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Interview mit Dr. Melanie Leonhard, Sozialsenatorin
Sagen Sie mal …
… Dr. Melanie Leonhard, Sozialsenatorin „Folgen, die kaum jemand sieht“
Melanie Leonhard ist seit Juni 2020 auch für das Ressort Gesundheit zuständig. Im Interview hat sie verraten, welche Entscheidungen ihr besonders schwer fielen und wie es in der Krise für Hamburg weitergeht.
Frau Leonhard, das Ressort Gesundheit gehört erst seit Juni 2020 zur Sozialbehörde. Seit wann wussten Sie, dass der Bereich in Ihre Verantwortung übergehen wird?
Das hat sich gegen Ende der Gespräche und Verhandlungen mit dem Koalitionspartner abgezeichnet.
Die Pandemie war da schon ausgebrochen. Was ging Ihnen angesichts der Lage damals durch den Kopf?
Es ist natürlich eine große Aufgabe und man hat schon ordentlich Respekt. Gleichwohl ist es so, dass einfach viele Themen der Gesundheits- und Sozialpolitik große Überschneidungen haben. Die Schnittstellen in Angriff zu nehmen war mir schon immer ein Anliegen. Das ist also etwas Gutes an dieser Zusammenlegung.
Wenn Sie zurückschauen, welche Entscheidung fiel Ihnen am schwersten?
Was wirklich schwer für uns war, war damals die Tages-Förderung für Menschen mit Behinderung und psychischen Beeinträchtigungen einzuschränken. Das ist sicherlich der Oster-Ruhe zeigen, was das für Einzelne bedeutet. Es ist mitnichten so, dass alle Menschen ihr Gehalt sicher auf dem Konto haben. Und es ist auch mitnichten so, dass alle gut mit ihrer häuslichen Situation zurechtkommen, wenn sie beispielsweise Pflegeangebote nicht nutzen können. Da reden wir noch gar nicht über die unterschiedlichen Lebenslagen zwischen „wirtschaftlich benachteiligt“ oder „gut abgesichert“. Die Pandemie hat uns aufgezeigt, dass sicher geglaubte Lebensentwürfe plötzlich in Frage gestellt werden. Deswegen ist es so schwierig, diese Entscheidungen zu treffen.
eine Pandemiefolge, die kaum beachtet ist, die aber große Auswirkungen hat.
Sehr, sehr schwierig war auch die Entscheidung, jetzt wieder mit Krankenhausträgern darüber zu sprechen, planbare Eingriffe abzusagen. Das klingt nach leichter Hand. Aber jemand, der Schmerzen hat, weil er zum Beispiel an der Halswirbelsäule dringend operiert werden müsste, damit die Schmerzen besser werden, bekommt diese Operation dann eventuell nicht, weil er nicht lebensbedrohlich erkrankt ist. Patienten wie diese warten jetzt unter Umständen seit dem vergangenen Sommer auf eine Operation. Das sind schwere Entscheidungen, die trifft man nicht leichtfertig.
Experten sagen, dass ein längerer erster oder auch zweiter Lockdown erfolgreicher gewesen wäre. Warum tut sich die Politik so schwer mit einem härteren Kurs?
Beim zweiten Lockdown hätten wir es uns ja schon vorstellen können, die Einschränkungen länger aufrechtzuerhalten und erst in einer stabileren Lage zu öffnen. Aber die öffentlichen Reaktionen in der Ankündigung
Melanie Leonhard hat in der Pandemie die wohl schwerste politische Aufgabe Hamburgs
Foto: © Sozialbehörde/Tjaden
Bundesjustizministerin Lambrecht drängt darauf, dass Geimpfte schneller wieder zur Normalität zurückfinden. Denken Sie, es ist realistisch, dass Bürger friedlich nebeneinander leben und unterschiedliche Freiheiten genießen können? Ist das durchführbar?
Dieser Zustand wird irgendwann ohnehin eintreten, weil nicht alle Angebote staatlich reglementiert werden. Ein Beispiel: Private Reiseanbieter werden die Teilnahmemöglichkeit an Impfungen knüpfen. Derzeit empfin- „Wir haben da de ich das als eine gesell- viel gelernt, schaftlich sehr, sehr zwie- welche Bedeuspältige Debatte. Noch tung eigentlichfür einige Wochen werden wir weiterhin nicht in der Lage sein, allen eine Impfung anzubieten, bestimmte Dienstleistungen haben.“ die eine wollen.
Und auch vor diesem Hintergrund bin ich der Auffassung, dass wir erst noch weiter vorankommen müssen. Parallel müssen technische Fragen geklärt werden: Wie soll die Schutzimpfung nachgewiesen werden können? Wir haben in Deutschland immer noch den gelben Papierimpfpass – bekanntermaßen nicht fälschungssicher.
Rückblickend werden viele Dinge ja oft klarer. Was ist aus Ihrer Sicht in der Bekämpfung der Pandemie in Hamburg nicht gut gelaufen?
Ich glaube, dass die gesamte Debatte über Fragen von Systemrelevanz nicht gut gelaufen ist, auch staatlicherseits. Wir haben viel gelernt, z.B. welche Bedeutung eigentlich bestimmte Dienstleistungen haben.
Auch die Debatte über Stellenwert von Bildung, früher Bildung und Betreuung hat viel zu spät begonnen. Ich hab nochmal nachgeguckt; wir sind in Hamburg erst im Sommer 2020 wieder in den Regelbetrieb in den Kitas gegangen. Viele andere Dinge waren schon vorher möglich. Und in anderen Bundesländern war es zum Teil noch dramatischer. Das würde ich rückblickend so nicht mehr machen.
Foto: ©Daniel Reinhardt
Melanie Leonhard wird auch im Bundestagswahlkampf gefordert, als Landesvorsitzende der SPD
Trotz der Zahlen?
Gemessen an der Grundgesamtheit der Kinder, die ein Bildungsangebot bekommen, gibt es zwar ein Infektiongeschehen, aber das ist relativ überschaubar. Auch die Schließungen haben Auswirkungen auf die Kindergesundheit: Bei Kindern, die über einen langen Zeitraum nicht in die Kita konnten, merken wir deutlich Folgen, nicht nur am
Sprachstand und an der Bildung, sondern auch am Sozialverhal„Wir gehen davon aus, dass wir im Juni/Juli allen ein Impfangebot machen können.“ ten. Kinder brauchen die Kita, sie brauchen andere Kinder. Und das hat nichts mit der wirtschaftlichen Lage des Elternhauses zu tun.
Eine ganz andere Frage: War die Impfung Obdachloser im Winter notprogramm immer Bestandteil der Impfstrategie oder war das ein Vorstoß aus Ihrer Behörde?
Auch in der Impfverordnung des Bundes sind Menschen, die in Gemeinschaftsunterbringungen leben, ganz allgemein vorgesehen. In Hamburg haben wir bewusst das Winternotprogramm weiter betrieben, um den obdachlosen Menschen weiter einen Rückzugsort zu bieten. Wir nutzen es auch gezielt als guten Ort, wo man Menschen auch erreicht, um ihnen die Schutzimpfung
Die Zahlen in Hamburg zeigen, dass besonders sozial schwache Stadtteile höhere Infektionszahlen aufweisen. Bezirks-Senatorin Katharina Fegebank äußerte die Idee, die Impfreihenfolge entsprechend zu ändern. Wie sehen Sie das?
Wir haben in Hamburg ein sehr wechselhaftes Infektionsgeschehen. Die Stadtteile lösen sich durchaus ab in ihren Infektionsspitzen. Wir merken eine gewisse Häufung bei wirtschaftlich schwachen Stadtteilen. Das hat weniger etwas mit den Menschen, die dort leben zu tun, als vielmehr mit den Berufen, in denen sie arbeiten. Vor dem Hintergrund glaube ich, dass es weiterhin klug ist, die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) zu beachten.
Die Priorisierung auf wissenschaftlicher Basis richtet sich nach dem individuellen Risiko für eine schwere Erkrankung oder Versterben oder nach der beruflichen Tätigkeit. Und danach gehen wir vor. Wir haben zum Beispiel stadtweit bestimmte SchwerpunktPraxen, die zusätzlich zum Impfzentrum sowie den Hausärzten impfen und diese Menschen gezielt erreichen. Das halte ich für richtig. Alles andere bringt uns dann nur in medizinisch schwer begründbares Fahrwasser.
Wann könnten alle Hamburgerinnen und Hamburger durchgeimpft sein?
Ich sage lieber „ein Impfangebot gemacht haben“ als „durchgeimpft“. Durchimpfung setzt ja voraus, dass jemand das Angebot annimmt. Aber wir gehen davon aus, dass wir im Juni/Juli allen ein Impfangebot machen können, wenn alle zugesagten Lieferungen eintreffen und die Impfstoff-Zulassungen so vorangehen wie angekündigt.
Wo sehen Sie den größten Nachholbedarf?
Wir haben uns in allen Arbeitsbereichen sehr engagiert, damit nicht so viel liegen bleibt. Wofür wir aber unter anderem auf eine Verbesserung der Lage angewiesen sind, sind konzeptionelle Prozesse. Ich gebe mal ein Beispiel: Wie kann Integration von Frauen in Arbeit noch besser gelingen. Oder die Entwicklung neuer Arbeitsformen zusammen mit den Jugendämtern. Das sind ja alles Dinge, da braucht es persönlichen Kontakt. Hier sind wir natürlich nicht so schnell vorangekommen, wie wir uns das eigentlich vorgenommen hatten. Da sehe ich tatsächlich auch für uns alle Nachholbedarf.
Wir alle freuen uns auf ein Ende der Pandemie und manche haben Pläne, was sie dann gerne tun möchten. Sie werden dann eine besonders anstrengende Zeit hinter sich haben. Worauf freuen Sie sich?
Also ich freue mich zum Beispiel auf drei Tage im Garten ohne Telefon oder einen Montag an der Nordsee, ohne Sorge vor der nächsten Meldung zu haben oder vor dem nächsten Anruf.
Frau Leonhard, der KLÖNSCHNACK dankt Ihnen für das Gespräch.
Fragen: michael.wendland@kloenschnack.de Infos: www.hamburg.de/sozialbehoerde
ZUR PERSON: Dr. Melanie Leonhard
wurde 2015 Senatorin des Landes Hamburg in der Behörde Arbeit, Soziales, Familie und Integration. Im Juni 2020 fiel ihr auch das Ressort Gesundheit zu, das zuvor in der Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz angesiedelt war. Melanie Leonhard ist außerdem Mitglied des Bundesrats und seit 2018 Landesvorsitzende der SPD Hamburg. Nach ihrer aktuellen Einschätzung erwartet uns zum Sommer eine Entspannung der Pandemielage. Dies hänge von der Impfdisziplin ab. Die Kreativität der Menschen in der Krise hat sie sehr beeindruckt.