28-29 Ukraine.qxp_kloen 23.05.22 16:43 Seite 28
UKRAINE
Mutter Tatiana mit ihren Kindern Sachar, Katerina und Bogdan
Krieg in der Ukraine
„Es ist, als ob das Leben in zwei Teile geteilt sei …” Der Krieg trifft tausende Menschen und sorgt für tausendfaches Leid. Tatiana, ihre Kinder Katerina, Sachar und Bogdan, Natascha und Valentina berichten von ihrer Flucht aus der Ukraine nach Deutschland. Unsere Autorin Antonina Melchikova hat ihre Erlebnisse aufgeschrieben.
Klönschnack 6 · 2022
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ehr als vier Millionen Menschen mussten bislang aus der Ukraine fliehen. Doch was steckt hinter den trockenen Zahlen? Es sind Millionen Schicksale, bombardierte Häuser und zerstörte Leben. Auf Tatianas Familie traf der Krieg gleich am ersten Tag. Ihre Tochter Katerina studierte in Charkiw, das in den ersten Stunden aus der Luft bombardiert wurde. Sohn Bogdan arbeitete in Kiew. Er hörte die Explosionen nicht, er schlief fest. Als er erwachte, bekam er Dutzende von Anrufen und Nachrichten. Er stellt mit Schrecken fest, dass er kein Essen, kein Wasser, kein Bargeld und vor allem keinen Vorrat an lebenswichtigem Insulin hatte. Ihre Mutter Tatiana erlebte den
„ „In den Nachrichten hatte es zunächst geheißen, die russischen Soldaten würden nur auf militärische Ziele schießen …”
Beginn des Krieges mit ihrem Mann und ihrem jüngeren, fünfjährigen Sohn Sachar in der Grenzstadt Konotop. Durch diese Stadt marschierte die russische Armee, als sie die Invasion der Ukraine startete.
Angst, dass wir getrennt würden und ich nicht wissen würde, wo meine Kinder sind. Wir riefen unsere Kinder alle 20 Minuten an und ich wusste, dass Raketen über sie flogen, und durch unsere Stadt rollte eine endlose Kolonne russischer Fahrzeuge, alle beladen mit Kriegsgerät. Schnell ging ihnen der Treibstoff aus, die Fahrzeuge blieben stehen. Unsere Leute beleidigten die russischen Soldaten nicht. Wir wollten nicht wirklich glauben, dass diese Jungs mit schlechten Absichten kommen. Die Soldaten verließen ihre Fahrzeuge und marschierten durch die Stadt. Sie waren erbärmlich schlecht gekleidet. Die Einheimischen sagten zu ihnen: ,Jungs, ihr seid so jung, geht nach Hause’. Niemand zeigte auf sie mit dem Finger, niemand beschimpfte sie, fluchte nicht. Meine Kollegen und ich schrieben Plakate wie ,Geht zu euren Müttern’ und hängten sie überall in der Stadt auf. Ungehindert umzingelten die Soldaten die Stadt. Uns gingen bald Lebensmittel und Medikamente aus. Zum Glück gibt es viele Dörfer um uns herum. Die Menschen aus den Dörfern brachten Milch, backten und verteilten Brot, brachten Medikamente ins Krankenhaus, die sie daheim in ihren Hausapotheken hatten. Mehr als einen Monat waren wir umzingelt. Russische Soldaten begannen, militärische Ausrüstung in den Gärten aufzustellen und Zivilisten zu erschießen.”
Mutter Tatiana: „Wir waren die ersten, denen bewusst wurde, dass der Krieg begonnen hatte. Eine Kolonne von mindestens 300 Panzern fuhr durch unsere Stadt. Es wirkte wie im Film – doch es war schreckliche Realität. Wir konnten nicht glauben, dass uns das alles wirklich passierte. An diesem Tag warteten wir sehnlichst darauf, dass unsere Kinder nach Hause kamen. Eisenbahn und Flugplatz waren sofort bombardiert worden und die Tochter Katerina: „Dass russische SoldaVerbindungen wurden abge- ten in unsere Stadt einmarschierten, haben schnitten. Vor allem hatte ich meine Mitbewohnerin und ich um 5 Uhr