Links im Druck (01/2013)

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München stellt sich an! Jusos in München Ausgabe 1 / 2013 +++ Kommunalpolitk +++ Öffentlicher Raum +++ Ausbildung +++ 150Jahre SPD +++

er t e i D er t i e R TER NÄCHS

HNES ER MÜNC RGERMEIST Ü OBERB ÄCH PR IM GES


München +++ Start-Ticker +++

+++ Jusos München finden CSU-Miniaturbus und waren damit erfolgreich in der Presse +++ Basis Kongress der Jusos Bayern fand in München statt mit anschließender Red.Lounge Party der Jusos München +++ Kommunalwahlprogram Jusos München „Roter Faden `14“ auf Unterbeirkskonferenz einstimmig beschlossen - 72 Seiten Inhalte für München +++ Juso StadtratskandidatInnen gereiht +++ Wir brauchen DICH für den Wahlkampf, also schau vorbei und bring Dich ein! +++

+++ Stop-Ticker +++

Impressum Links im Druck - Mitgliederzeitschrift der Jusos München Druck: Druckerei Meyer GmbH, Rudolf-Diesel-Straße 10, 91413 Neustadt a. d. Aisch V.i.S.d.P.: Daniela Beck, Jusos München. Oberanger 38 / 4.Stock, 80331 München Redaktion: Daniela Beck, Anno Dietz Layout: Daniela Beck, Anno Dietz Art Direction: Mike Raab Auflage: 1250 Erscheinungsweise 2 Ausgaben pro Jahr Wir freuen uns über Mitarbeit, Kritik, Artikel und andere Rückmeldungen Kontakt über lid@jusos-m.de oder über Daniela Beck (beck@jusos-m.de) Namentlich gekennzeichnete Artikel geben nicht inbedingt die Meinung des Herausgebers wieder. Die Redaktion behält sich vor, Artikel abzulehnen oder zu kürzen. Wenn sie spenden wollen: Jusos München Konto-Nr.111 500, Stadtsparkasse München BLZ 701 500 00 / Wir stellen Ihnen unaufgefordert eine steuerabzugsfähige Spendenquittung aus.

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Editorial

Liebe Genossinnen und Genossen, Mietpreiserhöhungen und Wohnungsmangel – Wo auch immer man in letzter Zeit an einem Zeitungsstand vorbei geht, fast ausnahmslos fällt einem mindestens eine Schlagzeile ins Auge , die sich um diese Themen dreht. Und so gut wie jedes Mal ist es München, das als Paradebeispiel für Mietwucher und horrende Preise im Mittelpunkt steht. Und man fragt sich: Wie soll so die Zukunft unserer Stadt aussehen? Oder: Wird es dann überhaupt noch unsere Stadt sein? Diese, und natürlich noch einige weitere, Fragen haben wir unserem OB-Kandidaten Dieter Reiter gestellt. Das vollständige Interview lest ihr auf den folgenden Seiten. Freundschaft! Daniela Beck

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Münchens nächster Oberbürgermeister / Dieter Reiter im Interview

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Vermessung des Raumes - Verdrängung im öffentlichen Raum / Anno Dietz

16 Ausbildung Qualität statt Schmalspurausbildung / Mario Patuzzi 22 Ausbildung Berufliche Ausbildung - für ein selbstbestimmtes Leben / Anno Dietz 25 Ausbildung Nachgelagerte Studiengebühren / Nadine Ponsel 26 Ausbildung München stellt sich an - gegen Studiengebühren / Louisa Pehle 28 Literatur Mythos Überfremdung - Dough Saunders / Anno Dietz 30 Kurzgeschichte Freie Arbeiter / Timothy Hall 32 Letztes Wort 150 Jahre SPD / Miloš Vujović

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Münchens nächster Oberbürgermeister OB Kandidat Dieter Reiter im Interview Interview mit Anno Dietz

Wirtschaftsreferent Dieter Reiter soll 2014 die Nachfolge Udes als Münchner Oberbürgermeister antreten. Wir haben ihn in seinem Arbeitszimmer im Referat für Arbeit und Wirtschaft besucht und ihm einige Fragen zur Kommunalpolitik und der Zukunft unserer Stadt gestellt. Anno Dietz: Lieber Dieter, vielen Dank für die Möglichkeit für dieses Gespräch. Erst einmal die Frage, wie kommt es, dass du in der Stadtpolitik und hier im Referat für Arbeit und Wirtschaft gelandet bist? Dieter Reiter: Das liegt einfach an meiner Berufswahl. Nach der Fachhochschule bin ich zur Stadt München und bin dort seit über 30 Jahren jetzt für die Stadt tätig und in den letzten, sagen wir knapp zehn Jahren, doch an führender Position in dieser Stadt. Vor meiner Wahl zum Referenten für Arbeit und Wirtschaft 2008 war ich Finanzverantwortlicher, also operativ tätig sozusagen, ich habe also mit den Referentinnen und Referenten die Budgets vereinbart, habe im Grunde jedes Großprojekt über meinen Tisch laufen gehabt, weil ja alles Geld kostet wie wir wissen, und da hast du dann natürlich auch unmittelbar Bedarf dich mit der Politik intensiv auseinanderzusetzen. Also im Grunde seit zehn Jahren kenne ich die Stadtratsfraktion. Ich war auch seit 1992 für fast neun Jahre Pressesprecher in Sachen Finanzen bei dem damaligen Kämmerer Klaus Jungfer und so war die Nähe zur Politik für mich im Grunde seit über 20 Jahren gegeben. Es war schon für mich überraschend, dass ich zum Referenten gewählt wurde, aber dass dann das Thema OB-Kandidatur noch auf mich zukommt, das hatte ich damals nun wirklich überhaupt nicht im Fokus. Für die nächsten Jahre wird ein weiterer Zuzug von 195.000 neuen Bürgerinnen und Bürgern nach München prognostiziert - und das sind noch ältere Zahlen, mittlerweile sind sie wahrscheinlich sogar noch höher. Wie kann München damit um gehen? Und wie wird München z.B. 2064 aussehen, was denkst du?

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Dieter Reiter: Es ist tatsächlich so, dass wir weiter wachsen werden. Da überschlagen sich die Zahlen geradezu. Wir haben jetzt die Prognose, dass wir 2015 schon die 1,5 Millionen knacken werden. Vor zehn Jahren waren wir noch 1,3 Millionen, das ist also schon ein sehr dynamischer Prozess. Das ist einerseits Ergebnis einer erfolgreichen Politik hier in München. Wir haben einen hervorragenden Arbeitsmarkt, wir haben ein hohes Pro-Kopf-Einkommen, die Leute lieben München, wir haben ein positives Image, wir haben – immer noch – sozialen Frieden in München, jedenfalls in den weitesten Bereichen – alles Dinge, die dafür sprechen, dass die Leute zu uns kommen. Wir sind übrigens auch noch die Babyhauptstadt in Deutschland, das heißt, wir haben auch vor Ort sehr hohe Geburtenüberschüsse, so dass wir einfach weiter wachsen werden. Wachstum ist nicht a priori schrecklich. Maßvolles Wachstum ist sogar notwendig damit wir uns unsere soziale Politik in Zukunft weiter leisten können, weil das auch einen ökonomischen Erfolg voraussetzt. Sozialer Wohnraum und das Thema Verkehr - das sind die beiden Herausforderungen, die durch das Wachstum noch drängender werden. Wir müssen bezahlbaren Wohnraum schaffen, wir müssen aber auch dafür sorgen, dass die


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Leute wirklich wissen, dass sie in den nächsten Jahren noch in der bezahlbaren Wohnung bleiben können. Dazu haben wir als Stadt das eine oder andere Instrument, das wir nutzen. Das ist ein zentrales Thema - wie der Verkehr. Wir brauchen neue Mobilitätskonzepte. Ich glaube nicht, dass wir auf Dauer mit Verbrennungsmotoren in die Innenstadt werden fahren können. Ich bin sicher, mittelfristig muss es Übergänge von öffentlichen in Individual-Verkehr geben, die auch in Richtung Fahrradfahren, in Richtung E-Mobilität gehen. Sonst können wir, glaube ich, nicht vermeiden, dass wir irgendwann mal ausschauen wie Istanbul oder London, wo einfach täglich Verkehrschaos herrscht. Natürlich bringt Wachstum auch Chancen mit sich, nämlich, dass wir die Vielfalt, dieses Thema „alle Gesellschaftsschichten, die in München wohnen“, durchaus auch mit etwas Zuzug noch mehr befördern werden können und so könnten wir einfach sagen: „In 50 Jahren werden wir eine moderne, innovative Stadt sein, die sich nach wie vor im Gleichgewicht befindet und die sozusagen einen Dreiklang bildet aus ökonomischem Erfolg, ökologischem Nachhaltigkeit – und sozialer Gerechtigkeit.“ Ich hoffe, dass wir auch durch diesen Zuzug weiterhin an unserer Offenheit, an unserer Weltoffenheit arbeiten, dass wir tolerant bleiben, dass wir vor allem auch in Zukunft keinen Platz, keinen Millimeter Platz für irgendwelche rechtsradikalen oder ausländerfeindlichen Thesen bieten. Das wäre mir wichtig, dass das in München auch in 50 Jahren noch so ist. Dennoch bedeutet Zuzug auch einen steigenden Druck auf den Wohnungsmarkt. Eine Verdrängung auch der „normalen“ Leute immer mehr nach außen. Und gerade bezahlbarer Wohnraum ist Mangelware in München.

Wir haben immer weniger Flächenreserve. Was siehst du für Konzepte, um vor diesem Hintergrund überhaupt noch bezahlbaren Wohnraum zu schaffen? Dieter Reiter: Die Analyse ist richtig und zutreffend. Man muss ausdrücklich sagen „bezahlbaren“ Wohnraum, um nochmal klar zu machen: Das, was die CSU und die FDP immer predigen, „mehr Wohnungen lösen unser Problem“, stimmt halt einfach nicht. Mehr Wohnungen lösen nicht a priori unser Problem, sondern wir brauchen mehr Wohnungen, die sich die Mieter leisten können, die sich Auszubildende, die sich Studenten leisten können, die sich ältere Menschen leisten können, die von einer kleinen Rente leben müssen. Wir müssen als Stadt dafür sorgen, dass es noch mehr öffentlich geförderten Wohnraum gibt. Das heißt, man kann zum Beispiel darüber nachdenken, die städtischen Wohnungsbaugesellschaften noch intensiver mit Kapital auszustatten - letztlich reden wir von Geld - um dann öffentlich geförderte Wohnungen zu bauen. Man muss darüber nachdenken, auch unsere Verhandlungen mit den Bauträgern so zu gestalten, dass mindestens immer diese 30 Prozent öffentlich geförderter Wohnungen bei jedem Projekt entstehen. Und ich meine wirklich bei jedem Projekt, denn das Thema, das du angesprochen hast, stimmt ja auch. Wir wollen wirklich die Münchner Mischung unbedingt haben. Wir wollen ja gerade nicht irgendwelche „Gutverdienenden-Viertel“ und dann „Schlechtverdienenden-Viertel“ , sondern wir wollen die Durchmischung. Das macht nämlich München auch aus. Deswegen einfach ein Schlenker dazu: Wenn ich aus dem Fenster schaue, hinüber zur Müllerstraße – wir haben bei diesen wirklichen Luxusprojekten wie „The Seven“ fast auf der anderen Straßenseite, in dieser sündhaft teuren Gegend, ein Begegnungszentrum und Sozialwohnungen gebaut. Und das ist das Zeichen, das wir halten müssen, wir müssen dafür sorgen, als Stadt, dass diese Mischung bleibt. Dort wo wir es nicht selber mit Planungsrecht steuern können, dort müssen wir eben mit öffentlichen Mitteln dagegen arbeiten. Wir haben mit „Wohnen in München V“, unserem letzten wohnungsbaupolitischen Programm, als Stadt beschlossen, dass wir 800 Millionen dafür in den nächsten Jahren aufwenden. Das ist mehr Geld, als manche Bundesländer für die Wohnungsbauförderung ausgeben. All das tun wir in München. Das ist der Teil „neu schaffen“.

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Wir müssen aber auch unbedingt dafür sorgen, dass die jetzt noch bezahlbaren Wohnungen auch bezahlbar bleiben. Dort, wo wir es können, z.B. in unseren eigenen Gesellschaften, werden wir niemals darüber nachdenken, diese Wohnungen zu verkaufen, wie es andere Städte getan haben. Das ist totaler Schwachsinn. Damit können wir unser Problem nicht lösen. Wir müssen schauen, dass wir durch Erhaltungssatzungen ganze Bezirke, ganze Häuserblocks, möglichst in der Struktur erhalten, wie sie sind. Luxussanierungen, die nur dem Zweck dienen, danach Eigentumswohnungen daraus zu machen und dann teuer zu verkaufen oder zu vermieten, müssen wir verhindern. Wir müssen weiterhin den politischen Druck aufrechterhalten, auf den Freistaat, damit er uns da bessere Instrumente gibt. Es gibt solche Instrumente, wie das Umwandlungsverbot, wo letztlich tatsächlich die Stadt jede Umwandlung in Eigentum verhindern könnte, dann würde es genau dieses System so nicht mehr geben. Das heißt für uns, bezahlbares Wohnen auch erhalten, und dazu muss ich natürlich das Thema GBW ansprechen. Das macht überhaupt keinen Sinn, dass der Freistaat 8000 bezahlbare Wohnungen auf den Markt schmeißt und meistbietend verkauft, damit er damit Reibach erzielt, den er für was auch immer braucht, jedenfalls nicht dafür, Münchner Mieterinnen und Mieter zu fördern. Vor allem, nachdem man ja auch vorher das Versprechen gegeben hat, dass es bezahlbarer Wohnraum bleibt. Dieter Reiter: Ja, unglaublich, muss ich sagen, das ist ein unglaubliche Sauerei, was da passiert ist, da duckt sich der Söder einfach immer so weg. Und der Herr Seehofer. Wir reden ja nicht nur von München, muss ich sagen, das ist ja bayern- und deutschlandweit, tausende Wohnungen werden jetzt letztlich verteuert. Also das darf auf gar keinen Fall passieren. Wir müssten, als letztes noch, das Thema der Genossenschaften wirklich stärken. Das genossenschaftliche Modell ist ein solides Modell, das auf Solidarität baut, das den kleinen und mittleren Einkommen ermöglicht auch bezahlbaren Wohnraum für sich selber zu schaffen, zu generieren oder zu halten und wir haben in „Wohnen in München V“ beschlossen, dass wir bis zu 40% jedes einzelnen Bebauungsplans für die Genossenschaften hergeben. Das ist ein guter Weg. Allein, wir müssen uns was überlegen, wie wir die Genossenschaften in die Lage versetzen die teuren Grundstückspreise in München zu bezahlen. Da wird man drüber nachdenken, ob man nicht Grundstücke auch, meinetwegen im Erbbaurecht, oder eben nicht zum absoluten Verkehrswert an die Genossenschaften abgibt –

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was rechtlich zwar schwierig ist, aber ich denke, wir müssen hier ein bisschen mehr tun, als nur die Lippen spitzen, wir müssen hier eigentlich auch noch irgendwann pfeifen. Und mir wäre das Genossenschaftsmodell – ich bin in einer Genossenschaftswohnung aufgewachsen – das liebste Modell um Wohnungsbau bezahlbar zu halten. Mit „Wohnen in München V“ wurde eine ganze Reihe von sehr guten Punkten beschlossen – einige ja auch auf Initiative der Jusos München. Wir haben aber gesehen: Was beschlossen wird ist das eine, was umgesetzt wird, das andere. Wie kann man dafür sorgen, dass die gute Beschlusslage, die die Stadt hat, auch wirklich realisiert wird? Dieter Reiter: Völlig klar: die beste Beschlusslage nutzt natürlich nichts, wenn sie nicht auch in ein konkretes To Do umgesetzt wird. Da gibt es zwei denkbare Ursachen. Die erste ist, dass manche Prozesse in München immer noch sehr lange dauern: Planungsprozesse, Genehmigungsprozesse. Das ist aber nur eine Seite der Medaille. Ich glaube, wir müssen auch von unseren Standards her nachdenken, ob wir vor jedem einzelnen Gebäude, das wir erstellen, ein Architektenwettbewerb, ein Gestaltungswettbewerb, einen was-weiß-ichwas-Wettbewerb noch vorschalten müssen. Das dauert alles Monate, um nicht zu sagen Jahre. Wenn man schnell etwas bewegen will, muss man sich auch über solche Dinge Gedanken machen. Die Frage der Bürgerbeteiligung macht es nicht leichter, obwohl das natürlich ein sinnvolles und gutes Konzept ist. Es stellt sich die Frage, ob man zum Beispiel im Fall der Gestaltung einer Kindertagesstätte wirklich einen Architektenwettbewerb vorschalten muss, mit Bürgerbeteiligung.


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Das ist eine Frage, über die muss man nachdenken. Ich glaube, man muss das Thema Bürgerbeteiligung ernst nehmen. Und das tue ich auch, ich bin sogar ein überzeugter Fan davon, aber man muss es aus Standardprozessen irgendwie raushalten können. Wenn es zum Beispiel um große Bauvorhaben geht, dann wird man auch gar nicht umhin kommen, die Bürger zu fragen, oder sie zu beteiligen. Aber in so Standardabläufen, wie zum Beispiel, nehmen wir ein Auszubildenden-Wohnprojekt, das in einem ganz normalen Standort abgebildet wird, da würde ich jetzt nicht unbedingt eine Bürgerbeteiligung vorschalten wollen. Das verzögert alles nur. Das ist der springende Punkt: Man muss hier eine vernünftige Abwägung finden. Es geht ja ohnehin nicht ohne Bürgerbeteiligung. Wir haben unsere Bezirksausschüsse, und über die Bezirksausschüsse kommt die Meinung der Stadtbevölkerung ohnehin deutlich zum Tragen. So dass ich glaube, dass wir zwei Dinge tun müssen: auf der einen Seite ein bisschen unbürokratischer und schneller werden auf der Verwaltungsseite. Aber auch von der politischen Seite her nochmal über unsere ganzen selber gemachten Vorgaben nachdenken. Wir haben darüber nachgedacht, ob wir zum Beispiel Gewerbeeinheiten oder Gewerbeimmobilien umwandeln in Wohnungen. Aber so richtig vorwärts geht da nichts, weil man die natürlich nach dem gleichen Standard prüft wie bisher Wohnen. Wenn ich aber gleichzeitig abwägen kann zwischen Wohnen für 9 Euro, eben nicht ganz zu den Standards, die wir sonst beim Neubauwohnen gewohnt sind, oder eben, dass Projekt nicht zu realisieren, bin ich sicher, die Münchner und Münchnerinnen würden gerne für neun Euro mit etwas mehr Schatten in der Wohnung leben. Ich glaube es war Georg Kronawitter der gesagt hat, Wohnungsbau ist ein Thema, da braucht es immer jemanden, der schiebt. Dieter Reiter: Gott sei Dank ist Wahlkampf, so dass alle Parteien das Thema ganz vorne auf der Agenda haben. Und Gott sei Dank kann man auf die Art und Weise dann auch das eine oder andere Projekt schneller anschieben als es vielleicht normalerweise läuft. Aber das sollte nicht unsere Herausforderung sein, sondern wir müssen das ja letztlich als konstanten Prozess führen. Das muss ja die nächsten Jahre was passieren. Wir werden das Problem jetzt nicht ad hoc lösen können, das muss man klar sagen. Solange noch mehr Leute zuziehen, als wir im Jahr unterbringen können.

Wir haben jetzt 7000 Wohnungen beschlossen. Wenn man mal x 2 nimmt sind das vielleicht 14.000 Menschen, die wir neu unterbringen können pro Jahr. Der Zuzug ist mindestens 15.000 pro Jahr - also das wird ein enges Spiel. Noch dazu fallen Sozialwohnungen aus der Bindung. Dieter Reiter: Die müssen wir kaufen. Das darf uns nicht passieren, wir müssen die Sozialwohnungen, die aus der Bindung fallen, auf jeden Fall kaufen, als Stadt. Sonst machen wir das Gleiche, was wir anderen vorwerfen. Wir können ja nicht Sozialwohnungen aus der Bindung fallen lassen, die dann nicht kaufen und dann händeringend nach neuen Plätzen oder Orten suchen wo wir welche bauen können. Das bringt uns nicht weiter. Da wir ja gerade bei den anderen Parteien sind: Besonders die Jungen Liberalen haben sich damit hervorgetan und haben Herrn Oberbürgermeister Ude aufgefordert, doch endlich die kommunale Wohnungsbaupolitik einzustellen und alle Wohnungen zu verkaufen und damit endlich der freie Markt alles klärt. Das glauben wir nicht und die Frage stellt sich, wie schaffen wir bezahlbaren Wohnraum: Verdichtung ja? Auch in der Innenstadt? Stocken wir auf? Entstehen da nicht nur hauptsächlich Luxuspenthäuser auf den Dächern der Stadt? Dieter Reiter: Erstmal ein Satz zur FDP: ich hoffe, dass mittlerweile wirklich die meisten erkannt haben, dass die Thesen, und damit die Politik, der FDP und damit die FDP selber, im Grunde überflüssig ist. Aber es ist leider noch nicht so gekommen. Das Thema „Der Markt wird´s richten“, dass man sich das überhaupt noch sagen traut, nach dem, was seit 2008 im Bankensektor letztlich passiert ist, ist eigentlich unglaublich. Also es bedarf eigentlich keiner wirklichen Diskussion. Wenn wir den Bereich Wohnen dem Markt überlassen und uns zurückziehen würden, dann, schwöre ich, würden die Preise explodieren in München. Denn der Markt würde noch viel mehr tun in München. Wir müssen schauen, dass wir, falls die Prognosen eintreffen und wir weiterhin wirklich konstant so wachsen – was ja auch niemand wirklich weiß, aber gehen wir mal davon aus, es trifft so

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zu – dann müssen wir natürlich über kurz oder lang, weil unsere Flächen endlich sind, zwei Dinge tun: Erstens mal, wir müssen mit dem Umland intensiver reden. Das wird oft vergessen. Ich habe im März eine große Konferenz mit den Umlandbürgermeisterinnen und -bürgermeistern um einfach mal klar zu machen: Liebe Freunde, wir müssen dieses Problem gemeinsam lösen. Wir leben miteinander gut von dem Wirtschaftsstandort München, die Umlandgemeinden genauso wie wir, und deswegen müssen wir auch das Problem miteinander lösen. Und wir müssen in München über Verdichtung reden. Dann kann man natürlich erstmal zwei Dinge feststellen: Wir werden sie in einer gewissen Form im Bereich von Baulücken und sowas hinkriegen. Wir werden auch bei neuen Planungen natürlich nicht mehr Dichten mit Erdgeschoss bis zwei Stockwerken haben, sondern es wird schon einfach immer ein bisschen höher werden. Und nachverdichten heißt natürlich gegebenenfalls auch aufstocken – weil, eines will ich vermeiden: Ich möchte gerne München so grün lassen, wie es ist. Also sprich, diese Grünflächenthematik würde ich nicht anpassen wollen. Das heißt, auch bei jedem neuen Bebauungsplan möchte ich gerne, dass der Grünanteil, der öffentliche, so bleibt, wie er jetzt ist. Ein Thema, das die CSU durchaus schon anders sieht und ich möchte gerne sagen: lieber bauen wir etwas dichter und höher, bevor wir unsere Grünflächen angreifen. Du hast das Thema Dachgeschossausbau angesprochen. Natürlich entstehen dort keine günstigen Wohnungen. Das ist völlig klar. Das ist für mich offenkundig. Das sind sicherlich immer die teuersten Wohnungen, die es da gibt. Die Frage ist, ob man das nicht mit irgendwelchen Zusagen sozusagen der jeweiligen Bauherren auch verknüpfen kann. Entweder in anderen Objekten oder im Erdgeschossbereich des gleichen Objektes konstant zu halten, also mit Mietpreisgarantien, mit Mietzusagen, einfach mit Mieterschutz zu verknüpfen. Wir haben ja als Jusos auch das Problem des bezahlbaren Wohnraums für Junge Menschen – und gerade für Auszubildende und junge Beschäftigte –angesprochen, ein Thema, das bei deinem Referat angesiedelt war, wo wir auch schon mit dem Thema Ausbildungswohnheim indirekt zu tun hatten. Wir haben das als Jusos gefordert und das ist auch schon durch den Stadtrat geprüft worden. Wie ist denn da im Moment der Sachstand? Dieter Reiter: Wenn wir Auszubildenden- Wohnen forcieren, was wir wollen, was die Jusos zu Recht erstritten haben, sehr intensiv und sehr nachhaltig und was auch

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wichtig ist, dann müssen wir schauen, dass wir die Wirtschaft da nicht entlassen. Bei den Konzepten möchte ich immer gerne eine Beteiligung der örtlichen Wirtschaft haben, weil, das machen wir ja nicht für München aus Selbstzweck, sondern wir machen das tatsächlich, damit unser Wirtschaftsstandort funktioniert, und das weiß die Wirtschaft auch. Das wissen auch die Kammern mittlerweile und wir arbeiten in diesem Projekt sowohl mit den Kammern als auch mit der Wirtschaft zusammen und werden noch in diesem Jahr, so meine ganz feste Hoffnung, eine Projektstruktur vorlegen können, wie wir nicht bloß drei oder fünf, sondern wirklich nennenswert Auszubildenden-Wohnzentren generieren können, und vor allem auch finanzieren können. Denn bauen können wir sie sicher. Das ist immer eine Frage der Finanzierung. Ich möchte da gerne die örtliche Wirtschaft nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Die profitieren davon, und sie profitieren auch viel vom Standort München, also müssen sie sich auch an der Ausbildung der Jugendlichen beteiligen. Es gibt vorbildliche Unternehmen in München, die tun das, andere müssen das nachahmen. Aber da kann ich nur den Jusos wirklich sagen: gut gemacht. Man muss hier den Finger in die Wunde legen, damit was vorwärts geht. Wie du vorher richtig gesagt hast: Es braucht für viele Dinge einfach den Pusher und das schadet auch nicht.


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Um beim Thema Ausbildung zu bleiben: Wir haben uns als Jusos auf dem letzten Parteitag dafür eingesetzt und auch den Beschluss erreicht, dass auch die Gebühren für die städtischen Fachmeister- und Technikerschulen abgeschafft werden. Das ist eine wichtige langjährige Forderung, die wir jetzt auf Münchner SPDEbene durchsetzen konnten… Dieter Reiter: Ich bin dafür. Das gehört zur Bildungsgerechtigkeit einfach dazu, dass es nicht am Geldbeutel hängen darf, welche Ausbildung und welche Bildung man hat, man muss deswegen Ausbildungsgebühren eigentlich generell abschaffen. Ich glaube, das müssen wir uns in Deutschland leisten. Wir sind, gerade auch hier in München, ein Bildungsstandort, der von Bildung lebt. Und deswegen glaube ich, sollte man die Einnahmen, die ich auch für überschaubar halte, vorsichtig gesagt, die aber den Einzelnen natürlich trotzdem belasten, auf den Prüfstand stellen. Ich glaube, es wird derzeit ohnehin gerade geprüft, wie hoch diese Verluste wären. Und ich bin guter Dinge, dass wir das hinbekommen. Was man hört, war das im einstelligen Millionenbereich. Dieter Reiter: Ja. Das sollte bei einem 5-MilliardenHaushalt möglich sein. Also wieder ein Punkt, den die Jusos letztlich auch angestoßen und durchaus auch durchgesetzt haben. Das Thema Semesterticket hast du angesprochen. Der Stadtrat hat ja im Herbst letzten Jahres ein Modell vorgeschlagen, was auch von den Studierenden gebilligt wurde und hat eine 13-Millionen-Euro-Bürgschaft – im schlechtesten Fall – übernommen. Wir als Jusos haben ja ein weitergehendes Modell gefordert. Wir wollen auch gerade für Auszubildende und Schülerinnen und Schüler was erreichen. Gibt es da den Spielraum und die Möglichkeit auch neue Konzepte anzustoßen oder neue Wege zu gehen und letztendlich auch Verbesserungen für alle durchzusetzen? Dieter Reiter: Also, vielleicht vorab: Ich bin wirklich froh, weil ich mich damit sehr intensiv befasst habe, dass wir jetzt das Semesterticket nach 15-jährigen Geburts-

wehen zumindest zu einem zweijährigen Probebetrieb bringen konnten. Wir haben über 100.000 Studentinnen und Studenten in München. Das ist eine gesellschaftliche Gruppe, die man nicht einfach so links liegenlassen kann. Deswegen war ich froh, dass der Stadtrat das auf meinen Vorschlag hin tatsächlich so beschlossen hat. Es war keine ganz einfache Geburt, muss ich nochmal sagen. Ich hoffe, dass die 13 Millionen nicht fließen müssen. Wir haben ja nur eine Zusage gemacht, dass wir Verluste abdecken, die dann entstehen, wenn die Studenten dieses Ticket nicht annehmen, was ich nicht hoffe, sage ich ganz ehrlich. Bei der Abstimmungsquote habe ich eine gewisse Grundhoffnung, dass wir nicht alles werden ausgeben müssen. Und deswegen ganz klar, und ich habe es auch in meine Beschlussvorlage – die Beschlussvorlage, in der ich das Semesterticket vorgeschlagen habe – schon reingeschrieben: Das kann noch nicht alles gewesen sein. Wir müssen auch das Thema Ausbildungstarif angehen. Ich kann und will einfach nicht akzeptieren, dass ein Lehrling im Handwerk oder eine Auszubildende im Büro schlechter gestellt wird, wie die Studentinnen und Studenten. Wir müssen auch da was tun. Der erste, und für mich immer noch realistischste Weg, wäre zum Beispiel das Thema Abonnierbarkeit endlich umzusetzen. Dafür gibt es immer noch rechtliche Vorbehalte. Da sind wir gerade dabei das zu klären und den Freistaat gegebenenfalls zu nötigen, diese rechtlichen Vorbehalte auch wirklich aufzugeben, weil er, wie er es halt immer tut, wiedermal versucht sich aus seiner Verpflichtung, das zu fördern, zurückzuziehen und das werden wir einfach nicht hinnehmen können. Denn auch da sind wir der Meinung, das ist eine Aufgabe, die eigentlich der Freistaat übernehmen müsste, und wenn er schon so

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viel Geld kassiert für die GBW-Wohnungen, dann könnte er wenigstens hier etwas Vernünftiges damit tun. Wie gesagt: wir sind in der sozialdemokratischen Fraktion im Vorstand, und ich bin völlig überzeugt davon, dass wir nicht die Studenten besserstellen wollen, als jeden Auszubildenden, jede Auszubildende in München - da muss was passieren und da arbeiten wir schon im nächsten Schritt daran. Das habe ich auch deswegen schon extra in die Beschlussvorlage reingeschrieben, damit es gar nicht erst in Vergessenheit geraten kann. Wir haben auch als zentrales Thema, gerade wenn wir über Arbeit und Ausbildung reden, auch die öffentliche Daseinsvorsorge, also auch städtische Beschäftigung. Was man in den letzten Jahren immer stärker sieht, ist, dass wahrscheinlich aufgrund des Kostendrucks, immer mehr Tätigkeiten fremd vergeben werden. Ein Beispiel dazu ist der Bereich Gartenbau, wo immer weniger Azubis auch übernommen werden. Wird sich München immer stärker auf wenige Kernbereiche der Daseinsvorsorge fokussieren? Dieter Reiter: Wir müssen, ganz klar und ohne irgendwelche Abstriche, die öffentliche Daseinsvorsorge in kommunaler Hand halten. Wir haben in München als einzige Stadt in Deutschland wirklich noch alles selber. Wir haben Wasser, Strom, Gasversorgung, wir haben Bäder, wir haben öffentlichen Nahverkehr, wir haben Gesundheitsvorsorge, wir haben Pflegeeinrichtungen, wir haben Altenheime. Wir haben alles in kommunaler Hand und das ist auch gut und richtig so, weil man nur dann steuern und auch soziale Politik machen kann, wenn man sie wirklich noch selber im Besitz hat. Wir haben da nie daran gedacht, und das werden wir auch in Zukunft nie tun, das zu verkaufen. Das Beispiel, das du angesprochen hast, ist ja nicht Daseinsvorsorge im eigentlichen Sinn. Grünflächenpflege, da kann man schon darüber nachdenken, ob das die Stadt tatsächlich mit eigenem Personal machen muss oder nicht. Das es gemacht werden muss ist völlig klar. Was mich stört, oder, was ich glaube, was notwendig wäre, wäre tatsächlich, dass man bei diesen Vergaben einfach auch ein bisschen mehr Kriterien einführen kann, wie nur „der Billigste muss es kriegen“ , oder „der Günstigste“, wie es offiziell heißt. Aber de facto heißt das „der Billigste“. Ein Tariftreuegesetzt zum Beispiel wäre etwas, was die bayerische SPD ja seit langem, langem fordert, was dazu führt, dass wir zumindest dafür sorgen können, dass diejenigen, die dann Aufträge bekommen, sich auch an Tarifverträge halten und dass sie auch andere soziale Kriterien erfüllen und ihre Leute anständig

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zahlen. Und das Thema Azubis: Da bin ich der felsenfesten Überzeugung, dass die Stadt München diejenigen Azubis, die sie ausbildet, auch einstellt. Da müssen wir wieder hin. Das machen wir im Verwaltungsdienst ja regelmäßig, weil ich einfach glaube, dass eine Stadt wie München zwar über Bedarf ausbilden kann, aber zumindest keinen Bedarf fremd deckt. Das heißt, diejenigen, die wir brauchen, die müssen wir dann tatsächlich auch wirklich einstellen. Wir sollten nicht Fremdvergaben vor Eigeneinstellung machen. Wir sind ein sozialer Arbeitgeber und das wollen wir auch bleiben. Noch eine Frage von einem Leser, den die Strompreise umtreiben. Momentan wird ja viel spekuliert, dass 2013 aufgrund auch der Ökostromumlage, die Strompreise sehr stark steigen könnten. Können da die Stadt und die Münchner Stadtwerke etwas tun, um das Thema Energiewende sozial zu gestalten? Dieter Reiter: Klar ist, diese Wende kostet Geld. Ich bin selber im Aufsichtsrat der Stadtwerke, ich weiß es, wir investieren neun Milliarden Euro nur, um erneuerbare Energien zu forcieren. Wir wollen ja die erste Stadt sein, die 2015 Strom nur noch aus erneuerbaren Energien für die Haushalte zur Verfügung stellt, zumindest für die Privathaushalte. Diese Aufgabe ist teuer und wir haben ja selber die Preise jetzt auch erhöht, und zwar deutlich, fast 13 Prozent. Wir sind damit, und das war das Petitum auch im Aufsichtsrat immer so, dass wir die günstigste Großstadt in Deutschland bleiben wollen. Das garantieren unsere Stadtwerke auch. Das ist auch so im Vergleich bei den Großstädten. Allein, das befriedigt natürlich den Endkunden nicht nachhaltig, wenn ich sage anderen geht´s noch schlechter. Aber, ich habe mir das auch mal ausrechnen lassen, wir reden da natürlich in effektiven Euro von ca. 90 Euro pro Jahr, was jetzt den


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Mehrpreis für einen 2-Personen-Haushalt ausmacht. Das klingt erstmals wenig, aber in Summe, wenn natürlich dann auch Erdgas teurer wird, wenn Benzin teurer wird und die Lohnabschlüsse das nicht aufhalten, dann ist das natürlich in Summe trotzdem eine unangenehme Entwicklung. Die Stadt kann den Stadtwerken im Grunde die Preispolitik nur sehr beschränkt vorgeben, weil wir ein am Markt operierendes Unternehmen haben, das wir sehr gerne in eigenem Besitz haben. Deswegen müssen wir es auch in die Lage versetzen, am Markt zu operieren, das heißt einigermaßen konkurrenzfähig zu bleiben. Die Gewinne der Stadtwerke werden ja ohnehin schon dazu verwendet, dass man die schrecklich defizitären Bäder oder den Münchner Nahverkehr quer-subventioniert. ... die ja wahrscheinlich nur defizitär betrieben werden können. Dieter Reiter: Ja, das ist nicht denkbar. Bäder schon, natürlich. Aber Bäder haben dann halt die Eintrittspreise, die ihr alle kennt. Wie die Therme Erding? Dieter Reiter: Genau. Das wollen wir eben nicht. Und beim Nahverkehr ist es ja auch so. Das ist zwar gefühlt immer noch nicht billig, aber wenn man in andere Städte oder in andere Länder reist, dann ist es durchaus vertretbar für das Angebot, das wir haben. Und deswegen glaube ich, können wir nur sehr beschränkt auf Preise einwirken. Mir ist immer wichtig, dass wir sagen können, wir wollen nicht die Gewinnmacher sein, die sich praktisch an die Spitze der Shareholder-Value-Diskussion stellen, sondern wir wollen die billigsten bleiben im Großstadtvergleich. Das werden wir auch weiterhin gewährleisten und ich hoffe, dass dieser eine große Schluck, der im Übrigen, das muss man vielleicht schon noch sagen, auf das EEG zurückzuführen ist, also auf das Erneuerbare Energien Gesetz. Diese 13 Prozent sind ja zu mehr als der Hälfte nur diesem Umstand geschuldet, dass die Bundesregierung, der Bundestag letztlich jetzt beschlossen hat, Probleme bei der Vermarktung oder bei der Gewinnung von Offshore-Windkraft durch den Kunden bezahlen zu lassen. Offenbar kann man den Kunden leichter zur Zahlung heranziehen als die tatsächlichen Verursacher dieser Probleme. Als Jusos München sind wir schon jetzt in Landtagsund Bundestagswahlkampf gefordert. Dabei kommt 2014 mit dem kommunalwahlkampf der fast wichtigste Wahlkampf für uns Jusos München erst noch. Was meinst du, wie können wir als Jusos gemeinsam mit

dir einen guten Wahlkampf bestreiten? Was sind deine Erwartungen an die Jusos? Dieter Reiter: Bisher haben sich meine Erwartungen an die Jusos ja wirklich schon 100 Prozent erfüllt. Egal wo ich nämlich bin, die, die meistens die Arbeit machen sind mir bekannte Juso-Gesichter. Das ist tatsächlich so. Und das ist auch wirklich meine Hoffnung auch weiterhin und deswegen muss man so ein Interview nutzen, um auch Danke zu sagen. Bisher hat das ganz toll funktioniert und immer dort, wo es was zu tun gibt, sage ich mal, habe ich immer Jusos vorgefunden. Das ist jetzt wurscht, ob das jetzt Corso-Leopold oder Isarinselfest ist. Stände haben wir noch keine, da hoffe ich auch wieder auf die Jusos, um die Frage zu beantworten. Das ist tatsächlich so, und ich glaube der Meinung ist auch die ganze Partei, dass ihr halt dynamisch seid, dass ihr was vorwärts bringt und ich muss auch sagen, wir haben ja mehrere Punkte angesprochen, in denen die Jusos uns mit ihren Anträgen immer mal ein bisschen schubsen. Manches ist auch nicht immer so angenehm, wenn man ständig geschubst wird, aber es hilft manchmal, um Dinge voranzutreiben, die nicht nur populär sind, die halt auch Geld kosten. Aber das gehört dazu und deswegen wünsche ich mir weiterhin konstruktiv kritische Jusos, genauso hilfsbereit und einsatzstark, wie sie mich die letzten Jahre begleitet haben, werden wir das bis März 2014 sicherlich noch gemeinsam hinbringen. Ich danke dir für das Gespräch.

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Vermessung des Raumes Verdrängungsprozesse im öffentlichen Raum von Anno Dietz

Funktion des öffentlichen Raums Der öffentliche Raum ist mehr als bloßer Leerraum zwischen den Gebäuden. Er ist vielmehr der Interaktionsrahmen in dem eine Stadtgesellschaft agiert, die Bühne des öffentlichen Lebens in dem sich Bürgerinnen und Bürger begegnen und miteinander in Austausch treten können. Erst öffentlicher, frei nutzbarer und allgemein zugänglicher Raum schafft die Grundlage für das Entstehen von Stadtgesellschaft. Grade, dass er in seiner Nutzung nicht endgültig bestimmt ist, sein Charakter als „Freiraum“ und die Offenheit gegenüber verschiedenen Nutzungen ermöglicht es den Bürgerinnen und Bürgern sich auch außerhalb festgefügter sozialer Strukturen auf einer Ebene zu begegnen und in Interaktion zu treten. Öffentlicher Raum im Wandel der Zeit. Die Nutzung und der Zugang zum öffentlichen Raum, oder seine Beschränkungen sind zugleich Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse und ihres Wandels. Der öffentliche Raum als solches ist in weiten Teilen eine bürgerliche Erfindung des 19 Jahrhunderts. Viele öffentliche Räume, angelegt als imperiale staatliche Repräsentationsräume waren Ort und Schauplatz der bürgerlichen Revolutionen, die „Öffentlichkeit“ im Sinne eines des politischen Handlungsrahmens erst in die Städte trugen. Sie wandelten den öffentlichen Raum in seiner Bedeutung und erschlossen ihn einer neuen Nutzung als gesellschaftlicher und politischer Ort. Öffentlicher Raum blieb umkämpft und immer der Schauplatz gesellschaftlicher Veränderungen. Zu Beginn des 20 Jahrhunderts wurde er erstmals als wesentliches städtebauliches Gestaltungselement entdeckt und geplant - so zum Beispiel von Theodor Fischer in München. Die totalitäre Inszenierung des Nazidiktatur überformte den öffentlichen Raum für

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die kultartigen Masseninszenierungen der Diktatur. Kilometerlange Aufmarschalleen, in die Städte hineingeschlagen, überdimensionale Platze und Gebäude, der Mensch, auf die Masse reduzierten und als Teil der faschistischen Propagandainszenierung in den Raum arrangiert, so planten die Nationalsozialisten. Durch den Krieg verwüstet und teilweise aufgegeben, so blieb der öffentliche Raum zusammen mit den verwahrlosenden Innenstädten zurück. Städtisches Leben war nicht Teil des gesellschaftlichen Wunschbilder. In den boomenden Vorstadtsiedlungen wurde öffentlicher Raum zur Lücke, in der Stadt wurde er bereitwillig dem zunehmenden Individualverkehr zur Verfügung gestellt. „Autogerechte Städte“ und „freie Fahrt für freie Bürger“ ließ keinen Platz für öffentlichen Freiraum.Erst im Zuge der der Renaissance des klassischen bürgerschaftlichen Ideals der europäischen Stadt und der Wiederentdeckung der Kernstädte im Zuge der 60/70er Jahre wurde aufgegebener öffentlicher Raum wieder neu erschlossen und den zunehmenden Verkehrsströmen abgetrotzt.


München

Öffentlicher Raum heute: Privatisierung und Kommerzialisierung Heute ist der öffentliche Raum immer stärker sozialen Verdrängungsprozessen und Nutzungseinschränkungen ausgesetzt. Insbesondere in den Städten oder in Naherholungsgebieten ist der ökonomische Verwertungsdruck hoch, attraktive öffentliche Flächen kommerziell zu Nutzen. Der öffentliche Raum wird in seiner Nutzung beschränkt und privatisiert. Kommerziell genutzte Flächen werden mit ökonomischer Gewinnerwartung verbunden und bringen daher in der Regel Beschränkungen in Zugang und Nutzung und Konsumverpflichtung mit sich. Nicht jeder ist mehr erwünscht. Durch die fortschreitende Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes, werden Räume dauerhaft der allgemeinen Nutzung entzogen. Doch nicht Flächen, die der kommerziellen Verwertungslogik unterworfen sind fehlen uns in den Städten, sondern Freiräume.

nisierte bürgerschaftliche Gestaltung des öffentlichen Raumes? Zunehmend sind solche Projekte auf dem Rückzug. Darauf müssen wir reagieren. Wir sollten darüber diskutieren, wie es möglich ist, bezahlbare oder idealerweise kostenlose, hochqualitative Angebote zu schaffen um den kommerziellen Angeboten für die zunehmend konsumtive Nutzung des öffentlichen Raumes ein öffentliches oder gemeinschaftliches Angebot mit inhaltlichem Anspruch entgegen zu setzten, das allen NutzerInnen des öffentlichen Raumes offen steht. Und darüber, wie man Aneignung und Selbstorganisation im öffentlichen Raum unter veränderten Bedingungen für alle möglich machen kann.

Linkes Ideal der Aneignung Auch das alt hergebrachte linke Ideal der „selbstbestimmten Aneignung des öffentlichen Raumes durch die BürgerInnen“ müssen wir zumindest teilweise kritisch hinterfragen. Sicher: Als Ideal und als Forderung bleibt Ermöglichung von Aneignung und Selbstorganisation erhalten. Doch im Zuge der Ökonomisierung aller Lebensbereiche und zunehmender Arbeitsverdichtung müssen wir uns die Frage stellen: wem bleibt da Zeit und Kraft zum selbst organisierten Aneignung des öffentlichen Raumes. Bleibt dies nicht nur noch ohnehin schon privilegierten bürgerlichen und akademischen Kreisen möglich? Vielfach erleben wir das die Bürgerinnen und Bürger in der knapp bemessenen Freizeit eher nach einfachen Angeboten des „Konsumierens“ gesellschaftlicher oder kultureller Ereignisse und Veranstaltungen suchen, als den langwierigen und aufwendigen Prozess der selbstbestimmten Eroberung des öffentlichen Raumes in Angriff zu nehmen. Wo gibt es denn noch wirklich funktionierende Bürgerinitiativen, Stadtteilfeste und selbstorga-

Der große Bruder im öffentlichen Raum In Zeiten expandierender technologischer Überwachungsmöglichkeiten und der in manchen Städten teilweise flächendeckenden Einführung von CCTV Videoüberwachungen ist die freie Zugang und die gleichen Nutzungsmöglichkeiten für alle immer mehr bedroht. Im Rahmen des europäischen Forschungsprojekts INDECT(Intelligent information system supporting observation, searching and detection for security of citizens in urban environment) wird die Entwicklung intelligenter Videoüberwachungssysteme voran getrieben. Mit dem Argument, der Terrorismusabwehr und Kriminalitätsbekämpfung werden hier Maßnahmen der umfassenden Überwachung des öffentlichen Raumes entwickelt und erprobt. Wer nichts angestellt habe, habe ja auch nichts zu befürchten, wird die Überwachung oft gerechtfertigt.

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München

Heile Welt-Idylle statt lebendiger Interaktion? Sicherheit und Sauberkeit sind Zielvorstellungen, die nicht nur durch Überwachung und Repression erreicht werden können, sondern auch eine ursachenorientierte Veränderung gesellschaftlicher Realitäten und sozialer Ungleichheit, beziehungsweise die bessere Pflege des öffentlichen Raumes und eine gemeinschaftliche Nutzungsübereinkunft erfordern. Es ist die „Repressivität der Schönheit“, die Sicherheit und Sauberkeit als zentrale Bestandteile der Erhaltung des idealen Postkartenimages einer Stadt durchzusetzen sucht. Das Ergebnis ist ein öffentlicher Raum, der „in Schönheit erstarrt“ und nicht mehr lebendiger Interaktionsrahmen für eine Stadtgesellschaft darstellen kann. Heutige Überwachungstechnologien gehen über die reine Aufzeichnung von Videobildern weit hinaus. Mit den Bildern von Überwachungskameras und von fliegenden Drohnen sollen intelligente Systeme vollautomatisch „abnormal“ handelnde Menschen erkennen, und vorbeugenden Maßnahmen zur Kriminalitätsbekämpfung in die Wege leiten können. Mit Hilfe von biometrischen Erkennungsprogrammen sollen Personen identifiziert und Verhaltensprofile erstellbar sein. Unter anderem ist auch die Einbeziehung von Personendaten aus sozialen Netzwerken und von Mobiltelefon-Ortungsdaten vorgesehen. Verhaltensüberwachung und die damit verbundene umfassende Einführung neuer repressiver Kontrolle im öffentlichen Raum wird die soziale Selektivität des Zugangs zu öffentlichen Räumen weiter erhöhen. Mit einer flächendeckenden Überwachung endet die freie Nutzbarkeit und Zugänglichkeit und damit die Grundvoraussetzung für die Erfüllung seiner Funktion als offener Interaktionsrahmen für die gleiche Begegnung der Menschen, die sich in ihm bewegen.

Entmischung als Ursache sozialer Verdrängung Die fortschreitende soziale Entmischung und residentielle Segregation, die wir in den Städten im Zuge immer stärker werdenden ökonomischen Verdrängungsdrucks und des Mangels an bezahlbaren Wohnraum feststellen, hat auch Rückwirkungen auf den öffentlichen Raum. Zunehmend entstehen in den Städten dauerhafte geschlossene und in sich homogene „Milieublasen“, bis hin zu dem Extrem einer vollständigen Zonierung der Stadt nach sozialer Herkunft. Das hat zur Folge, dass dauerhafte und großräumig abgegrenzte Raume sozialer Erwünschtheit entstehen, die die gemeinschaftliche Nutzung des öffentlichen Raumes einschränken. Was wir derzeit erleben, ist vielerorts die sozial motivierte Verdrängung ganzer Nutzergruppen aus Teilräumen des öffentlichen Raumes in andere Stadtgebiete.


Nutzergruppen, die von dem gesellschaftlichen Konsens - nicht notwendigerweise der Mehrheit - im Viertel als unerwünscht oder asozial charakterisiert werden, werden in andere Stadtgebiete verdrängt. Mit Polizeiunterstützung, offenen Briefen der lokalen Geschäftsleute, aufgebrachten BürgerInnen in den Medien, die scheinbar um das Wohlergehen ihrer Kinder fürchten müssen. Im schicken Stadtviertel rufen die Eltern vom „Szenespielplatz“ die Polizei um vermeintliche Alkoholiker auf der anderen Seite des Platzes zu entfernen, in anderen Stadtvierteln interessieren die „Stammsteher“ im Park niemanden. Was damit beginnt, Bettler aus den Fußgängerzonen der Innenstadt zu verweisen, richtet sich im Zuge fortschreitender Entmischung immer mehr gegen alle von der Norm abweichenden sozialen Gruppen. Dabei machen Beispiele und Zahlen aus Personenkontrollen klar, dass die Personen aus nicht akzeptierten und stigmatisierten sozialen Randgruppen teilweise im gleichen Stadtviertel wohnhaft sind, wie die Klageführer. Es ist die Gesellschaft, die die soziale Schieflage, die zunehmende soziale Spaltung und ihre Folgen nicht mehr sehen will, sondern sie aus der Mitte der gemischten Stadtgesellschaft an ihren Rand drängt. Was ist aus dem großstädtischen Konsens der gemeinsamen Nutzung des öffentlichen Raumes geworden? Mit zunehmender Entmischung wurde dieser Nutzungsgrundsatz, diese Duldung aufgekündigt zugunsten einer lokalen Inszenierung behüteter heiler Weilt vor historischer Kulisse. Doch das ist grundlegend falsch.

Wir brauchen im öffentlichen Raum wieder eine Nutzungsübereinkunft der gleichberechtigten gemeinschaftlichen Nutzung, in der Jede und Jeder der Raum zu freien Nutzung offen steht. Ein Raum auch, der frei ist von Videoüberwachung und andauernder Kontrolle. Wir müssen einen neuen Interessenausgleich zwischen den verschiedenen Nutzergruppen erreichen. Wir müssen wieder zu einer Kultur der tolerierenden gemeinsamen Nutzung des öffentlichen Raumes finden, die alle sozialen Gruppen mit einbezieht.

Denn es ist unsere Stadt, eine Stadt für alle! 15


Ausbildung

Qualität statt Schmalspurausbildung DGB-Ausbildungsreport Bayern zeigt Mängel bei der Ausbildungsreife der Betriebe von Mario Patuzzi, DGB Bayern

Noch bis in die 1970er Jahre wurde der Begriff „Ausbildungsreife“ nicht mit den Ausbildungsplatzbewerber/innen in Verbindung gebracht, sondern mit der Fähigkeit der Betriebe, eine Ausbildung durchzuführen, die den gesetzlichen Standards entspricht. Der erste Ausbildungsreport der DGB-Jugend Bayern zeigt deutlich, dass ein nicht unerheblicher Teil der Ausbildungsbetriebe nicht in der Lage ist auszubilden. Veränderter Ausbildungsmarkt Der bayerische Ausbildungsmarkt war jahrelang von Ausbildungsplatzmangel beherrscht. Seit 2010 dreht sich das Verhältnis. Die Bewerberzahlen sinken, während die Zahl der offenen Stellen steigt. Jugendliche haben wieder bessere Chancen für den Einstieg ins Berufsleben. Bei 9.472 Ausbildungsstellen konnten im Jahr 2011/12 keine passenden Bewerber/innen gefunden werden. Arbeitgeber führen in diesem Zusammenhang häufig die sogenannte fehlende Ausbildungsreife ins Feld. Damit meinen sie, dass (einige) Bewerber/innen noch nicht grundsätzlich bereit seien für eine Ausbildung. Deshalb könnten die Stellen nicht besetzt werden.

Attraktivität der Ausbildung Die Gewerkschaften vertreten hier eine andere Meinung: wir sind der Ansicht, dass bestimmte Ausbildungsplätze nicht attraktiv sind, zumal insbesondere Branchen über unbesetzte Stellen klagen, die nicht unbedingt durch gute Ausbildungsbedingungen aufgefallen sind. Während es im modernen Unternehmensmarketing selbstverständlich ist, die Zufriedenheit der Kunden bis ins Detail zu ergründen, ist über die Zufriedenheit der Auszubildenden vergleichsweise wenig bekannt. Aber wie misst man die Attraktivität eines Ausbildungsberufs? Der Zugang ist für uns die Einschätzung von Auszubildenden über die Qualität, die Zufriedenheit und die Anschlussfähigkeit ihrer beruflichen Erstausbildung. ihre berufliche Erstausbildung. Mit dem DGB-Ausbildungsreport 2012 für Bayern wechseln wir bewusst die Perspektive. Wir geben den Auszubildenden eine Stimme. Die Ergebnisse geben einen umfassenden Einblick in den Ausbildungsalltag junger Menschen in Bayern und zeigen an vielen Stellen Verbesserungsbedarf an.

Ausgleich von

Entwicklung Ausbildungsmarkt 180.000

160.000

140.000

120.000

Schulabgänger/innen Neu abgeschlossene Ausbildungsverträge

100.000

Neu abgeschlossene Ausbildungsverträge Gemeldete Stellen Gemeldete Bewerber/innen

Gemeldete Stellen Schulabgänger/innen

16

80.000 Gemeldete Bewerber/innen

60.000

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012


Anteil Auszubildender mit Ausbilder/in nach

oberes Drittel über 97 Prozent

Zufriedenheit mit der Ausbildung

Bankkaufmann/-frau Fachkraft für Lagerlogistik

Drei Viertel der Jugendlichen in bayerischen Betrieben sind zufrieden mit ihrer Ausbildung. Wir wissen auch weshalb. Das hat die Befragung deutlich gezeigt. Folgende Faktoren steigern nachweislich die Zufriedenheit der Auszubildenden:

Friseur/in Industriekaufmann/-frau Industriemechaniker/in Maler/in und Lackierer/in Mechatroniker/in Verkäufer/in

Berufen

mittleres Drittel 92,5 bis 97 Prozent Bürokaufmann/-frau Fachinformatiker/in Hotelfachmann/-frau Kaufmann/-frau für Bürokommunikation

München unteres Drittel Unter 92,5 Prozent Anlagenmechaniker/in Elektroniker/in Fachverkäufer/in im Lebensmittelhandwerk Medizinische/r Fachangestellte/r

Kaufmann/-frau im Einzelhandel

Metallbauer/in

Kaufmann/-frau im Groß- und Außenhandel KFZ-Mechatroniker/in

Steuerfachangestellte/r

Koch/Köchin

Restaurantfachmann/-frau

Zahnmedizinische/r Fachangestellte/r

Betrieb und Berufsschule sind gut abgestimmt

Berufsschulklasse kleiner als 25 SchülerInnen Kompetente Ausbilder in Schule und Betrieb Keine Ausbildungsfremden Tätigkeiten

Betriebs- oder Personlarat vertreten Interessen Keine regelmäßigen Überstunden

Das Gehalt stimmt Wenn man so will, ist das die Sonnenseite des Ausbildungsreports. Sorgen machen wir uns mit dem schattigen Teil. Denn etwa ein Viertel der Befragten ist nur teilweise zufrieden, unzufrieden oder gar sehr unzufrieden. Wo der Hase im Pfeffer liegt, machen die nächsten Punkte deutlich.

Überstunden

Freizeitausgleich 56,3 %

Arbeitszeiten und Überstunden Knapp 40 Prozent der Befragten geben an, regelmäßig Mehrarbeit leisten zu müssen, ein Viertel sogar in der Regel über fünf Stunden pro Woche. 16 Prozent der Jugendlichen erhalten dafür weder Vergütung noch Freizeitausgleich, wie dies gesetzlich eigentlich vorgeschrieben ist. Nehmen die Überstunden im Betrieb überhand, droht die schulische Ausbildung zu scheitern. Wer bis in die Nacht hinein arbeiten soll, kann am nächsten Morgen nicht ausgeschlafen zum Berufsschulunterricht erscheinen – und findet auch nicht genügend Zeit, sich auf Prüfungen vorzubereiten. Die Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Höchstarbeitszeiten für Auszubildende ist deshalb dringend notwendig, um eine Ausbildung auch erfolgreich zu absolvieren.

Jugendarbeitsschutz

Bezahlung 5,7 % weder noch 16,0 %

weiß nicht 22,0 %

Alarmierend sind vor allem die Angaben der Minderjährigen Auszubildenden. 13 Prozent der Minderjährigen geben an, dass sie regelmäßig mehr als vierzig Stunden pro Woche arbeiten müssen! Minderjährige dürfen aber laut Jugendarbeitsschutzgesetz maximal vierzig Stunden in der Woche arbeiten, weshalb wir es folglich mit einem eindeutigen Rechtsbruch zu tun haben. Über ein Drittel der Minderjährigen gibt außerdem an, regelmäßig Überstunden leisten zu müssen. Wenn ein 16- oder 17-Jähriger andauernd Überstunden machen muss, dann hat er bereits in jungen Jahren einen Knochenjob.

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Betreuung durch Ausb

Anteil von Auszubildenden, die regelmäßigen Überstunden machen

34,5 %

unter 18

immer 47,0 %

41,5 %

über 18

38,5 %

Gesamt 0

10

Gerade minderjährige Auszubildende benötigen einen besonderen Schutz, denn sie befinden sich noch in der Entwicklung zum Erwachsensein und machen gerade in dieser Lebensphase ihrer persönlichen Entwicklung große Sprünge. Laut Berufsbildungsgesetz müssten die Kammern und Gewerbeaufsichtsämter die Einhaltung des Jugendarbeitsschutzes kontrollieren. Sie tun dies zu selten, vielleicht weil sie nicht genau hinsehen wollen. Wenn sich hier nichts ändert, brauchen wir dringend unabhängige Kontrollgremien. Ausbildungsvergütung Junge Menschen wollen oder müssen teilweise auch ihr Leben in der Ausbildung eigenständig finanzieren. Vielen Auszubildenden reicht ihre Vergütung aber nicht aus. Etwa 20 Prozent erhalten nämlich eine Ausbildungsvergütung unter 500 Euro im Monat. Besonders schlecht werden angehende Frisöre, Fachverkäuferinnen im Lebensmittelhandwerk und zahnmedizinische Fachangestellte bezahlt. Jeder zehnte Jugendliche muss sich zusätzlich mit einem Nebenjob über Wasser halten, weil das Geld hinten und vorne nicht reicht. Neben der Ausbildung noch arbeiten, für ein paar Euro die Stunde Zeitungen austragen oder kellnern, das ist ein hoher Preis für die ersten Schritte ins Berufsleben. Selbst unter den Minderjährigen müssen noch acht Prozent einen Nebenjob machen, um über die Runden zu kommen!

Ausbildungsinhalte und Ausbildungsbetreuung Für jeden Beruf gibt es einen rechtlich verbindlichen Ausbildungsrahmenplan. Er beschreibt detailliert, was zu welchem Zeitpunkt in der Ausbildung erlernt werden soll. Werden diese Ausbildungsinhalte vermittelt? Oder beschäftigen sich die Auszubildenden mit Routinearbeiten oder gar ausbildungsfremden Tätigkeiten, ohne alle Fertigkeiten und Kenntnisse für den Beruf zu erlernen? Etwa 24 Prozent der Auszubildenden im Betrieb sind weitgehend auf sich alleine gestellt und bekommen Arbeitsvorgänge selten oder nie erklärt. 7 Prozent der Befragten geben an, im Betrieb keinen Ausbilder zu haben. Darüber hinaus muss jeder Zwölfte sogar überwiegend ausbildungsfremde Tätigkeiten verrichten, also Tätigkeiten, die nicht zu seiner Ausbildung gehören.

Durchschnittliche Ausbildungsvergütung (Einkommensgruppen) 1,3 %

bis 250

17,6 %

250 - 500

57,4 % 500 - 750

23,1 %

750 - 1.000

18

50

40

30

20

0,6 %

über 1.000

0

10

20

30

40

50

60


bilder/innen

Ausbildung häufig 33,5 %

Zwischen den Berufen gibt es aber auch hier große Unterschiede. Von den angehenden Fachkräften für Lagerlogistik gibt weniger als ein Drittel der Auszubildenden an, dass die Ausbilder/innen „immer“ oder „häufig“ zur Verfügung stehen; bei den Friseur/innen, Metallbauer/innen und Restaurantfachleuten sind es zirka zwei Drittel.

manchmal 6,1 %

selten 9,7 %

nie 3,7 %

Interessanterweise gibt es in diesen Bereich viele unbesetzte Ausbildungsstellen. Hier fehlen nicht geeignete „ausbildungsreife“ Bewerber/innen, sondern ausbildungsreife Betriebe, die ihre Azubis nicht als billige Arbeitskräfte missbrauchen!

Fehlendes Ausbildungspersonal bedeutet für die Auszubildenden häufig „Learning by Doing“, in der Regel aber ermüdende Routinearbeiten. Wenn die Auszubildenden einfach im Betrieb „nebenher mitlaufen“, liegt der Verdacht nahe, dass sie in erster Linie als billige Arbeitskräfte betrachtet werden. Mangelnde oder fehlende Betreuung durch Ausbilder/innen kann zum Ausbildungsabbruch führen.

Blickpunkt Handel Die kaufmännischen Berufe gehören zu den meistgewählten und trotzdem sind unter der TOP fünf der unbesetzten Ausbildungsstellen drei Berufsgruppen aus dem kaufmännischen Bereich. Deshalb haben wir die Situation der Auszubildenden dort noch einmal gesondert unter die Lupe genommen.

Werden Ausbildungsinhalte schlecht vermittelt, fühlen sich die Jugendlichen auf sich allein gestellt und bei möglichen Fehlern zu Unrecht kritisiert. Mit dem Wissen darüber, dass dringend benötigtes Fachwissen fehlt, steigen Prüfungsdruck und Angst.

Wenig überraschend ist, dass Kaufleute im Einzelhandel unglücklicher mit ihrer Ausbildung sind, als Auszubildende anderer kaufmännischer Berufe. Sie müssen mehr arbeiten als beispielsweise Außenhandelskaufleute, ein Drittel leistet regelmäßig Überstunden und bekommt aber Überstunden nur in 63 Prozent der Fälle sicher ausgeglichen.

Ausgleich von Überstunden

Kaufmann/-frau im Einzelhandel Kaufmann/-frau im Groß- und Außenhandel Verkäufer/in Handelsberufe gesamt

8,4 %

54,5%

1,2% 54,7 %

33,8 %

22,5 %

ich weiß nicht

4,7%

% r noch 15,2 wede

25,4 %

Bezahlung Freizeitausgleich

zum Vergleich Restliche Berufe aus TOP25

14,3 %

1,6% 4,8 %

79,4 % 42,5 %

23,4 %

13,6 %

56,7 %

6,0% Freizeitausgleich

21,1 %

16,2 % Bezahlung

weder noch

weiß nicht

„ Ausbildung ist keine Wohltat und kein Geschäft“

Wenn es um den Ausgleich von Überstunden geht, sind Verkäuferinnen und Verkäufer am schlechtesten dran. Sie haben eine noch problematischere Situation als der Durchschnitt aller Ausbildungsberufe. Nur zirka 44 Prozent der Verkäufer geben an, für Überstunden Freizeitausgleich oder eine Bezahlung zu erhalten, obwohl das Gesetz das eindeutig vorschreibt.

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studie

Ausbildungsreport 2012 Bayern

Außerdem besteht auch ein Zusammenhang zwischen Ausbildungszufrieden mit den Klassenstärken. Unsere Studie hat ergeben, dass bei einer Klassengröße von maximal zwanzig Schüler/innen eine große Mehrheit der Befragten (84 Prozent) die Lernatmosphäre „immer“ oder „häufig“ als gut bewertet. Dieser Anteil verringert sich kontinuierlich mit zunehmender Klassengröße. In Berufsschulklassen von mehr als dreißig Schüler/innen ist lediglich noch knapp ein Drittel der Auszubildenden (31 Prozent) mit der Lernatmosphäre zufrieden. Fazit

www.dgb-jugend-bayern.de

Ausbildungsreport 2012 Bayern Ausbildungsreport der DGB Jugend Bayern http://issuu.com/dgbjugendbayern

Blickpunkt Berufsschule Die berufliche Erstausbildung im dualen System findet nicht nur im Betrieb, sondern eben auch in der Berufsschule statt. Ohne die Berufsschule wäre die betriebliche Ausbildung lediglich „training-on-the-job“. In der Berufsschule reflektieren die Auszubildenden das betrieblich Erlernte und entwickeln ihr Wissen damit weiter zum Können, zur beruflichen Handlungsfähigkeit. Aus diesem Grund ist es gut zu wissen, dass zwei Drittel der bayerischen Berufsschüler und Berufsschülerin mit der fachlichen Qualität des Berufsschulunterrichts zufrieden sind. Aber hier ist noch Luft nach oben: Knapp ein Viertel bezeichnet die Qualität des Unterrichts als „befriedigend“ und zirka sieben Prozent halten sie nur für „ausreichend“ oder „mangelhaft“. Die durchschnittlichen und schlechten Bewertungen hängen unseres Erachtens vor allem mit der mangelnden Abstimmung zwischen Schule und Ausbildungsbetrieb zusammen.

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Der Ausbildungsreport liefert auch unserer Sicht die entscheidenden Hinweise zur Verbesserung der Qualität der dualen Ausbildung. Es geht um den Schutz Jugendlicher durch die Einhaltung gesetzlicher Rahmenbedingungen im Betrieb und deren Kontrolle. Es geht um die Fähigkeit der Betriebe auszubilden und es geht um die Attraktivität der beruflichen Erstausbildung, die ohne eine Verbesserung der Qualität der Ausbildung nicht zu denken ist. Ausbildung ist keine Wohltat und kein Geschäft. Junge Menschen auszubilden, bedeutet Verantwortung und das Einhaltung von Qualitätsstandards. Das erwarten wir von den Betrieben. Und wir erwarten von den Kammern, dass sie entweder nicht ausbildungsreife Betriebe dabei unterstützen, die gesetzlichen Rahmenbedingungen in den Betrieben umzusetzen. Oder dass sie diesen Betrieben die Ausbildungseignung entziehen!

Autor: Mario Patuzzi, Abteilungsleiter für Bildung, Forschung und Technologie beim DGB Bayern Quelle: DGB-Ausbildungsreport 2012 für Bayern


Ausbildung

Berufliche Ausbildung Schlüssel zum selbstbestimmten Leben von Anno DIetz

Wenn nach zahlreichen erfolglosen Bewerbungen nicht mehr Interesse oder Neigungen eines/R Bewerbers/In über eine so wichtige Frage wie die der Berufswahl entscheidet, sondern häufig nur noch ökonomische Zwänge und die Möglichkeit überhaupt einen Ausbildungsplatz zu erhalten, so sind wir weit davon entfernt, auch nur die Grundlage eines unserer wichtigsten Anliegen zu erfüllen: Es Menschen zu ermöglichen ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Und die Situation ist immer noch so. Auch wenn die offiziellen Verlautbarungen der Bundesregierung immer wieder anderes nahelegen und die Ausbildungsplatzlücke sich in den vergangenen Jahren demographiebedingt in Wohlgefallen aufgelöst habe, so gibt es auch heute zahlreiche Jugendliche, die keinen Ausbildungsplatz finden. Das zeigt auch der Ausbildungsreport der DGB Jugend Bayern (siehe Artikel)

Chancen statt Maßnahme Der Berufsbildungsbericht des Bundesministeriums für Bildung und Forschung verschleiert, dass die tatsächlichen Zahlen weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben sind und die derzeit gute Auftragslage der Unternehmen nicht auf den Ausbildungsmarkt durchschlug. 824.626 Ausbildungsinteressierten, seien es aktuelle BerwerberInnen, AltbewerberInnen oder in Warteschleifen geparkten oder gleich ganz als nicht ausbildungsreif abgeschriebene Jugendlichen standen 2012 knapp 551.271 abgeschlossene Ausbildungsverträge gegenüber. Das bedeutet, dass lediglich 66,9 Prozent der ausbildungsinteressierten Jugendlichen einen Ausbildungsplatz finden. Gleichzeitig sind 76.029 BewerberInnen ohne Ausbildungsplatz geblieben und das bei ca. 33.275 offenen Ausbildungsplätzen. Das wird oft mit der mangelnden Ausbildungsreife der Jugendlichen begründet. Häufig sind es aber nicht die BewerberInnen, die nicht ausbildungsreif sind, sondern die Firmen oder Arbeits- und Ausbildungsbedingungen in den jeweiligen Berufen und Betrieben sind so miserabel, dass sich niemand freiwillig dort bewirbt. Zusätzlich sind derzeit noch etwa 300.000 (2012) Jugendliche, häufig AltbewerberInnen, in Maßnahmen des sogenannten Übergangssystems geparkt, die sich für sie eher als Abstellgleis, denn als Übergang erwiesen haben. Die Zahl der Jugendlichen ohne Berufsabschluss in der

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Ausbildung

Altersgruppe zwischen 20 und 29 Jahren ist seit Jahren relativ konstant und lag 2012 bei rund 1,39 Millionen Menschen. Das sind 14,1 Prozent dieser Altersgruppe. Was Jugendliche heute brauchen, sind keine weiteren „Maßnahmen“, sondern echte Chancen und Perspektiven für eine berufliche Qualifizierung. In den kommenden Jahren wird es grade im hochqualifizierten Bereich einen enormen Bedarf an gut ausgebildeten Fachkräften geben. Wir brauchen mehr Ausbildungsplätze in diesen Bereichen und die Jugendlichen müssen besser auf Ausbildung und Beruf vorbereitet werden. Es kann nicht sein, dass jedes Jahr tausende Jugendliche ohne Ausbildungsplatz da stehen, viele „nur“ mit Hauptschulabschluss keine Chance auf überhaupt einen Ausbildungsplatz haben, dass Jahr für Jahr 60.000 junge Menschen die Schule ohne Abschluss verlassen. Wir brauchen ein Schulsystem, das die Jugendlichen befähigt, selbstbestimmt über ihr Leben zu entscheiden und sie auf qualifizierte Ausbildungen und die Herausforderungen der Arbeitswelt wirklich vorbereitet, anstatt viele von vornherein abzuschreiben. Der Lernort Betrieb muss weiter im Zentrum der Berufsausbildung, aber auch schon der Berufsvorbereitung stehen. Wir setzen auf das duale System der Berufsausbildung, der Kombination aus praktischem Lernen im Betrieb und theoretischem und allgemeinbildenden Unterricht in Berufsschulen, das in Deutschland seit vielen Jahren etabliert und gut ausgebaut ist und von aller Welt als vorbildlich anerkannt wird. Maßnahmen der außerbetrieblichen Ausbildung und Übergangsmaßnahmen sollen die duale Ausbildung nur ergänzen und im Notfall zusätzliche Ausbildungsmöglichkeiten schaffen, keinesfalls diese ersetzen und es Betrieben ermöglichen sich aus ihrer Verantwortung zu stehlen. Umlagefinanzierung jetzt! Während Wirtschaftsverbände über einen Fachkräftemangel klagen, sank der Anteil der ausbildenden Unternehmen 2011 weiter auf das historische Tief von nur noch 21,7 Prozent (2010: 22,5 Prozent). Ausbildungsberechtig waren immerhin 56 Prozent der Betriebe. Immer weniger Betriebe bilden aus und gleichzeitig fehlen weiterhin Ausbildungsplätze?

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Die Forderung nach einem gerechten finanziellen Ausgleich zwischen ausbildenden und nicht ausbildenden Betrieben und damit auch einem Anreiz zur Ausbildung ist nach wie vor aktuell. Es muss wieder heißen: „Wer nicht ausbildet wird umgelegt!“ Dass die im Rahmen des Berufsausbildungssicherungsgesetzes (BerASichG) bereits 2004 im Entwurf vorliegende Umlagefinanzierung von den regierenden Genossen später zugunsten einer freiwilligen Selbstverpflichtung der Wirtschaft – deren Zusagen nie eingehalten wurde – wieder gekippt wurde, ändert nichts an der Richtigkeit dieser Forderung. Die Debatte um die Umlage ist nicht beendet. Wir werden sie im Rahnen der eines allgemeinen Ausund Weiterbildungsfonds erneut führen. Aus den Mitteln der Umlage kann das dringend benötigte Sofortprogramm, das die auf das Abstellgleis der Übergangsmaßnahmen geschobenen Jugendlichen zurückholt, qualifiziert und aktiv in die offenen Plätze auf dem Ausbildungsmarkt vermittelt und ihnen so eine echte berufliche Perspektive eröffnet, finanziert werden. Es können damit überbetriebliche Ausbildungsmaßnahmen und tarifvertraglich gesicherte Berufsvorbereitungsmaßnahmen gefördert werden. Allgemein soll so mehr Betrieben


Ausbildung

hochqualifizierte Ausbildung ermöglicht und für mehr Betriebe ein Anreiz zur Ausbildung geschaffen werden. Und es können so auch Maßnahmen zur Erhöhung der Ausbildungsqualität gefördert werden. Gute Ausbildung, statt billige Arbeitskraft! Im Ausbildungsreport 2012 der DGB Jugend wird klar: Viele Jugendliche sind mit ihrem Ausbildungsplatz und der Qualität ihrer Ausbildung nicht zufrieden. Zwar sind im vergangenen Jahr rund 70 Prozent der Auszubildenden mit der fachlichen Qualität an ihrer Ausbildungsstelle zufrieden, aber 17,3 Prozent bewerten diese nur mit „befriedigend“ und immerhin 10,5 Prozent geben an, die Qualität ihrer Ausbildung sei nur „ausreichend“ oder „ mangelhaft“. Die Unzufriedenheit zeigt sich auch an der steigenden Quote der Ausbildungsabbrüche. Gegenüber 2009 (22,1 Prozent) ist die Quote der Vertragslösungen auf 24,4 Prozent gestiegen. Nach Ergebnissen einer Studie des Bundesinstituts für Berufsbildung aus dem Jahre 2002, waren es vor allem Probleme im Ausbildungsbetrieb (70 Prozent), die die Jugendlichen dazu veranlassten, den letzten Ausweg in einem Ausbildungsabbruch zu sehen. Angefangen bei Konflikten mit den Ausbildern/Ausbilderinnen bzw. Vorgesetzten (60 Prozent), der schlechten Vermittlung von Ausbildungsinhalten (43 Prozent) und Problemen mit den Arbeitszeiten (31 Prozent) bis hin zu ausbildungsfremden Tätigkeiten (26 Prozent) und persönlichen Gründen (46 Prozent) waren alle relevanten Ausbildungsproblematiken vertreten, die auch bei der Befragung zum Ausbildungsreport eine wichtige Rolle spielen. Jugendarbeitsschutzgesetz Schon allein die Einhaltung gesetzlicher Mindeststandards wie des Jugendarbeitsschutzgesetzes ist nicht überall selbstverständlich. Grade das Hotel- und Gaststättengewerbe ist berüchtigt dafür, solche Bestimmungen kurzerhand über Bord gehen zu lassen. Dabei hat die Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die sich mit Reformvorschlägen des Jugendarbeitsschutzgesetzes auseinandergesetzt hat, nachdrücklich die gesetzlichen Standards bestätigt. Es zeigt sich ganz klar, Nacht- und Schichtarbeit sowie die Ausweitung der Arbeitszeiten haben deutliche negative psycho-soziale und gesund-

heitliche Konsequenzen und schmälern den Lernerfolg der Auszubildenden erheblich. Deshalb: Finger weg vom Jugendarbeitsschutzgesetz! Wir brauchen keine Aufweichung der Schutzbestimmungen für Auszubildende, sondern die Überwachung der realen Arbeitsbedingungen und die konsequente Durchsetzung der gesetzlichen Regelungen. Zuwiderhandlungen seitens der Unternehmen müssen empfindliche Strafen nach sich ziehen, Ausnahmen stark begrenzt und genau geregelt werden. Der Geltungsbereich des Jugendarbeitsschutzgesetztes muss auf alle in der Ausbildung befindlichen Jugendlichen ausgedehnt werden, mindestens jedoch weiter bis 18 Jahre gelten. Modularisierung und Schmalspurausbildung Eine Modularisierung der beruflichen Bildung lehnen wir ab. Eine Modularisierung und damit Zersplitterung der Ausbildungsverläufe führt nur zu einer weiteren unternehmensbezogenen Spezialisierung der Ausbildung auf geringerem Qualitätsniveau und wiederspricht dem Ziel einer umfassenden fachlichen Qualifizierung der Auszubildenden. Es besteht die Gefahr, dass Unternehmen nur noch genau die Fertigkeiten vermitteln, die sie im Betriebsablauf aktuell brauchen, Auszubildenden dadurch keine umfassende und vielseitig einsetzbare Berufsausbildung mehr erhalten und in neue Abhängigkeit geraten. Wir setzen weiterhin auf das bewährte Prinzip der geschlossenen Berufsbilder und auf die Definition europaweit vergleichbarer Kernberufe. Auch die Einführung von Schmalspurausbildungen durch die Verkürzung der Ausbildungsdauer von 3,5 auf 3, teilweise auf 2 Jahre lehnen wir ab. Jugendliche sollen echte Qualifizierungschancen erhalten. Die Einführung von geringqualifizierenden Teilausbildungen schaffen nur eines: neue Abhängigkeiten gegenüber den Unternehmen, welche zu weiter zur Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt beiträgt. Stattdessen wollen wir die Ausbildung stärken und die Qualität der Ausbildung verbessern. Für das Schaffen von hochqualitativen Ausbildungsplätzen, für die Verbesserung der Betreuung und der fachlichen Ausbildungsqualität müssen Anreize für die Firmen geschaffen werden.

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Ausbildung

Eine Förderung kann im Rahmen einer Umlagefinanzierung, die einen gerechten finanziellen Ausgleich zwischen ausbildenden und nicht ausbildenden Unternehmen schafft, organisiert werden. Überbetriebliche Ausbildungsmodelle Ein Ansatz kann auch in der Förderung von überbetrieblichen Ausbildungsmodellen, sei es als vollständiger Ausbildungsgang oder im Rahmen des Erwerbs von Teilqualifikationen in überbetrieblichen Ausbildungseinrichtungen, bestehen. Große Unternehmen mit gut ausgestatteten Lehrwerkstätten und hochqualitativer Ausbildung öffnen diese schon heute teilweise für Fremdauszubildenden aus anderen Betrieben, eine Dienstleistung die auch zur Finanzierung der großen Ausbildungswerkstätten einen wertvollen Beitrag leisten kann. So können einzelne Ausbildungsinhalte in den Ausbildungswerkstätten großer Betriebe als überbetriebliche Ausbildungsleistung erbracht werden. Solche Ausbildungskooperationen im Rahmen des dualen Ausbildungssystems können dazu beitragen, die Qualität der Ausbildung zu verbessern und versetzen kleinere Betriebe teilweise überhaupt erst in die Lage Ausbildungsqualität zu gewährleisten und auf angemessenem Niveau auszubilden.

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Berufsschulen stärken! Auch die zweite Säule der dualen beruflichen Bildung muss gestärkt werden. Zwar beurteilten Jugendliche im Rahmen der Befragung zum Ausbildungsreport 2011 der DGB Jugend ihre Berufsschulen überwiegend als gut, dennoch gibt es an vielen Berufsschulen durchaus Verbesserungsbedarf bei Ausstattung und Unterricht. Das Berufsschulsystem, teils in Länderhand, teils kommunal, muss besser ausgerüstet und personell besetzt werden. Insbesondere müssen BerufschullehrerInnen neben ihrer fachlichen Qualifikation auch in Methodik und Pädagogik besser ausgebildet und geschult werden. Grade allgemeinbildende Fächer, wie Sozialkunde oder Recht müssen deutlich verbessert werden. Nur so werden BerufsschülerInnen befähigt, ihre gesellschaftlichen Rechten und Pflichten auch wahrzunehmen. Gute Ausbildung ist die Grundlage für Gute Arbeit. Wir brauchen hochqualitative und umfassende Ausbildung, die den Anforderungen der Zukunft gewachsen sind und es den Auszubildenden ermöglichen selbst zu entscheiden, wie sie ihre berufliche Zukunft gestalten wollen. Deshalb: Gute Ausbildung für Alle!


Ausbildung

Nachgelagerte Studiengebühren Warum wir dagegen sind! Kommentar von Nadine Ponsel

Im Zuge des Koalitionsstreites um Studiengebühren wird von der Staatsregierung das Thema nachgelagerte Studiengebühren ins Spiel gebracht. Das vermeintlich sozial verträglichere Modell könne als Alternative zu den momentan verlangten Studiengebühren in Höhe von bis zu 500 Euro pro Semester dienen. Wir widersprechen dieser Augenwischerei vehement und verurteilen auch nachgelagerte Gebühren als unsoziale und ungerechte Bildungsbarriere. Bildung ist unserem Verständnis nach eine der zentralen Aufgaben des Staates und sollte als gemeines, öffentliches Gut vom Staat finanziert werden. Eine Ökonomisierung der Bildung in Form von Büchergeld, Studienoder Meistergebühren lehnen wir ab, da sie die soziale Selektivität unseres Bildungssystems noch verstärkt. Das viel bemühte „Australische Modell“ der nachgelagerten Studiengebühren bietet für einige Studienplätze – nicht für alle – die Möglichkeit die Studiengebühren über einen staatlichen Kredit zu finanzieren. Die Schulden werden, sobald der oder die AbsolventIn ein gewisses Mindesteinkommen überschritten hat, über die Steuern zurückgezahlt werden. Studierende, die keinen über einen staatlichen Kredit finanzierten Studienplatz erhalten, müssen die Gebühren sofort zahlen. Selbstverständlich steht diese Möglichkeit auch wohlhabenden Studierenden zur Verfügung, die bei Sofortzahlung sogar einen Erlass von 20% der Gebühren erhalten. Es ist in unseren Augen ungerecht, dass eine Hochschulabsolventin oder ein Hochschulabsolvent, die oder der aus finanziell schlechter gestelltem Hause nach der Ausbildung mit Schulden ins Berufsleben startet, während dem Kommilitonen oder der Kommilitonin aus „gutem Hause“ diese Sorgen erspart bleiben dürfen.

Dass nicht nur sofort zu zahlende Gebühren, sondern auch nachgelagerte Gebühren in Form eines erzwungenen Schuldenmachens Studierwillige aus „bildungsfernen Schichten“ vom Studieren abhalten, zeigt die Sozialerhebung des deutschen Studentenwerkes 2009: Auf die Frage der Finanzierungsquelle der Studiengebühren im Sommersemester 2009 antworteten 65% der befragten Studierenden aus Bayern, die Eltern zahlten für die Gebühren. Nur 4% der TeilnehmerInnen der Umfrage gaben an über einen Kredit die Studiengebühren zu finanzieren. Die Finanzierung der Studiengebühren hängt demnach ab vom Geldbeutel der Eltern und Kredite wurden aus Angst vor Verschuldung deutschlandweit nur von 4-10% der Studierenden aufgenommen. Doch nachgelagerte Studiengebühren stellen nicht nur ein Problem sozialer Ungerechtigkeit dar, sondern auch ein Problem der Gendergerechtigkeit. Nach australischem Modell ist die Rückzahlung der Kredite gekoppelt an das Einkommen, ähnlich der deutschen Bafög-Regelung. Frauen erzielen immer noch ein niedrigeres Einkommen als Männer mit gleichwertiger Ausbildung. Frauen verzichten immer noch häufiger als Männer auf ihre Arbeitsstelle, um sich um Kinder und Familie zu kümmern und Frauen sind häufiger in sozial prekären Arbeitsverhältnissen angestellt als Männer. Nachgelagerte Studiengebühren belasten daher Frauen mehr als Männer, da sie die Schulden über längere Zeit als Männer nach Ende des Studiums zurückzahlen müssen. Australien stellt außerdem fest, dass der Betrag an rückbezahlten Krediten nicht mit dem der ausgegebenen Kredite zur Studienfinanzierung übereinstimmt. Es ist also davon auszugehen, dass bei weitem nicht alle HochschulabsolventInnen die Mindesteinkommensgrenze überschreiten und ihre Kredit zurückzahlen können. Eine Einführung nachgelagerter Studiengebühren in Bayern sähen wir als nicht weniger großes Übel wie das Festhalten an den jetzigen unsozialen Bildungsgebühren.

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Ausbildung

München stellt sich an! Volksbegehren gegen Studiengebühren von Louisa Pehle

Für viele Jusos unerwartet billigte der bayerische Verfassungsgerichtshof das Volksbegehren zur Abschaffung der Studiengebühren. Zwei Wochen hatten wir Zeit, um möglichst viele Menschen in Bayern zur Unterschrift zu bewegen. In München bildete sich ein Bündnis gegen Studiengebühren, bestehend aus SPD, Jusos, Grünen, Freien Wählern, den Gewerkschaften, dem Kreisjugendring und weiteren Beteiligten, um die stadtweite Mobilisierung zu vernetzen.

Leider fiel der Eintragungszeitraum ausgerechnet in die zwei scheinbar kältesten Wochen des Jahres und die Suche nach dicken Socken und Handschuhen ging jeder Infostand-Schicht voraus. Nachdem sich am ersten Eintragungstag in München weniger als 5000 Menschen ins Rathaus oder in eine der anderen Eintragungsstellen bewegt hatten, steigerte das unsere

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Motivation nur. Tatsächlich mussten wir schnell feststellen, dass wir unser Ziel, dass München die bayerische Stadt mit den meisten Unterschriften wird, wohl nicht erreichen konnten. Täglich wurden die aktuellen Eintragungsdaten aus allen Ecken Bayerns veröffentlicht. München war lange Zeit abgeschlagen. Auch wenn allen Beteiligten klar war, dass allein das Gesamtergebnis von mindestens zehn Prozent in Bayern entscheidend ist, wollten wir uns nicht mit einer so schlechten Beteiligung in München abfinden. Also wurden noch mehr Infostandschichten eingeplant und noch mehr Flyer verteilt. Wenige Tage vor Eintragungsende besserten sich die Zahlen deutlich. An den letzten zwei Eintragungstagen bildete sich eine mehrere hundert Meter lange Schlange auf dem Marienplatz, die von zahlreichen HelferInnen, darunter sehr viele Jusos, mit Süßigkeiten bei Laune gehalten wurde. Am letzten Eintragungstag schlängelten sich die Wartenden in mehreren Bahnen über den Marienplatz. Wer nicht dabei sein konnte, war dank der Webcam des Kaufhauses Beck dennoch in der Lage dieses Erlebnis zu beobachten.


München

In München waren es schließlich deutlich mehr als zehn Prozent, die sich für das Volksbegehren eintrugen, und bayernweit hatten sich mehr als 1,3 Millionen Menschen beteiligt.

Die bayerische CSU-FDP-Regierung hat sich inzwischen auf die Abschaffung der Studiengebühren geeinigt. Wir lehnen uns nicht zurück, sondern bekräftigen nun umso mehr unsere Forderung nach Abschaffung aller Bildungsgebühren. wurde auf Auf Antrag der Jusos München chen auch Mün SPD der g dem letzten Parteita fung der chaf Abs der nach ng erru die Ford bühren ulge rsch Meister-, Fach-, und Technike rteitag espa Land en letzt beschlossen. Auf dem hlaugleic n eine r übe de wur SPD der Bayern Rezum s tenden Änderungsantrag der Juso trokon SPD rn Baye gierungsprogramm der nten wir die vers abgestimmt. Auch hier kon n. inne gew ung Abstimm


Literatur

Mythos Überfremdung Eine Abrechnung von Doug Saunders von Anno Dietz

In ganz Europa gedeihen sie wieder: die neuen Rechten. Thesen über die angebliche Überfremdung und Islamisierung Europas sind wieder hoffähig und manches vorgebrachte „Argument“ längst zum Bestandteil der öffentlichen Meinung geworden. In seinem neuen Buch setzte sich der kanadisch-britische Journalist und Autor Doug Saunders mit dem von Rechtspopulisten weltweit geschürten Antiislamismus und der Angst vor der behaupteten „Überfremdung“ auseinander. Saunders war vor einigen Jahren mit seinem Buch „Arrival City“ einem größeren Publikum bekannt geworden, in dem er die „Ankunftsstätte“, die Slums der Zuwanderer in den Urbanisierungsgebieten in aller Welt beleuchtet und sie als Motor der Urbanisierung und oft auch Ort der sozialer und kultureller Innovation erlebte. Im Zuge seiner Recherchen in den Einwandererstädten kam er auch in Kontakt mit dem Hass, der insbesondere muslimischen Zuwanderern vielerorts entgegenschlägt. In ganz Europa sprießen auch die sogenannten rechtspopulistischen Parteien wieder, die vor einer muslimischen Bedrohung, vor einer muslimischen Überfremdung Europas und der behaupteten Schreckensvision eines Eurabiens warnen. Auch in München treten sie einem beispielsweise in Gestalt der Partei „Die Freiheit“ eines Michael Stürzenbergers (ehemaliger Pressesprecher von Monika Holmeier) entgegen, die ihre Hasstiraden auf unseren Plätzen verbreiten darf. Vor allem sind es aber Lügen, die hier verbreitet werden um MünchnerInnen gegen die „Islamische Bedrohung“ aufzuhetzen. Saunders setzte sich in seinem Buch auf sachlicher und faktischer Ebene mit den Behauptungen der neuen Rechten auseinander, kann sie als Lügen entlarven und wiederlegen. „Die radikalen Verfechter der Theorie von der muslimischen Flut verlegen sich mangels belastbarer Fakten zu einem überwältigenden muslimischen Babyboom auf die reine Erfindung. Mehr als 13 Millionen Menschen ha-

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ben sich inzwischen das YouTube-Video Muslim Demographics angesehen, in dem – neben anderen Dingen – behauptet wird, Deutschland werde im Jahr 2050 ein ‚muslimischer Staat‘ sein. Alle in diesem Video erhobenen Behauptungen sind ohne Ausnahme falsch. Unter anderem heißt es dort, französische Muslime hätten 8,1 Kinder, ethnisch-französiche Familien dagegen nur 1,8 (die korrekten Zahlen lauten 2,8 beziehungsweise 1,9). Es wird behauptet, ein Viertel der belgischen Bevölkerung sei muslimisch (es sind nur 6 Prozent), und die Niederlande würden in 15 Jahren zur Hälfte muslimisch sein (in 18 Jahren wird der Anteil der Muslime nach seriösen Prognosen bei 7,8 Prozent liegen) – und so weiter.“ Einer, den Saunders in seinem Buch auch explizit nennt, ist unser „Genosse“ Thilo Sarrazin. Der als „ […] ein Vertreter des angesehenen Teils der Linken eine Denkweise über religiöse Minderheiten effektiv wiederbelebt [hat], die sechs Jahrzehnte aus dem politischen Gedankengut der Deutschen verbannt gewesen war.“ Interessant ist, dass selbst aus der internationalen Perspektive die Bedeutung Sarrazins in der Diskussion so hervorgehoben erscheint. Insbesondere auch die Tatsache, dass die SPD seine Äußerungen nicht für schwerwiegend genug hielt ihn aus der Partei auszuschließen. „[...] Sarrazin wirkte auch – aufgrund der Popularität des Buches und wegen seines Ansehens in breiten Bevölkerungskreisen – daran mit, eine Reihe von falschen Vorstellungen im öffentlichen Bewusstsein zu verankern.


Literatur

Das Buch „Deutschland schafft sich ab“ stieß zwar wegen seines Tons auf massive Kritik, aber die Medien geben sich nur wenig Mühe, seine falschen Behauptungen über muslimische Einwanderer, ihre Geburtenrate und den Grad ihrer Integration zu korrigieren.“ Entgegen der These, die auch durch Sarrazin zumindest implizit Unterstützung findet, die muslimischen Einwanderer seinen dabei Deutschland zu unterwandern, ja regelrecht zu erobern, zeichnet Saunders ein ganz anderes Bild: „Die in Deutschland lebenden Türken kamen selbstverständlich nicht als Eroberer, sondern wurden – seit Ende der 1950er-Jahre – dazu eingeladen, dem erheblichen Mangel an un- und angelernten Arbeitskräften abzuhelfen. Und dann, nachdem man die Zuwanderer gebeten hatte, zu bleiben und sich niederzulassen, verweigerte man ihnen fast 40 Jahre lang die Einbürgerung, bis das Staatsbürgerschaftsrecht im Jahre 1999 reformiert wurde. Die Türken, die sich in anderen Ländern gut in die Wirtschaft und das Bildungssystem integriert und mühelos die Staatsbürgerschaft erworben haben, hatten aus diesem Grund in Deutschland Schwierigkeiten.“ Sie konnten niemals wirklich ankommen und wurden bestenfalls geduldet, doch selten wirklich aufgenommen. „Eine große Zahl von Forschungsarbeiten zeigt – neben der Tatsache, dass die Probleme der Isolation und wirtschaftlichen Exklusion nicht nur Muslime betreffen - , dass muslimische Auswanderer aus ein- und demselben Herkunftsland [die auch von ihrem sozialen und kulturellen Hintergrund ganz ähnlichen Gruppen angehören] ganz unterschiedliche Schicksale haben, je nachdem, für welches Herkunftsland sie sich entschieden haben. An manchen Orten werden sie innerhalb einer Generation vollständig integriert, an anderen wiederum scheinen sie selbst und ihre Kinder in den Randbereichen hängenzubleiben.“ „Das ist sehr wichtig, denn es bedeutet letztendlich, dass sich die Einwanderer nicht bewusst oder aus religiösen oder ideologischen Gründen“, wie oft behauptet, „von der Einheimischen Gesellschaft isolieren, sondern eher deshalb, weil einige Aufnahmeländer es versäumen, die notwendigen Mittel [und Voraussetzungen] für den kulturellen Anpassungsprozess und die Einbindung bereitzustellen.“

Deutschland hat die Einwanderer, die wir selbst gerufen hatten, nie wirklich willkommen geheißen und auch wenig Anstrengungen dahingehend unternommen, sondern ihnen immer zu verstehen gegeben, ihr seid hier nur auf Zeit, das ist nicht eure Heimat. Saunders untersucht in seinem Buch weiter wie schnell und reibungsarm Integration in anderen Ländern ablaufen kann. Er schaut zurück auf andere Einwanderungsbewegungen in der Vergangenheit und zieht eine Linie von Ressentiments und Fremdenfeindlichkeit gegenüber neu eingewanderten Mitbürgern durch die Geschichte. Ganz ähnlich wie heute teilweise Muslimen gegenüber wurde auch den katholischen Einwanderen aus Europa in Amerika argumentiert. Sie hingen einer „mittelalterlichen“ Religion an, die ihr ganzes Leben dominiere, seien rückständig und mit ihrer enorm hohen Geburtenrate dabei die Gesellschaft zu übernehmen. Die behauptete „Catholik Tide“ des 19. Jahrhunderts überrannte jedoch nicht die amerikanische Gesellschaft, sondern wurde schnell zu ihrem fest integrierten und akzeptierten Bestandteil. Fazit Saunders bleibt in seinem Buch derart sachlich, dass es manchmal fast wehtut, dass man rufen möchte: „Bitte, reg dich auf! Empöre dich! Aber das ist nicht sein Ansatz. Er liefert vielmehr, auch wenn man vielleicht nicht jeder Argumentation bis ins Detail folgen möchte, eine fundierte und sachliche Auseinandersetzung mit den Argumenten der neuen Rechten, mit dem „Mythos Überfremdung“ die in ihrer Klarheit und Sachlichkeit besticht und der geneigten LeserIn wertvolle Argumentationen und Fakten an die Hand gibt um in der öffentlichen Auseinandersetzung für eine offene und tolerante Gesellschaft zu bestehen. Allen, die sich dafür interessieren, was dran ist an den Argumenten der neuen Rechten und alten Rassisten und wie wir sie widerlegen können, dem sei dieses Buch wärmstens zur Lektüre empfohlen.

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Freie Arbeiter von Timothy Hall

Freie Arbeiter sind wir. Freie Arbeiter, die sich für einen gütigen Herren schinden. Wir schinden uns für den gütigen Herrn, obwohl wir nicht festgebunden sind, obwohl wir jederzeit gehen könnten. Wir bleiben hier und arbeiten freiwillig. Wir arbeiten freiwillig wenn gesät wird und wenn geerntet wird, und wenn die Ernte eingebracht ist, auch dann arbeiten wir auf der langen Straße unseres gütigen Herrn. Wir arbeiten auf den Feldern, die unserem Herrn gehören. Wir arbeiten, weil dem Herrn auch das Brot gehört. Wenn wir nicht bleiben, wenn wir nicht arbeiten, dann verhungern wir, als freie Arbeiter. Deswegen arbeiten wir wenn gesät wird und wenn geerntet wird. Und wenn die Ernte eingebracht ist, auch dann arbeiten wir auf der endlosen Straße, unseres gütigen Herrn. Wir schleifen Felsblöcke, für den Herrn, nach Norden, zu einer Baustelle die wir nie gesehen haben, für ein Grabmal, das wir nie sehen werden, in einer Stadt, die wir nie betreten werden. Dorthin schleifen wir die Felsblöcke für den gütigen Herrn. Wir schleifen die Felsblöcke mit einfachen Seilen, über einfache Rollen, jeden Tag, zu einer Baustelle die wir nie gesehen haben. Zwei Dutzend Arbeiter an jedem Felsen, wir schleifen die Felsen, für einen gütigen Herrn und sein mageres Brot. Über viele tausend Schritte schleifen wir die Felsen, bis uns die Arbeiter aus dem nächsten Dorf ablösen. Die Straße ist eine endlose Kette aus Felsen und Arbeitern, sie reißt nie ab, sie zieht immer nach Norden, zu einer Baustelle die keiner je gesehen hat. Wir schleifen die Felsen bis ins nächste Dorf, wo wir abgelöst werden, dann laufen wir zurück, vorbei an hunderten Felsen und schleifen den nächsten Block über viele tausend Schritte nach Norden, bis uns die Arbeiter aus dem nächsten Dorf ablösen, dann laufen wir zurück und schleifen den nächsten Felsblock. Das Rauschen der Felsen dröhnt über das ganze Tal und die Straße reißt nicht ab.

Sollte die Straße abreißen, dauert es Tage sie wieder in Bewegung zu bringen. Es staut sich zurück, bis zu den Steinbrüchen im Süden, weit weg im Süden, irgendwo wo keiner je war. Ein rollender Block kann von zwei Dutzend Arbeitern gezogen werden, aber es braucht hunderte um einen stehenden Block ins Rollen zu bringen. Wenn die Straße abreißt dauert es Tage sie wieder in Bewegung zu bringen. Deswegen darf die Straße nicht abreißen. Die Straße muss immer in Bewegung sein, sie muss ständig rollen. Für die Güte unseres Herrn schleifen wir Felsblöcke, ohne Unterbrechung bei Mittagshitze und bei Nacht, ohne Sklaventreiber, ohne Peitschen und ohne Ketten. Wir sind die Sklaven eines gütigen Herrn, wir sind die Sklaven seiner Freiheit. Wir beaufsichtigen uns selbst. Wir beaufsichtigen Felsblöcke. Die endlose Straße ist nicht gepflastert mit Steinen. Wir legen sie aus mit Lehmziegeln, die im Wind getrocknet wurden. Wir machen sie flach, flach genug um darauf Baumstämme zu rollen. Auf den Baumstämmen schleifen wir dann die Felsblöcke. Jeder Felsblock ist größer als ein dutzend Menschen und kann nur von zwei Dutzend Arbeitern gezogen werden und auch nur dann, wenn die Straße flach ist. Wenn die Straße nicht flach ist, muss sie wieder mit Lehm ausgelegt werden, so schnell es geht, schnell genug bevor der nächste Fels darüber rollt. Damit die Straße nicht abreißt müssen auch die Rollen gerade liegen. Sie verkeilen sich, wenn sie schief liegen. Dann müssen sie schnell gerichtet werden, bevor der nächste Block darüber rollt. Wenn die Rollen sich verkeilen, halten die Blöcke an, dann reißt die Straße ab, und es dauert hunderte Stunden sie wieder in Bewegung zu bringen. Dann gibt uns der Herr kein Wasser und kein Brot. Die Rollen müssen gerade liegen. Damit sie sich nicht verkeilen, müssen sie gerichtet werden. Wenn eine Rolle schiefliegt, kommen Arbeiter und richten sie, schnell genug, bevor der nächste Block darüber rollt.

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Sechs Arbeiter ziehen an jedem Seil und vier Seile ziehen an jedem Felsen. Wir kontrollieren die Geschwindigkeit, nicht zu schnell, nicht zu langsam, alles muss geordnet sein. Wenn zwei Felsen aneinander rauschen, können die Kanten splittern, der Zug am Seil kann Finger brechen und Arme abreißen. Wenn zwei Blöcke aneinander rauschen, könnten ihre Kanten splittert. Die Geschwindigkeit muss immer gleich sein. Alles muss geordnet sein. Die Rollen müssen gerade liegen, und der Boden muss mit Lehmziegeln ausgelegt werden. Alles muss geordnet sein, die Straße darf nicht abreißen, auch mittags, wenn es heiß wird. Wenn es heiß wird, wird das Wasser knapp. Dann können auch die Stärksten stürzen und ihr wertvolles Brot erbrechen. Wir legen die Gestürzten in den Schatten eines Ziegenfells. Sollten sie nicht erwachen verscharren wir sie auf dem Gräberfeld. Sollten sie doch wieder erwachen haben sie keine Zeit sich zu erholen. Wir bringen sie zurück an die Straße. Alle müssen arbeiten, sonst bekommen wir kein Brot. Auch die Stärksten können stürzen, auch während sie die Rollen richten oder Lehm auslegen. Dann liegen auch die Stärksten hilflos mitten auf der Straße und wir tun das Einzige, was die Freiheit uns gebietet. Wir retten den Gestürzten nicht, wir halten die Felsen nicht an, alles passiert zu schnell, die Straße darf nicht abreißen. Wir überrollen den Arbeiter, mit Kraft und Schwung. Der Fels darf nicht zu langsam werden. Wenn die Blöcke anhalten, gibt uns der gütige Herr kein Brot mehr. Der Gestürzte ruft um Hilfe, er ruft immer um Hilfe, er fleht, während sein erstes Bein unter die Rollen gerät, es knirscht. Wir überrollen ihn, mit Kraft und Schwung und fester Entschlossenheit. Für die Freiheit, für das Brot. Wir hören das Fleisch bersten und die Knochen platzen. Der Gestürzte wird zermalen. Seine Gedärme reißen auf, Kot und Dung brechen hervor. Ein Geruch, schlimmer als jede Jauche verbreitet sich. Es ist der Geruch der über der ganzen Straße hängt. Es ist der Geruch der befreiten Arbeiter. Wir haben ein Werkzeug für diesen Fall. Ein langer Stock mit Haken und Spitze. Das Fleisch und der Dung werden hervorgezogen zwischen den Rollen, damit sie sich nicht verkeilen. Der Weg muss frei sein für den nächsten Block. Die Felsen dürfen nicht anhalten, die Straße darf nicht abreißen. Wir legen das Fleisch und den Dung auf ein Leinentuch und gehen zurück an die Arbeit.

Nur ein Wasserträger läuft ins Dorf. Er läuft ins Dorf und erzählt der Familie des Arbeiters was passiert ist. Er erzählt ihnen, dass die Straße nicht abreißen darf und dass die Blöcke nicht anhalten dürfen. Er erzählt ihnen, dass die Rollen sich nicht verkeilen dürfen und dass sie gerichtet werden müssen, dass es zur Mittagszeit heiß wird und dass dann selbst die Stärksten stürzen können. Er erzählt ihnen, dass das Blut eines befreiten Arbeiters bald das Grabmal eines gütigen Herrn zieren wird, dann, wenn es auf dem Felsen, vertrocknet und verdorrt. Es wird ein Grabmal für den Herren sein, im Norden, in einer Stadt, die wir im Leben nie betreten werden. Ein Grabmal für einen Herrn, der es nicht mag, wenn wir zu lange um die unseren trauern. Sobald der Wasserträger seine Geschichte beendet hat, läuft die Frau des Befreiten zur Straße, manchmal auch ein Kind, manchmal auch die ganze Familie. Sie fallen auf die Knie neben dem Kot und dem Dung und dem Fleisch. Sie weinen. Sie kämpfen gegen Geier, versuchen das Gesicht des Gestürzten wieder zusammen zu setzen. Es gelingt nicht. Sie weinen so laut sie können. Doch ihre Stimmen werden verschluckt, vom gnadenlosen Rauschen der endlosen Straße. Sie weinen bis die Nacht hereinbricht. Der Wasserträger bringt sie zurück ins Dorf. Das Fleisch und der Dung und die Knochen werden verscharrt. Morgen wird die Familie wieder arbeiten müssen. Weben und backen für den gütigen Herren. Für den gütigen Herrn, der es nicht mag, wenn wir zu lange um die unseren trauern. Während sie schlafen, tief in der Nacht und bis zum nächsten Morgen, bis zur nächsten Nacht und bis zur Aussaat, wird die Straße weiterziehen. Sie wird nicht abreißen, weil wir sonst kein Brot bekommen. Sie wird nicht abreißen, weil wir sie beaufsichtigen, weil wir sie betreiben und weil wir sie beschützen. Sie wird weiterziehen, bis nach Norden, bis zu der Baustelle, die wir nie gesehen haben. Dort, im Norden soll das Blut befreiter Arbeiter das Grabmal unseres Herren zieren, jenes gütigen Herrn, von dem man behauptet er hätte dem Land Frieden und Wohlstand gebracht. Jener Herr, den wir nie gesehen haben, dessen Güte wir nie erfahren haben, für den wir uns hoffnungslos schinden, in einem Dorf von dem der Herr nie gehört hat.

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150 Jahre SPD Gedanken zum Geburtstag der deutschen Sozialdemokratie

Kommentar von Miloš Vujović

Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) ist eine Partei der linken Mitte. Sie blickt auf eine lange und ereignisreiche Geschichte zurück: Sie wurde 1875 als Sozialistische Arbeiterpartei gegründet, von den Nationalsozialisten 1933 verboten und 1945 neu gegründet. Basis der SPD-Politik sind die Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität.

Weiter werden sich ebenfalls Informationen darüber finden, wie die Partei programmatisch und organisatorisch aufgestellt ist, auch welche Wählerschichten noch am ehesten angesprochen werden sollen. Ebenfalls erfreulich, zumindest für mich: einen Abschnitt zur Geschichte der Partei existiert ebenso. So manche Fragen scheinen durchaus beantwortet und dennoch bleibt, wie bei so vielen anderen Quellen auch, noch immer das wichtigste unbeantwortet. Aus ihrer Tradition und ihren Erfolgen heraus gesehen, wofür steht die Sozialdemokratie heute noch? Wohin soll es gehen? Worin besteht ihre Existenzberechtigung denn heute noch? Schnell finden sich gerade zum 150. Geburtstag der SPD Stimmen, die meinen, dass sich die Partei „zu Tode gesiegt“ habe. Alles, was gefordert worden sei, haben Genossinnen und Genossen erkämpft. Ist also die Zeit der Sozialdemokratie vorbei? Hat die SPD ihre Mission erfüllt?

Von ihren früheren marxistischen Wurzeln verabschiedete sich die Partei auf dem Godesberger Parteitag 1959. Seitdem gilt die SPD auch programmatisch als breite Volkspartei, die in den folgenden Jahrzehnten mehrere Bundesregierungen anführte. - Diese kurze Beschreibung findet sich als erste Information für Interessierte auf der Internetpräsenz der Bundeszentrale für politische Bildung, so Mensch sich über die deutsche Sozialdemokratie informieren möchte.

Immerhin, die 60er und 70er Jahre des letzten Jahrhunderts gelten als die goldene Ära, die sich in Mitgliederzahlen von etwa 1 Million Menschen, Wahlergebnissen deutlich oberhalb der 40%-Marke und einem Zeitgeist des gesellschaftlichen Fortschritts und sozialen Ausgleichs widerspiegelt. Wo steht die Partei aber heute? Dabei sei nicht die Frage nach den deutlich weniger als 500.000 Mitgliedern und dem schlechtesten Wahlergebnis seit den 1930er Jahren (23,0% im Jahre 2009) gestellt. Sicher, nach gut einem Jahrzehnt der Agenda 2010 und des Schröder-Blair-Papiers steht die SPD heute für den Mindestlohn ein, plädiert für mehr statt weniger Europa und eine offene und solidarische Gesellschaft, aber welche Vision einer Gesellschaft existiert, die die Menschen auf der Straße und in ihren Heimen mobilisiert, für diese mit demokratischen Mitteln zu kämpfen?

Zum Geburtst


Letztes Wort

Eduard Bernstein sagte einmal [d]ie Demokratie ist Mittel und Zweck zugleich. Sie ist das Mittel der Erkämpfung des Sozialismus und sie ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus und Jahrzehnte später erklärte Herbert Wehner [f]ür uns Sozialdemokraten ist nach allen Erfahrungen der demokratische Staat nicht nur eine Voraussetzung für den Sozialismus, sondern die staatliche Form des Gemeinwesens, in der wir den Sozialismus zu verwirklichen suchen müssen. Die SPD bekennt sich bis zum heutigen Tage zum Demokratischen Sozialismus. Im Sprachgebrauch hat sich gerade in der Zeit einer tiefgreifenden Krise des globalen wirtschaftlichen Systems in der Partei aber der Terminus von den Leitplanken für den Kapitalismus eingebürgert. Ist also der Weg in einem reformatorischen demokratischen Prozess den Kapitalismus und die mit ihm einhergehende Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu überwinden nicht mehr der Weg der SPD? Festzustellen bleibt, dass sich die Partei seit ihrer Gründungszeit bis zum heutigen Tage sukzessive von einer linken marxistischen ArbeiterInnenpartei hin zu einer Volkspartei der sozialen Mitte hin entwickelt hat. Dies mögen so einige als negativ werten, aber es ist ebenso richtig, dass sich nicht nur die Partei zur Mitte der Gesellschaft hinbewegt hat, sondern auch die Gesellschaft hin zu den geistigen Grundfesten der Partei. Menschen, welche die allgemeinen Grund- und Menschenrechte nicht achten und einen solidarischen Zusammenhalt eines Gemeinwesens als fast schon teuflisch erachten, werden von weiten Teilen der Gesellschaft heute eher skeptisch beäugt, als das sie breite Zustimmung fänden. Auch wenn die Jahrzehnte neoliberaler Wirtschafts- und Gesellschaftsdoktrin ihre Narben sowohl auf die Menschen der Welt, als auch auf der Sozialdemokratie selbst hinterlassen haben, ist dieser solidarische Grundkonsens (noch) vorhanden.

Die SPD ist nach wie vor die Partei des sozialen Ausgleichs und viele Menschen erkennen dies auch. Sie gehen noch immer zur Wahl und bringen oder halten die Partei in Regierungsverantwortung, weil noch immer genügend daran glauben, was die Partei einst versprach, eine bessere und gerechtere Welt. Die Frage der Existenz der SPD stellt sich nicht, solange sie die Menschen davon noch überzeugen kann. Die eigentliche Frage ist jedoch welche Existenz der Partei selbst vorschwebt. Sie kann sich, wie in den letzten Jahren so oft schon, in ihrem augenblicklichen Gewand präsentieren, was einige pragmatisch nennen möchten, und was die schlimmsten Auswüchse an kapitalistischer Ungerechtigkeit abmildern soll – und somit eine gewisse Bedeutung in einem die Politik(erInnen)verdrossenheit erzeugenden, konzeptlosen Einheitsbrei von Parteienlandschaft findet – oder die Sozialdemokratie besinnt sich auf ihre Wurzeln und tut das, was sie seit eineinhalb Jahrhunderten besonders macht. Die SPD war immer dann eine Großmacht im politischen Leben nicht nur Deutschlands, wenn sie eine Vision mit universalem Anspruch verkörperte, hinter der sich Menschen sammeln konnten, sei es die Einführung der Demokratie, sei es der Aufbau einer solidarischen Gesellschaft, die niemanden zurücklassen möchte, auch wenn, oder gerade weil sie ihre Inhalte (immer) gerne auch kontrovers und lebhaft diskutierte. Die bloße Verteidigung des Erreichten aber wird nicht genügen, um sich wieder zum Vorreiter von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität zu erheben.

tag wünschen wir uns...


Letztes Wort

Eine Antwort für die Existenzfrage der Sozialdemokratie kann Europa sein. Sicherlich nicht mit der etwas flapsig daherkommenden Antwort mehr Europa, nicht weniger. Freilich wird hier mehr erwartet als eine bloße Feststellung dessen, was auch jede beliebige andere Partei mit ein wenig Sachverstand äußern könnte. Als Partei mit einer August Bebel solchen internationalistischen Tradition und ideologischem Handwerkszeug kann die Eine Vision einer besseren Welt also, die sich von Antwort einer selbstbewussten SPD eigentlich nur das der Sozialdemokratie aus über den Kontinent als erEinstehen für ein vereinigtes Europa sein, dass jedem strebenswertes Ziel ausweitet. Zum 150. Geburtstag Menschen in Not Obdach gewährt, jeder Person den des SPD ist es nun an der Zeit, sich des eigenen ProZugang zu Wasser gewährleistet, die Durst verspürt, gramms, viel mehr noch, des eigenen Mutes und der das Gefälle zwischen Stadt und Land beseitigt, eine eigenen Kraft gewahr zu werden und den Pfad zum DeBildungs-, Sozial-, Gesundheits- und Altersversorgung mokratischen Sozialismus zu beschreiten, zu dem sich für ein würdiges Leben bereitstellt, die Mauern des Generationen von Genossinnen und Genossen bekannt Fremdenhasses, der Homophobie, des Rassismus und haben. Der Sozialdemokratie in diesem Sinne zum 150. des Nationalismus zum bersten bringt und den MenGeburtstag alles Gute und auf noch (hoffentlich) erschen von den Fesseln eines Wirtschaftssystems befolgreiche kommende 150 Jahre. freit, dass vorsätzlich Ungleichheit generiert, um sich selbst zu erhalten.

! g n u n i e M e n i Sag uns de die du gerne Es gibt eine Veranstaltung, über berichten würdest? sonders gut Ein Thema, mit dem du dich be angeht? auskennst, und das alle Jusos

rschlag oder Dann schick deinen Themenvo @jusos-m.de! deinen Artikel für den LID an lid 34


Kontakt

Deine AnprechpartnerInnen bei den Jusos München:

Cornelius Müller Vorsitzender der Jusos München mueller@jusos-m.de

Louisa Pehle

stellv. Vorsitzende Frauenbeauftragte pehle@jusos-m.de

Marcel Reymus stellv. Vorsitzender Beisitzer für Mitgliederbetreuung reymus@jusos-m.de

Tim Hall Beisitzer für Öffentlichkeitsarbeit hall@jusos-m.de

Lena Sterzer Beisitzerin für politische Bildung sterzer@jusos-m.de

Philip Fickel Geschäftsführer fickel@jusos-m.de

Daniela Beck Beisitzerin für Publikationen beck@jusos-m.de

Das Münchner Stadtgebiet ist in vier Regionalverbände (RV), entsprechend den Bundestagswahlkreisen unterteilt. Für jeden RV gibt es eine/n AnsprechpartnerIn für dich im Vorstand:

N

S

Nadine Ponsel Beisitzerin Regionalverband Nord ponsel@jusos-m.de

Stefanie Krammer Beisitzerin Regionalverband Süd krammer@jusos-m.de

O

Valerie Phi Van Beisitzerin Regionalverband Ost phivan@jusos-m.de

W

Eva Stich Beisitzerin Regionalverband West stich@jusos-m.de

Kooptiert zur Unterstützung im Vorstand:

Svenja Kipshagen (Vertreterin der Juso Hochschulgruppen München), Miloš Vujović (Vertreter im Gesamtvorstand der Jusos Oberbayern), Isa Fiorentino (stellv. Landesvorsitzende, Tobias Afsali (stellv. Landesvorsitzender), Anno Dietz (stellv. Landesvorsitzender), Daniel Fritsch (stellv. Landesvorsitzender), Anika Lange (stellv. Bezirksvorsitzende), Simon Kahn-Ackermann (stellv. Bezirksvorsitzender), Michael König (stellv. Bezirksvorsitzender)

en / Tel. +49 (0)89 260 230 90 / buero@jusos-m.de

Büro der Jusos München / Oberanger 38 / 4.Stock, 80331 Münch

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