Preview - Quilts verbinden

Page 1

Erzählungen von Krieg, beherzten Frauen und beseelten Decken Zwei Frauen finden einander in den Niederlanden. Sie werden auf unwahr­scheinliche Weise durch eine Sammlung zerschlissener Quilts zusammengebracht. Diese wurden einst von Frauengruppen auf der anderen Seite der Welt genäht, die dafür einfach das Material verwendeten, das sie gerade hatten. ander­en zu helfen. So versteckt sie ein jüdisches Baby in einer Reisetasche, während das Schiff, auf dem sie sich befinden, beschossen wird. Dies ist nur eins ihrer Abenteuer. • Dann ist da Lynn, die fast vierzig Jahre später die Quilts entdeckt und neugierig

auf ihre Besitzerin und die dazugehörigen Geschichten ist. Dieses Buch ist wie ein Quilt, ein Patchwork aus Geschichten, der die verbindende und tröstende Kraft von Frauen zeigt, die anderen helfen. An Keuning-Tichelaar wurde 1922 in Makkum geboren, einem kleinen Hafen­ ort in der Nähe von Witmarsum in Friesland. Sie heiratete 1944 und bekam drei Kinder. Ihr Haus, ein Pfarrhaus, war immer ein Zufluchtsort für Kinder, Jugend­ liche und Erwachsene in Not. Lynn Kaplanian-Buller wurde 1949 in Heron Lake, Minnesota, geboren. Sie und ihr Mann erzogen ihre beiden Kinder vor dem Hintergrund dreier Kulturen. Alle vier arbeiten heute im Familienbetrieb, The American Book Center in Amsterdam und Den Haag. Lynn ist in ihrer örtlichen Mennonitengemeinde und in verschiedenen internationalen Gruppen aktiv.

Interviews mit beiden Autorinnen (ndl., engl. UT)

e 19,50 ISBN/EAN 978-94-91030-89-5

www.quiltsverbinden.nl

An Keuning-Tichelaar und Lynn Kaplanian-Buller

• Zunächst ist da An, die in den Kriegsjahren ihr Leben aufs Spiel setzt, um

Quilts verbinden

Quilts verbinden

a

Quilts verbinden Erzählungen von Krieg, beherzten Frauen und beseelten Decken

An Keuning-Tichelaar und Lynn Kaplanian-Buller



Quilts verbinden Erz채hlungen von Krieg, beherzten Frauen und beseelten Decken


Bars and Tumblers Nr. 1


Quilts verbinden Erzählungen von Krieg, beherzten Frauen und beseelten Decken An Keuning-Tichelaar und Lynn Kaplanian-Buller Ăœbersetzung Martje Postma und Juliane Cromme


Quilts verbinden Erzählungen von Krieg, beherzten Frauen und beseelten Decken von An Keuning-Tichelaar und Lynn Kaplanian-Buller Deutsche Übersetzung der niederländischen Fassung: Martje Postma und Juliane Cromme Redaktionelle Mitarbeit: Sija Pastoor Koordination und Layout der deutschen Fassung: Ton Keuning, Appingedam Copyright © 2016 Internationaal Menno Simons Centrum, Witmarsum, Niederlande ISBN/EAN 978-94-91030-89-5 Die deutsche Fassung wurde mit Unterstützung des Welcker Fonds, des Doopsgezinde Historische Kring sowie des Fonds Oosterbaan ermöglicht. First edition published in English in the United States of America by Good Books, an imprint of Skyhorse Publishing, Inc., New York, NY. Layout: Dawn J. Ranck Original title: Passing on the Comfort: the war, the quilts, and the women who made a difference © Good Books, 2005 ISBN 1-56148-482-2 Zweite, niederländische Ausgabe durch das Internationaal Menno Simons Centrum Übersetzung und Bearbeitung: Mariamartha Wijnkoop Koordination und Layout der niederländischen Fassung: Kees Knijnenberg Titel: De verbindende kracht van Quilts; lappendeken van verhalen © 2008 Stichting Internationaal Menno Simons Centrum ISBN 978-90-812955-1-2 Alle Rechte vorbehalten. Gedruckt und gebunden in den Niederlanden. Nichts aus dieser Ausgabe darf ohne Zustimmung der Stichting Internationaal Menno Simons Centrum, Witmarsum, Niederlande, vervielfältigt, in automatisierten Dateien gespeichert oder auf irgendeine Weise veröffentlicht werden. Die Herausgeber waren bestrebt, die rechtlichen Eigentümer sämtlicher verwendeten Illustrationen und Texte zu ermitteln. Wer dennoch Ansprüche auf Urheberrechte zu haben meint, möge sich an die Herausgeber wenden.

4

www.quiltsverbinden.nl


Vorwort zur deutschen Fassung 2005 erschien die ursprüngliche, englische Fassung dieses Buches in Nordamerika unter dem Titel Passing on the Comfort: the war, the quilts, and the women who made a difference. Die Buchpräsentation erfolgte damals anlässlich der Eröffnung der gleichnamigen Ausstellung in derselben Gegend Pennsylvanias, aus der auch die Quilts kamen. Diese wurden dadurch sozusagen zu den Frauen zurückgebracht, die sie in den Jahren um den Zweiten Weltkrieg angefertigt hatten, bevor sie dann 1945–46 als Hilfsgüter nach Europa geschickt wurden. Die Wanderausstellung wurde danach in anderthalb Jahren an vielen Orten in Kanada und den Vereinigten Staaten gezeigt. Zwei Jahre später kam von verschiedenen Seiten die Frage nach einer niederländischen Fassung dieses Buches auf. Diese erschien im Jahr 2008 unter dem Titel De verbindende kracht van Quilts; lappendeken van verhalen. Im selben Jahr wurde die Ausstellung an verschiedenen Orten in den Niederlanden gezeigt. 2011 folgte eine Ausstellung in der Ukraine, dem Gebiet, dem die Mennoniten in den Jahren 1944–45 hatten entfliehen müssen – hin zu Orten, wo sie in größerer Sicherheit leben konnten. 2015 erfolgte die Anfrage aus Deutschland, die Ausstellung der Quilts an verschiedenen Orten zu organisieren. Mit dieser Übersetzung ins Deutsche aus der unveränderten Fassung des niederländischen Buchs hoffen wir, die Geschichte der Quilts, der Flüchtlinge und der Helfer weiter bekannt zu machen. Gerade jetzt, im Jahr 2016, hat die Geschichte noch mehr an Wert gewonnen, im Angesicht der noch immer aktuellen Flüchtlingsproblematik. Das Buch wurde in denselben Wochen übersetzt und layoutet, in denen An Keuning-Tichelaar starb († 5. April 2016). Wir alle sind dankbar, dass ihre Lebensgeschichte weitergegeben wird und vielen Menschen als Inspiration dienen kann. Anke Keuning

5


Inhalt Zu unseren Geschichten... 8 An, 1943, Amsterdam 10 Beginn meiner Arbeit im Widerstand Lynn, Januar 1980 12 Die Entdeckung der Quilts An, April 1922 – 1937 20 Eine kurze Biografie An, April 1938 – 1940 26 Die deutsche Besatzung beginnt An, 1940 32 Die Besatzung Lynn, 1949 – 1972 35 Von Heron Lake nach Amsterdam An, 1940 – 1943 45 Ich komme in die Stadt An, 1943 – April 1944 52 Ich entdecke den Widerstand in Amsterdam Lynn, 1972 – 1974 64 Ein Haus in Amsterdam finden An, Frühling und Sommer 1944 70 Hochzeit in Makkum An, Sommer und Winter 1944 79 Der Alltag in Irnsum An, Winter 1944 – Frühjahr 1945 89 Kreative Lösungen und die Großzügig­keit unserer Mitbürger An, Juli 1944 – Mai 1945 95 Arbeit im Widerstand in Friesland An, Frühjahr 1945 98 Der Alptraum einer Pazifistin An, Frühjahr 1945 101 Durch die Sprache verraten Lynn und An, 1990 104 Unsere Begegnung An, 1945 108 Von einer Verstorbenen gerettet An, 1945 113 Ein klassisches Ablenkungsmanöver

An, 1945 Zufall? An, März 1945 Kollaborateure auf der Flucht An, Mai–September 1945 Zu Besuch in Makkum An, Mai 1945 Nach der Befreiung An, Ende 1945 – September 1946 Noch mehr Flüchtlinge? Lynn Die Reise der Quilts Lynn Über­raschung an der Grenze An, 1947 Die Mennoniten aus der Ukraine verlassen Irnsum An, 1980 Lynn begegnet den Quilts – An begegnet Lynn Lynn, Juni 1980 Die Entdeckung der Mennoniten in den Niederlanden An, 1992 Was soll mit den Quilts geschehen? Lynn, September 1994 Die Verwaltung der Quilts An, Juli 1991 Die Erinnerungen kommen wieder hoch Lynn Ein Schlusswort Zu den Quilts Koninklijke Tichelaar Makkum Zeitleiste Mennonitische Nothilfe heute Das IMSC Bibliografie Quellennachweis

117 119 125 129 134 148 162 169

172

176

182 188 192

195 199 203 204 206 206 207 208


Von An Für meine Kinder und Enkelkinder. In den achtziger Jahren erschien im NRC Handelsblad ein Artikel, in dem stand, dass die niederländischen Mennoniten deutschen Nazigrößen dabei geholfen hätten, nach Südamerika (Paraguay) zu entkommen. Nichts war weniger wahr. In vielen Pfarrhäusern wurde eine Menge Hilfe geleistet und versteckte man Menschen in Gefahr. Da ich wusste, wie viel Hilfsarbeit es gegeben hat, entschloss ich mich in meiner Entrüstung, meine Geschichte nach langem Zögern doch noch zu erzählen. Der Gedanke daran, dass ich in meinem Buch Menschen für meine Zwecke missbrauchen könnte, hatte mich bisher davon abgehalten. Andere haben mich schließlich von dieser Sorge befreit. Ich danke Lynn, die die Initiative für dieses Buch ergriffen hat. Ebenfalls dankbar bin ich Inge, die den ersten Impuls für meine Textbeiträge für dieses Buch gesetzt hat, Mariamartha für die Übersetzung und Bearbeitung der englischsprachigen Fassung, Phyllis und Merle Good für das Herausgeben und ihre selbstlose Mitarbeit, um die niederländische Ausgabe zu ermöglichen, Kees Knijnenberg, der das Ganze fertiggestellt hat, und Herman als geduldigem Zuhörer. Und schließlich Tochter Anke, die viel kostbare Zeit und Energie in ihre kommunikative Rolle gesteckt hat, um das Projekt gut zu vollenden.

Von Lynn Für An und für meine Mutter, die Geschichten so liebte – danke. Die deutsche Fassung wurde mit dem Herzen übersetzt, und Ton Keuning hat sie layoutet, während gerade seine Mutter starb. Hierhin passt ein Dankwort an alle, die tun, was sie können, um zu helfen und zu trösten. Avo, Du bist mein Fels, mein Spiegel, meine Liebe. 7


Zu unseren Geschichten...

D

ies ist eine Geschichte in Teilen und Abschnitten, die zu Beginn noch ziemlich verworren und unzusammenhängend scheinen. Es ist überraschend zu sehen, wie die einzelnen Teile sich allmählich zu einem Muster zusammenfügen, das wir anfangs nicht erahnen können. Da ist zunächst in den Niederlanden der frühen vierziger Jahre An, die sich müht, den Krieg nicht ihr ganzes noch junges, viel versprechendes Leben beherrschen zu lassen. Vor schwere Lebensaufgaben gestellt, geht sie Risiken ein, die selbst die Unerschrockensten zu Fall bringen könnten. Zur gleichen Zeit treffen sich in ganz Nordamerika Frauen in Nähkreisen, um Quilts zu nähen. Diese werden dann bündelweise nach Übersee verschickt und bringen so Trost und Ermutigung in Kriegszeiten. Ich betrete die Bühne erst etwa zwanzig Jahre später und finde mich selber zu Beginn der siebziger Jahre in Amsterdam wieder, ein wenig rebellisch und müde von einem weiteren Krieg, diesmal in Vietnam. An kannte ich nicht, und ich hatte nie selbst Quilts gemacht, aber ich kannte die Sehnsucht einer Migrantin nach den Stoffen von zu Hause. Über das ganze Buch sind Fotos der zwanzig Quilts verteilt, die An und mich zusammengebracht haben.

Zu unseren Geschich­ten... 8

Wir werden diese Geschichte zusammensetzen wie die Oberseite eines Quilts, hier ein Stück, dort ein Flicken, bis schließlich das Muster erstaunlich zusammenhängend zum Vorschein kommt.


Lynn und An

Eine Geschichte über schreckliche Umstände, entschlossene Frauen und über Quilts, die manchmal bis zum letzten Faden zerschlissen sind, weil sie so lange ihren Dienst getan haben. Mögen sie ein weiteres Mal unserer Inspiration dienen. Obwohl sich seit der ersten Fassung von 2004 einiges geändert hat, ist das Wichtigste, dass diese Geschichte weiterlebt und Menschen miteinander verbindet… inzwischen in drei Sprachen. Lynn Kaplanian-Buller Amsterdam 2016 Eine Zeitleiste mit wichtigen Ereignissen aus Ans und meinem Leben befindet sich am Ende des Buchs (S. 204/5).

9


Beginn meiner Arbeit im Widerstand 10

An


An, 1943, Amsterdam

Beginn meiner Arbeit im Widerstand

A

m 10. Mai 1940 fiel die deutsche Armee in die Niederlande ein. Nach fünf Tagen war das ganze Land besetzt, und die Besatzung hielt fünf Jahre an. Dieses kleine, dichtbevölkerte Land, mit seiner Tradition der Unabhängigkeit, litt unter Hunger und unvorstellbaren Entbehrungen, und es gab viele Tote. Es bildeten sich Wider­ standsgruppierungen, was für all jene, die daran beteiligt waren, ein großes Risiko bedeutete. 1943, im Alter von 21 Jahren, begann ich, heimlich Botengänge für den Widerstand zu machen. Einmal wurde ich gebeten, ein jüdisches Baby in einer großen Reisetasche von Amsterdam nach Makkum zu bringen, in den äußersten Norden des Landes. Das Baby hatte eine Spritze mit einem Beruhigungsmittel bekommen, aber ich werde noch immer nervös, wenn ich mir ausmale, was hätte geschehen können. Ich fuhr mit dem Schiff übers IJsselmeer, von Enkhuizen nach Stavoren. Die Tasche stellte ich auf den Sitz neben mir, dort saß niemand. Ich schrieb meinem Freund Herman einen Brief: „Ich habe ein solch unsicheres Gefühl”, stand darin. „Es fühlt sich an, als würde etwas Wichtiges geschehen, doch mein Päckchen steht ganz nah bei mir, also kann nichts schiefgehen. Außer....”, und dann fiel eine Bombe ins Wasser. Das Schiff bekam plötzlich Schlagseite, und es fielen Schüsse. Alle legten sich flach auf den Boden. Da erst war mir klar, was geschah. Der Mann, der auf der anderen Seite neben mir saß, sank in sich zusammen, tot, und in meinem Schal war ein Loch! Ich weiß nur, dass ich das Baby sicher bei seinen Pflegeeltern in meinem Geburtsort Makkum ablieferte. Aber was wäre geschehen, wenn ich getroffen worden wäre? Ich betrachtete dies als ein Zeichen, dass mir eine größere Aufgabe auferlegt wurde, und dass mir die Mittel gegeben werden sollten, diese zu erfüllen. 11


Lynn, Januar 1980

Die Entdeckung der Quilts

I

Lynn

ch wusste nicht mehr genau, warum wir hergekommen waren. Als wir über den einzigen Zugangsweg, einen Fahrradweg mit Kopfsteinpflaster, zu diesem idyllischen Bauernhof kamen, fragte ich mich, wie unser Wochen­ ende wohl verlaufen würde, ganz besonders weil wir die Einzigen waren, die ihr Kind mit dabei hatten. Diese Zusammenkünfte von palästinensischen, lauter männlichen und überwiegend christlichen Studenten drehten sich meistens um die Mahlzeiten. Die Jungs hatten sich selber während ihres Studiums das Kochen beigebracht. Sie liebten nichts mehr als stundenlang zu planen, einkaufen zu gehen und dann zusammen in der großen Küche unter dem Austauschen arabischer Witzeleien Gerichte ihrer Heimatländer zuzubereiten, und diese dann im Freundeskreis zu verzehren. Alles machten sie zusammen: abwaschen und Kaffee kochen, ganz und gar im Gegensatz zu dem üblichen Bild eines arabischen Mannes, über das wir Frauen uns immer amüsierten. Sollten diese jungen Männer fest­ genommen und verhört werden, wären sie bestimmt zu keinem einzigen politischen Thema einer Meinung. Stattdessen würde jeder von ihnen sämtliche Menüs der vorangegangenen Woche, bis hin zu den verwendeten Gewürzen, auswendig hersagen können. Sie waren sanftmütige häusliche Typen, die aufblühten,


wenn sie sich miteinander in ihrer Muttersprache unterhalten konnten. Am meisten erfreuten sie sich an den komplizierten Doppeldeutigkeiten, die dem Arabischen eigen sind. Derjenige aus der Gruppe, der am weitesten weg wohnte, hatte sich bei seinen Mitstudenten der Psychologie darüber beklagt, dass ihm seine ‚Brüder’ fehlten. Eine ihrer Freundinnen lud, nachdem sie ihre Eltern gefragt hatte, den Studenten, der Samir hieß, ein, mit all seinen palästinensischen Kumpels und ihrem Anhang das Wochenendhaus ihrer Eltern in Friesland zu besuchen. Da waren wir also. Avo, ich und unsere dreijährige Tochter Nadine kamen aus Landsmeer, etwas nördlich vom Amsterdamer Hafen gelegen. Wir waren die ältesten und am ehesten bürgerlich veranker­ ten Teilnehmer in dieser studentischen Gruppe, hatten beide anspruchsvolle Arbeit und versuchten Nadine mit dem Besten aus drei Kulturen, der palästinensischen, amerikanischen und niederländischen, zu erziehen, vor allem abends und an den Wochenenden. Wir waren ständig müde. Als ich dort ankam, war ich erleichtert, dass der Bauernhof groß genug war, da konnte ich mich früh zurückziehen, um mich mit Nadine hinzulegen, sobald die Jungs anfingen, kleine Beträge für ihr nächtelanges Pokerspiel einzusetzen. Nadine würde ja am nächsten Morgen früh wach werden, und ich war an der Reihe, mit ihr aufzustehen. Nach sieben Jahren in den Niederlanden erstaunte mich noch immer die Fähigkeit der Europäer, beisammen zu sein, einzig und allein um des Beisammenseins willen, oder auch ganz alleine aus Spaß spazieren zu gehen. In Minnesota trafen wir uns, ,Um Etwas Nützliches Zu Tun’. Familienfeiern galten als guter Grund, sich zu treffen, aber es musste schon einen deutlichen Anlass geben. Und alleine spazieren gehen tat man nur, um sich abzuregen, tiefen Gedanken nachzuhängen oder sich von A nach B zu begeben. Nie wären wir einfach zusammen eine kleine Runde gegangen. Als Person, die immer bemüht war, den Erwartungen anderer zu entsprechen, fühlte ich mich oft verloren bei diesen Zusammenkünften von palästinensischen Männern und europäischen Frauen, von denen die meisten noch studierten. Dazu kam noch meine Rolle als berufstätige Mutter, und manch­

13


Borg, wo die Gruppe das Wochenende verbrachte

mal fühlte ich mich ziemlich unwohl mit der Frage, wie ich eigentlich in dieses Gefüge hineinpasste. Ich musste lernen, mir keine Sorgen mehr zu machen über das, was andere von mir erwarteten, und versuchte, das zu tun, was am vernünftigsten war, ohne die Gefühle der anderen zu verletzen.

Die Entdeckung der Quilts 14

Wir betraten den Bauernhof, der dort, wo ein Teil des Heubodens weggenommen war, eine große hohe Decke hatte. An der Wand hing ein Quilt, der nordamerikanisch aussah. Das Haus war ganz pittoresk. Überall stand altmodisches Spielzeug, es gab Einbauschränke, und geheizt wurde mit einem gusseisernen Kanonenofen, der eine gemütliche Wärme verströmte. Das war erforderlich, um dem Luftzug entgegenzuwirken, der rings um die vorgesetzten Scheiben hereinblies. Einige Schlafzimmer, umgebaute Ställe, hatten sehr niedrige Decken. Andere, unter dem Heuboden, waren ganz hoch und lang. Während ich mich dort umsah, wuchs mein Erstaunen mit jeder Minute. Auf jedem Bett lag ein handgenähter Quilt. Und jeder einzelne Schrank enthielt ebenfalls Quilts.


Log Cabin

15


Das Wochenende auf Borg. Av0: 5.v.l., Lynn: 6.v.l.

Wer wohnte hier? Wo kamen diese Quilts her? Wer waren diese Menschen? Ich fragte Samir. Er meinte, die Eltern seiner Freundin seien ein Pastorenehepaar, Baptisten oder so etwas, es habe mit Menno Simons zu tun. Wie bitte? Menno Simons? Das war ein Name, den ich seit meinem Religionsunterricht in der Kirche von Mountain Lake, Minnesota, nicht mehr gehört hatte. Wie sollte es hier in den Niederlanden Mennoniten geben, die doch eine solch lange Geschichte hatten? Nach meinem Wissen waren alle Mennoniten Emigranten aus Kolonien in der Ukraine, sie sprachen eine Art niederländisches Deutsch aus dem 16. Jahrhundert, und sie waren nach Nordamerika ausgewandert, weil sie vermeiden wollten, zum Militärdienst eingezogen zu werden, begründet mit den Prinzipien der Gewaltlosigkeit von Menno Simons. Hatten sie jetzt in den Niederlanden auch eine Kolonie?

Die Entdeckung der Quilts 16

Ein neues Kapitel in meinem Leben brach an. Wir verlebten ein wunderbares Wochenende. Nadine schlief im Alkoven, der in wunderbaren Farben gemalt war, türkis mit lachsrosa. Und als wir nach Hause kamen, wurde das Wochenende zum Abschluss eines sehr angenehmen Tages mit der Empfängnis unseres Sohnes gekrönt. Die Quilts gingen mir nicht aus dem Kopf. In der darauf folgenden Woche fand ich die Telefonnummer der Eigentümer des


Hauses heraus, und ich fragte Frau Keuning, ob ich ihr einen Quilt abkaufen dürfte. Ich erzählte ihr, dass sie mich so sehr an zu Hause erinnerten. Frau Keuning erklärte mir, dass sie mir keinen Quilt verkaufen könne, weil sie nicht ihr gehörten, aber dass ich hinkommen könne, um mir einen auszusuchen. Ich verstand ihre Reaktion nicht, meine Kenntnisse des Niederländischen reichten Borg, Innenaufnahme nicht aus, um die genauen Nuancen zu verstehen. Ebenso wenig passte ihr Angebot auf irgendeine Weise zu meinem Moralempfinden. Ich kannte die Preise von Quilts in den Geschäften, und keineswegs wollte ich einfach so einen von einer fremden Frau geschenkt haben. Außerdem gehörten sie ihr doch nicht, wie sollte sie diese dann verschenken können? Ungefähr zehn Jahre später überlegte ich, wie ich den niederländischen Kunden unserer amerikanischen Buchläden in Amsterdam und Den Haag die Geschichte von Thanksgiving näherbringen könnte. Zu dem Zeitpunkt war Quilten zu einer beliebten Handarbeit geworden, und unser Laden war eine wichtige Quelle für Nadine in einem Alkoven auf Borg niederländische Frauen, die mehr über die Muster und die Geschichte der nordamerikanischen Quilts wissen wollten. Ich erinnerte mich an die Quilts in diesem Bauernhof bei Drachten und rief Frau Keuning an, um sie zu fragen, ob wir die Quilts vielleicht in den großen Schaufenstern

17


Die Entdeckung der Quilts 18

Dutchman’s Puzzle


unseres Buchladens in der Kalverstraat ausstellen dürften. Als ich erklärte, wer ich war, unterbrach sie mich: „Lynn! Wann kommst du und holst deinen Quilt ab?” – „Ich kann keinen Quilt von Ihnen annehmen”, stotterte ich. „Warum denn nicht?”, fragte sie. „Was habe ich falsch gemacht?” – „Sie haben gar nichts falsch gemacht”, erklärte ich, „es ist nur ein viel zu großes Geschenk, das kann ich von einer Fremden doch nicht annehmen. Aber würden Sie vielleicht überlegen, ob ich die Quilts in einer Ausstellung zeigen dürfte? Und ob Sie an unserem Thanksgiving-Dinner im Geschäft teilnehmen wollen? Dann könnten wir uns vielleicht besser kennenlernen.” Sie stimmte zu. Einige Monate danach, als sie, ihre Tochter Anke und ich an dem großen Schaufenster vorbeigingen, wo die Quilts ausgestellt waren, stockte ihr der Atem. Später erklärte sie, dass die Quilts als Schatzwächter ihrer Geschichten über all ihre Mühen und Kämpfe in den Jahren des Krieges Dienst getan hatten. Als sie die Quilts in der Öffentlichkeit ausgestellt sah, fühlte sie sich imstande, auch ihre Geschichten zu erzählen. Zum allerersten Mal. Bevor sie diese jedoch anderen Menschen weitergeben würde, sollte ihre Tochter sie zuerst erfahren. Diese hatte bis zu jenem Augenblick im Jahr 1989 keine Ahnung von der Rolle, die ihre Eltern in der Widerstandsbewegung während des Zweiten Weltkrieges gespielt hatten. Bisher hatte An einfach nur gesagt, dass die Quilts aus Nordamerika nach Friesland gekommen wären, als Hilfsgüter für Europäer, die nach dem Krieg keine Decken mehr hatten. An und ihr Mann Herman, ihre Tochter Anke und ich mit meiner Familie, Avo, Nadine und Paul, der jetzt 10 Jahre alt war, nahmen gemeinsam das Thanksgiving-Dinner in unserem Büro ein, und so lernten wir uns ein bisschen besser kennen. An und ich fanden ein gegenseitiges Erkennen und eine Freundschaft zwischen uns beiden, die sich viel älter und tiefer anfühlte, als wir es für möglich hielten. Es fühlte sich an wie eine Art Trost und ein Verständnis ohne Worte, obwohl wir uns jetzt erst wirklich kennenlernten, und das, obwohl sie 28 Jahre älter ist als ich. Ihre Geschichten sollte ich jedoch erst viel später hören. 19


1929: die drei Schwestern Tichelaar, links An

Eine kurze Biografie 20


An, April 1922 – 1937

Eine kurze Biografie

I

ch wurde im April 1922 in eine früher sehr wohlhabende Familie von Keramikherstellern hineingeboren, die eine Fabrik in Makkum in Friesland hatten. Im späten Mittelalter war Makkum eine kleine Hafenstadt, wo Schifffahrt und Handel blühten und das Handwerk sich stark entwickelte. Es gab Ölmühlen, Sägewerke, Schiffswerften, Kalköfen und Töpfereien. Längst nicht alle Einwohner waren Fischer – viele waren zu Handwerkern geworden. Die Eigentümer der Mühlen und Manufakturen, selbst Handwerker, nahmen Menschen in Dienst, die für sie arbeiteten, und wurden angesehene Bürger und Arbeitgeber. Die sozialen Verhältnisse änderten sich. Die Menschen wurden mündiger. Sie fingen an, selber die Bibel zu lesen. Es war eine Zeit der Kritik an und Unruhe in der römisch-katholischen Kirche. Radikale Gläubige wandten sich von ihr ab und riefen eigene kleine Gruppen ins Leben. Sie verwarfen die Kindertaufe und die Praxis des Ablasshandels. Die Autorität der katholischen Kirche fing an zu bröckeln. In Witmarsum bei Makkum verließ auch der Priester Menno Simons (1496-1561) die Kirche. Er schloss sich den Anabaptisten an und wurde einer ihrer Anführer. In ganz Friesland bildeten sich Gemeinden, die sich wegen ihrer Verfolgung an geheimen Orten treffen mussten. Die Gemeinden hielten untereinander Kontakt, um sich gegenseitig zu unterstützen und zu inspirieren. Ganz besonders auf dem Lande wurden viele Kontakte geknüpft. Es wird angenommen, dass auf diese Weise Freerk Jansz, ein Bauernknecht aus Jorwerd, Jouwer Emes aus Makkum traf, und dass die beiden später heirateten.

Die Makkumer Keramikfabrik


Der Turfmarkt in Makkum

Freerk zog nach Makkum, wo es bereits im 16. Jahrhundert eine bedeutende Keramikindustrie gab. Er begann eine Werkstatt als Töpfer und wurde am Ende des 16. Jahrhunderts der Begründer der Töpferei Tichelaar. Jahrhundertelang waren die Mitglieder der Familie Tichelaar treue ‚Mennisten’ und wohlhabend, bis mein Urgroßvater 1917 das Familienvermögen in russischen Anleihen anlegte und alles verlor. Noch immer Mennist, aber nicht mehr reich, musste mein Vater wieder ganz von vorn anfangen, doch wurde von unserer Familie noch immer erwartet, dass wir standesgemäß lebten. Familienstolz war dabei nicht die einzige Triebfeder. In jenen Tagen vor den sozialen Absicherungen wurde von Menschen, die Geld hatten, erwartet, dass sie diejenigen unterstützten, die das nicht hatten. Ich wuchs in einem bescheidenen Haushalt heran. Wir spürten, dass die Außenwelt den Namen Tichelaar betrachtete als den einer angesehenen Familie, die in Friesland eine besondere Rolle spielte.

Eine kurze Biografie 22

Weil aus unserer Familie jahrhundertelang Würdenträger hervorgegangen waren, hatte mein Vater, Jan Pieter Tichelaar, viel mehr Einfluss im Dorf als ein von der Regierung in Den Haag ernannter Bürgermeister.


Unser Haus stand am Turfmarkt. Es war ein altehrwürdiges Haus an der Gracht, mit einem Flur von über 20 Metern. Ich erinnere mich daran, dass der Flur ganz und gar gefliest war, und dass im breiteren, vorderen Teil die Wände zu beiden Seiten Fliesen trugen, die biblische Geschichten darstellten. Auf der einen Seite der Diele Moses und der brennende Dornbusch, und auf der anderen Seite Abrahams Berufung. (Das Lustige ist, dass ich, obwohl ich diese Szene jeden Tag sah, immer dachte, dass es sich hierbei um Mariä Verkündigung handelte. Offensichtlich sprach diese Geschichte mich mehr an.) Mit seinen 39.000 Fliesen ist dies in den Niederlanden das Haus mit den meisten Fliesen. Es wurde im Jahre 1669 gebaut. Unsere Vorfahren kauften es 1696, und mein Bruder Pieter Jan hat es vor nicht allzu langer Zeit im alten Zustand wiederhergestellt, die Zimmer der Vorderseite so, wie sie 1776 waren, und das Gartenzimmer wie von 1731. An den Sonntagnachmittagen, wenn mein Vater und meine Mutter sich die Übertragungen der Konzerte aus dem Concertgebouw im Radio anhörten, spielten wir im ganzen Haus Verstecken mit unseren Freunden. Das Packzimmer lag hinter der Küche. Große Rollen Holzwolle lagen dort für die Verpackung der Töpferprodukte bereit. Die Treppe neben dem Packzimmer führte zu den Zimmern unserer Großmutter väterlicherseits. Ich liebte sie sehr. Sie war eine fröhliche Frau mit viel Humor. Zwischen meinen beiden Schwestern war ich das hässliche Entlein. Das machte meine Schwester Betsy mir lange Jahre klar, in nicht misszuverstehenden Worten. Mein Mund war zu groß, ich schielte und war viel zu mager. Als junges Mädchen war das ein großer Kummer für mich. Glücklicherweise wurde ich einigermaßen von diesen trüben Gedanken abgelenkt, als unsere Familie 1928 um einem neues Baby erweitert wurde. Wir alle waren versessen auf Pieter Jan, unseren schlauen und neugierigen kleinen Bruder. In der Schule hatte ich es schwer. Als ich die dritte Klasse der ‚Höheren Bürgerschule’ wiederholen sollte, wurde mir die Wahl gelassen, das entweder auf der Mittelschule zu tun, oder bei meinem Vater im Büro anzufangen. Dort fühlte ich mich sicher und war erleichtert, als ich mich für letztere Möglichkeit entschieden hatte. Drei Jahre war ich dort tätig, zwischen 1937

23


und 1940, und ich lernte sehr viel. Es sah danach aus, als hätte ich in der Schule nicht versagt, weil ich dumm war. Der Grund war eher, dass es mir körperlich nicht ganz gut ging. Und ich maß mich immer an Betsy und daran, wie sie alles machte. Ich war noch zu kindlich und hatte keinerlei Selbstvertrauen. Jahre vergingen, bis ich meine Minderwertigkeitsgefühle überwunden hatte. Ich gab mich selbstbewusst und gab vor den anderen an, ich war frech, damit sie nicht merkten, wie unbedeutend ich mich fühlte. Ich versuchte mich selber zu beweisen, doch ganz tief in meinem Herzen wusste ich, dass das nicht funktionierte. Ganz im Gegenteil. Während ich im Büro arbeitete, verbrachte ich sehr viel Zeit bei meiner Großmutter, die die Fakturierung übernommen hatte, ich brachte ihr die Konzepte dazu nach oben. Sie schrieb in einer wunderschönen Schrift. Großmutter schrieb alle Rechnungen Kachelwände und Ofen im Elternhaus des Tichelaar-Geschlechts


V.l.n.r.: An, ihre Schwester Betsy, ihre Mutter Antje und ihre Schwester Nel

mit Blaupausen zwischen zwei Blättern, und diese wurden unten im Büro ins Hauptbuch übertragen. Ich hörte ihr zu, wenn sie aus ihrem Leben erzählte, und lernte ihre gesellschaftlichen Standpunkte kennen. Ich lernte sehr viel von ihr. Ich erinnere mich daran, wie sie zu mir sagte: „Wenn du später alleine bist, musst du trotzdem deinen Tisch anständig decken.” Das machte auf mich einen großen Eindruck. Langsam wuchs ich in meinem Glauben heran, trotz meiner großen Zweifel. Der Religionsunterricht für Heranwachsende gefiel mir. Ich mochte die biblischen Geschichten über besondere Menschen. Florence Nightingale war mir auch wichtig. Ich idealisierte sie. Sie inspirierte mich bei meiner späteren Berufswahl.

25


Die deutsche Besatzung beginnt 26

Crazy Stars and Dresden Plates


An, April 1938 – 1940

Die deutsche Besatzung beginnt

D

ie Geschäfte gingen gut in unserer Fabrik, wie fast überall in den Niederlanden am Ende der dreißiger Jahre nach der Krise. Vater übergab mir einen Teil der Verantwortung für das Geschäft. Trotz der Schwierigkeiten, die mir in der Schule das Lernen deutscher Vokabeln gemacht hatte, konnte ich mir mühelos die mehr als 800 Zahlen unserer Produkte aus der Töpferei merken. Dann kam das Jahr 1938. Hitler begann, seinen Einfluss im Ausland geltend zu machen. Vor allem nach der Invasion in der Tschechoslowakei und der Kristallnacht in Deutschland versuchte ich, mir ein Bild von dem zu machen, was geschehen könnte. Ich hörte ständig die Nachrichten im Radio. Die furchteinflößende Situation kam immer näher. Am 1. September 1939 erfolgte der Einmarsch in Polen. Doch das war weit weg und bewegte sich gen Osten, also nicht in unsere Richtung. Ich hörte von jüdischen Flüchtlingen, die in unser Land kamen, und von Zügen voller Kinder. Jüdische Eltern versuchten, ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Wer wusste schon, was später geschehen würde? Ende 1939 begannen die Niederlande mit der Mobilmachung. Das ganze Land bereitete sich auf Krieg vor. Ältere Soldaten wurden zum Militärdienst aufgerufen und Betriebe passten sich an, indem sie Kriegsgüter produzierten. Ich war froh, als eine ganze Garnison Reservetruppen mobilisiert wurde und diese zusammen mit niederländischen Offizieren nach Makkum geschickt wurde, um den Abschlussdeich zu überwachen und die Küstengebiete der früheren Zuiderzee vor Überflutungen zu schützen. Sollte den Deutschen der Deich in die Hände fallen, könnten sie unser ganzes Land als Geisel nehmen. Die Offiziere wurden in Privathäusern einquartiert. Ich war

27


Pieter Tichelaar, Ans Bruder, vorm Haus des Tichelaar-Geschlechts am Turfmarkt

noch glücklicher, als meine Mutter dem Offizier, der unserem Haus zugewiesen war, sagte, er dürfe sich mit seiner Familie in unserem Zimmer an der Straße einrichten. Unsere Familie zog in die Räume auf der Rückseite des Hauses. Der Offizier und seine Frau waren jung und hatten ein kleines Kind. Ich konnte mit ihnen ausgehen und mich mit Menschen unterhalten, die aus einem ganz anderen Teil des Landes kamen. Für mich war es eine ganz besondere Zeit. Ich war 17 und war es nicht gewohnt auszugehen. In Begleitung der jungen Offiziersfrau ging ich zu Kursen für die Allgemeinbildung und Abendveranstaltungen zur Entspannung (genannt „A und A”). Ich genoss jede Minute, die ich auf diese Weise verbrachte. Ich lernte alles Mögliche über das kulturelle und gesellschaftliche Leben, indem ich zu Vorträgen, Theaterstücken und Tanzvorstellungen ging. Es war großartig. Dennoch behielt ich immer im Hinterkopf, dass etwas geschehen könnte, und dass wir mit einer stetig wachsenden Drohung leben mussten.

Die deutsche Besatzung beginnt 28

In der Nacht vom 9. auf den 10. Mai brach der Krieg aus. Wir hörten Flugzeuge, doch weiter blieb alles ruhig. Vater wusste, dass unser ganzes Dorf evakuiert werden sollte, nach Workum oder vielleicht noch weiter weg. Wir hörten ihn sagen, dass er nicht weggehen würde, und auch wir wollten bleiben. Vater nahm seine Verantwortung als Beigeordneter des Bürgermeisters ernst, und er hatte ja außerdem die Fabrik, die er ungern aus den Augen lassen wollte.


Goose in a Pond

29


Der Dorfausrufer ermahnte alle Dorfbewohner, sich so schnell wie möglich auf den Weg zu machen. Die Leute sollten Kärtchen mit ihren Namen und Adressen an ihren Schlüsseln befestigen und diese auf dem Aufgang zu unserem Haus, Turfmarkt 5, hinlegen. Ich saß auf diesem Aufgang mit einer großen Schublade in der Frühjahrssonne. Ich amüsierte mich mit allen Schlüsseln, die kein Kärtchen trugen. Wie sollte das gehen, wenn die Eigentümer wieder nach Hause kämen? Die Frau des Leutnants setzte sich zu mir – und plötzlich merkten wir, wie still es im Dorf geworden war. Wir wurden von einem Gefühl der Spannung und Unsicherheit befangen. Vor allem sie, denn ihr Mann war mitten in der Nacht verschwunden, um die Stellung bei Wons mit seinen Mannschaften zu besetzen. Der wichtige Abschlussdeich war von dort nicht weit, und unsere Truppen hatten versprochen, diesen niemals aufzugeben.

Eine historische Aufnahme von Makkum


Die Mobilmachung und die ersten Kriegstage bis zur Kapitulation Die niederländische Politik der Neutralität hatte die Niederlande aus dem Ersten Weltkrieg herausgehalten. Diese Politik wurde jedoch am 10. Mai 1940 durch den jähen Angriff durchtrainierter und mit modernem Kriegsmaterial ausgerüsteter Truppen in eklatanter Weise durch Nazi-Deutschland verletzt. Die niederländischen Streitkräfte boten an verschiedenen Orten – u.a. am Grebbeberg, den Maasbrücken, der Moerdijkbrücke und am Abschlussdeich – tapferen Widerstand, doch es war ein völlig ungleicher Kampf. Die königliche Familie und die Regierung wichen am 13. Mai nach England aus. Am 14. Mai wurde das Zentrum von Rotterdam von der Luftwaffe in kurzer Zeit durch Bomben ausradiert, wobei hunderte Menschen ihr Leben ließen. Einigen anderen Städten drohte das gleiche Los. Der niederländische Oberbefehlshaber General Winkelman, dem nach dem Wegzug der Regierung nach London die Regierungsmacht übertragen worden war, sah sich zur Kapitulation gezwungen. Am 15. Mai 1940 war die Kapitulation der niederländischen Streitkräfte eine Tatsache, mit Ausnahme der Streitmacht in der Provinz Zeeland und den Gebieten in Übersee.

31


Erzählungen von Krieg, beherzten Frauen und beseelten Decken Zwei Frauen finden einander in den Niederlanden. Sie werden auf unwahr­scheinliche Weise durch eine Sammlung zerschlissener Quilts zusammengebracht. Diese wurden einst von Frauengruppen auf der anderen Seite der Welt genäht, die dafür einfach das Material verwendeten, das sie gerade hatten. ander­en zu helfen. So versteckt sie ein jüdisches Baby in einer Reisetasche, während das Schiff, auf dem sie sich befinden, beschossen wird. Dies ist nur eins ihrer Abenteuer. • Dann ist da Lynn, die fast vierzig Jahre später die Quilts entdeckt und neugierig

auf ihre Besitzerin und die dazugehörigen Geschichten ist. Dieses Buch ist wie ein Quilt, ein Patchwork aus Geschichten, der die verbindende und tröstende Kraft von Frauen zeigt, die anderen helfen. An Keuning-Tichelaar wurde 1922 in Makkum geboren, einem kleinen Hafen­ ort in der Nähe von Witmarsum in Friesland. Sie heiratete 1944 und bekam drei Kinder. Ihr Haus, ein Pfarrhaus, war immer ein Zufluchtsort für Kinder, Jugend­ liche und Erwachsene in Not. Lynn Kaplanian-Buller wurde 1949 in Heron Lake, Minnesota, geboren. Sie und ihr Mann erzogen ihre beiden Kinder vor dem Hintergrund dreier Kulturen. Alle vier arbeiten heute im Familienbetrieb, The American Book Center in Amsterdam und Den Haag. Lynn ist in ihrer örtlichen Mennonitengemeinde und in verschiedenen internationalen Gruppen aktiv.

Interviews mit beiden Autorinnen (ndl., engl. UT)

e 19,50 ISBN/EAN 978-94-91030-89-5

www.quiltsverbinden.nl

An Keuning-Tichelaar und Lynn Kaplanian-Buller

• Zunächst ist da An, die in den Kriegsjahren ihr Leben aufs Spiel setzt, um

Quilts verbinden

Quilts verbinden

a

Quilts verbinden Erzählungen von Krieg, beherzten Frauen und beseelten Decken

An Keuning-Tichelaar und Lynn Kaplanian-Buller


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.