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UKRAINE

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Mutter Tatiana mit ihren Kindern Sachar, Katerina und Bogdan

Krieg in der Ukraine „Es ist, als ob das Leben in zwei Teile geteilt sei …”

Der Krieg trifft tausende Menschen und sorgt für tausendfaches Leid. Tatiana, ihre Kinder Katerina, Sachar und Bogdan, Natascha und Valentina berichten von ihrer Flucht aus der Ukraine nach Deutschland. Unsere Autorin Antonina Melchikova hat ihre Erlebnisse aufgeschrieben.

Mehr als vier Millionen Menschen mussten bislang aus der Ukraine fliehen.

Doch was steckt hinter den trockenen Zahlen? Es sind Millionen Schicksale, bombardierte Häuser und zerstörte Leben.

Auf Tatianas Familie traf der Krieg gleich am ersten Tag. Ihre Tochter Katerina studierte in Charkiw, das in den ersten Stunden aus der Luft bombardiert wurde. Sohn Bogdan arbeitete in Kiew. Er hörte die Explosionen nicht, er schlief fest. Als er erwachte, bekam er Dutzende von Anrufen und Nachrichten. Er stellt mit Schrecken fest, dass er kein Essen, kein Wasser, kein Bargeld und vor allem keinen Vorrat an lebenswichtigem Insulin hatte. Ihre Mutter Tatiana erlebte den

„In den Nachrichten hatte es zunächst geheißen, die russischen Soldaten würden nur auf militärische Ziele schießen …”

Beginn des Krieges mit ihrem Mann und ihrem jüngeren, fünfjährigen Sohn Sachar in der Grenzstadt Konotop. Durch diese Stadt marschierte die russische Armee, als sie die Invasion der Ukraine startete.

Mutter Tatiana: „Wir waren die ersten, denen bewusst wurde, dass der Krieg begonnen hatte. Eine Kolonne von mindestens 300 Panzern fuhr durch unsere Stadt. Es wirkte wie im Film –doch es war schreckliche Realität. Wir konnten nicht glauben, dass uns das alles wirklich passierte. An diesem Tag warteten wir sehnlichst darauf, dass unsere Kinder nach Hause kamen. Eisenbahn und Flugplatz waren sofort bombardiert worden und die Verbindungen wurden abgeschnitten. Vor allem hatte ich Angst, dass wir getrennt würden und ich nicht wissen würde, wo meine Kinder sind.

Wir riefen unsere Kinder alle 20 Minuten an und ich wusste, dass Raketen über sie flogen, und durch unsere Stadt rollte eine endlose Kolonne russischer Fahrzeuge, alle beladen mit Kriegsgerät. Schnell ging ihnen der Treibstoff aus, die Fahrzeuge blieben stehen.

Unsere Leute beleidigten die russischen Soldaten nicht. Wir wollten nicht wirklich glauben, dass diese Jungs mit schlechten Absichten kommen. Die Soldaten verließen ihre Fahrzeuge und marschierten durch die Stadt. Sie waren erbärmlich schlecht gekleidet. Die Einheimischen sagten zu ihnen: ,Jungs, ihr seid so jung, geht nach Hause’. Niemand zeigte auf sie mit dem Finger, niemand beschimpfte sie, fluchte nicht. Meine Kollegen und ich schrieben Plakate wie ,Geht zu euren Müttern’ und hängten sie überall in der Stadt auf.

Ungehindert umzingelten die Soldaten die Stadt. Uns gingen bald Lebensmittel und Medikamente aus. Zum Glück gibt es viele Dörfer um uns herum. Die Menschen aus den Dörfern brachten Milch, backten und verteilten Brot, brachten Medikamente ins Krankenhaus, die sie daheim in ihren Hausapotheken hatten. Mehr als einen Monat waren wir umzingelt. Russische Soldaten begannen, militärische Ausrüstung in den Gärten aufzustellen und Zivilisten zu erschießen.”

Tochter Katerina: „Dass russische Soldaten in unsere Stadt einmarschierten, haben meine Mitbewohnerin und ich um 5 Uhr

morgens erfahren. Zehn Minuten später erklang der Feueralarm und ein Bekannter rief uns an und sagte, dass wir packen müssen. Ich lief zum Bahnhof und wartete sechs Stunden auf einen Zug. Ich wollte Charkiw verlassen, es gab immer Schüsse und Explosionen. Dann entschieden wir, dass ich zu meinem Bruder nach Kiew fahren würde. Mit einem Mädchen, das ich kannte, fuhren wir dann mehr als zehn Stunden und verbrachten die nächste Nacht in einem Luftschutzkeller in Kiew.

In der ersten Nacht schliefen wir überhaupt nicht: Wir hörten die Explosionen, lauschten den Nachrichten. Dann wurde das erste Wohnhaus in Kiew bombardiert. Wir sahen uns die Bilder im Fernsehen an und trauten unseren Augen nicht. In den Nachrichten hatte es zunächst geheißen, die russischen Soldaten würden nur auf militärische Ziele schießen.

Am nächsten Tag gelang es meiner Cousine, die in der Region Kiew lebte und meinen Bruder Bogdan bereits aufgenommen hatte, mit dem Auto zu mir zu kommen und mich aus dem Luftschutzkeller zu holen. Wir hielten an einer Tankstelle und dort sah ich zum ersten Mal eine Rakete einschlagen. Ich denke, es war eine ukrainische Rakete, denn unsere Truppen wehrten einen Angriff der russischen Armee ab. Trotzdem war es ein Schock.”

Sohn Bogdan: „Wir hofften, dass es bei unserer Cousine etwas außerhalb von Kiew sicherer sein würde. Aber wir wohnten sehr nah an Butcha und anderen Orten, die besonders stark umkämpft waren. Aus der Wohnung im fünften Stock sahen wir, wie die Bombardierung von Gostomel begann. Die Raketen flogen ständig über das Haus.

Zwei Wochen lang behielten wir unsere Kleidung und unsere Schuhe an. Wir schliefen im Flur, aber es war klar, dass das Haus einem Raketenangriff nicht standhalten würde. Wir sind den freiwilligen Helfern aus Kiew sehr dankbar: Sie haben uns Essen und Insulin gebracht. Sie brachten uns wieder zum Bahnhof, als klar wurde, dass wir nicht mehr in dieser Wohnung bleiben konnten. Wir sprangen auf den ersten Zug. In totaler Dunkelheit, um kein Ziel für Raketen zu werden, fuhren wir nach Rivne. Dort verbrachten wir einige Nächte am Bahnhof und bei Freunden. Von dort aus konnten wir weiter nach Polen fahren.”

Mutter Tatiana: „Mein kleiner Sohn Sachar und ich blieben zunächst in Konotop (Grenzstadt). Aber als einige russische Truppen aus der Region Kiew nach Konotop zurückkehrten, hatten wir Angst um unser Leben. „Wer durch die Stadt geht, wird erschossen“, hieß es. Jeden Tag wurden Zivilisten getötet. Mir wurde klar, dass Sachar und ich Konotop verlassen müssen. Es gab keine offizielle Evakuierung, wir fuhren auf eigene Gefahr über die Felder. Polen war für uns wie ein anderer Planet – überall war Licht. Wir hatten zwei Monate in Dunkelheit verbracht. Wir sind jetzt außer Gefahr, wir haben aber immer noch Angst.

Es ist, als ob das Leben in zwei Teile geteilt sei. Du erinnerst dich an die Vergangenheit, willst nach Hause zurückkehren, erkennst aber, dass sich das Leben für immer verändert hat. Die Städte können wieder aufgebaut werden, aber wir sind alle zusammengebrochen und werden nie mehr dieselben sein.”

Tatiana ist jetzt in Deutschland und denkt darüber nach, wie sie die Zukunft ihrer Kinder gestalten kann. Wie andere Kinder und Jugendliche aus der Ukraine werden sie ihr Leben wahrscheinlich mit Deutschland verbinden. Bogdan spricht sehr gut Deutsch, Katerina kann in Hamburg studieren und Zahar kann hier in die Schule gehen.

Neue Zeitzeugen

Natalia und ihre 70-jährige Mutter Valentina lebten in ihrer Heimat ein gutes Leben. Natalia arbeitete in einer Modeboutique, ihre Mutter war Rentnerin. Wie Millionen von Ukrainern mussten auch sie ein neues Leben beginnen. Natalia: „Am Sonntag, den 27. Februar sollte ich auf eine Dienstreise nach Mailand und Paris fliegen. Ich hatte ein wunderbares Leben, mir fehlte nichts. Aber am Morgen des 24. Februar lief meine Mutter in mein Zimmer und rief: „Natascha, sie schießen“. Ein Freund rief mich an und sagte: „Es ist dumm, in Charkiw zu bleiben. Wir fahren am 2. März. Im Auto ist noch Platz für dich und deine Mutter.“ Wegen der Ausgangssperre konnte er uns nicht abholen und wir sollten durch die Stadt laufen. Wir hatten Angst, erschossen zu werden oder dass meine Mutter den Marsch dorthin einfach nicht schaffen würde. Das Auto fuhr also ohne uns.

Freunden von uns war es gelungen, nach Warschau zu fliehen. Sie schickten uns Videos. Wir sahen darauf Orte, wo nicht geschossen wird, wo man nicht jede Nacht wegen der Bomben ins Badezimmer rennen muss. Einmal gab es einen so schrecklichen Luftangriff, dass das ganze Haus zitterte. Ich konnte Zugtickets von Charkiw nach Polen organisieren. Nach zwei Tagen waren

wir in Polen. Wir hatten keine Angst mehr. Wir trafen viele freundliche und sympathische Menschen, sowohl Polen und Deutsche als auch Russen.” Valentina: „Ich wurde im Süden Russlands geboren, mein Mann und ich sind Kuban-Kosaken. Aber wir haben aufgehört, mit unseren Freunden und Verwandten in Russland zu kommunizieren. Denn sie haben Angst, über den Krieg zu sprechen. Außerdem ist es schwierig für sie, uns zu verstehen, denn ihr Leben hat sich nicht verändert. Selbst in Poltawa, nur 160 km von Charkiw entfernt, leben die Menschen ein normales Leben. Aber unsere Stadt ist zerstört und liegt in Trümmern. Es gibt kei„Wir hatten Angst, erschossen zu werden oder dass meine Mutter den Marsch nicht schaffen würde.“ ne Arbeit. Selbst wenn der Krieg morgen enden sollte, können wir nicht zurückkehren. Wir sprechen Russisch und wir sind sicher, dass jetzt, nach dem Krieg, die russischsprachigen Ukrainer unterdrückt werden.” Die erste Zeitzeugin, Tatiana, spricht auch darüber, wie beängstigend die Vorstellung für sie ist, zurück in ihre Heimat zu fahren. Sie befürchtet, dass der Krieg sich noch viele Jahre hinziehen wird, wie in Donezk und Luhansk in der Ostukraine. Trotz der großartigen Unterstützung sind diese Millionen von Frauen und Kindern aus Zeit und Raum gefallen und entwurzelt. Die Erlebnisse der vergangenen Monate sind traumatisch und die Zukunft ist ungewiss. Selbst wenn der Krieg morgen enden sollte, wissen die meisten nicht, wie sie leben werden. Antonina Melchikova

Natascha und Valentina in Flensburg

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