Itzig is a Jew. A Jewish refugee, immigrant, emigrant, migrant, in short: someone, who moved here after the Hessian Minister President’s decree of May 28, 1991. A decree that was based on a decision by the Federal Republic of Germany, and which said: “The heads of state governments in the Federal Republic of Germany have agreed to the entry of Jewish emigrants from the USSR according to the provisions for measures taken to accept refugees in need of humanitarian aid.” Uncle Itzig’s permit is of a sort that is the same for everyone: It allows Soviet citizens to fish whether Russian, Jewish, German, Armenian, or some other nationality within the Soviet Union. The multiethnic, albeit now defunct, USSR made no distinctions. Hessian fish were not permitted to be pulled from the water by Jews from the former Soviet Union? Maria was stunned. Uncle Itzig, however, was furious and determined. This was unjust! He was ready to fight! Maria assured me that the young official from the fisheries board was certainly in no way antiSemitic. Was. Until she crossed Uncle Itzig’s path. Uncle Itzig found an eloquent comrade-in-arms with whom he could fight this evil in a fishing friend who was familiar with bureaucracy. The attacks were carried out in sophisticated German, with well-placed stabs (“Is it a crime for a German perch to be caught

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Kopf. Eine sowjetische Bescheinigung mag in der Sowjetunion gültig sein, hier, in Hessen, jedoch nicht. Hier gelte das Hessische Fischereigesetz und wer dagegen verstoße, müsse mit einer Geldstrafe rechnen. Onkel Itzig verstand nicht viel, doch kannte er Bürokratie, auch wenn sie noch so hübsch daherkam und entgegnete auf Jiddisch (er war tief davon überzeugt, dass er das reinste Deutsch sprach): Gaj mir aweg mit den Papierele, Maiderle! Fischn sennen gewein schon geangelt fan mir vile Juhrn. (Geh mir weg mit dem Papierchen, Mädel! Fische wurden von mir schon seit vielen Jahren geangelt.) Die junge Beamtin blieb völlig unbeeindruckt und lud Onkel Itzig freundlich dazu ein, sich seine sowjetische Bescheinigung in eine hessische umschreiben zu lassen. Das sei ganz einfach, sie habe das schon oft gemacht. Am nächsten Morgen um halb neun stand meine Freundin Maria mit ihrem Onkel Itzig in den Räumen der Unteren Fischereibehörde. Dort wurden sie von der jungen Beamtin empfangen. Sie ließ sich die sowjetische Fischereierlaubnis von Onkel Itzig geben, begann mit der Umschrift und verlangte dazu seinen Ausweis. Er legte ihr bereitwillig seinen sowjetischen Reisepass vor. Die Beamtin schüttelte den Kopf und fragte: Warum haben Sie keinen deutschen Pass? Wir machen es hier ganz kurz. Es stellte sich heraus, dass das Umschreiben der sowjetischen Urkunde in eine hessische Fischereierlaubnis nur dem zuteil wird, der deutscher Herkunft, also ein Deutscher ist. Das aber ist Onkel Itzig aus Minsk nicht. Onkel Itzig ist ein Jude. Ein jüdischer Kontingentflüchtling, Zuwanderer, Einwanderer, Migrant, kurz, einer, der nach dem Erlass des hessischen Ministerpräsidenten vom 28. Mai 1991 zugezogen ist, basierend auf einer Entscheidung der Bundesrepublik Deutschland, die da lautet: „Die Ministerpräsidentenkonferenz hat beschlossen, jüdische Emigrantinnen und Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion entsprechend den Vorschriften des Gesetzes über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge aufzunehmen.“ Bei Onkel Itzigs Urkunde handelte sich um exakt die gleiche, die Sowjetbürgern das Angeln oder Fischen erlaubte, ob sie Russen, Juden, Deutsche oder Armenier sind, oder zu einem anderen Volk der Sowjetunion gehören. Da machte die völkerreiche, wenn auch bereits untergegangene UdSSR keinen Unterschied.


by someone who was circumcised eight days after his birth? Is it relevant for a catfish if the fisherman who gently removes the hook from its mouth goes to a Lutheran church on Sunday, or if he pays his God homage on the Sabbath in a synagogue?”). So began the attack. It was like the Great Patriotic War. And after the war was won, the defeated could again be loved: their music, their literature, their rivers and lakes, their fish. Uncle Itzig won his little, personal war with the board, which capitulated with relief when he was finally finished. And now Uncle Itzig sits every day—if it is open season according to Hessian fishing laws—on the banks of the mouth of the Nidda tributary that leads to the great river Main, with the other fishermen. He does what he always wanted to do. As a child, as an adolescent, as a man, in Minsk and from the day he touched down and stepped out of the plane at the grand RhineMain Airport. He fishes. Uncle Itzig is content. He is totally integrated. Says Maria. And who would disagree with her? Dalia Moneta is an educationist and head of the social center of the Jewish community in Frankfurt / Main.

Durften die hessischen Fische nicht von einem jüdischen Fischer der ehemaligen Sowjetunion aus dem Wasser gezogen werden? Maria war fassungslos. Onkel Itzig aber war sehr, sehr zornig und wild entschlossen. Dies war Unrecht! Er war kampfbereit bis zum Äußersten. Maria versicherte mir, die junge Beamtin der Unteren Fischereibehörde sei garantiert und Hundertprozent keine Antisemitin. Gewesen. Bis sie in Onkel Itzigs Leben trat. In einem behördenerfahrenen Anglergenossen fand Onkel Itzig einen wortgewandten Mitstreiter, um gegen das Böse anzutreten. In ausgefeiltem Deutsch, mit gut platzierten Nadelstichen (Ist es eine Schande für einen deutschen Zander, von einem gefischt zu werden, der am achten Tage nach seiner Geburt beschnitten wurde? Ist es von Relevanz für einen Wels, ob der Fischer, der behutsam den Haken aus seinem Maul entfernt, am Sonntag in der Evangelisch-Lutherischen Kirche oder am Schabbat in der Synagoge seinem Herrn huldigt?) wurden die Attacken geführt. Es war wie im Großen Vaterländischen Krieg. Wenn man ihn gewonnen hatte, konnte man die Besiegten wieder liebhaben. Ihre Musik, ihre Literatur, ihre Flüsse und Seen, ihre Fische. Onkel Itzig gewann seinen kleinen, persönlichen Krieg mit der Behörde, die erleichtert kapitulierte, als er mit ihr fertig war. Nun sitzt Onkel Itzig täglich, wenn es die Schonzeiten für die Fische gemäß dem Hessischen Fischereigesetz zulassen, an der Mündung des kleinen Flusses Nidda in den großen Main am Ufer, bei den anderen Anglern. Er tut das, was er immer tun wollte. Als Kind, als Jugendlicher, als Mann, in Minsk und vom ersten Tag an, als er auf dem großen Rhein-Main-Flughafen aus dem Flugzeug stieg. Er angelt. Onkel Itzig ist zufrieden. Er ist völlig integriert. Sagt Maria. Und wer wollte ihr widersprechen. Dalia Moneta ist Diplom-Pädagogin und Leiterin der Sozialabteilung der jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main.

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Reise nach Südamerika

Passage to South America

Fritz Freudenheim war zwölf Jahre alt, als er 1938 aus Deutschland fliehen musste. Mit seinen Eltern und seiner Schwester war er vom 28.10.1938 bis zum 30.11.1938 von Berlin über Hamburg, Frankreich, Afrika und Brasilien nach Montevideo unterwegs. 1998 erinnert er sich: „Im Schiff war eine Weltkarte angebracht, und täglich steckte ein Offizier ein kleines Fähnchen an die Stelle, an der wir uns an dem Tag befanden. Diese Karte gab mir die Idee zu der Zeichnung ’Von der alten Heimat zu der neuen Heimat‘, welche dann zu einer Art Reisetagebuch wurde.“

Fritz Freudenheim was twelve years old when he had to flee Germany in 1938. The flight from 28 October to 30 November 1938 took him, together with his parents and sister, from Berlin to Hamburg through to France, over to Africa, then Brazil and finally Montevideo. In 1998, he recalls: “There was a world map inside the ship, and each day an officer pinned a small flag to the point where we were. The map gave me the idea for the picture ‘From the Old Home to the New Home,’ which then became a kind of travel diary.“

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Weltfenster Worldwide

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Immigration to the United States, Old and New Einwanderung in die Vereinigten Staaten – einst und heute

Nancy Foner

Wieder einmal sind die Vereinigten Staaten ein echtes Einwanderungsland. Seit dem enormen Zustrom Ende der 1960er Jahre ist die Zahl der Immigranten angestiegen wie nie zuvor in der Geschichte. Einer Volkszählung im Jahr 2008 zufolge wurden ungefähr 38 Millionen Einwohner der USA im Ausland geboren, das sind 12,5 Prozent einer Bevölkerung von insgesamt 304 Millionen. Selbst als die letzte große Einwanderungswelle zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte, betrug die Zahl der damals in den USA lebenden Immigranten (1910 waren es 13,5 Millionen) deutlich weniger als die Hälfte des gegenwärtigen Anteils – wobei der Anteil der Einwanderer gemessen an der Gesamtbevölkerung damals höher war (14,7 Prozent im Jahr 1910). Doch inwiefern ähnelt oder unterscheidet sich die heutige Einwanderung von der damaligen? In gewisser Weise wiederholt sich die Geschichte. Da viele der modernen Einwanderer geringe Fachkenntnisse haben und so gut wie kein Englisch sprechen, beginnen sie in den USA, ganz wie ihre Vorgänger, am untersten Ende der ökonomischen Leiter. Sie verrichten schlecht bezahlte Tätigkeiten, die lange Arbeitszeiten und unangenehme Arbeitsbedingungen mit sich bringen und die die im Land geborenen Amerikaner nicht verrichten wollen. Jüdische Einwanderer arbeiteten einst in ausbeuterischen Kleidungsmanufakturen – heute tun viele chinesische und lateinamerikanische Immigranten dasselbe. Wie vor hundert Jahren leben auch heute viele Einwanderer in Häusern oder Apartment Blocks, deren Bewohner die gleiche Herkunft teilen, sodass viele Stadtviertel das Flair einer bestimmten Ethnie annehmen. Das ehemals traditionelle Viertel der jüdischen Immigranten war die Lower Eastside mit seinen Handkarren, Mietshäusern, Sweatshops und Synagogen, dessen Andenken heute das Tenement Museum in der Lower Eastside bewahrt; in unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich mittlerweile eine der größten chinesischen Communitys außerhalb Asiens. Einwanderer wollen in der Nähe von Freunden und Verwandten wohnen, in einem Umfeld, dessen Sprache sie verstehen und in dem es öffentliche Einrichtungen gibt, die ihnen vertraut sind. Aber oft stoßen sie an Grenzen, die ihnen durch Vorurteile oder durch einen Mangel an erschwinglichen Wohnungen gesetzt werden. Ganz wie früher zwingen heute niedrige Löhne sowie ein vergleichsweise spätes Hinzustoßen zum Immobilienmarkt viele Einwandererfamilien dazu, in überfüllten und oft heruntergekommenen Quartieren zu leben, von denen sie noch Wohnraum an Landsleute vermieten müssen, um irgendwie über die Runden zu kommen. Oft heißt es, dass die heutigen Einwanderer sich maßgeblich von denen von vor hundert Jahren unterscheiden, da die Immigranten damals weiße Europäer waren, während heute die meisten farbig sind. Allerdings reicht die

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Once again, the United States is truly a nation of immigrants. In the wake of the huge influx since the late 1960s, the number of immigrants in the United States has risen to an all-time high. According to the U.S. Census, in 2008 about thirty-eight million of the nation’s residents were foreign-born, 12.5 percent of the population of 304 million. Even at the peak of the last great wave of immigration in the early 20th century, the number of immigrants living in the United States then (13.5 million in 1910) was much less than half of what it is today—although immigrants’ proportion of the total population back then (14.7 percent in 1910) was higher because the country had far fewer people (ninety-two million). How has this new immigration been changing the United States? And in what ways is this the same or different from the past? In some ways, history is repeating itself. Because many contemporary immigrants arrive in the United States with low skill levels, do not know English, and are new to the country, they, like their predecessors a hundred years ago, often enter the economy on the bottom, taking low-paid jobs with long hours and unpleasant working conditions that native-born Americans do not want. Jewish immigrants in the past worked in garment sweatshops, just like many Chinese and Latino immigrants do today. Many newcomers now, like those a century ago, cluster in ethnic residential enclaves, often sharing houses or apartment buildings with people from their home communities and giving many neighborhoods a distinct ethnic flavor. The classic Jewish neighborhood of the past is New York’s Lower East Side, remembered for its pushcarts, tenements, sweatshops, and synagogues and memorialized in the Lower East Side Tenement Museum; nearby today is one of the largest Chinese communities outside of Asia. Immigrants want to live near friends and relatives in an environment of familiar languages and institutions, but they are also often limited by prejudice as well as the availability of affordable housing. Today, as in the past, low incomes—and recent entry into the housing market—force many immigrant families into crowded and substandard living quarters and to rent out space to their compatriots to make ends meet.


Einer Volkszählung im Jahr 2008 zufolge wurden ungefähr 38 Millionen Einwohner der USA im Ausland geboren, das sind 12,5 Prozent einer Bevölkerung von insgesamt 304 Millionen. According to the U.S. Census, in 2008 about thirty-eight million of the nation’s residents were foreign-born, 12.5 percent of the population of 304 million.

Geschichte der Vorurteile, die Immigranten aufgrund ihrer Rasse oder Ethnie entgegengebracht werden, weit zurück. So galten vor hundert Jahren die jüdischen und italienischen Einwanderer nicht in der gleichen Weise als weiß wie heute jene Menschen, deren Wurzeln in Nordoder Westeuropa liegen; vielmehr wurden sie als minderwertige „Mischlinge“ angesehen, die die angelsächsischen bzw. nordischen Erbanteile im Volk „verunreinigten“. Man glaubte, dass jüdische und italienische Einwanderer über spezifische biologische Merkmale, geistige Fähigkeiten und Charaktereigenschaften verfügten und auch anders aussähen – bei Juden meinte man, bestimmte Gesichtsmerkmale auszumachen, während für Italiener ein dunkler Hauttypus als einschlägig galt. Auch der Transnationalismus, die Pflege des Kontakts zum Herkunftsland, ist nichts Neues. Viele Einwanderer der letzten großen Zuzugswelle hielten transnationale Verbindungen aufrecht, indem sie den Angehörigen in der Heimat Geld und Briefe schickten oder Geld beiseite legten, um zu Hause Grundbesitz oder Häuser zu erwerben. Für damalige Verhältnisse stellten die Juden eine Ausnahme dar, weil sie sich weitgehend dauerhaft in den Vereinigten Staaten niederließen, aber viele Italiener waren „Zugvögel“, die alle paar Jahre oder saisonbedingt wieder in das Dorf, aus dem sie stammten, zurückkehrten. Heute ist die Befürchtung, dass Immigranten und ihre Kinder kein Englisch lernen, weit verbreitet, und man glaubt, dies sei anders als früher. Aber gerade wenn es um die Sprache geht, stechen die Ähnlichkeiten zwischen damals und heute deutlich hervor, und das Dreigenerationen-Modell der sprachlichen Assimilation ist nach wie vor gültig: Die erste Generation der Immigranten (die als Erwachsene ins Land kommen) macht zwar gewisse Fortschritte beim Spracherwerb, bevorzugt aber in der Regel die Muttersprache, die zweite Generation ist oft zweisprachig und in der dritten Generation beherrscht die überwältigende Mehrheit nur eine Sprache, und zwar Englisch. Laut einer neueren Umfrage unter Lateinamerikanern der zweiten Generation sprachen 88 Prozent von ihnen sehr gut Englisch (im Gegensatz zu Angehörigen der ersten Einwanderergeneration, bei denen es ungefähr ein Viertel war). Nahezu zwei Drittel der Mexikaner der dritten Generation sprechen ausschließlich Englisch; unter Asiaten liegt die entsprechende Zahl sogar bei 90 Prozent. Die Tatsache, dass sich zwischen heute und damals Parallelen aufzeigen lassen, heißt natürlich nicht, dass Immigranten zeitlos die immer gleiche Story durchleben. Viele Aspekte der Zuwanderung unterscheiden sich heute deutlich von früher. Während vor hundert Jahren die überwältigende Mehrheit der Einwanderer aus Europa stammte, 1920 waren es sage und schreibe 87 Prozent, kommen Immigranten in die USA heute aus einer größeren

It is often said that a major distinction between today’s immigrants and those a hundred years ago is that then they were white Europeans and today most are people of color. However, prejudice against immigrants on the basis of race and ethnicity has a long history. Jewish and Italian immigrants a century ago were not viewed as white the same way that people with origins in northern and western Europe were: They were seen as belonging to inferior “mongrel“ races that were “polluting” the nation’s Anglo-Saxon or Nordic stock. Jewish and Italian immigrants were thought to have distinct biological features, mental abilities, and innate character traits and even to look different—facial features often noted in the case of Jews, “swarthy“ skin in the case of Italians. Transnationalism, or maintaining ties to the home country, is also not new. Many immigrants in the last great wave of immigration maintained extensive transnational ties, sending money and letters to relatives back home and putting away money to buy land and houses in the home country. Jews were unusual for their time in the degree to which they were permanent settlers in the United States, but many Italians were “birds of passage“ who went back to their home village seasonally or every few years. In general, immigrants in a variety of groups then, like immigrants today, often followed news and remained actively involved in home-country politics. A common fear is that today’s immigrants and their children are not learning English, and that this is different from the past. But when it comes to language, the similarities with the past stand out. The standard three-generation model of linguistic assimilation still holds: The immigrant generation (arriving as adults) makes some progress but is usually more comfortable and fluent in the native tongue; the second generation is often bilingual; and the third generation is overwhelmingly monolingual in English. According to a recent study, eighty-eight percent of second-generation Latinos eighteen and older spoke English very well (vs. about a quarter of first-generation Latino immigrants). About two-thirds of the Mexican third generation is monolingual in English, and the figure is as high as ninety percent for Asian groups.

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Straßenverkäufer in der Lower East Side 1928. Foto: Ruth Jacobi Street vendor in the Lower East Side 1928. Photo: Ruth Jacobi

Vielfalt von Ländern. Italiener stellten in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die größte Gruppe, gefolgt von Juden aus Osteuropa. 2007 stammten nur noch 13 Prozent der Einwanderer aus Europa. Nahezu vier von fünf kamen dagegen aus Asien, Lateinamerika oder der Karibik. Die Gruppe der Mexikaner ist heute eindeutig am größten, sie entspricht fast einem Drittel aller Einwanderer in die Vereinigten Staaten. Das ist keineswegs verwunderlich. Die Grenze zwischen Mexiko und den USA ist nahezu 2000 Kilometer lang – früher gehörten sogar Teile der USA zu Mexiko – und die wirtschaftlichen Verhältnisse haben Millionen von Mexikanern dazu gebracht, Arbeit in „El Norte“ zu suchen. Auch, dass heute eine große Zahl unregistrierter Zugewanderter in den Vereinigten Staaten lebt, ist Ausdruck einer neuen Entwicklung. Vor hundert Jahren gab es kaum Beschränkungen gegenüber Immigranten aus Europa, sodass nur wenige europäische Einwanderer als „illegal“ galten. Bis zu den 1920ern existierten keine Begrenzungen für die Anzahl der Einwanderer aus Europa, und weder ein Visum noch irgendwelche anderen besonderen Dokumente mussten von den US-amerikanischen Behörden eingeholt werden. (Wohl aber gab es spezielle Gesetze, mit denen Asiaten vom Zuzug ausgeschlossen wurden; Chinesen fielen bereits 1882 unter diese Regelung.) Die europäischen Immigranten kamen mit dem Schiff, und die meisten gelangten an den Einreisehäfen ohne große Schwierigkeiten in die Vereinigten Staaten, da sie schon bei der Abreise von den Schifffahrtsgesellschaften auf Krankheiten hin untersucht worden waren. Von den 25 Millionen Einwanderern, die vor dem Ersten Weltkrieg auf Ellis Island eintrafen, wurde nur ein Prozent abgewiesen. Wer heute keine Genehmigung von den amerikanischen Behörden erhält, kann nicht auf legale Weise in den USA leben und arbeiten. Es gibt Beschränkungen für die Anzahl der Einwanderungsvisa, und in vielen Ländern, in denen die Nachfrage besonders groß ist, dauert der Vorgang sehr lang, selbst wenn es einen Familienangehörigen gibt, der den Bewerber unterstützt. (Die Mehrheit der legal zugelassenen Einwanderer wandert vermittels der im US-amerikanischen Einwanderungsrecht enthaltenen Bestimmungen zur Zusammenführung von Familien ein.) Das führt dazu, dass viele ohne reguläre Papiere kommen beziehungsweise bleiben. 2008 wurde die Zahl der illegal in die USA Eingewanderten auf 12 Millionen geschätzt; davon kamen fast 60 Prozent aus Mexiko und weitere 22 Prozent aus anderen lateinamerikanischen oder karibischen Staaten. Für nicht registrierte Einwanderer stellen sich zahlreiche Hindernisse: Abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen haben sie kein Anrecht auf staatliche Unterstützung. In den letzten Jahren wurden sie

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If there are parallels with the past, we are not, of course, witnessing a timeless immigrant saga. In many ways, today’s immigration differs profoundly from the past. The immigrants now coming to the United States are from different places. A hundred years ago, the overwhelming majority of immigrants were European, an astounding eighty-seven percent in 1920. Italians were the largest immigrant group in the first two decades of the 20th century followed by eastern European Jews. In 2007, only thirteen percent of the immigrants in the United States were European. Nearly four out of five were from Asia, Latin America, and the Caribbean. Mexicans are, by far, the largest group, nearly one-third of the nation’s immigrant population. This is not surprising. Mexico shares a nearly two thousand mile border with the United States—parts of the United States once belonged to Mexico!—and economic conditions have led millions of Mexicans to seek employment in “El Norte.“ Another new development is the large number of undocumented immigrants now living in the United States. A hundred years ago, there were few restrictions on European immigration so that hardly any European immigrants were “illegal.“ Until the 1920s, there were no numerical limits on European immigration— no immigrant visas or special papers that had to be secured from the United States. (To be sure, specific exclusion laws barred Asians, in the case of Chinese as early as 1882.) European immigrants came by boat, and most got through the ports of entry in the United States easily since they already had been screened, mainly for disease, by steamship companies before embarking. Only one percent of the twenty-five million immigrants who landed on Ellis Island before World War I were excluded. Today, if you do not have authorization by American authorities you cannot legally live and work in the United States. There are numerical limits on the number of immigrant visas, and in many countries where the demand to come to the United States is especially strong, a long wait to get them, even if you have a family member to sponsor you. (The majority of lawfully admitted immigrants—nearly three-fifths in 2005—come under family reunification provisions of U.S. immigration law.) The result is that many arrive or remain without proper documents. In 2008,


1920 2007

13%

87%

Anteil der Einwanderer aus Europa Percentage of European immigrants

zudem stark angefeindet und sahen sich vielerorts Sanktionen seitens der lokalen Regierung ausgesetzt. Gegenwärtig gibt es praktisch keine Möglichkeit für eine nicht registrierte Person, einen rechtmäßigen Status zu erlangen. Das gilt auch für viele Kinder, die kamen, als sie noch ganz klein waren. Die Sache wird durch das US-amerikanische Staatsangehörigkeitsrecht – welches das uneingeschränkte Staatsbürgerrecht qua Geburt vorsieht – noch komplizierter, denn viele nicht registrierte Immigranten haben Kinder, die in den Vereinigten Staaten geboren wurden und von daher amerikanische Bürger sind. Während die Eltern unter der ständigen Bedrohung der Festnahme, Inhaftierung und Abschiebung leben müssen, besitzen ihre Kinder alle Rechte der amerikanischen Staatsbürgerschaft. Ein anderer Unterschied, der positiv zu werten ist, besteht darin, dass heutige Migranten aus vielfältigeren wirtschaftlichen Verhältnissen stammen als die europäischen Einwanderer um die Wende zum 20. Jahrhundert. Natürlich gibt es immer noch viele, die einen niedrigen Bildungsstand und geringe Fachkenntnisse haben – so besaßen 2006 von denjenigen, die 25 Jahre oder älter und nicht in den USA geboren waren, 32 Prozent keinen Highschool Abschluss – aber eine beträchtliche Anzahl kommt mittlerweile mit einem College Abschluss oder einer höheren Qualifikation ins Land. 2006 hatten 27 Prozent der 25-Jährigen oder Älteren ein College besucht. Aufgrund dieser Situation sind viele der heutigen Einwanderer in der Lage, eine anständige, zuweilen auch gut bezahlte Arbeit in der Wirtschaft zu finden. Zudem arbeiten in der gegenwärtigen postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft weniger Einwanderer in Fabriken, sondern sind häufiger als früher im Dienstleistungssektor tätig. Der rechtliche Stand stellt für viele Einwanderer jedoch eine Hürde dar, wenn es um eine Anstellung geht: Der Besitz einer Greencard ist kein sicheres Rezept für den Erfolg, ohne eine Greencard aber ist es für einen Einwanderer schwierig, einen guten Job zu finden und im regulären Wirtschaftsleben ein Auskommen zu finden. Wie gesagt ist auch Transnationalismus ein bekanntes Phänomen, und doch ist vieles daran heutzutage neu. Durch die modernen Technologien und Kommunikationsmedien können die Immigranten auf beständigere, unmittelbarere und persönlichere Weise als vorher mit ihren Bezugsgruppen in der Heimat Kontakt halten. Die Zugewanderten können sich ins Flugzeug setzen, um nach Hause zu fliegen, zum Telefonhörer greifen oder das Internet nutzen. Auf diese Weise können sie erfahren, was bei ihren Verwandten los ist, und den Zurückgelassenen in einer grundlegend anderen Weise verbunden bleiben, als dies in der Vergangenheit möglich war.

there were an estimated twelve million unauthorized immigrants in the United States, nearly sixty percent from Mexico and another twenty-two percent from elsewhere in Latin America and the Caribbean. Undocumented immigrants face a host of difficulties. With only a few, narrow, exceptions, they are ineligible for governmentprovided benefits. In recent years, they have been subject to great hostility and, in many places, punitive actions by local governments. At the current time, there is virtually no viable pathway to legal status for the undocumented, including many children who came when very young. Given U.S. citizenship laws— unconditional birthright citizenship—an added complication is that many undocumented immigrants have children who were born in the United States and are thus U.S. citizens. The parents may live under the threat of arrest, detention, and deportation but they often have children who are U.S. citizens with all the rights that this entails. Another, more positive, difference from the past is that today’s immigrants are more diverse in socioeconomic background than European immigrants at the turn of the 20th century. Many, of course, are still poorly educated and low-skilled—thirty-two percent of the U.S. foreign-born age twenty-five and older in 2006 lacked a high school diploma—but substantial numbers now arrive with college degrees or more. In 2006, twenty-seven percent of the US foreign-born age twenty-five and older were college graduates. Never in the history of U.S. immigration has such a high proportion arrived in the United States with such high educational qualifications. Given that a substantial minority of today’s immigrants have college degrees, many arrive ready and able to find decent, sometimes high-level, jobs in the mainstream economy. This is another difference from the past. Moreover, in the present postindustrial service economy, fewer immigrants work in factories, more in the service sector than in the past. Legal status is also a barrier for many immigrants when it comes to employment. Having a green card is not a recipe for success, but without one an immigrant has more trouble getting a good job and making a living wage in the formal economy.

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Straßenszene, Lower East Side 1928. Foto: Ruth Jacobi On the streets of the Lower East Side 1928. Photo: Ruth Jacobi

Und schließlich werden die Communitys der Einwanderer heute fortwährend durch Neuankömmlinge ergänzt und aufgestockt, worin ebenfalls ein Unterschied zur letzten Einwanderungswelle liegt: In den 1920ern folgten auf die Große Depression und den Zweiten Weltkrieg rechtliche Beschränkungen und brachten die Masseneinwanderungen aus Süd- und Osteuropa zu einem Halt; erst in den 1960ern setzte wieder ein verstärkter Zustrom ein. Heute hat die Einwanderung stetig hohe Zuwachsraten, und ein Stopp wie in der Vergangenheit ist sehr unwahrscheinlich. Allein im Jahr 2006 kamen 25 Prozent der seit 2000 in die USA Eingewanderten ins Land. Während die Einwanderer der zweiten Generation in den 1930ern, 1940ern und 1950ern oftmals in einem Umfeld aufwuchsen, in dem es kaum Neuankömmlinge gab, leben heute die Kinder von Immigranten in Gemeinden, in denen täglich Fremde aller Altersgruppen eintreffen, die sich ihrem Heimatland, dessen Sitten und Sprachen eng verbunden fühlen. Der Vergleich zwischen der US-amerikanischen Einwanderung in der Vergangenheit und Gegenwart zeigt, dass vieles an der heutigen Einwanderung neu ist – und dass es zugleich auch viele Parallelen zwischen früher und jetzt gibt. Einer der Vorteile der komparativen Betrachtung liegt darin, dass wir so erkennen können, ob und inwiefern wir an einem neuen Punkt angelangt sind. Zugleich werden heutige Einwanderer daran erinnert, was sie mit ihren Vorgängern teilen, und das kann ihnen ein Gefühl dafür vermitteln, was es heißt, Teil der amerikanischen „Einwanderernation“ zu sein. Wie der Vorsitzende einer arabisch-muslimischen Vereinigung in New York kürzlich zu einem Reporter der New York Times sagte: „Wir blicken auf die italienische Gemeinde und die jüdische. Die haben angefangen wie wir, oder waren vielleicht noch schlechter dran… Eines Tages ist es auch für uns soweit.“ Nancy Foner ist Distinguished Professor für Soziologie am Hunter College und am Graduate Center der City University, New York.

Transnationalism is not a new phenomenon, but much is new about it today. With modern technology and communications, immigrants can maintain more frequent, immediate, and closer contact with their home societies than before. Immigrants can hop on a plane to visit their home community, pick up the phone or use the internet to hear news from relatives and be involved with those left behind in a fundamentally different way than was possible in the past. Finally, immigrant communities today are being constantly replenished with new arrivals in a way that is different from last time. In the 1920s, there was a halt in mass immigration from southern and eastern Europe owing to legislative restrictions followed by the Great Depression and World War II, and mass inflows did not begin again until the 1960s. Today, immigration has been continuing at high rates—and a halt, like that in the past, is unlikely. In 2006, twenty-five percent of immigrants in the United States had arrived since 2000! Whereas the earlier second generation growing up in the 1930s, 1940s, and 1950s did so in a context in which there were hardly any newly-arrived immigrants in their communities, many children of today’s immigrants live in communities where newcomers, of all ages—who have strong ties to the home country and its customs and languages—are arriving every day. This discussion of immigrants in the United States today and in the past makes clear that much is new about contemporary immigration—at the same time as there are many parallels between then and now. One of the many benefits of comparing the old and new immigration is that it allows us to see in what ways we have come to a new place. It also reminds present-day immigrants of what they have in common with their predecessors, which can give them a greater sense of being part of America as a “nation of immigrants” and perhaps also hope for the future. As a leader of an Arab Muslim federation in New York City put it recently to a New York Times reporter: “We look at the Italian community, the Jewish community. They started out like us or even worse off… Eventually the day will come for us.” Nancy Foner is distinguished professor of sociology, Hunter College and the Graduate Center of the City University of New York.

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… KOMMT EINER Someone comes from afar with a language that perhaps immures its vowels in the neighing of a mare or the piping of young blackbirds or screeches like a saw which rives all nearness– Someone comes from afar who moves like a dog or perhaps a rat and it is winter so clothe him warmly, or he may have fire beneath his feet (perhaps he rode on a meteor) so do not scold him if your carpet screams with holes– A stranger always has his homeland in his arms like an orphan for which he may be seeking nothing but a grave.

von ferne mit einer Sprache die vielleicht die Laute verschließt mit dem Wiehern der Stute oder dem Piepen junger Schwarzamseln oder auch wie eine knirschende Säge die alle Nähe zerschneidet – Kommt einer von ferne mit Bewegungen des Hundes oder vielleicht der Ratte und es ist Winter so kleide ihn warm kann auch sein er hat Feuer unter den Sohlen (vielleicht ritt er auf einem Meteor) so schilt ihn nicht falls dein Teppich durchlöchert schreit – Ein Fremder hat immer seine Heimat im Arm wie eine Waise für die er vielleicht nichts als ein Grab sucht.

Nelly Sachs

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Hineingeworfen in ein Außerhalb Thrown into an Outside

Aris Fioretos

The exhibition “Flight and Metamorphosis: Nelly Sachs, Author, Berlin/Stockholm” opened on 24 March 2010. Aris Fioretos, curator of the exhibition and editor of the new complete works of the Nobel Prize winner, spoke at the exhibit opening about the subtle connections that Sachs weaves between worlds in her works. This is an excerpt from his speech.

The legendary place where Nelly Sachs’ main body of work was created was described in a Swedish tabloid from December 1966 as “a round table and a worn-out armchair, a bed.” The reporter continued: “Here is where Nobel Prize for Literature-winner Nelly Sachs— who turned 75 the day she received the prize—sleeps, eats, and works. The typewriter is black and very old. It thunders like a jackhammer, but writes with precision. The little room sits directly adjacent to the somewhat larger kitchen with a gas oven and a sink. She calls the room ‘the ship cabin.’ In it she has written many of the works that have made her famous.” These quarters were located in a rental house that was owned by the Jewish community with a view of Stockholm’s surrounding waters. Here Sachs mobilized the only thing that remained of the time before the catastrophe: the German language. Upon the four square meters of her cabin she devised the coordinates for what she termed “invisible universe”—an imaginary ever expanding web of relationships between the dead and the living, between historical persons and events and figures of myth and legend. After her mother’s death, Sachs lived there by herself and felt “constantly thrown into an ‘outside’.” This paradoxical outside, in which she nonetheless could be incorporated, in which there was therefore something akin to intimacy—points rather precisely to the position of Sachs’ work in today’s literary establishment: seldom read, accused of kitsch, its existence thought to be brought forth by a lyricpoet of postwar ruins. Sachs seems to be included in the German canon only as an outsider. The exhibition “Flight and Metamorphosis” sets off from the fatal caesura that nearly delivered her to death and then transported her into an uncanny outside of unfamiliar Sweden. As Sachs became increasingly known toward the end of 1950s, she made it clear that she didn’t want to republish the prose, puppet-theater pieces, and marionette plays she wrote before her escape, as the sheltered daughter of a secular Jewish family in the Tiergarten district of Berlin. Her wish demonstrates not only that it was unimportant for her to connect what she boldly called “school-girl legends of a 15-year-old” (in reality, at the time of her debut

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Am 24. März 2010 wurde im Jüdischen Museum Berlin die Ausstellung „Flucht und Verwandlung. Nelly Sachs, Schriftstellerin, Berlin/Stockholm“ eröffnet. Aris Fioretos, Kurator der Ausstellung und Herausgeber der neuen Gesamtausgabe der Nobelpreisträgerin, sprach zur Eröffnung von den Verflechtungen und haarfeinen Verbindungen, die Sachs durch ihre Werke zwischen den Welten knüpft. Ein Auszug seiner Rede.

In einem schwedischen Boulevardblatt vom Dezember 1966 wird der legendäre Ort, an dem das Hauptwerk von Nelly Sachs entstand, beschrieben. „Ein runder Tisch und ein durchgesessener Fauteuil, ein Bett“, so der Reporter. „Hier schläft, isst und arbeitet die Literaturnobelpreisträgerin Nelly Sachs, die am Nobeltag 75 Jahre alt wurde. Die Schreibmaschine ist schwarz und sehr alt. Sie donnert wie ein Steinbrecher, schreibt aber sehr deutlich. Das kleine Zimmer liegt direkt neben der etwas größeren Küche mit Gasherd und Spüle. Sie selbst nennt das Zimmer ‘die Kajüte’. In ihm hat sie viele der Werke geschrieben, die sie berühmt gemacht haben.« Diese Unterkunft war in einem Mietshaus der Jüdischen Gemeinde mit Blick auf die Wasser Stockholms zu finden. Hier mobilisierte Sachs das einzige, was ihr aus der Zeit vor der Katastrophe geblieben war: die deutsche Sprache. Auf den vier Quadratmetern ihrer Kajüte ersann sie sich die Koordinaten für das, was sie ihr „unsichtbares Universum“ nannte – ein imaginäres, sich stets veränderndes Beziehungsgeflecht zwischen Toten und Lebenden, zwischen historischen Personen sowie Ereignissen und Figuren aus Mythos und Legende. Nach dem Tod ihrer Mutter lebte Sachs dort allein und fühlte sich „immer wieder hineingeworfen in ein ‘Außerhalb’“. Dieses paradoxale Auswärts, von dem sie trotzdem einverleibt werden konnte, in dem es folglich so etwas wie Intimität gab, bezeichnet auch recht genau die Position ihres Werks im heutigen Literaturbetrieb. Selten gelesen, als Trümmerlyrikerin und Betroffenheitspathetikerin unter Kitschverdacht stehend, scheint Sachs in den deutschen Kanon nur noch als Außenseiterin aufgenommen zu werden. Die Ausstellung „Flucht und Verwandlung“ setzt bei der fatalen Zäsur ein, die der Autorin beinahe den Tod brachte und sie dann in ein unheimliches Außerhalb im fremden Schweden versetzte. Als Sachs Ende der 1950er Jahre zunehmend bekannt wurde, ließ sie ausrichten, sie wolle nichts von den Gedichten, Puppentheaterstücken und Marionettenspielen, die sie vor der Flucht als wohlbehütete Tochter einer säkularisierten, jüdischen Familie in Berlin-Tiergarten geschrieben hatte, nochmals herausgeben. Dieser Wunsch zeigt nicht nur, dass sie die Herstellung einer


“Legenden und Erzählungen” [Legends and Stories] she was twice as old) with the work she started to write in May 1940 for her “own ‘ability to survive.’” The establishment of a connection of the old and new literary worlds was deemed irrelevant. Her wish also showed that she wanted to be remembered for the writer she became in exile and as a result of that escape. In the beginning was the Shoah. The formulation “thrown into an ‘outside,’” is paradigmatic of this decision, and as such also for this exhibition. With the four square meters of the ship cabin as a focal point—a variation on the “portable fatherland” of which once Heine wrote—the “meridians” are drawn, which Sachs spoke of well before her friend Paul Celan did, and with which she attempted to organize her imaginary universe. Through these meridians she brought together her imaginary universe, politics, and private history. Here, a certain sense for what may be discerned between the lines is surely no disadvantage. Writing to Walter A. Berendsohn, an emigrant who was the first to treat scholarly her work, Sachs stated: “We Jewish people must be as reserved as possible. […] My books contain everything about my life that anyone might want to know. There may be professions, such as film and theater, where young people enjoy learning the next new thing and personal circumstances—but I want to be extinguished entirely—just a voice, a sigh for those who wish to eavesdrop.” For Sachs, the texts should speak for themselves. Knowledge about the person behind the work was not necessary, sometimes even detrimental. Nothing about what she termed “the little child’s hell of loneliness,” or elsewhere chose to call her “little paradise garden,” was allowed to surface—nothing about close relationships in her family. And even less about the “dead groom,” the unknown man with whom she fell in love with as a 17-year-old and with such dire consequences. The exhibition places less emphasis on the question of how secret data may be divined. Although some parts of the Berlin period are addressed—for example, regarding the “Expander,” a contraption for the strengthening of musculature that her father had patented—more significant is the status of silence, which for all the disguise, for all the will to extinction, nonetheless points to itself as a secret. How did these undivulged data inform Sachs’ work? A sort of absence, maybe even an “outside” that fills her pieces with contradictory energies, is made visible through omission.

Verbindung zwischen den mutig als „Schulmädchenlegenden der 15-Jährigen“ bezeichneten Arbeiten (tatsächlich war sie zum Zeitpunkt ihres Debüts, „Legenden und Erzählungen“, doppelt so alt) und dem, was sie ab Mai 1940 für ihr „eigenes ‘Überleben können’ niederschrieb“, also die Herstellung einer Verbindung zwischen alter und neuer literarischer Welt, für unwichtig hielt. Ihr Wunsch zeigt auch, dass sie erst im Exil und als Folge der Flucht zu jener Schriftstellerin wurde, als die sie in Erinnerung bleiben wollte: Am Anfang war die Schoa. Die Formulierung „hineingeworfen in ein ‘Außerhalb’“ ist paradigmatisch hierfür – und daher auch für die Ausstellung. Mit den vier Quadratmetern der Kajüte als Mittelpunkt – eine Variante des „portativen Vaterlandes“, von dem Heine einst schrieb – werden die „Meridiane“, von denen Sachs ein paar Jahre vor ihrem Freund Paul Celan sprach und mit denen sie ihr imaginäres Universum zu organisieren versuchte, in die Literatur und in die politisch-kulturelle sowie persönliche Geschichte gezogen. Ein gewisses Gespür für das, was zwischen den Zeilen zu sehen sein könnte, ist dabei sicherlich kein Nachteil. An den emigrierten Walter A. Berendsohn, der als erster Sachs’ Werk akademisch einzuordnen versuchte, schrieb sie: „Wir jüdischen Menschen müssen so zurückhaltend wie möglich sein. […] Meine Bücher enthalten alles, was vielleicht einer oder der andere wissen will über mein Leben – es mag Berufe geben wie Film und Theater, wo die Jugend Freude hat, die nächsten Dinge und Umstände über eine Person zu erfahren – ich aber will, dass man mich gänzlich ausschaltet – nur eine Stimme, ein Seufzer für die, die lauschen wollen.“ Für Sachs sollten die Texte für sich sprechen. Kenntnisse über die Person hinter dem Werk waren nicht nötig, manchmal sogar schädlich. Nichts über das, was sie „die kleine Kinderhölle der Einsamkeit“ nannte, anderswo aber auch zu ihrem „Paradiesgärtlein“ erkor, durfte vorkommen, nichts über die engeren Beziehungen in der Familie. Und schon gar nichts über den sogenannten „toten Bräutigam“ – jenen unbekannten Mann, in den sie sich mit solch schwerwiegenden Folgen als 17-Jährige verliebte. Für die Ausstellung stellt sich daher weniger die Frage, wie sich diese verschwiegenen Daten herauspräparieren lassen. Zwar wird auf einige Bestandteile der Berliner Zeit gezeigt – zum Beispiel auf den „Expander“, ein Gerät zur Stärkung der Muskulatur, für das der Vater das Patent besaß – doch wesentlicher ist die Frage

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Particularly important seems to be a hitherto unknown relationship. In 1953 the Hungarian Jew Rosi Wosk, who had survived Auschwitz and Bergen-Belsen, moved with her son into the rental house where Sachs had already been living for a dozen years. During the last years of the poet’s life, which she spent in part in psychiatric clinics, Wosk helped her cope with everyday life. She cooked, shopped for food, books, and writing materials—and in four notebooks of broken German she kept account of what Sachs said and did about the persecution fears that plagued her during the nights she could not stand to spend in her own apartment. Wosk, who had been trained as a hairdresser, took up the role of Eckermann, writing down the thoughts of a female Goethe with seven years of schooling. This harrowing phase of Sachs’ life, which, as in the case of Celan, was concomitant with increasing public recognition, was characterized by a “Nazi spiritualist league,” which she believed monitored her apartment through telegraphy. The space she had been in control of during the earlier pieces of puppet-theater and marionette plays, the space she in her later poetry tried to turn into one in which pain was “lived through,” forming a space of metamorphosis, had become endangered: Sachs no longer felt safe in her cabin. Once again her life was under threat. Fatally enough, the very space where her work was born, now was alienated from her. “Flight and Metamorphosis” spins webs between the dead and the saved, between the wish to extinguish the particulars of private life and the will to live on through writing. Fine as hair, these ties are meridians, perhaps even the bands of a cosmic Expander. Aris Fioretos is the curator of the exhibition “Flight and Metamorphosis: Nelly Sachs, Author, Berlin/Stockholm”. He works as an author and translator and from 2003 to 2007, was the counselor of culture at the Swedish Embassy in Berlin. In 2011 his novel “Der letzte Grieche” will be published by Carl Hanser Verlag.

nach dem Schweigen, das ja bei allem Verbergen, bei allem Willen zur Ausschaltung nichtsdestotrotz auf sich selbst als Geheimnis verweist. Wie werden diese verschwiegenen Daten zu Bestandteilen von Sachs’ Texten? Eine Art Abwesenheit, vielleicht sogar ein „Außerhalb“, das ihr Werk mit widersprüchlichen Energien versorgt, wird durch Auslassung sichtbar. Besonders wichtig scheint dabei eine bisher unbekannte Beziehung zu sein. 1953 zog die ungarische Jüdin Rosi Wosk, die Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt hatte, mit ihrem Sohn in das Mietshaus, in dem Sachs damals bereits seit einem Dutzend Jahren wohnte. Während der letzten Lebensjahre der Dichterin, die sie zeitweise in psychiatrischen Kliniken verbrachte, half Wosk ihr bei der Bewältigung des Alltags. Sie kochte, besorgte Lebensmittel, Bücher und Schreibmaterial – und hielt in vier Notizheften in gebrochenem Deutsch fest, was die von Verfolgungsängsten geplagte Sachs sagte und tat, wenn sie die Nacht nicht in ihrer eigenen Wohnung verbringen wollte. Wosk war eine als Friseurin ausgebildete Eckermann, die die Gedanken einer Goethe mit sieben Jahren Schulgang hinter sich aufzeichnete. Diese schlimme Lebensphase, die, wie im Falle Celans, mit der zunehmenden öffentlichen Anerkennung einherging, wurde von einer „Nazi-Spiritist-Liga“ geprägt, die, so Sachs’ Glaube, ihre Wohnung per Radiotelegraf angriff. Der Raum, den sie in den frühen Puppentheaterstücken und Marionettenspielen noch selbst beherrschte und den sie in ihren späteren Dichtungen zu einem Ort der „Durchschmerzung“ bzw. Verwandlung zu machen versuchte, dieser Raum war nunmehr gefährdet: Sachs fühlte sich in der Kajüte nicht sicher. Erneut lebte sie unter Bedrohung; fatalerweise wurde ihr am selben Ort, an dem ihr Werk entstanden war, das eigene Dasein unheimlich. „Flucht und Verwandlung“ spinnt Fäden zwischen Toten und Geretteten, zwischen dem Wunsch zur Ausschaltung der privaten Lebensdaten und dem Willen, durch Schreiben weiterleben zu können. Es sind Haaren ähnliche Verbindungen, es sind Meridiane, es sind vielleicht sogar die Stränge eines kosmischen Expanders. Aris Fioretos ist Kurator der Ausstellung „Flucht und Verwandlung. Nelly Sachs, Schriftstellerin, Berlin / Stockholm“. Er ist Autor und Übersetzer und war von 2003 bis 2007 Botschaftsrat für kulturelle Fragen an der schwedischen Botschaft in Berlin. Im Frühjahr 2011 erscheint sein neuer Roman, „Der letzte Grieche“, im Carl Hanser Verlag.

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J M B JOURNAL



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Innovation von Bosch: Technik fürs Leben bedeutet für uns, Innovationen zu entwickeln, mit denen wir schon heute auf die globalen Probleme der Zukunft reagieren können. Darum tragen viele der 15 Patente, die Bosch täglich anmeldet, zum Fortschritt in den Bereichen erneuerbare Energien, Emissionsreduzierung und sparsame Antriebe bei. So dienen wir Mensch und Umwelt. www.bosch.de/ja


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