Mütter aus Deutschland

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Tanya neufeldT

auS d e u T S c h l a n d


Erste Auflage: 2019 Gestaltung und Satz: Susan Wedlich und Sascha Carl Lektorat: Kerstin Schöps Korrektorat: Katja Schifferegger Druck: Rombach Druck- und Verlagshaus GmbH & Co. KG ISBN: 978-3-945431-34-4 eISBN: 978-3-945431-35-1

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Mut tER AUS D e U t S c h l A n D


VorWort


Vorwort – oder eine LiebeserkLärung

Dieses Buch ist eine Hommage an alle Mütter. Was wünschen sich Mütter? Was haben Mütter für Bedürfnisse? Wie ist es, eine Mutter in Deutschland zu sein? Ich kann mir diese Fragen zwar zum Teil selbst beantworten, aber das wäre nur meine kleine, persönliche Perspektive. Mich hat die Vielfalt interessiert. Wir leben in einem so reichen und sicheren Land, haben aber im Schnitt nur 1,6 Kinder. Woran liegt das? Sind es gesellschaftliche Gründe? Oder wirtschaftliche? Hat es mit der deutschen Mentalität zu tun? Was ist eigentlich Deutsch, wenn mittlerweile jedes fünfte Kind eine Mutter mit Migrationshintergrund hat? Ich bin durch ganz Deutschland gereist und habe mich mit 30 Müttern unterhalten, die unterschiedlicher nicht sein könnten und die ganz verschiedenen Lebenskonzepten folgen – Mütter, die früh Kinder bekommen haben, späte Mütter, verheiratete, alleinerziehende, in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften lebende. Mütter, die Vollzeit arbeiten, Mütter, die sich entschieden haben, ihre Zeit ganz den Kindern und der Familie zu widmen, Mütter, die hadern, kämpfen, Mütter, die glücklich sind mit dem, was ist. Mütter mit den unterschiedlichsten Herkunftsgeschichten, Mütter, die ihre Kinder adoptiert haben oder selbst adoptiert wurden. Mütter mit Kindern, die besondere Unterstützung brauchen. Aber alle vereint, dass es ‚Mütter aus Deutschland’ sind. Entstanden ist eine persönliche Bestandsaufnahme der mütterlichen Vielfalt in unserem Land, der Herausforderungen und Geschenke, Hindernisse und Möglichkeiten, denen sich Frauen gegenübersehen, um Mutter zu werden und zu sein. Entstanden ist ein Buch von einer Mutter, über Mütter, für Mütter. Diese 30 Frauen sind natürlich nur ein Puzzleteil in dem

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großen Bild „Mutter“. Ich bin Frauen begegnet, die mich tief berührt und beeindruckt haben. Und unglaublich inspiriert – mit ihrem Mut, ihren Entscheidungen, ihrer Kraft, ihrem Leben. Und aus jedem Gespräch bin ich mit dem Gedanken gegangen: „Ach, so macht sie das!“ oder „So sieht sie das! Interessant. Muss ich mal drüber nachdenken.“ Jede Mutter ist anders. Und wenn ich immer lauthals behauptet habe, wie offen ich bin, musste ich selbst mit ganz vielen Klischees und in ziemlich vielen Schubladen aufräumen. Denn hinter jeder Geschichte steckt eine Geschichte. Jedes Leben ist einzigartig mit seinen Höhen, Tiefen, Ansprüchen und Prüfungen. Und wenn man sich die Mühe macht, genau hinzusehen, dann sind schnelle Bewertungen gar nicht mehr so einfach. Denn wir sind ja nicht nur Mütter, sondern auch Töchter, geprägt von unseren Müttern, die auch Mütter hatten oder haben. Jede dieser Frauen hätte eine dreihundertseitige Biografie verdient und nicht nur drei Seiten in diesem Buch. Um ihnen meine ganz persönliche Medaille zu überreichen, habe ich mich darum bei den Titeln ganz frech bei dem alten Griechen Theophrast und seinen Charakteren bedient, sie aber auf Frauen übertragen und ihnen ausschließlich positive, bewundernde und liebevolle Attribute zugeordnet. Mein Bild vom Muttersein ist voller und vielseitiger geworden. Vermeintliche Selbstverständlichkeiten bekommen einen neuen, größeren Stellenwert. Das nehme ich als ein großes Geschenk mit. Und ich wünsche mir, dass hier jeder Leser diese Vielfalt als Angebot versteht, aus dem mit vollen Händen geschöpft werden kann. Für mehr Offenheit und Inspiration, für einen neuen, anderen Blick. Ich wünsche mir, dass beim Lesen und Durchblättern das Selbstverständnis als Mutter und Frau wachsen kann. Denn so ist es mir gegangen. Wenn ich manchmal das Gefühl habe, mit allem allein zu sein, dann lese ich diese Interviews und sehe in die Gesichter dieser Frauen. Das gibt mir wieder neue Energie. Ich spüre eine sehr große

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Verbundenheit, es gibt mir das Gefühl von Zusammengehörigkeit – wie eine Stammeszugehörigkeit. Weil mich die Frauen daran erinnern, wie wertvoll es ist, mit so vielen Verbündeten in einem ‚Mütterboot‘ zu sitzen. Gemeinsam ist man immer stärker. Es gibt Projekte, die entstehen im Nebensatz und sind von der ersten Minute an beschützt. Mütter aus Deutschland ist so ein Projekt. Aber dafür braucht man einen starken, mutigen Partner. Care.com ist eine der größten Online-Plattformen, die sich für die Unterstützung von Familien durch Betreuung im Alltag einsetzen. Ihr Wunsch, Mütter zu stärken und ihnen eine Stimme zu geben, ist so groß wie meiner. 2017 rief Care.com zusammen mit International Rescue Committee (IRC) ein Programm für geflüchtete Frauen ins Leben: Care Forward. Hier erhalten Frauen die Möglichkeit, Berufsorientierungskurse zu besuchen, um danach eine Ausbildung zur Altenpflegerin, Erzieherin oder Krankenschwester zu absolvieren, in der Kinderbetreuung oder als Haushaltshilfe zu arbeiten – Deutschkurse sind inklusive, und natürlich besteht während des Unterrichts das Angebot einer Kinderbetreuung. Die Kurse richten sich an Frauen im Alter von 16 bis 60 Jahren und sind kostenlos. Da dieses Programm aber trotzdem finanziert werden muss, gehen Erlöse dieses Projektes an Care Forward. Habe ich Antworten auf die Fragen bekommen, mit denen ich meine Reise angetreten bin? Zum Teil. Vor allem hat es sich aber gezeigt, wie komplex das Thema ist, und dass es keine einfache Antwort gibt. Ein Wandel wird nur stattfinden, wenn alle bereit sind, ihn mitzugestalten und ihren Beitrag zu leisten – Gesellschaft, Politik, Arbeitgeber – und jeder Einzelne. Ich wünsche mir, dass dieses Buch inspiriert, verbindet und den Blick aufs Muttersein erweitert. Ich wünsche mir, dass man am Ende der Lektüre neugierig geworden ist. Und am liebsten noch mehr über die Frauen und ihre Geschichten erfahren möchte. Viel Spaß beim Lesen!

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fat i M a

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Die Selbstbestimmte

ein Sohn malte vor kurzem ein Bild von unserer Familie, auf dem ich in der Küche stand, und ich dachte: ‚Wie kommt er denn auf sowas? Mein Mann kocht doch genau so oft wie ich.‘ Aber diese Prägung findet nicht nur zuhause statt, sondern beispielsweise auch durch die Produkte im Supermarkt, auf denen Frauen in der Küche abgebildet sind.“ Fatima wird in Deutschland geboren, ein Jahr nach der Flucht der Eltern aus dem Libanon. Als sie zwölf Jahre alt ist, trennen sie sich. „Das war hart für meine Mutter – alleinerziehend mit drei Kindern in der Pubertät und aus einer Kultur kommend, in der man sich nicht trennt, und dann noch in einem fremden Land.“ Sie achtet vor allem darauf, dass sie Fatima und ihre beiden Brüder nach den gleichen Prinzipien großzieht. „Meine Mutter wollte nicht, dass ich mit auf Klassenfahrt gehe. Sie hatte Angst um mich. Das ist ziemlich typisch für arabische Familien. Mein großer Bruder durfte dann aber auch nicht mit. Wenn ich um acht Uhr zuhause sein musste, dann galt das auch für ihn.“ In der Schulzeit ist Fatima Klassen- und Schulsprecherin, außerdem auch noch Mitglied des Kinder- und Jugendparlaments. Zusätzlich engagiert sie sich ehrenamtlich, gibt Kindern mit Lernschwäche Nachhilfeunterricht. Mit 18 heiratet sie. „Eigentlich wollte ich auf keinen Fall vor 30 heiraten. Aber dann habe ich mich eben verliebt.“ Ihre Mutter erlaubt die Ehe, besteht aber darauf, dass Fatima mit dem Nachwuchs warten soll, bis sie ihre Schule abgeschlossen hat. Nur

wenige Wochen vor der letzten Abiturprüfung wird sie schwanger. Als ihr Sohn zehn Monate alt ist, bewirbt sie sich für den Studiengang Informatik und Wirtschaft, wird angenommen und erhält aufgrund ihres Engagements ein Stipendium. „Es gibt für dieses Fach extra Frauen-Studiengänge, um mehr Frauen in diese Männerdomäne zu locken.“ Ihren Sohn nimmt sie entweder mit in die Uni, oder die Schwiegermutter und ihr Mann kümmern sich um ihn. Mit knapp einem Jahr kommt ihr Sohn zu der Tagesmutter, von der auch Fatima vor 20 Jahren betreut wurde. „Beruflich hätte ich nicht so weit kommen können, wenn mein Mann und ich die Kinderbetreuung nicht so gut aufteilen würden.“ Sie bleiben in der Stadt, obwohl ihr Mann seinen Beruf als Flugzeugingenieur dort nicht ausüben kann – wegen ihrer Familien, die um die Ecke wohnen. Außerdem steckt Fatima mitten im Bachelor. Mittlerweile hat sie zwei Söhne und schreibt ihren Master. Ihre Referatsleiterin, auch Mutter zweier Kinder, hat ihr zwei zusätzliche Semester genehmigt. Nebenbei ist Fatima Werksstudentin bei einem großen Automobilhersteller in der Softwareentwicklung. „Ich bin auch Hochschulbotschafterin, das heißt, wir sollen das Unternehmen an der Hochschule präsenter machen. Mittlerweile gehe ich ganz gezielt auf Frauen zu, weil wir eine Unternehmensstruktur haben, die Arbeit und Familie zulässt. Wenn mein Kind krank ist, dann kann ich mich von zuhause ins Netzwerk einwählen.“ mütter AUS DeUtSchlAnD

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„Die VorStellUng Von einem gUten leben iSt hier An DAS mAterielle geknüpft, nicht An das MitEinandER“

Fatima hätte gerne noch mehr Kinder. „Am liebsten vier. Es ist so schade, dass man dann so schnell als asozial abgestempelt wird. Oder als zu dumm zum Verhüten.“ Manchmal sitzt sie mit Freundinnen zusammen, die sich entschieden haben, sich ganz der Familie zu widmen. „Es ist mir unangenehm, wenn es dann heißt: ‚Wow, wie du das alles schaffst.‘ Es ist ja mein eigener Wunsch, aber sie leisten unter Umständen viel wertvollere und stressigere Arbeit, wenn sie mit den Kindern zuhause bleiben. Es ist schon verrückt. Man bekommt so viel mehr Wertschätzung, wenn man arbeitet als wenn man ‚nur‘ Mutter ist.“ Mehr Zusammenhalt unter Frauen wünscht sich Fatima. „Im Libanon machen die Frauen viel mehr füreinander. Hier heißt es oft: Was bekomme ich dafür? Das hilft der Gesellschaft nicht und ist sehr egoistisch. Denn man bekommt ja immer was zurück. Vielleicht auch von ganz woanders.“ Ihre Mutter war 21, als sie Fatima bekam. „Sie musste nach der Flucht nochmal ganz von vorne anfangen, weil die Universitätsunterlagen aus dem Libanon nicht anerkannt wurden. Ihr Traum war immer, Erzieherin zu werden.“ Nach einigen Umwegen, sehr harter Arbeit und Kämpfen mit dem Senat schafft sie es. Mit 46 Jahren kann sie endlich ihre Ausbildung als Erzieherin abschließen. „Meine Mutter ist mein Vorbild. Sie ist ihrem Traum gefolgt und hat ihn nie aufgegeben.“


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Die Politische

„M

ein Muttersein ist geprägt von Vertrauen und sich aufeinander verlassen können. Ich war mit meinen Töchtern ein unglaubliches Team. Ich konnte mich immer auf sie verlassen. Die beiden haben auch ihren Blödsinn gemacht, aber als ich meine Ausbildung zur Krankenpflegerin gemacht habe und Schichtdient hatte, wusste ich immer, dass sie sich an unsere Verabredungen halten. Ich bin mit ihnen nur zweimal in den Urlaub gefahren, mehr war finanziell

nicht drin. Aber sie konnten immer im Garten zelten, ich habe vom Balkon Picknickkörbe abgeseilt, und wir haben den Keller in ein Spielzimmer umgebaut. Wir haben versucht, aus dem bisschen, was wir hatten, ein großes Abenteuer zu machen. Ich habe ihnen diesen sozialen, toleranten Gedanken mitgegeben, den es in unserer unmittlbaren Umgebung erst mal nicht gab: anderen zu helfen, auch wenn man selbst nichts hat. Und das leben sie auch heute noch. mütter AUS DeUtSchlAnD

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Eine von ihnen sagte neulich: ‚Wir konnten uns nicht viel erlauben, aber wir hatten eine schöne Kindheit, Mama‘, und das ist für mich das allergrößte Kompliment.“ Als Rita mit 22 Jahren und ihren beiden kleinen Töchtern (zwei Jahre und drei Monate alt) ihren Mann verlässt und zu den Eltern zurückzieht, gibt es Gegenwind von allen Seiten. „In den 80er Jahren in einen erzkatholischen 25.000 Seelenort zurückzugehen, war zu der Zeit etwas ganz anderes, als in Berlin oder Köln zu leben.“ Es war ihre Entscheidung gewesen, so früh zu heiraten. Sie war die erste in ihrer Familie, die nicht wegen einer ungewollten Schwangerschaft unter die Haube musste. „Für mich war die Ehe der Ausbruch aus einem engen Familienkorsett. 58

„müttern WirD Die wüRdE im AlltAg Schnell genommen“


Aber ich war ja mit Anfang 20 noch nicht fertig. Mein Mann und ich hatten uns einfach mit der Zeit auseinandergelebt. “ Nach der Trennung wohnt sie zunächst in ihrem alten Kinderzimmer, die Eltern schämen sich für ihre Tochter in Grund und Boden. Eine Wohnung finden? Fehlanzeige. „Wenn ich am Telefon angegeben habe, dass ich gerade Hausfrau bin, wurde ich nach dem Beruf meines Mannes gefragt. Und wenn ich sagte, dass wir getrennt sind, war das Thema sofort durch.“ Als sie dann endlich durch Kontakte eine Wohnung findet, kommt das nächste Problem. Mit 750 Deutsche Mark Unterhalt für drei Personen kommt man nur schwer durch. Aber wie soll man arbeiten, wenn der Kindergarten von 9-12 und 14 -17 Uhr geöffnet hat? „Meine Mutter hatte ein Geschäft und konnte mir bei der Kinderbetreuung nicht helfen. Sie wollte auch nicht, denn ich hatte mich ja getrennt. Also war ich schuld.“ Als sie dann einen Job angeboten bekommt und dreimal die Woche in einer Diskothek nachts Bier zapft, während ihre Töchter bei den Großeltern schlafen, schwärzt eine Nachbarin Rita beim Jugendamt an. „Uns kam zu Ohren, es laufen nackte Männer durch die Wohnung“, sagt die junge Sachbearbeiterin, die unvermittelt vor der Tür steht. Und auch wenn die Frau beim

Anblick des Kinderzimmers und dem Rest der Wohnung nichts auszusetzen hatte, folgten zwei Jahre lang unangekündigte Besuche vom Amt. „Das hat mich unglaublich politisiert. Ich bin für alles auf die Straße gegangen: für die Rechte der Alleinerziehenden, für andere Öffnungszeiten der Kindergärten oder gegen die Atomkraftwerke. Ich habe auch politische Büttenreden im Karneval gehalten und würde heute sofort wieder ein Bettlaken bemalen und auf die Straße gehen. Ich habe selbst an allen Ecken Diskriminierung erlebt, und reagiere darum auch so allergisch darauf. Die Würde des Menschen ist doch unantastbar.“ So steht es im Grundgesetz. Das jahrelange Kämpfen zollt seinen Tribut. Rita ist Frührentnerin, leidet unter Depressionen und Angstzuständen. Ihre Eltern sind jetzt knapp 80 und fangen langsam an, Rita zu akzeptieren. Sie kämpft sich aus ihrem Frührentnersein, arbeitet, wenn es ihr möglich ist, und versucht, die psychischen Wunden zu heilen. „Mein Leben bisher war schön. Ziemlich anstrengend, aber schön. Ich lebe jetzt von 750 Euro Frührente. Das ist das Nächste, wofür ich auf die Straße gehen werde. Wo bleibt denn da die Würde?“

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gudrun

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Die Angekommene

s war auch ohne klärendes Gespräch klar, dass ich mich um die Kinder kümmere, wenn wir welche bekommen. Mein Mann ist sehr verwurzelt mit seiner Arbeit. Ich bin da nicht so. Meine Priorität ist mein soziales Leben – meine Familie, Freunde und mein Sport.“ Gudrun ist verheiratet, ihr Mann arbeitet als Hoteldirektor und ist unter der Woche sehr eingespannt. Nach der Geburt ihrer Tochter und einem Jahr Elternzeit will sie wieder zurück in ihren Job in einem Hotel. „Aber die hatten den Job so umgemodelt, dass er nicht mehr passte. Und irgendwie hatte ich auch das Gefühl, die wollten keine Mutter.“ Ein Bekannter bietet ihr einen Halbtagsjob an. Sie hatte gerade nach langer Suche eine gute Kita gefunden, was für sie eine Voraussetzung war, um sich wieder dem Berufsleben zu öffnen. Ein zweites Kind ist erst mal nicht angedacht, aber dann wird sie ungeplant schwanger. Sie ist überfordert, es fühlt sich zu früh an, und sie entscheiden sich als Paar gegen die Schwangerschaft. „Manchmal trifft man Entscheidungen und nachher erkennt man den Fehler.“ Sie leidet sehr nach dem Eingriff, realisiert aber auch, wie groß eigentlich der Wunsch nach einem zweiten Kind ist. „Ich bin dann knapp ein dreiviertel Jahr später wieder schwanger geworden. Manchmal rechne ich aus, wie alt das Kind heute wohl wäre.

Und dann fällt mir ein: Dann hätte ich meinen Sohn nicht. Mir vorzustellen, dass ich ihn nicht hätte, das kann ich nicht. Manchmal tröste ich mich mit dem Gedanken und sage mir dann, das war damals schon mein Sohn in meinen Bauch, und er ist später wiedergekommen.“ Als ihr Zweitgeborener ein paar Monate alt ist, schlägt ihr Bruder vor, sich bei einem Abgeordneten im Bundestag zu bewerben. „Das war erst mal ziemlich abwegig für mich als gelernte Hotelfachfrau. Aber zu den Aufgaben gehörte Terminkoordination und sowas.“ Sie wird eingestellt, kann aber nicht sofort anfangen. „Drei bis vier Monate hat mein neuer Chef ohne mich überbrückt. Das war großartig. Ich hatte ja überhaupt keine Ahnung von dem Metier, aber er hat mir trotzdem diese Tür geöffnet, und ich konnte mit meiner Wunschstundenzahl von 27 Stunden anfangen. Die Rahmenbedingungen waren auch toll – Urlaubstage, Weihnachtsgeld. Das ist für eine Jobwahl vielleicht nicht ausschlaggebend, aber doch ein schöner Rahmen.“ Sie arbeitet viel mit jüngeren Kollegen zusammen, die noch keine Kinder haben. „Die waren viel öfter krank als meine Kinder. Ich hatte manchmal das Gefühl, die bleiben auch wegen eines Schnupfens zuhause. Das erlauben sich die meisten Mütter gar nicht. Männern wird beruflich immer noch mehr der rote Teppich ausgerollt, dabei sollte man keinen Unterschied mütter AUS DeUtSchlAnD

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„ich Definiere MEin MEnschsEin nicht über meine erfolge im job“

machen. Eine Freundin bekam von ihrem Chef gesagt, sie sei eine Rabenmutter, weil sie so viel arbeitet. Das würde ein Mann nie zu hören bekommen.“ Gudrun ist mit ihrem Leben rundum zufrieden, sie fühlt sich sicher. In ihrem Muttersein, in ihrer Partnerschaft. „Aber wie man lebt, ist eine sehr persönliche Entscheidung. Ich sehe allerdings Familien, die ihre Kinder aus finanziellen Gründen weder in den Hort geben noch sich ein Nachmittagsprogramm wie Fußballverein oder ähnliches leisten können. Da wird den Kindern 80

so viel verwehrt. Oder die Tatsache, dass einige Kinder kein Frühstücksbrötchen dabei haben. Warum ist die komplette Schulspeisung nicht einfach kostenlos? Man könnte ja auch AGs haben, in denen mit den Kindern Mahlzeiten zubereitet werden. Ich bin im Osten groß geworden. Und ich habe wirklich nicht nur die schönsten Erinnerungen an meine Zeit im Kindergarten. Zum Beispiel musste ich vor meinem nicht leergegessenen Teller sitzen bleiben, wenn schon alle Mittagsschlaf machten. Toll aber war, dass es immer Betreuung gab. Für alle – von morgens bis abends. Schule ging in den Hort über, ohne zusätzliche Kosten. Ich verstehe nicht, dass so etwas nicht möglich ist.“


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Die Leichte

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e später man Mutter wird, desto mehr Gedanken macht man sich. Meine Mutter hat sich mit 17 Jahren viele dieser Gedanken gar nicht gemacht, und ich bin mir sicher, dass mir das sehr zugute gekommen ist.“ Michaela versucht fast sieben Jahre lang, schwanger zu werden. Als sie dann endlich mit 40 schwanger wird, ist sie im Geburtsvorbereitungskurs keineswegs mit Abstand die Älteste. „Diese Intuition, die uns abhanden geht, je

später wir Kinder kriegen, ist für die Kinder ein Nachteil. Im Rückbildungskurs gab es neben mir noch eine andere Mutter mit traumhaften Geburtserfahrungen im Geburtshaus, während alle anderen von furchtbar traumatisierenden Erfahrungen erzählten. Die meisten wollen Kontrolle und Sicherheit. Krankenhaus ist heutzutage das Natürliche. Wenn unsere Kinder auf der Welt sind, müssen wir intuitiv reagieren, aber in der Schwangerschaft und bei der Geburt mütter AUS DeUtSchlAnD

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„richtigeS timing gibt eS nicht – kinDer pASSen nie UnD daRuM PassEn siE iMMER“ wird einem das untersagt, fast abgesprochen. Dabei ist das doch mein Körper. Ich fühle das.“ Michaela wächst in den ersten Lebensjahren zusammen mit ihren Großeltern, den vier Geschwistern des Vaters und ihrer Mutter in einer Dreizimmerwohnung auf. „Das war großartig. Meine Mutter war noch in der Ausbildung, mein Vater bei der Armee, also nicht da, aber es kümmerte sich immer jemand um mich. Ich glaube, daher kommt auch dieses Gefühl von ‚Ach, ein Kind kriegt man immer groß.‘“ Mit ihrer Partnerin lebt sie zwei Jahre lang in einer Fernbeziehung zwischen Italien und Deutschland, bevor sie zusammenziehen. „Meine Eltern und auch Großeltern akzeptieren meine lesbische Beziehung total. Es ist bis heute kein Thema. Ich kriege eher dumme Sprüche, weil ich Vegetarierin bin.“ Sie versuchen einiges und spielen viele Varianten durch, um schwanger werden – mit dem besten Freund oder einem Bekannten oder doch Kinderwunschzentrum mit Samenspende? „So eine Samenbank ist krass und total schräg, weil man so viele Infos kriegt – Schriftprobe, Stimmprobe, wohin derjenige in den Urlaub fährt, Hobbys und Job und natürlich die ganze Krankengeschichte. Wir haben uns am Ende für einen offenen Spender entschieden, damit

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unser Kind mit 18 alle Informationen über den Spender bekommt und auch Kontakt aufnehmen kann, wenn es möchte. Heute sind wir sehr froh, dass es so gekommen ist. Wir haben unsere Kleinfamilie, können selbst entscheiden. Niemand redet rein. Es ist ja schon schwer, als Paar in der Erziehung einen Weg zu finden. Wie soll das erst mit drei oder vier Beteiligten gehen?“ Als selbstständige Logopädin kann sich Michaela leider nur sechs Monate Elternzeit erlauben. „Das bedauere ich sehr. Ich wäre sehr gerne ein ganzes Jahr zuhause geblieben. Finanziell war das aber nicht machbar.“ Ihre Tochter kommt mit anderthalb Jahren in die Kita, die Monate davor haben sie straff organisiert – die eine Hälfte des Tages betreut ihre Partnerin das Kind, dann haben sie eine gemeinsame Stunde, bevor sie die Kleine übernimmt. Eine gute Kita zu finden, ist die nächste Herausforderung. „Durch meinen Beruf habe ich ganz viele Kitas gesehen, und bei 90% denke ich – so etwas will ich nicht. Ich will keinen Bildungskindergarten. Ich will, dass mein Kind Sozialkompetenz lernt, einen Bezugserzieher hat und sich gut aufgehoben fühlt.“ Sie selbst kam mit sechs Monaten in eine typische Ost-Kita. „Da war natürlich alles unglaublich pragmatisch strukturiert. Da hat niemand mehr mit einem Jahr in die Windel gemacht. Das ist so in der Form nicht wünschenswert, aber Kinder liefen halt auch viel beiläufiger mit. Allerdings leben wir heute in einer anderen Zeit. Wie viele Jobs wird es denn überhaupt noch geben, wenn meine Tochter groß ist? Wir wurden damals total gedrillt, aber jetzt brauchen wir Kinder, die selbst kreativ werden, die ihre Stärken kennen


und auch wissen, was sie damit machen können. Meine Schulbildung war immer nur auf den Mangel ausgerichtet: ‚Was kannst du nicht?‘“ In Großstädten ist eine Regenbogenfamilie alltäglicher als auf dem Land. „Ich gehe da ganz offensiv mit um. Die meisten bringt es näher, als dass es sie abschreckt. Wenn Kinder was zum Ärgern finden wollen, dann finden sie immer was – seien es die roten Haare oder eine Brille. Und daher geht es nur darum, ein selbstbewusstes Kind zu erziehen. Außerdem leben wir ja in einer Zeit, in der es so viele Modelle gibt – Patchwork, zwei Väter, zwei Mütter, Halbgeschwister – Hauptsache, dem Kind geht es gut.“ mütter AUS DeUtSchlAnD

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„Mütter aus DeutschlanD“

Eine Hommage Es gibt junge Mütter, alte Mütter, reiche Mütter, arme Mütter, Vielfachmütter, glückliche Mütter, berufstätige, arbeitslose, gelassene, optimistische, frustrierte, kranke, abenteuerlustige, kämpferische, zwiegespaltene, enttäuschte, erfüllte, alleinerziehende ... einfach unendlich viele Mütter. Alle verbindet eins: Das Muttersein. Auf der Suche nach persönlichen Geschichten reiste die Autorin Tanya Neufeldt mit dem Fotografen Mujo Kazmi quer durch Deutschland. Entstanden sind einzigartige Geschichten von großartigen Frauen für eine Zukunft voller Zuversicht.

ISBN 978-3-945431-41-2

9 783945 431412


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