8 minute read

Aachener Jugend-Lyrikpreis und drei Gewinnerbeiträge

Text & Fotos: Sabrina Marx

Emotional und persönlich – Preisverleihung Aachener Jugend-Lyrikpreis 2022

Advertisement

Von staubigen Gedichtinterpretationen ist heute nichts zu hören – ganz im Gegenteil! Voller Empathie, Engagement sowie Liebe zum geschriebenen und gesprochenen Wort zeigen junge Menschen aus der StädteRegion im Rahmen des diesjährigen JugendLyrikpreises, dass lyrische Texte mitreißen und berühren können. So ist in diesem Jahr neben Selbstzweifeln, Lebensmut, Sinnsuche und dem Klimaschutz insbesondere der Krieg in der Ukraine ein Thema, welches viele Aachener Jugendliche sehr bewegt. Hier sticht zum Beispiel Hannah Sendts Gedicht „Sie ist der Feind“ bemerkenswert heraus, das die Begegnung eines russischen und eines ukrainischen Mädchens und deren innere Konflikte und Emotionen angesichts des Krieges beschreibt. „Die Mädchen, von denen mein Text handelt, existieren“, erklärt Hannah im Voraus. Die Begegnung mit ihnen hat sie so getroffen, dass sie ein bewegendes Gedicht als Appell an die Menschlichkeit über zwei kleine Mädchen geschrieben hat – über zwei vermeintliche Feindinnen, die eigentlich nur Kinder sind.

Am 13. August wurden die Gewinner und Gewinnerinnen des Aachener JugendLyrikpreises des gemeinnützigen Vereins satznachvorn feierlich ausgezeichnet und durften ihre Texte auf der Bühne der Dreifaltigkeitskirche vor Publikum präsentieren. Der Schreibwettbewerb fand in diesem Jahr zum zweiten Mal statt und richtete sich an Schüler und Schülerinnen aus den Jahrgangsstufen 7 bis 13 aller Schulen der StädteRegion. „Die Idee für den Wettbewerb ist während der Pandemie entstanden, als vieles, was auf die Bühne sollte, nicht auf die Bühne konnte“, erzählt Lukas Knoben, 2. Vorsitzender satznachvorn. Neben der Förderung junger Nachwuchsautorinnen und -autoren standen außerdem der Austausch zwischen den Jugendlichen und das Networking im Zentrum. „Ihr sollt uns kennenlernen und vielleicht in Zukunft auch einmal mit uns auf der Bühne stehen“, so Oscar Malinowski, 1. Vorsitzender satznachvorn und alter Hase in Sachen Poetry-Slam. „Wenn aus dem geschriebenen Wort auch noch das gesprochene Wort wird, freut uns das umso mehr.“ Bewertet wurden die insgesamt 31 Einsendungen durch eine Fachjury aus aktiven Akteuren und Akteurinnen der Poetry-Slam-Szene und Mitgliedern von satznachvorn anhand von Kriterien wie Schreibstil, Innovation, Spannung und Motivation. Erlaubt war alles, das sich im Rahmen von 200 bis 500 Wörtern erzählen lässt, egal ob witzig, gesellschaftskritisch, politisch oder tieftraurig. Neben Sachpreisen gab es für die Sieger und Siegerinnen u. a. einen PoetrySlam-Workshop zu gewinnen. Zudem veröffentlicht KingKalli drei der Beiträge.

Musikalisch begleitet wurde die Preisverleihung von dem wunderbaren Duo Florence & Patrick Huven. Der Jugend-Lyrikpreis wird unterstützt durch den Kulturbetrieb der Stadt Aachen, die Jugend- und Kulturstiftung der Sparkasse Aachen, die STAWAG, Das Worthaus sowie die JuKi Aachen. Olaf Müller, Kulturbetrieb Stadt Aachen, zeigte sich begeistert von den Werken der jungen Autoren und Autorinnen, die während der Preisverleihung die Wände der Dreifaltigkeitskirche zierten. „Hier haben alle gewonnen an Erfahrung, Sprachgefühl, Urteilskraft und Kreativität“, so Müller. „Lyrik ist die subjektivste, persönlichste Form der Literatur. Sie ist politisch und emotional und kann die Welt verändern.“ satznachvorn.de

Sie ist der Feind

von Hannah Sendt, 9. Klasse, Einhard- Gymnasium Aachen

Ihre eisblauen Augen haben viel gesehen, so viel mehr, als es meine jemals werden, denn ihr Leben liegt in Scherben, man sieht es nicht, doch ihr ist Leid geschehen.

Wenn sie spricht, wenn sie spielt und lacht, sieht man nicht, was es mit ihr macht, doch sie schläft nicht in der Nacht, sie sitzt da und will vergessen.

Dann ist es, als wäre sie noch da, ihr altes Leben noch so nah, doch sie weiß, es ist ihr klar, sie kann nie mehr dorthin zurück.

Ihre Augen beginnen zu reflektieren, sie steht wieder am Fenster, sieht leblose Hüllen, ihre Gespenster, und beginnt zu spekulieren. Wie es wohl wäre, hätte es den Krieg nie gegeben? – Wären sie dann alle noch am Leben? –

Ein paar eisblaue Augen hängen an den meinen, ein Lächeln klettert über deren Gesicht, es umnebelt mich, dämmert meine Sicht, mir ist so, als würde ich weinen.

Und dieses Lächeln erzählt tausend Geschichten und doch nur von einem Atemzug, ist tief wie das schwarze Meer und doch trüb, flach und leer.

Ihr Finger schnellt durch die Luft, spitz und schlank wie ein Pfeil gleitet er zwischen uns, und sie spricht:

„Sie ist der Feind!“

Zuerst verstehe ich nicht, warum sie die nennt ihren Feind, die mit dem sanften Lächeln im Gesicht, die, die sogar ihre Sprache spricht.

Doch dann trifft er, der Pfeil, schlägt heftig ein wie ein Beil, trifft mich, und die Bilder schießen wieder durch meinen Kopf.

Sirenen, Soldaten, Panzer glänzen im Licht, wir alle starren in ein kaltes Gesicht, es droht mit Bomben und Weltuntergang, wir zittern stunden, tage, eine Ewigkeit lang.

Ich will etwas sagen und öffne meinen Mund, um sie anzuklagen, doch nichts kommt heraus.

14 Buchstaben fesseln meine Zunge, vier Wörter drücken auf meine Lunge, es raubt mir den Atem und die Sicht, begreifen kann und will ich es nicht.

Es fällt mir wie Schuppen von den Augen, doch ich will es trotzdem nicht glauben, denn auch wenn SIE es ausspricht, es mir und jedem sagt ins Gesicht, ihre „Schuld“ ist es nicht.

Wie könnte es auch ihre sein? Mit acht ist man für das „zu klein“. Auch wenn es nicht die ihren Worte sind, sie stehen für das Leid von einem Kind.

Erst jetzt wird mir klar, dieser Krieg ist so wahr und nicht weit weg, sondern jetzt, hier, nah.

Es ist ein Angriff, nicht nur auf die Ukraine und die Menschen dort, sondern auf jeden Menschen und jeden Ort, auf jede Stadt und jedes Land, gebaut auf Stein, gebaut auf Sand, auf dich, auf mich und auf die Menschlichkeit, auf jeden von uns seit Anbeginn der Zeit.

Auch auf die beiden, auf die kleine Russin mit dem Lächeln im Gesicht, auf das ukrainische Mädchen, das ihre Sprache spricht. Auf die vermeintlichen Feinde, die bloß kleine Mädchen sind, mit den falschen Worten im Mund, den falschen Gedanken, so ungesund. Gift für das Leben, Gift für den Frieden und Gift für die Menschlichkeit.

ziehen

von Maike Brammertz, Q1, Inda-Gymnasium Aachen

ziehen um, ziehen aus, ziehen fort, ziehen weg, ziehen alles, bis es steht bis es steht, steht fest, fest, standhaft, zügig zielstrebig strebt dein ziel an, nimm den zug ziehen der zigarette, wie hast du zugang dazu? darauf zugehen, ziehen im bauch brauch mehr zeit zeitlich gesehen zugezogen zugezogen wie du hierher hier im fenster vorhänge ziehen ziehen vorwürfe ins gemenge hänge, menge, schürfe, würde, zieh nen zug davon, wird nicht schaden schädlich wie so viele sachen verursachen todesangst, gedanken ziehen danke an dich, denke an dich dich miteinbeziehen, miteinbeziehen in mein leben leben, danach streben, mich umziehen, umziehen, weg von hier hier bleiben, anderswo sein, ziehen an anderes anziehen, anderer ort, ziehst mich an, bist bald fort zieh dich an, hier ist es kalt kaltes leben zieht vorüber vorbei an deinem gesicht freie sicht, bald ist das vorbei und ich auch, auch züge ziehen fort genieß das leben in vollen zügen, im zug ziehen städte an mir vorbei, vorbei die landschaft land ganz weit und unberührt, aber nun nun weint’s und berührt, menschen zur naturlast geworden lass es drauf beruhen ruhe weg, aber bereuen darf man nicht, weil sonst das leben vorbei zieht ziehst mich in deinen bann, ziehe fort mit der bahn, bahne mir meinen weg weg von hier, zieh ich weg weg bist du, fort fortan werde ich schweigen schweigen, in gedanken schwelgen schwelgen, gedanken vorüberziehen ziehen, immer denken, denken geht immer weiter weiter, wann hört es auf?

Zukunftsangst

von Larissa Hahn, Q2, Gesamtschule Aachen Brand

Das gleichmäßige Klackern der Tastatur dringt durch die Luft wie ein stetiger, fester Herzschlag. Finger fliegen wie von einer unsichtbaren Macht bestimmt, wie im Wahn, in ständig wechselnden Bahnen über die Buchstaben. Durch das offene Fenster zieht ein sanfter Hauch ins Klassenzimmer, der nach Wunder riecht und in der Nase kitzelt. Die Sinne aktiviert, die Atmosphäre verschwimmt, mit einem verschwommenen Blick hab ich eine andere Sicht auf das, was vor mir liegt. Denke anders über das, was kommt und geht, was verschwindet und bleibt und wie die Tücken der Zeit für Verwirrung sorgen können. Die Gedankenwelt, die mich einnimmt, ist unsichtbar für einen klaren Blick, zu viele Eindrücke, zu viel Licht, zu viel, was für andere nicht sichtbar ist. Das Alleinsein hier spiegelt auch die Einsamkeit in mir wider. Die Angst vor dem, was kommen wird und kommen kann, zerstört mich innerlich jeden Tag Stück für Stück. Zukunftsängste plagen mich, sie sind allgegenwärtig. Aus der Gedankenwelt komm ich nicht raus und die Eindrücke da sind so viel stärker hier, als sie mit klarem Blick je zu sehen wären. Und egal wie viel ich blinzle, egal was ich tue, die verschwommene Sicht nimmt kein Ende und die Gedankenwelt entlässt mich nicht. Gefangen im Strudel, im Labyrinth, in dem alles verschwimmt und die Gedanken mich erdrücken, erniedrigen, hochziehen, um mich direkt danach nur tiefer fallen zu sehen. Denn alles ist endlich, Festhalten an dem, was vorbeigeht, ist bloß verletzend, ich bin verletzlich. Und die Fragen kommen hoch: Sind die Gedanken verletzend, um mich vorzuwarnen, oder ist es der Verlust an sich, der mir wehtut, mich verletzt? Gefangen im Strudel der Zeit, der mir nicht zeigt, was mir bleibt. Gefangen im Strudel der Zeit, der mir zeigt, was viel zu schnell vergangen scheint. Ich seh bloß das, was geht und verschwindet, ohne zu wissen, was kommt und bleiben kann. Eine Tücke der Zeit. Die Gedanken sind so laut, so laut und erdrückend bis zum letzten Gedankengang, mit einem lauten Knall, der alles ändern kann. Doch es ändert nichts, nicht von allein, denn nur ich kann was gegen die Gedanken tun, die mich begleiten. Ich hab die Macht über die Gedankengänge, durch die ich mich bewege, treibe und verändere. Wenn sie mich verändern, verändre ich sie auch, so wie ich sie brauch. Sie sollten mich doch dazu bringen, mich auf die Zukunft zu freuen, auf das, was kommt, und dass ich lächelnd auf das zurückblicke, was nun zur Vergangenheit wird, denn so ist der Lauf der Zeit. Doch die Wahrheit ist, egal wie sehr ich versuch, meine Gedanken zu kontrollieren, meine Trauer über die Endlichkeit dieser Zeit, welche viel zu schnell vorbei zu sein scheint, vergeht nicht. Sie bleibt konstant und versteht sich viel zu gut mit der Zukunftsangst. Das gleichmäßige Klackern der Tastatur verstummt, die Finger bleiben still, das Fenster geht zu, der Duft nach Wundern verflüchtigt sich. Mein Blick klärt sich, holt mich aus dem Gedankenlabyrinth zurück zur Normalität. Doch allein bin ich nicht, die Zukunftsangst begleitet mich.

This article is from: