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Grande Dame des Tanzes Seite 10


Gleich um die Ecke

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Die Lehre bei der Mobiliar: Ein Grundstein fürs Leben. Die Mobiliar Olten bildet Jahr für Jahr Lernende aus – aktuell Lea Jäggi, Eileen Giroud und Joëlle Purtschert.

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Generalagentur Olten Fabian Aebi-Marbach


EDITORIAL November 2017

Liebe Leser_innen Vielleicht habt ihr es mitgekriegt: Die Feedbacks auf unsere letzten paar Ausgaben (siehe die Rubrik «Leserpost» auf Seite 8) waren nicht sehr positiv. Kurz zusammengefasst lautete die Kritik: «KOLT ist zu jung!», «KOLT ist zu links!». So etwas hört man als politisch unabhängige Redaktion mit einem Durchschnittsalter von über 30 Jahren natürlich ungerne. Sich mit diesen Feedbacks auseinanderzusetzen macht aber durchaus Spass. Als wir letzten Monat mit einem kleinen, aber hübschen Stand an der Gewerbemesse MIO vertreten waren, sprachen uns überraschend viele Besucher_innen auf diese Leserpost-Zusendungen an. Die einen waren empört und klopften uns ermutigend auf die Schultern, andere gaben zu, dass sie ähnlich denken.

Für unsere Coverstory haben wir eine Frau getroffen, die sich voll und ganz dem Tanz verschrieben hat. Zum Glück für eine Kleinstadt wie Olten. Der Fotograf Michael Isler wollte es sich nicht nehmen lassen, Ursula Berger in Paris, wo sie im Tanzstudio eines befreundeten Choreografen trainiert, zu besuchen. (Seite 10) Übrigens erhielten wir letzten Dezember folgendes Feedback: «Im KOLT hat’s keine Frauen!» Wie wahr! Manchmal braucht es eben den Blick von Aussen, um zu realisieren, dass man seine eigenen Vorsätze vielleicht doch nicht so gut erfüllt, wie man gedacht hat. Eine anregende Lektüre mit dem November-KOLT wünsche ich euch! Nathalie Bursać

IMPRESSUM VERLAG / HERAUSGEBER Verlag 2S GmbH, Leberngasse 17, 4600 Olten, verlag@v2s.ch, www.v2s.ch VERLAGSLEITUNG Yves Stuber (ys) REDAKTIONSLEITUNG Nathalie Bursać (nb), redaktion@kolt.ch FINANZEN Matthias Gubler INTERNETAUFTRITT Roger Burkhard LAYOUT / SATZ Christoph Haiderer REDAKTIONELLE MITARBEIT Kilian Ziegler, Marc Gerber, Daniel Kissling, Pierre Hagmann, Ueli Dutka (ud), Joshua Guelmino, Isabel Hempen, Franziska Monnerat ILLUSTRATION Petra Bürgisser, Anna-Lina Balke FOTOGRAFIE Michael Isler, Janosch Abel, Victoria Loesch & Christian Gerber, Yves Stuber KORREKTORAT Mirjam Läubli, Jan Kohler LESERBRIEFE leserbriefe@kolt.ch, www.kolt.ch/leserbriefe AGENDA agenda@kolt.ch, www.kolt.ch/agenda ABO Jahresabonnement CHF 79.—(inkl. MwSt), Gönnerabonnement CHF 150.— (inkl. MwSt), abo@kolt.ch, www.kolt.ch/abo INSERATE inserate@kolt.ch, www.kolt.ch/inserieren KONTAKT www.kolt.ch, hallo@kolt.ch AUFLAGE 1'800 ISSN 1664-0780 DRUCK Dietschi AG Druck und Medien, Ziegelfeldstrasse 60, CH-4600 Olten. © 2017, Verlag 2S GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung. Die Urheberrechte der Beiträge bleiben beim Verlag. Keine Gewähr für unverlangt eingesandte Manuskripte, Fotos und Illustrationen.

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Cover fotografiert von Michael Isler

So. Und nun haltet ihr die neue Ausgabe in den Händen. Auf Seite 9 lest ihr das Debüt unseres neuen Stadtkolumnisten, Matthias Borner, SVP-Gemeindeparlamentarier und Ersatzmann für SP-Regierungsrätin Susanne Schaffner, die ihren Platz in unserer Rubrik aus zeitlichen Gründen freigegeben hat. Auf Seite 28 könnt ihr mit dem 79-jährigen Naturfreund Hansruedi Nussberger auf die Rumpelweid wandern. Der Verein der Naturfreunde stand schon lange auf unserer Themenliste, das politische Spektrum in der Stadtkolumne zu erweitern, war schon länger geplant. Was am Ende aber zählt, sind dann eben doch die Taten. Und manchmal braucht es einen extra Schubs.


INHALT

6 Im Gespräch Daniela Gaiotto über das «Lädelisterben» in Olten

10 Grande Dame

Ursula Berger verkörpert den Tanz. KOLT traf die Tanzmacherin in Paris.

GENUSS

KOLUMNEN

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Die goldene Palme geht nach Schweden

Film

NaRr «Zu Besuch»

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Kilian Ziegler

Musik

Eine Absage an die moderne Welt

Sound wie Zuckerguss

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Petra & Roland «Müeti Remmler»

STADT

22 Volltreffer

Der Oltner Marvin Spielmann fand im Judo-Training zum Fussballspiel. Heute kickt er beim FC Thun und in der U-21-Nationalmannschaft – mit Erfolg.

Literatur Nicht zweifelsfrei

34 Der koltige Monat KOLT sagt sorry

9 Meinung «Mit oder ohne Lärm»

28 Einer der Letzten

Einst war es der Freizeitclub der Arbeiterschaft. Heute kämpfen die Naturfreunde Olten um das Überleben ihrer Sektion. Hansruedi Nussberger ist einer von ihnen.

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DAS GESPRÄCH

«Ein Ausverkauf der Altstadt findet nicht statt» Eine Stadt verändert sich, und mit ihr die «Lädeli»-Landschaft. Das müsse man akzeptieren, sagt Daniela Gaiotto, die Co-Präsidentin des Oltner Gewerbeverbandes. Interview von Martin Bachmann Foto von Yves Stuber

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aniela Gaiotto, Hand aufs Herz, wann haben Sie zuletzt im Ausland eingekauft? Mein Mann stammt aus dem Friaul. Wenn wir seine Familie besuchen, machen wir einen Zwischenstopp in San Daniele, wo wir jeweils Rohschinken einkaufen. Aber ich gehe aus Prinzip nicht im Ausland auf Einkaufstour. Sonst wäre ich unglaubwürdig. Ich wohne und arbeite in Olten, daher ist klar, dass ich das örtliche Gewerbe unterstütze.

In einem Interview mit der damaligen Stadtratskandidatin Monique Rudolf von Rohr sagten Sie im Januar 2017, es interessiere Sie, was die Leute denken. Können Sie uns ein Beispiel für die Anliegen der Mitglieder des Gewerbeverbands nennen? Viele Gewerbetreibende wünschen sich günstigere Parkplätze in der Stadt. Wir sind darüber im Gespräch mit der Stadtregierung und haben zum Beispiel erreicht, dass im Dezember an Samstagen in der Schützenmatte gratis parkiert werden darf. Schön wäre natürlich eine generelle Senkung der Parkplatzgebühren oder wenn zum Beispiel die erste halbe Stunde Parkieren gratis wäre. Stichwort Politik: Vor Kurzem hat der Stadtpräsident Martin Wey auf eine Online-Petition geantwortet, in der gefordert wurde, dass es im Rahmen des Projekts «Sälipark 2020», dem neuen Einkaufs- und Begegnungszentrum auf der rechten Stadtseite, weiterhin ein Migros Do-it in Olten geben müsse. Das ist doch eigentlich eine Frage, um die Sie sich kümmern müssten, oder? Von dieser Petition habe ich aus der Zeitung erfahren. Auf uns kam damals niemand zu, die Petition wurde meines Wissens an die Migros Aare weitergereicht. Der Gewerbeverband wurde in dieser Frage gar nicht mit einbezogen. Und ich sehe es in diesem speziellen Fall auch nicht als Aufgabe des Gewerbeverbandes sich einzumischen. Dieses Jahr schloss an der Baslerstrasse der Kosmetiksalon Zumwald, im Sommer war es die Apotheke ein paar Häuseingänge weiter. Das Rahmungsgeschäft Le Trésor hatte KOLT letztes Jahr porträtiert: Die alteingesessenen Gewerbetreibenden von Olten scheinen es nicht ganz einfach zu haben. Wie hilft der Gewerbeverband denen, die weit über das Pensions-

alter hinaus noch in ihrem eigenen Geschäft arbeiten wollen? Dass alteingesessene Geschäfte schliessen, ist nicht nur in Olten ein Problem. Andere Städte kennen dieses Phänomen leider auch. Wir sehen den Grund dafür häufig in einem Nachwuchsproblem. Für spezialisierte Geschäfte gibt es zu wenig Nachfolger. Manchmal fehlt es auch an Geld. Wenn wir eine Patentlösung hätten, dann könnten wir dem «Lädelisterben» in der ganzen Schweiz entgegenwirken.

«Mein Wunsch für die Altstadt ist, dass die neu besetzten Läden nach einem halben Jahr nicht wieder verschwinden.» Wenn solche Läden schliessen, geht auch viel Charakter einer Stadt und die Vielfalt des Angebots verloren. Wer soll diese Lücke füllen? Natürlich geht damit im ersten Moment etwas von der Vielfalt verloren, und leere Ladenlokale sind völlig trostlos. In der Nähe der Suteria, wo ich wohne, befand sich früher das Nobelwarenhaus Viktor Meyer. Dort gab es alles zu kaufen. Im Laufe der Jahrzehnte ändert sich das Stadtbild aber nun mal. In Olten gibt es neue Läden wie zum Beispiel das CupcakeGeschäft an der Marktgasse. Solche junge, innovative Leute mit guten Ideen und Mut zum Risiko brauchen wir in Olten. In der Altstadt eröffnete vor Kurzem ein Laden, in dem man sehr günstige Alltagsware kaufen kann. Die Besitzer antworteten dem Oltner Tagblatt, dass sie

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keinen Ramsch verkaufen würden. Trotzdem verstärkt diese Neueröffnung den Eindruck, dass in der Altstadt im wahrsten Sinne des Wortes ein Ausverkauf stattfindet. Gemäss Oltner Tagblatt war der Mietzins für das besagte Lokal günstig. Ich möchte diesen Laden nicht bewerten. Mein Wunsch für die Altstadt ist, dass die neu besetzten Läden nach einem halben Jahr nicht wieder verschwinden. Das gilt auch für das besagte Geschäft in der Altstadt. Ein Ausverkauf der Altstadt findet aus meiner Sicht nicht statt. Sie verändert sich nur, daran müssen wir uns gewöhnen. Uns vom Gewerbeverband ist es wichtig, dass die Vielfalt erhalten bleibt. Eine praktische Frage zum Schluss: Wieso haben das Migros Hammer und das Coop City am Samstag unterschiedlich lang geöffnet? Ich bin schon einige Male vor verschlossenen Türen gestanden. Für Ladenöffnungszeiten gibt es gesetzliche Vorgaben. Grössere Geschäfte reizen dabei den gesetzlichen Spielraum aus, während sich kleinere die Freiheit nehmen, früher zu schliessen. Das ist in der schweizerischen Mentalität, allzu viele Vorschriften werden als Einmischung in die Gewerbefreiheit empfunden. Aus meiner Sicht besteht der richtige Lösungsansatz eher darin, dass die Öffnungszeiten präzise kommuniziert werden und leicht zugänglich sind.

Daniela Gaiotto (*1968) ist Co-Präsidentin des Oltner Gewerbeverbandes und in Starrkirch aufgewachsen. Nach dem Handelsdiplom war sie lange im Bereich Qualitätsmanagement tätig. Seit gut 15 Jahren arbeitet Daniela Gaiotto, heute Leiterin Kommunikation und Medien, in den Pallas Kliniken AG in Olten. Der Gewerbeverband Olten zählt über 270 Mitglieder vor allem aus den Wirtschaftssektoren Gastronomie, Detailhandel, Dienstleister, Baugewerbe und Handwerk. Der Vorstand setzt sich aus acht Mitgliedern zusammen. Daniela Gaiotto ist seit 2012 Vorstandsmitglied und wurde im Mai 2016 neben Andreas Jäggi zur Co-Präsidentin gewählt.


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LESERPOST

OFF THE RECORD

Kabelsalat «Ich finde es wichtig zu erfahren, wie die jungen Leute heute denken, welche Themen sie interessieren und motivieren, und wie sie ihre (oft grosse) Kreativität ausleben. Das finde ich hoch spannend und es gibt mir das Gefühl, doch noch nicht einer so alten Generation anzugehören!»

Eine Leserin reagiert per Mail auf die vorletzte Leserpost (September-KOLT), in der ein 70-jähriges Ehepaar seine Abo-Kündigung damit begründete, das KOLT sei nicht für ältere Menschen gemacht.

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in grosses Unternehmen in Trimbach hat sich für ein paar tausend Franken einen direkten Anschluss an das Glasfasernetz der Swisscom erkauft. Das heisst: Es wurde eine neue Leitung zur Firma gezogen. Diese Leitung gehört der Swisscom. Der Kaufpreis beinhaltet nicht die Eigentümerschaft dieser Verbindung. Die böse Überraschung dabei: die hohe Nutzungsgebühr, welche die Firma der Swisscom bezahlen muss. Die gleiche Leistung kostet bei der Konkurrenz UPC rund viermal weniger. Der Clou: Die Cablecom darf die Leitung der Swisscom nicht mitbenutzen. Das besagte Unternehmen kann also den Anbieter nicht frei wählen. Der Monopolist – in diesem Fall die Swisscom – setzt die Preise für die eigenen Leitungen selber fest. Diese Abhängigkeit müsste so nicht sein.

besteht natürlich die Möglichkeit, dass beispielsweise die Cablecom wiederum eigene Leitungen baut. In der Praxis bedeutet dies, dass die Trottoirs und Strassen der Quartiere mehrmals aufgerissen werden, damit die Leitungen verlegt werden können. Objektiv betrachtet wäre dies absoluter Unsinn, weil auf einem einzigen Netz eben mehrere Anbieter miteinander funktionieren könnten. Die Firma, der die Stadt vertraut, profitiert exklusiv und erbringt nicht die optimale Leistung: Die Kabel enden nicht im Haus, sondern jeweils in einem Quartierverteiler. Die letzten Meter werden überbrückt und die Leitung wird künstlich beschleunigt. Die städtischen Werke hätten aber bereits die Infrastruktur, um ein eigenes Netz bis in die Haushalte zu gewährleisten.

«Die innovative Stadt setzt auf einen offenen Zugang und schafft Wettbewerb unter den Anbietern.»

Die Stadt Olten und die umliegenden Gemeinden setzen mangels einer eigenen Digitalstrategie auf Swisscom. Intelligente Städte wie beispielsweise die Stadt St. Gallen bauen innert der nächsten zehn Jahre ein flächendeckendes Glasfasernetz auf eigene Kosten. Ihr Geschäftsmodell sieht vor, dass die Investitionskosten von knapp 80 Millionen Franken nach ungefähr fünf Jahren die Gewinnschwelle erreichen. Nach 25 Jahren sollen die gesamten Investitionen amortisiert sein. Das städtische Netz finanziert sich selber. Denn: Die innovative Stadt setzt auf einen offenen Zugang und schafft Wettbewerb unter den Anbietern, was wiederum starken Einfluss auf die Preise hat, von denen wiederum die lokalen Unternehmen und Haushalte profitieren. Grundsätzlich

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Nicht zu verschweigen: Die Stadt mit ihren städtischen Werken würde sich eine neue Einnahmequelle sichern. Niemand würde sich an diesem Geschäft stören, denn ein schneller Internetzugang gehört zukünftig zur Grundversorgung unserer Gesellschaft. So wie Strom und Wasser. Es ist diese Weitsicht, die über eine Amtsperiode oder zwei hinausgehen muss, die dem Stadtrat fehlt. Eine fehlende effiziente Organisationsstruktur im Stadthaus nimmt den Verwaltungsdirektionen wiederum die notwendige Musse, überhaupt auf die Idee zu kommen, ein eigenes Glasfasernetz zu bauen. Schade. Vor allem für uns, die hier wohnen und arbeiten.

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MEINUNG

Im Zug – mit oder ohne Lärm

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s ist Samstagnachmittag, und ich nehme den Zug von Olten nach Luzern. Nach kurzer Suche finde ich einen Sitzplatz und schlage gemütlich die Zeitung auf. Plötzlich bemerke ich zwei etwa 17-jährige Herren, die sich mit einem prägnanten Akzent unterhalten. Sie schreien sich an, so dass man den Eindruck gewinnt, dass die nächste Eskalationsstufe naht. Mein Sitznachbar verlässt daraufhin das Abteil. Ich hingegen lasse mich nicht beirren und bin froh, dass diese Herren mir behilflich sind, meine neuen Noise-Cancelling-Kopfhörer zu amortisieren. Diese dämmen Geräusche von aussen. Folglich schalte ich meine Musik ein, und die Lärmemissionen verstummen. Wunderbar – meine neuste Investition in dieses elektronische Gadget scheint sich nicht nur im Flugzeug zu lohnen! Kurz vor Zofingen kommt eine betagtere Frau den Gang entlang geschlurft. Sie muss sich links und rechts an den Lehnen abstützen. Bei den Jugendlichen angekommen, spricht sie diese an. Die Herren unterbrechen ihr Zwiegespräch. Ich schalte den Kopfhörer aus und horche. In mir macht sich eine gewisse Nervosität breit und ich befürchte, noch schlichtend eingreifen zu müssen. «Es ist zu laut!», beklagt sich die Dame. Die Angesprochenen rechtfertigen sich etwas irritiert: «Wir reden doch nur!». Sie entgegnet darauf, sie sollen sich doch bitte leiser unterhalten und begibt sich darauf wieder behäbig an ihren Sitzplatz bei einer Seniorengruppe. Zu meinem Erstaunen tun die beiden Unruhestifter wie geheissen und reduzieren ihre Unterhaltung auf

«Ich frage mich, ob diese Herren einfach auf der Suche nach Bestätigung und Respekt sind, und sich deshalb so auffällig verhielten, und ob sie diesen Respekt nun erhalten haben.» KOLT

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ein Flüstern. Sie halten sogar die Hände schützend vor den Mund, um ja nicht störend zu wirken. Am Bahnhof Luzern angekommen, traue ich meinen Augen nicht: Auf einmal stürmen die beiden Jungs nach vorne und helfen der ganzen Rentnergruppe beim Ausladen der Koffer. Danach verabschieden sie sich herzlich, als ob man sich kennen würde. Ich frage mich, ob diese Herren einfach auf der Suche nach Bestätigung und Respekt sind, und sich deshalb so auffällig verhielten, und ob sie diesen Respekt nun erhalten haben. Warum habe ich eigentlich nichts gesagt? Mich hat ja der Lärm ebenfalls gestört, und noch mehr denjenigen Passagier, welcher das Abteil gar verlassen hat. Womöglich hätte sich die Situation jedoch ganz anders entwickelt, hätte ich mich in die Konversation eingemischt. Etwas beschämt über meine Rolle verlasse ich ebenfalls den Wagen. Der deutsche Schriftsteller Bamm sagte einmal: «Optimisten haben keine Ahnung von den freudigen Überraschungen, die ein Pessimist erleben kann.» Wie hättest du reagiert?

Matthias Borner, 35, wuchs in Winznau auf und arbeitet als Ökonom und Finanzanalyst. Er sitzt für die SVP im Oltner Gemeindeparlament und im Solothurner Kantonsrat. In seiner Freizeit singt er in einer Zunft und reist gerne in ferne Länder. Nach Olten verschlug es ihn wegen der Liebe. Die Liebe ist verflogen, er ist in Olten geblieben.


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Mit allen Sinnen Sie hat ihr Leben dem Tanz verschrieben. Ursula Berger ist der Dreh- und Angelpunkt der Oltner Tanzszene und Organisatorin der Oltner Tanztage, die diesen Monat zum 22. Mal stattfinden. KOLT besuchte die 67-Jährige während ihres Trainings in einem Pariser Tanzstudio. Interview von Franziska Monnerat Fotos von Michael Isler

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Im Pariser Tanzstudio des bekannten Choregrafen Peter Goss trainiert Ursula Berger regelmässig.

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rsula Berger, «Guter Tanz lügt nicht, er ist von Grund auf ehrlich», zitierte Sie der Oltner Stadtanzeiger in einem Porträt. Was macht für Sie Tanz zu einer authentischen Kunstform? Im zeitgenössischen Tanz kommuniziert der Körper mit dem Raum. Es ist, als ob man mit einem Partner tanzen würde. Durch Improvisation entwickelt man ein Gefühl für den Körper im Raum, für Zwischenräume, für Zeit. Ich hatte Lehrerinnen und Lehrer, die zu mir sagten: «Stretch the universe with your body, with your thinking.» Diesen Grundsatz habe ich verinnerlicht. Wobei sich zeitgenössischer Tanz ständig verändert und neue Strömungen aufnimmt.

Ihre Ausbildungen in verschiedenen Tanzstilen absolvierten Sie mehrheitlich in den USA und Kanada. Was haben Sie in der Ferne gefunden, was Ihnen hier gefehlt hat? Während meines Sprachaufenthaltes in Montreal kam ich mit zwei Universitätsprofessoren – einer in Literatur, eine in Mathematik – in Kontakt. Ich durfte als Gaststudentin an ihren Vorlesungen in Literatur und Englisch teilnehmen. So lernte ich die Welt kennen, in der ich mich zu Hause fühlte, landete, kam an. Damals, Anfang der 70erJahre, gab es in der Schweiz noch keine professionelle Ausbildung im Tanz. Die USA wurde zu einer Hochburg, weil die meisten Pioniere des zeit-

genössischen Tanzes während des zweiten Weltkrieges dorthin ausgewandert waren. Ich hatte in New York beispielsweise Stunden bei Merce Cunningham, einem der grossen Vorreiter des modernen Tanzes. Manchmal fühlte ich mich ob all dieser Einflüsse wie ein wandelndes Geschichtsbuch (lacht). Trotzdem war meine Neugierde, mein Hunger nach Wissen, nicht gestillt. Ich wollte erfahren, wo die Anfänge des modernen Tanzes liegen, seine Geschichte kennen und verstehen, warum es eine Ablehnung gegenüber Tanz generell gibt. Deshalb besuchte ich an der Universität Bern den Nachdiplomstudiengang «TanzKultur». Warum gibt es eine Ablehnung gegenüber Tanz? Weil der zeitgenössische Tanz oft auch ein Spiegel der Gesellschaft ist. Er lehnt sich auf gegen das Diktat, wie etwas zu sein hat, und eckt damit an. Das liegt daran, dass er nicht so direkt, so narrativ ist wie beispielsweise ein Theaterstück, bei dem eine Geschichte erzählt wird. Was kann dem Publikum den Zugang zu zeitgenössischem Tanz erleichtern? Diskussionen. Früher habe ich mir gedacht: Wir zeigen etwas, das Publikum schaut zu, fertig. Heute setzen wir an den Oltner Tanztagen vermehrt auf Einführungen. Bei besonders anspruchsvollen Stücken frage ich eine Dramaturgin an, der es aber auch nicht immer gelingt, zu vermitteln.

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«Im zeitgenössischen Tanz kommuniziert der Körper mit dem Raum. Es ist, als ob man mit einem Partner tanzen würde.» Woran könnte das liegen? Der Zuschauer möchte immer verstehen, dabei geht es vielmehr darum, sich auf ein Spiel einzulassen, zu versuchen, etwas nicht über den Verstand, sondern mit den Sinnen zu erfassen. Dann passiert etwas in einem. Im Gegensatz zu Bildern im Museum drängen sich Körper in ihrer ganzen Dreidimensionalität auf. Sie reizen die Befindlichkeit aus. Dazu kommt ein weiterer Aspekt. Cindy Van Acker zeigte vor drei Jahren ihre Produktion «Diffraction», eine wundervolle, intensive Partitur aus Licht- und Klangbewegungen. Die Schein-


«Tanz stärkt das Selbstbewusstsein»: Ursula Berger, Tänzerin, Tanzvermittlerin, Tanzlehrerin, Macherin.

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Als sie ein Kind war, machten sich Anzeichen für Kinderlähmung bemerkbar. Also empfahl der Arzt, sie solle tanzen.

«Der Zuschauer möchte immer verstehen, dabei geht es vielmehr darum, sich auf ein Spiel einzulassen, zu versuchen, etwas nicht über den Verstand, sondern mit den Sinnen zu erfassen.» werfer werden zu Tänzern, dazu läuft Musik, tierisch laut. An diesem Abend war sie so laut, dass die hohe Frequenz das Publikum überforderte. Es sass ratlos da. Da ich die Produktion kurz zuvor in Basel gesehen hatte, bin ich nicht zur Generalprobe in der Schützi erschienen. Könnte ich

die Uhr zurückdrehen, würde ich die Choreografin bitten, die Lautstärke zu reduzieren. Ein neuer Fokus der Tanzvermittlung des Vereins «Tanz in Olten» bildet dieses Jahr ein Schulangebot mit Workshops in Zusammenarbeit mit der Direktion Bildung und Sport. Welche Ziele verfolgen Sie mit diesem Projekt, das sich an Kinder im Primarschulalter richtet? Für mich ist es das Herzstück der Vermittlung. Es bedeutet viel Mehraufwand, und wir können es nur umsetzen, weil der Kanton uns zusätzlich unterstützt und somit Schubkraft gibt. Ich, wir, das ganze Team hofft, dass die Stadt Olten nachzieht. Es ist für uns jetzt äusserst wichtig, die Kinder abzuholen, aber auch eine Brücke zur Bevölkerung zu schlagen. Dass sich fast 500 Kinder angemeldet haben, freut uns sehr. Der Verein «Tanz in Olten» besteht seit 1996, brachte den Tanz auf die Strasse, ins Kino, ins Theater. Stieg mit der Präsenz nicht auch die Akzeptanz? Ein wachsendes Interesse zeigt sich an der Auslastung: 70 bis 80 Prozent der Plätze sind besetzt. Das ist viel, obwohl ich mir natürlich wünschen würde, dass die Leute Schlange stehen würden (lacht). Abgesehen von den Zuschauerzahlen lässt sich der Erfolg von Kunst und Kultur nicht messen. Was viele beispielsweise nicht wissen, ist, welche An-

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sprüche an die Infrastruktur gestellt werden. Jede Compagnie bringt ihr eigenes Bühnenbild mit, hat ein eigenes Lichtkonzept. Von einem Budget von rund 150 000 Franken geben wir mindestens 40 000 Franken nur für die Technik aus. Das differenzierte Spiel mit Licht und Schatten macht die Magie aus, auch wenn es oft unbemerkt bleibt. Die 22. Oltner Tanztage widmen sich dem Thema «Vernetztes». Wie vernetzt muss man in einer Kleinstadt wie Olten sein, um in der Kulturszene Fuss fassen und sich über Wasser halten zu können? (überlegt) Wir könnten noch besser vernetzt sein. Wie das KOLT Magazin tragen wir das Label «schön, teuer, ästhetisch». Zugleich gelten wir als zu elitär, und uns wird nachgesagt, dass wir nur ein Nischenpublikum ansprechen. Wenn das Geld knapper wird und die Politik entscheiden muss, ist die Position des Tanzes gefährdet. Abgesehen davon, dass Sie mit der Vermittlung an Schulen das Publikum der Zukunft mit dem zeitgenössischen Tanz vertraut machen: Warum denken Sie, können junge Menschen von den Workshops profitieren? Weil andere Bereiche im Gehirn angesprochen werden, die positive Effekte auf das ganze Wesen haben können. Tanz stärkt das Selbstbewusstsein, die Auftrittskompetenz, macht flexibler und kre-


ativer. Man bildet eine andere Art von Intelligenz aus. Eine, die zwar im Geschäftsleben nicht so gefragt ist, jedoch den Ausschlag geben kann, dass jemand den Job erhält, wenn er über dieselbe Qualifikation und Erfahrung wie seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter verfügt. Ausserdem kommt es zu einem sozialen Ausgleich. Das haben mir beispielsweise die Stücke gegen Rassismus gezeigt, die ich gemeinsam mit Jugendlichen realisiert habe. Ob Kantischülerin oder Insasse des Strafvollzugs Aarburg: beim Tanzen sind alle gleich. Es geht um den Menschen. Ein zweiter neuer Programmpunkt ist der Eröffnungsabend «With Love from Zurich» mit Studierenden in Contemporary Dance der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK. Ich war lange im Vorstand des Berufsverbands «Danse Suisse» aktiv und habe mich dafür eingesetzt, dass in der Schweiz angeboten wird, was in den USA seit Jahrzehnten selbstverständlich ist. Obwohl ich fast nicht mehr daran geglaubt habe, dass ich das noch erleben werde, gibt es nun sogar zwei Bachelors of Arts in Contemporary Dance: einen in Zürich, einen in Lausanne. Zürich ist in der Bewegungssprache konventioneller, gestreckter, näher am Ballett. Lausanne ist zeitgenössischer, abstrakter. 20 junge Tänzerinnen und Tänzer zeigen die verrücktesten Choreografien, die in Europa zurzeit angesagt sind. Die meisten von ihnen

haben bereits einen Vertrag bei einem Ensemble in Paris, Brüssel oder einem anderen Zentrum unterschrieben. Seit 40 Jahren geben Sie Ihr Wissen im eigenen Tanzstudio weiter. An drei Tagen pro Woche unterrichten Sie verschiedene Altersstufen in Modern Contemporary und Modern Jazz Dance sowie in den Körperwahrnehmungstechniken Yoga und Spiraldynamik. Trainieren Sie daneben selbst auch noch? Ja, diesen Luxus leiste ich mir. Ich habe immer sehr viel in internationale Weiterbildungen investiert. Früher reiste ich regelmässig nach New York, das letzte Mal im April. Mir gefällt die Offenheit, die Kollegialität, die Linie. Aber die Reisen nach Übersee wurden mir zu teuer, vor allem, seit ich keine Freundin mehr habe, bei der ich wohnen kann. Seit einiger Zeit gehe ich nach Paris, zu Peter Goss, einem Dinosaurier, noch älter als ich. Ausserdem bietet das Centre Nationale de Danse offene Ateliers an, bei denen man sich als Profi einschreiben kann. Wir machen dann beispielsweise in der Gruppe eine Führung im Louvre und schauen uns an, wie die Figuren in den Bildern angeordnet sind, wie sie sitzen, welchen Blickwinkel sie einnehmen. Danach überlegen wir uns, wie wir die Bildende Kunst in Bewegung umsetzen oder was wir ihr entgegensetzen können. So inspiriert tanzen wir dann fünf, sechs Stunden lang – nachdem wir uns ein einziges Bild angeschaut haben (lacht).

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«Ob Kantischülerin oder Insasse des Strafvollzugs Aarburg: beim Tanzen sind alle gleich. Es geht um den Menschen.» Sind Sie ein Workoholic? Nein, ich brauche meine Ruhepausen. Wenn mich meine Aufgabe erfüllt, dann vergesse ich die Zeit und kenne keine Grenzen. Darum muss ich mit meiner Energie manchmal aufpassen, dass ich mich nicht verbrenne. Die Begeisterung habe ich als nicht mehr ganz junge Dame aber immer noch. Obwohl ich schon so viele Jahre auf dem Platz Olten präsent bin, fühlt es sich an, als seien es erst fünf Minuten.


Ursula Berger, 67, kam in Zürich zur Welt und wuchs in Olten auf. Als der Arzt Anzeichen von Kinderlähmung feststellte, empfahl er ihrer Mutter, diesen mit Bewegung entgegen zu wirken. Während der Schulzeit fehlte Berger aufgrund eines Spitalaufenthalts ein Jahr lang im Unterricht. Sie musste das Tanzen aufgeben und sich – wie sie selbst sagt – «neu finden». Weil sie die Aufnahmeprüfung für das Lehrerseminar nicht bestand, entschied sie sich für eine kaufmännische Lehre. Im Alter von 19 Jahren reiste sie nach Kanada, um ihre Englischkenntnisse zu verbessern. Sie studierte zunächst in Montreal und New York, später in Los Angeles und San Diego zeitgenössischen Tanz, Modern Dance, Ballett, Kreativen Tanz, Bewegungstheater, Improvisation und Choreografie. Bevor sie in die Schweiz zurückkehrte, wirkte sie in verschiedenen Tanzprojekten mit. Mit ihrem damaligen Freund und heutigen Ehemann, den sie seit der Schulzeit kennt, liess sie sich in Olten nieder. Zwei Jahre nach der Geburt ihres Sohnes gründete sie im Jahr 1977 ihr eigenes Tanzstudio. Kurze Zeit später rief sie ihre eigene Compagnie «Tanzart» ins Leben, mit der sie während siebzehn Jahren im In- und Ausland tourte. Seit 1996 steht sie dem Verein «Tanz in Olten», der jeweils im Herbst die Oltner Tanztage organisiert, als Präsidentin vor. Für ihr Engagement im Zeichen des Tanzes wurde die diplomierte Tanzpädagogin und Choreografin von der Stadt Olten und dem Kanton Solothurn mit einem Anerkennungspreis geehrt sowie mit dem Preis Schloss Wartenfels ausgezeichnet.

22. Oltner Tanztage vom 15. bis 24. November 2017 im Kulturzentrum Schützi Olten www.tanzinolten.ch

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SERIE

FILM

Ein Mensch ist auch ein Affe ist auch ein Wolf

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wang Shi-Mok ist emotionslos, unabhängig und hartnäckig. Der junge, exzellente Staatsanwalt kämpft als Einzelgänger innerhalb der korrupten Staatsanwaltschaft von Seoul. Ein vermeintlicher Raubmord bringt Staatsanwalt Hwang mit der begnadeten und herzlichen Kriminalkommissarin Han Yeo-jin zusammen. Der Ermordete entpuppt sich als zentrale Figur in zahlreichen Korruptionsfällen von Staatsangestellten. Hwang und Han erkennen schon bald, dass der Mord und die Indizien Teil einer intelligenten Inszenierung sind. Mit jeder Minute, die vergeht, verzweigen sich die Spuren und die Zahl der Verdächtigen wächst. Man kann die Irritation von Hwang und Han nachfühlen, durchlebt ihre Schwierigkeit, niemandem Vertrauen zu dürfen und gleichzeitig in den mächtigsten Kreisen des Landes Nachforschungen anstellen zu müssen. Tage nach dem Mord wird eine Prostituierte tot aufgefunden. Wochen später wird die junge Staatsanwältin und Tochter des ehemaligen Justizministers umgebracht. Die Geschichte verdichtet sich und die Verwirrung steigt. Wir sind jedoch nicht genervt durch unsere eigene Unwissenheit, sondern subtil in die verschiedenen Rollen hineinversetzt. Spannung, Intelligenz und Ästhethik aus Südkorea. (ys)

Bimilui Soop

(«Stranger»/«Forest of Secrets») 1 Staffel, 16 Episoden, Krimi/ Drama, Südkorea, 2017, Netflix

DIE

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Der neue Film des schwedischen Regisseurs Ruben Östlund gewann in Cannes dieses Jahr die Goldene Palme. von Pierre Hagmann

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omo homini lupus», wenn der Mensch dem Menschen zum Wolf wird, das wäre ein passendes Bild für diese nordische Gesellschaftssatire, wobei es hier Affen sind, die in unterschiedlichen Nebenrollen auftreten. Anne etwa, die Reporterin, die vom Museumskurator Christian erfolgreich erobert wird, hält zuhause einen Affen als Haustier, er schminkt sich gerne die Nase. Andere im Film tun nur so, als wären sie Affen und überschreiten dabei jede Grenze. Anne übrigens wird gespielt von Elizabeth Moss, dieser grandiosen Schauspielerin der Stunde, die in «Square» beweist, dass sie nicht nur düstere Figuren spielen kann, sondern auch amüsant-skurrile. Nur leider gerät ihr Auftritt viel zu kurz. Dafür erhält die Hauptfigur Christian enorm viel Leinwandzeit, und man kommt zum Schluss, dass es für die Rolle des adretten Promis aus der Stockholmer Kunstszene mit «stinknormalem Tesla» keine viel bessere Besetzung geben könnte als dieser Claes Bang, ein grossgewachsener Däne mit der Ausstrahlung eines Mannes von Welt, bei dem es wenig braucht, bis sich die inneren Abgründe weit öffnen. Und darum geht es auch in dieser modernen

ALBEN MEINES LEBENS

Anohni Hopelessness Eine der besten Künstlerinnen unsere Zeit trifftauf zwei der mutigsten Produzenten unserer Zeit. Play it loud!

von OY

Solange A Seat at the Table Musikalisch stimmungsvoll und inhaltlich relevant. Wir haben in letzter Zeit für dieses Album sehr oft die Play-Taste gedrückt.

Feist Pleasure Schönes Album. Und eines der besten Live-Konzerte, die wir je erlebt haben: Pleasure-Tour, im Berliner Tempodrom mit unserem Kumpel Paul an den Drums.

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Parabel. Auf der Strasse, wo alle gleich sind, wird Christian in ein sonderbares Rencontre verwickelt, das sich als geschickter Trickraub herausstellt. Dank Handyortung findet er heraus, in welchem Gebäude der Dieb heimisch sein muss; dumm nur, dass es in jenem Haus in der heruntergekommenen Stockholmer Suburbia sehr viele Stockwerke und noch viel mehr Wohnungen gibt. Der Generalverdacht trifft jeden (Einwanderer) im Haus, und so nimmt diese Geschichte um Gleichheit, Schuld und Altruismus ihren Lauf. «Hör auf mit deinem Schwedenscheiss», sagt ein Kollege einmal zu Christian und seiner Political Correctness, als dieser zunächst die Konfrontation scheuen will. Oft ist die Radikalität von Regisseur Ruben Östlund subtiler Art, und damit schafft er es nach «Turist» (2014) auch in «The Square», eine ganz eigene Sprache zu entwickeln, die gleichermassen unterhält wie irritiert. Schade nur, dass der Film fast nicht zu Ende gehen will.

The Square

3., 4., 8. und 13. November Lichtspiele Olten

LCD Soundsystem LCD Soundsystem Ein weiterer random Pick aus unserem täglich wachsenden Berg an Lieblingsalben. Kaum einer kann so gut Rock mit Disco wie Mr. Murphy auf seiner Reise, die er mit diesem Album antritt. Toppen tut er das Ganze mit richtig guten Balladen.

Little Dragon Best Of Eine unserer Lieblingsbands, und da hilft dann nur noch das Best-of-Album, bezeichnenderweise mit einem ihrer besten Songs als Dreingabe.


MUSIK

ICH TRAGE B A RT L O M E .

Musik wie Zuckerguss Jon Wood bringt zum Träumen.

von Marc Gerber

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hr kennt das vielleicht: Ihr hattet so einen richtigen Scheisstag – genau so einen hatte ich heute – , und dann möchtet ihr am Abend einfach nur noch abschalten. Es gibt hier nun zwei Arten von Menschen: Die einen hören sich Metal oder zerstörerischen Elektro an (Igorrr, checkt ihn aus), die anderen ruhige Singer-Songwriter-Musik, vielleicht ein wenig wie Other Lives, oder sonstigen Folk. Für die zweite Gattung Menschen habe ich ein ganz leckeres Schmankerl, wie der Bayer sagen würde: Jon Hood.

Für Konzertbesucher könnte es zu einem Déjàvu-Effekt kommen – die Stimme von Jon Hood kam mir nämlich irgendwie bekannt vor. 2011 war es, ich kann mich aber nicht mehr erinnern, ob es im Fri-Son oder am Bad Bonn war; egal, es war auf jeden Fall im Kanton Fribourg, als ich Joan Seiler und ihre Joan & The Sailors das erste Mal erfahren durfte. Die Musik dieser zierlichen Frau, die so viel Power aus sich raus trägt, ist ein Folk-Pop-Rock-Mix à la Florence and the Machine made in Switzerland. Lange habe ich nichts mehr gehört, das neue Album von 2013 nicht mal mehr wahrgenommen, und

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voilà, plötzlich erinnerst du dich nicht einmal mehr an eine Band, die einst zu Recht auf deinem iPod war. Wir spulen vor. 2017, Joan Seiler hat mit Martin Schenker an der Gitarre und Mario Hänni eine neue Band gegründet: Jon Hood. Und der Sound ist... immer noch schön, kreativ, sphärisch und vielleicht auch ein wenig minimalistischer. Ist es noch Pop? Ist es Folk? Ist es vielleicht sogar ein wenig Krautrock? Eigentlich egal, denn es ist gut. Der Produzent ist der gestrandete Engländer Conrad Lambert (unter dem Namen Merz bekannt, immer an der Bad Bonn Kilbi dabei und Macher von super Musik), der mit seiner Musikgenialität dem Ganzen noch ein wenig Feinschliff verpasst hat. Das Album «Body Semantics» ist gut, weniger Mainstream-mässig; es nimmt dich einfach mit, und weg bist du. Perfekte Musik, um deine Depressionen zu mindern oder einfach ein wenig nachzudenken. Ich freue mich auf erste Live-Auftritte und hoffe, dass mich die Musik zum Träumen bringen wird.

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Gabriela Meyer Brille von ACHT+DREiSSiG Bartlomé Optik AG Brillen und Kontaktlinsen Hauptgasse 33 - 4600 Olten www.bartlome-optik.ch


BUCH

........................ KOLT liest ........................

von Daniel Kissling

Ein Mann steht da, steht da und sagt kein Wort

WASTING TIME ON THE INTERNET von Kenneth Goldsmith

Was herauskommt, wenn ein Professor seine Studierenden dazu anhält, in seinem Seminar nichts anderes zu tun als Mails zu checken? Erst Chaos, dann Langeweile, am Ende so überraschende wie anregende Erkenntnisse über unsere Gesellschaft. Daniel Kissling, KOLT-Kolumnist

ON THE ROAD von Jack Kerouac

&

THE AMERICANS von Robert Frank

Wahrscheinlich hätte ich das Kultbuch der Beat Generation lesen sollen, als ich noch wesentlich jünger und selbst per Anhalter unterwegs war. Doch erst das eindrückliche Werk «The Americans» des Schweizer Fotografen Robert Frank erinnerte mich daran, dass ich zeit meines Lebens nie einen Kerouac in der Hand gehalten hatte. Die beiden Männer verband eine Freundschaft: Nach seinem fotografischen Roadtrip durch die USA der 50er-Jahre begegnete Frank Kerouac in New York. Der Schriftsteller verfasste später die Einleitung zum legendären Fotoband. Jan Kohler, Korrektor

Er tritt über die Ufer von Dominik Dusek

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ch muss gestehen, ich bin ein wenig bestürzt. Ihr beständiges Nachfragen verunsichert mich. [...] Spricht meine Arbeit, meine psychologisch-biografische Bastelarbeit, denn nicht für sich?», fragt der Ich-Erzähler seine Leserinnen und Leser, und zumindest ich muss mir an dieser Stelle – wir befinden uns auf Seite 116 – langsam eingestehen: So richtig trauen tue ich diesem Typen nicht mehr. Dabei wäre die Sache eigentlich ganz einfach: Ein Journalist – ein Musikjournalist vielleicht oder vielleicht auch nur ein Fan – macht sich zur Aufgabe, die Biografie des scheinbar so genialen wie verschrobenen Musikers Peter Arbogast zu schreiben. Dieser erlangt Anfang der Nullerjahre erste Bekanntheit in seiner Heimat Deutschland, taucht dann plötzlich ab und ein paar Jahre später in den USA wieder auf, wird noch berühmter, nur um kurz darauf fast gänzlich zu verschwinden. Fast kriminalistisch geht der Ich-Erzähler dabei vor: Er interviewt Verwandte und Weggefährten, sammelt Zeitungsartikel, zitiert Songtexte, ja beschafft sich sogar private E-Mails der grossen Liebe Arbogasts, welche (sich) vor ein paar Jahren von einer Felskrete tragisch in den Tod stürzte. Stück für Stück breitet der Ich-Erzähler die (Gedanken-)Welt

Arbogasts vor uns aus. Wo er mit Belegen oder Aussagen nicht weiterkommt, imaginiert er die Szenen einfach selbst. Und genau da kommen einem beim Lesen die Zweifel: Hat sich das wirklich so zugetragen, wie es uns der Ich-Erzähler weismachen will? Was ist Vorstellung, was ist wirklich passiert? Welche Beziehung hat der Ich-Erzähler zum porträtierten Arbogast? Und was sollen all diese paranoiden Andeutungen über seine Ex-Frau und ihre Familie? In seinem ersten Roman entwirft der in Wien geborene und in Winterthur lebende Musikjournalist und Autor Dominik Dusek nicht nur das schillernde, verschlungene Leben eines schwer zu fassenden Popstars in der Art eines David Bowie, sondern zieht uns immer tiefer in ein gleichermassen spannendes wie vertracktes Verwirrspiel, an dessen Ende die Frage steht: Worum geht es hier eigentlich? Um das, worüber geschrieben wird oder um den, der darüber schreibt?

Dominik Dusek

Er tritt über die Ufer

lectorbooks Zürich, 2017. 272 S. ISBN: 978-3-906913-11-7

THOMAS MÜLLER Inhaber/CEO

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AM TRESEN

«Dörfi ächt dr Blick ha?», fragt die Sitznachbarin den Herrn, der sich soeben von seinem Stuhl erhoben hat. Der «Blick» wird freundlich übergeben und es wird mit einem Lächeln freundlich gedankt. Gemütlich ist es hier, morgens um halb zehn im Coop Restaurant – Znüni-Stamm-

tisch der Bauarbeiter, Lese- und Plauderecke der Pensionärinnen und Pensionäre, zwangloser Verweilort der Eigenbrötler. Hier ist jeder sein eigener Barista, per Knopfdruck gibt’s den Kaffee Crème aus dem Vollautomaten, den Cappuccino leider auch. Das Zmorgebuffet glänzt

mit einer abenteuerlichen Kombination aus geviertelten frischen Feigen und dem billigsten Supermarkt-Brot in Scheiben (75 Rappen das Stück). Im Hintergrund läuft Radio, gelegentlich preist eine reife Frauenstimme «elegante Frauenstrümpfe» via Lautsprecherdurchsage an. Durch die grosse Fensterfront scheint die Herbstsonne und taucht die Altstadt und den Eingang zum Kapuzinerkloster in warmes Licht. Gäbe es für das Oltner Coop Restaurant einen Tripadvisor-Eintrag, stünde dort: «Romantic view, cheap, many locals.» Muss man gesehen haben!

Coop Restaurant Baslerstrasse 10

WO SPIELT DIE MUSIK?

Es wird schräg, skurril, amüsant und innovativ mit der Band King Gizzard and the Lizard Wizard. Wie der Name schon vermuten lässt, ist diese Band alles andere als konventionell. Das fängt damit an, dass es schon mal schwierig ist, genau zu sagen, was King Gizzard and the Wizard Lizard überhaupt ist. Die Band bietet eine breite und experimentierfreudige Palette an Musik, die sich in unzähligen Alben, EPs und Singles materialisiert. Damit reitet die Band auf der bekannten Psychedelic-Welle, die sich momentan über die Rockwelt legt. Aber die Musik als nur psychedelisch zu bezeichnen, wäre schon etwas gewagt, denn in ihrem ungeheuren musikalischen Output finden sich viele Einflüsse wieder. Beispiel gefällig? Die Band hat für ihr letztes Album Gitarren mit mikrotonalen Bünden gebaut, um ihren Songs eine gewisse Schrägheit zu verliehen. Vielleicht hat die geografische Isoliertheit ihrer Heimstadt Melbourne der Band zu facettenreichen Einflüssen verholfen, oder vielleicht ist es schlicht die Besetzung mit vielfältigen und fähigen Musikern. Fest steht: cooler Sound! (ud)

MOST WANTED

Stadtbibliothek Der Solothurner Autor

Christof Gasser scheint in der Stadtbibliothek eine grosse Fangemeinde zu haben. In seinem ersten Krimi

«Schwarzbubenland»

sucht die Solothurner Journalistin Cora Johannis im Schwarzbubenland nach einer vermissten Politikergattin und begibt sich dabei selber in Gefahr. Die Krimifans mit Liebe zur Region jubeln!

Jugendbibliothek Die Grossen lesen regional, die Kleinen saisonal: In

«Zilly und der Riesenkürbis» kämpft die chaotische Zauberin Zilly gegen ihren – na ratet mal – ... genau: Riesenkürbis! Kinderlektüre passend zur Kürbissaison. (nb)


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Einer, der trifft Marvin Spielmann zählt zu den Entdeckungen der noch jungen Super League-Saison. Der gebürtige Oltner mischt mit seiner frechen Spielart derzeit die Schweizer Stadien auf und traf jüngst auch für die U-21-Nationalmannschaft. Grund genug, den Flügelstürmer des FC Thun etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Text von Joshua Guelmino Fotos von Janosch Abel

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reitagmorgen, gegen 10 Uhr. Die Sonne lacht über der Stockhorn Arena in Thun, und der Geruch von frischgewässertem Kunstrasen steigt mir in die Nase, als ich es mir auf einem Schalensitz auf der Haupttribüne bequem mache. Kurz kommt ein Konditionstrainer bei mir vorbei und fragt, ob ich vom FC Zürich sei. Aber ich bin nicht da, um taktische Anweisungen auszuspionieren. Der Trainer der Thuner, Marc Schneider, steht in der Mitte des Spielfelds und gibt lautstark Anweisungen an seine Spieler. Während ich nach dem eigentlichen Grund meines Trainingsbesuchs Ausschau halte, fällt mir ein Spieler besonders auf. Es ist ein grossgewachsener, etwas schlaksig wirkender Angreifer. Seine Körperhaltung strahlt eine gewisse Passivität aus, als hätte er gar keine Lust, an einem Freitagmorgen Fussball zu spielen. Eine Passivität, die bei der geringsten Chance auf einen Ballkontakt einer unglaublichen Explosivität weicht. Hat sich Marvin Spielmann erst einmal das Leder geschnappt, wird es sehr schwierig, den wuseligen Angreifer wieder davon zu trennen. «Ich sehe mich als dynamischen Spieler, der auch versucht, etwas zu künsteln. Wenn ich auf dem

Platz bin, passiert immer irgendwas», beschreibt der gebürtige Oltner seinen eigenen Spielstil. Schon zu Zeiten, in denen er noch das Trikot mit dem Aarauer Adler überstreifte, war Spielmann ein Spieler, der zu begeistern wusste. Mit seinen Dribblings und seiner frechen Spielart hat er das Zeugs zum Publikumsliebling. Zum Fussball kam Spielmann aber auf eine etwas spezielle Weise. Denn als Kind wollte der heute 21-Jährige eigentlich immer Polizist werden. Als ihn dann sein Vater ins Judo-Training schickte und er dort während des Aufwärmens einen Ball erhielt, brach in ihm das Fussball-Fieber aus. Während seiner Schulzeit im Säli-Schulhaus wurden der rote Hartplatz und der Pausenplatz zu seinem Stadion, und in jeder freien Minute rannte Marvin dem Fussball hinter her. Sein Idol zu jener Zeit war der brasilianische Ballkünstler Ronaldinho, und es ging nicht lange, bis auch Spielmann sich einem Verein anschloss. Mit sieben Jahren trainierte er bei den F-Junioren des FC Dulliken, und nur zwei Jahre später holte sich der FC Aarau das Talent in die Jugendabteilung. Es folgte der Eintritt in die Sportschule in Luzern und die KV-Lehre. Turnen mochte er nur, wenn währenddessen auch Fussball gespielt wurde, und auch sonst sei er «nicht unbedingt

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der Schul-Mensch» gewesen. Einzig Sprachen und Wirtschaft & Gesellschaft waren Fächer, die ihn etwas interessierten. Spielmann war ohnehin mehr der Sportler, nicht der Bankdrücker. Nach einer erfolgreichen Leihe zum FC Baden holte sich der FCA das Juwel zurück, und Spielmann hatte sein Debüt in der Challenge League im Aargauer Derby gegen Wohlen. Nach einer ansprechenden Hinrunde lockte das Projekt FC Wil mit seinen steinreichen türkischen Investoren. Spielmann wechselte für eine beachtliche Ablösesumme zum FC Wil, kam in der Ostschweiz aber nie wirklich auf Touren. Der Flügelstürmer hat mit diesem Kapitel abgeschlossen: «Vergangenes ist Vergangenes, und darüber rede ich nicht mehr. Vielmehr möchte ich meine Ziele hier und jetzt gestalten.» Verständlich: Denn das Hier und Jetzt sieht auch einiges rosiger aus. In Thun ist Spielmann in einem ruhigen, trubelfreien Umfeld angekommen; genau das, was er braucht. «Ruhe ist für junge Spieler allgemein wichtig. Hier können wir uns auf das Wesentliche konzentrieren, und auch die familiäre Atmosphäre hat mir sehr geholfen. Mittags gehen wir meistens zusammen essen. Wir gehen auch mal zu-


sammen weg. Man muss die Zeit, die man zusammen hat, geniessen – und das bindet. Das sieht man dann auch auf dem Platz, wenn alle füreinander einstehen.» Nach einem miserablen Start in die laufende Saison lud am 4. Spieltag der grosse BSC Young Boys zum Derby ins Wankdorf-Stadion. Die grosse Bühne rief – und Marvin Spielmann folgte diesem Ruf. Der Flügelstürmer lauert hart an der Grenze zum Offside, Teamkollege Tosetti sieht ihn und steckt einen Ball in die Schnittstelle der Berner Verteidigung hindurch. Dank seiner Spritzigkeit kann Spielmann seinen Bewacher einteilen, berührt den Ball noch einmal, schaut auf, sieht, dass er nur noch den Keeper vor sich hat und hämmert das Leder wie ein abgebrühter Routinier an Goalie von Ballmoos vorbei in die Maschen. Doch der ehemalige Junior des FC Dulliken hat noch nicht genug. In der 69. Minute pennt die gesamte Berner Hintermannschaft, und eine Flanke von Tosetti findet den

«Man muss die Zeit, die man zusammen hat, geniessen – und das bindet. Das sieht man dann auch auf dem Platz, wenn alle füreinander einstehen.»

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freistehenden Spielmann. Ein, zwei kleine, schnelle Schritte, und der Stürmer fasst sich ein Herz, geht auf volles Risiko und versucht die Direktabnahme mit links – wieder zappelt der Ball im Netz! Spielmann rennt in Richtung Spielerbank, streckt die Arme von sich und die Zunge raus und lässt sich von den Mitspielern feiern. Ein Jubel, der wie eine Befreiung scheint – endlich trifft er wieder. Drei Spieltage später stand Spielmann mit sechs Treffern aus sieben Spielen nur einen Treffer hinter dem Königstransfer der Liga, Ricky van Wolfswinkel. «Klar ist es schön, wenn man die Tore macht. Bis jetzt war ich ja nicht für meinen Torriecher bekannt, vielleicht habe ich den jetzt entwickelt. Es ist schön, wenn sie jetzt reingehen. Aber dafür braucht es auch ein gutes Team im Rücken, das einen unterstützt.» Die Arbeiter, die einem Spieler wie Spielmann den Rücken freihalten, gehören auch zu seinen Idolen. Valon Behrami hat es ihm mit seiner kämpferischen Spielart beson-


ders angetan. «Es braucht nicht nur Künstler auf dem Platz, sondern auch die Arbeiter, die 90 Minuten krampfen». In seiner bisherigen Karriere als Fussballspieler hat Spielmann viele Bekanntschaften und Freundschaften geschlossen. So kommt es, dass er in seiner alten Heimat Olten zwar noch Freunde und Familie hat, man ihn aber nur noch selten dort antrifft. «Olten ist auch eine etwas langweilige Stadt, nie ist jemand da, egal um welche Zeit.» Seinen Vater, der in einer Oltner Rockabilly-Band spielt, trifft er aber immer wieder mal. Den Musikgeschmack teilen die beiden jedenfalls nicht. So kommt es, dass auf seiner Playlist, die um die 1000 Songs umfasst, kein einziges Lied von Spielmann Senior zu finden ist. «Ich höre lieber Afro-Trap, R’n’B und englischen und französischen Hip-Hop, um mich vor dem Match zu konzentrieren; die Musik meines Vaters ist nicht so mein Ding». Momentan wohnt Marvin Spielmann keine zwei Minuten vom Thuner Stadion entfernt und verbringt die meiste Zeit mit seinen Teamkollegen. «Wir haben ja genug Freizeit unter der Woche, da bleibt etwas Zeit, die man miteinander verbringen kann. Das muss man geniessen, solange man das noch hat.» Oftmals unternimmt er kleine Ausflüge mit Freunden, verbringt Zeit mit seiner Freundin, oder er schaut Serien im TV. Für Kampfsport hat er nicht mehr viel übrig: «Das ist gar nicht mein Ding und imponiert mir auch nicht mehr».

land und somit auch ein weiterer Härtetest für die Thuner Offensivabteilung. Spielmann zeigt sich mit gewohnt viel Spielwitz, lanciert seine Mitspieler mit Absatzpässen und versucht, seine Gegenspieler mit seinen Dribblings zu vernaschen, doch nicht alles will ihm gelingen. Die Thuner haben sich in der eigenen Hälfte den Ball erobert und lancieren jetzt den Konter. Spielmann legt noch einmal alles in die Waagschale und holt das Letzte aus sich raus. Der Ball läuft über die rechte Flanke und fliegt in den Strafraum, findet ein Kopfballduell zwischen zwei Gegenspielern und rollt aus dem Strafraum hinaus. Spielmann reagiert sofort, stürzt sich förmlich auf das herrenlose Spielgerät, versucht den Direktschuss aus etwa 18 Metern. Doch Fortuna steht

«Ich kann's ja vor dem Tor. Da mache ich mir gar keine Gedanken»

Nach dem Exploit gegen YB zeigt Spielmanns Formkurve stark nach oben, und sein Marktwert hat sich innert weniger Wochen vervielfacht. Die Medien sind auf den flinken Flügelflitzer aufmerksam geworden und überschütteten ihn mit Lob: Die BaZ betitelt ihn als Künstler, und Watson schreibt, er sei ein «unbeständiges Talent», aus dem gerade eine «Perle» werde. Spielmann nimmt es wie ein alter Hase und lässt sich von dem Rummel um seine Person nicht aus der Ruhe bringen: «Das ist natürlich auch eine Bestätigung dafür, was ich geleistet habe. Aber ich muss jetzt genau so weitermachen und darf mich nicht ausruhen.» Die guten Leistungen verschafften ihm sogar ein Aufgebot für die U-21-Nationalmannschaft, und Spielmann schoss gegen Lichtenstein anfangs Oktober seine ersten beiden Nati-Tore, just zu einem Zeitpunkt, als es ihm im Club nicht mehr so ganz wie am Schnürchen lief. Zuletzt blieb Spielmann vier Spiele ohne Torerfolg (Stand: 16.10.17). Der für sein Alter ziemlich abgeklärt wirkende Stürmer sieht darin aber keine Gefahr und meint selbstbewusst: «Ich kann’s ja vor dem Tor. Das kommt schon wieder, da mache ich mir gar keine Gedanken.» Nach der Länderspielpause kommt mit dem FCZ das Abwehr-Bollwerk der Liga ins Berner Ober-

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ihm an diesem Sonntagnachmittag nicht bei, und der Thuner Topscorer rutscht im dümmsten Moment mit dem Standbein weg, so dass sein Versuch doch ziemlich deutlich rechts an der Torumrandung vorbeizischt. Etwas enttäuscht verwirft Spielmann am Boden liegend die Arme und muss sich, den Blick gen Himmel gerichtet, einen kurzen Moment sammeln. Doch sofort steht er wieder auf den Beinen und stürzt sich in das nächste Laufduell. Ausruhen ist auf dem Platz keine Option und Angriff das Ziel; mit dieser Einstellung wird die Formkurve von Spielmann sehr bald wieder nach oben zeigen. Mitte Oktober, Stockhorn Arena, es findet das Spiel gegen den FC Zürich statt. Spielmann vergibt an diesem Sonntagnachmittag eine Grosschance für sein Team und agiert gesamthaft glücklos in seinen Aktionen. Dennoch schafft er es, mit seinem Spielwitz das Publikum in seinen Bann zu ziehen. Man spürt seine Freude am Fussball bis auf die Ränge, fast so, wie es damals im Säli-Schulhaus wohl war – nur, dass jetzt nicht mehr der Pausenplatz das Stadion ist, sondern die Stockhorn Arena mit 7526 Zuschauern.


KILIAN ZIEGLER

NaRr

Das Stück Holz

von Aylin Troxler

Zu Besuch Du bist bei deiner Grossmutter. Deine Grossmutter schaut in den Fernseher. Es läuft der Lokalsender, den du schon seit Jahren nicht mehr geschaut hast, seit du ausgezogen bist. Wenigstens die Nachrichten, denkst du, wenigstens keine schlecht gekleideten Moderatorinnen um die 50. Das Bild eines zerschellten Autos, das Blech zusammengedrückt wie eine Aludose, eine Riesen-Aludose zusammengedrückt von Riesen-Hand, Autounfall, Selbstunfall, davon hast du gelesen in der Lokalzeitung, die lustigerweise weniger provinziell wirkt als der Lokalsender, auch wenn derselbe Verlag, dasselbe Geldverhältnis, Geldinteresse dahintersteckt. Vier junge Erwachsene, zwei Pärchen, klassische Pärchen, Mann und Frau, im Kombi, im Elternauto, an einem Freitag, die Geschwindigkeit wahrscheinlich überhöht, meint jedenfalls die Polizei, der Polizeisprecher, die Strecke sei dafür bekannt, sagt er in die Kamera, die Mutter weint in die Kamera. Die Grossmutter, deine Grossmutter, fragt, ob du es streng hast bei der Arbeit und schiebt dir die Willisauer-Ringli zu.

Aylin Troxler (1984) wohnt in Kriens, arbeitet in Luzern. Ihre Texte erschienen u.a. im Edit und im Narr. www.dasnarr.ch

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ch will nicht wie ein alter Mann klingen (ich bin 32, in der Blüte meiner Jugend!), aber es ist schon erschreckend, wie oft der Mensch dieser Tage auf Bildschirme schaut. Telefon, Computer, Fernseher, Tablet (nicht eingerechnet Regenschirme mit Motiv drauf, oder eben: Bild-Schirme). Schirmen uns Bildschirme von der Realität ab? Lenken sie unsere Aufmerksamkeit weg von den wichtigen Themen? Ich weiss, sich über Technik und deren Ausprägungen aufzuregen, ist mittlerweile langweilig, aber ich darf mich enervieren, gehöre ich doch zu den schlimmsten Displayguckern überhaupt. Den ganzen Tag scrolle, like, teile ich, und doch mache ich am Ende gar nichts.

Das Stück Holz ist so pur, wie wenn man das Wort Bauer auf Rätoromanisch ausspricht. Es hat keine Apps, keinen leeren Akku (der Fairness halber: auch keinen vollen) und die einzige Datenübertragung, die stattfindet, ist, wenn ein Splitter in meinem Finger steckenbleibt. Und falls am Stück Holz mal etwas nicht funktionieren sollte (also nie!), oder ich ein neues brauche (kaum!), gehe ich nicht in den Apple Store, sondern zum Schreiner. Mein Telefon lasse ich ab jetzt zu Hause, von nun an ist das Stück Holz Begleiter meiner Wahl. Wenn ich es spazieren trage, ist es äusserst beliebt: Spechte landen darauf und spechten daran herum. Hunde möchten es markieren und dranbiseln. Hippies möchten es umarmen. Baumschüler es studieren. Ich will es für immer behalten. Leute starren mich und mein Holzstück an, fragen mich, was das soll. Souverän gebe ich kund: «Ich bin 32, in der Blüte meiner Jugend, und das ist ein Stück Holz.» «Was? Unglaublich!» «Ja, Sie haben richtig gehört: 32.»

«Das Stück Holz ist so pur, wie wenn man das Wort Bauer auf Rätoromanisch ausspricht.»

Weil ich das hasse und ich nicht untätig meiner Sucht ausgeliefert sein will, habe ich mir etwas einfallen lassen. Wie lautet das Sprichwort? Technikverdrossenheit macht erfinderisch. Ich besitze nun ein Stück Holz. Acht auf fünf Zentimeter, zwei Zentimeter dick. Buche massiv. Wenn ich, so als Beispiel, im Zug unterwegs bin, nehme ich das Stück Holz, anstelle meines Handys, aus meiner Hosentasche, schaue zufrieden drauf und denke: «Faszinierend!» Es ist klein, sperrig und kann eigentlich nicht viel – es erinnert mich an Xherdan Shaqiri. Wenn ich das Holz betrachte, denke ich an die Natur, die Freiheit, ohne zu wissen, ob mich jemand sucht oder ob irgendwo irgendwas passiert ist. Das beruhigt, das entspannt mich. Das ist meine Form der Meditation, meine Absage an die moderne Welt.

Schon toll, so ein Stück Holz – sollte man auf dem Schirm haben. Eine gute Zeit Kilian Ziegler PS: Für mich als Schreibender besonders schön: Eigentlich ist das Stück Holz auch nichts anderes als ein sehr dickes Blatt Papier.

www.bijouterie-maegli.ch

AnziehungskrAft

liegt in unserer nAtur.


PETRA & Roland

Die Autogrammcharte vom Trio oder Müeti Remmler

von Roland Reichen (Text) und Petra Bürgisser (Illustration)

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it Zehni war mein grösster Stolz die Autogrammcharte vom Trio. Ich hatte mir mit meinem Sackgeld die Singel «Da da da» gekauft, jeden Tag loste ich sie auf dem Kinder-Plattenspieler aus rotem Plastik auf meinem Kindertischli, und wo sie dann da im «Bravo» die Staradresse vom Trio brachten, da habe ich die Autogrammcharte extra in Grossenkneten im Deutschen aussen bestellt. Darauf waren so drei Köpf, wie von einem Kind gemalen, darunter die Originalunterschriften – die Originalunterschriften! – von Stephan Remmler, Kralle Krawinkel und Peter Behrens. Die Autogrammcharte hatte natürlich einen Ehrenplatz. Sie lehnte vorne am Plattenspieler auf dem Kindertischli, neben den Filzstiften und dem Malpapier. Eines Morgens, ich noch im Näscht, mein Müeti am Abstauben. Es schwafelt dabei die ganze Zeit:

«Hast du das Znünibrot, Pideli?» – «Leg dann das blaue Leibli an, nicht das gelbe, das muss in die Wösch.» – Und so kommt es halt, wie es kommen muss, bei der nassen Aussprach vom Müeti: Bätsch, tropft ein dicker Söiferfaden mitts auf die Autogrammcharte vom Trio drauf, wo das Müeti das Kindertischli abstaubt! Das Müeti sieht das. Es nimmt die Charte, ribbelt mit dem Ärmel darüber – ich: Nein! Gumpe vom Näscht, drücke das Müeti vom Tischli weg – aber es ist schon zu spät: Das «Stfan» vor «Remml», ist nur noch graues Gewölch, nur ganz schwach noch kann man darin, so weisslich, die Umriss von den Buchstaben ausmachen.

Ich plärre wie am Spiess. – «Eh, nein, mein Bubli, musst doch nicht grännen», nimmt mich das Müeti in den Arm. Ich versuche, es in den Bauch zu boxen. Dabei merke ich gar nicht, wie es hinter meinem Rücken einen Filzstift in die Hand nimmt. Plötzlich habe ich die Autogrammcharte vor der Nase. «Lug, ich bin den Buchstaben nachgefahren. Jetzt ist die Charte wieder wie neu!», strahlt das Müeti. Ich gränne natürlich erst recht: Das Müeti, das hat einfach nicht verstanden, dass das nicht mehr original ist; dass das nicht das Gleiche ist, auch wenn es gleich aussieht.

Roland Reichen lebt als Schriftsteller in Bern. Zuletzt erschien sein Roman «Sundergrund» (etkbooks 2014).

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Der fast letzte Kamerad Manches sei verloren gegangen, sagt Hansruedi Nussberger. Seit sechzig Jahren ist er Mitglied im Verein Naturfreunde Sektion Olten. Doch die Naturfreunde und Naturfreundinnen werden älter und weniger, die Vereinshütte weit oben auf der Rumpelweid hat die Fensterläden meistens geschlossen. Dabei waren die Naturfreunde einst eine internationale Erfolgsgeschichte. Text von Isabel Hempen Fotos von Victoria Loesch & Christian Gerber

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m Verein sind alle alt, sagt Hansruedi Nussberger und lacht leise. Auch er ist alt, 79 Jahre, und seit sechs Jahrzehnten bei den Naturfreunden dabei. Von dem Zwölfergrüppchen, das sie einmal waren, lebt noch die Hälfte. Der Kamerad, der an den Begräbnissen von Mitgliedern die Fahne zum letzten Grusse schwang, ist kürzlich verstorben. Die Kameraden und Kameradinnen werden immer weniger. Die Seilschaft löst sich auf.

Rumpelhöchi, 677 Meter über Meer. Ein Weg führt hinunter zur Wirtschaft Rumpel. Hinauf zur Rumpelweid, sagt Hansruedi Nussberger, sind es zwanzig Minuten zu Fuss. «Wenn man zügig geht.» Er schreitet los, den sanft ansteigenden Weg hinan. Welke, gelbbraune Blätter bedecken den Waldboden. Startet man in Trimbach oder im Stadtpark in Olten, dauert der Aufstieg etwa anderthalb Stunden. Unzählige Male ist Nussberger auf die Rumpelweid hochgestiegen, dorthin, wo das Vereinshaus steht. Nussberger wuchs im Telli-Quartier in Aarau auf. In Schöftland lernte er Hafner und Plattenbauer. Nach der Rekrutenschule nahm ihn ein Nachbar mit zur Aarauer Sektion der Naturfreunde. Dort lernte er Susanna kennen. Im Vereinshaus Schafmatt verbrachte er ganze Tage und Nächte, um mit anderen Vereinsmitgliedern die Wasserversorgung einzurichten. Susanna kochte. Sie heirateten und zogen nach Trimbach. Das ist 55 Jahre her. Sie haben eine Tochter, heute wohnt das Paar seit 25 Jahren in Obergösgen. In der Oltner Sektion der Naturfreunde hat Nussberger sämtliche Positionen durchlaufen: Er war Präsident, Aktuar, Kassier. Jedes Ämtli übernahm er für drei bis vier Jahre. Einzig Kassier ist er schon länger. Zwanzig Jahre lang war er Tourenobmann und verantwortlich für das jährliche Tourenprogramm. Gemeinsam mit dem Tourenleiter plante er die Sommer- und die Winterhochtouren. Viele Touren leitete er auch selbst. Nussberger geht gemächlich voran. Er sei auf gut Deutsch «ufd Schnurre gfloge», sagt er, und deutet auf seine rechte Hand, die in einem Verband steckt. Er ist rank, beinahe hager, trägt eine schwarze Outdoorjacke, schwarze Jeans und dunkle Wanderschuhe. Schon in Kindertagen ging er mit den Eltern am Wochenende wandern, erzählt er. Als junger Bursche packte ihn das Bergsteigen mehr und mehr. Das nötige Wissen eignete Nussberger sich vor allem im Militär an. «Man absolvierte Gebirgskurse, Kompasskurse, Kartenkurse», erinnert er sich, und mit «man» meint er sich selbst. Skitouren, Biathlons, Seiltechnik, Klettern standen auf dem Programm. Nach der Grundausbildung wurde er anstatt zu den acht regulären WKs zu Gebirgs-WKs aufgeboten.

In Trimbach hiess es freitagabends häufig: Gehen wir morgen z’Berg? Die Kameraden kamen in der Beiz zusammen und besprachen die spontan beschlossene Tour. Am nächsten Morgen lösten sie bei der SBB ein Kollektivbillett und fuhren nach Sisikon am Urnersee. Zum Beispiel. Der Fahrdienst brachte sie im Jeep bis Riemenstalden. Die Telefonnummern der lokalen Fahrdienste hatte Nussberger immer dabei: Kameraden vor Ort, die kurzfristig abrufbar waren. Etwa, wenn kein ÖV vorhanden war. Von Rie-

Unternahmen sie Touren in der Schweiz, war nie ein Bergführer dabei. Jeder kannte ein Teilstück. Einer wusste, wo hier Lawinengefahr herrschte, ein anderer, welcher Weg dort einzuschlagen war. Bergkameradschaft. menstalden ging’s zum Übernachten hinauf in die Lidernenhütte. Am Sonntag stand ihnen vom Gipfel des Blüemberg eine wunderbare Abfahrt ins Muotathal bevor. «Das war eine ganz andere Zeit.» Eine Spur Bedauern mischt sich in Nussbergers Stimme. «Mit der Mobilität ist mängs verloren gegangen, auch die Kameradschaft.» 1895 in Wien gegründet, entwickelte sich der Naturfreunde-Verein zu einer internationalen Freizeit-, Ferien- und Sportorganisation der Arbeiterschaft. Die Arbeiter und Arbeiterinnen sollten

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von den Fabriken in die Natur gelotst werden. In der Schweiz stand den seit jeher rot gesinnten Naturfreunden der bürgerliche Schweizer Alpen Club SAC gegenüber: Club der Patrons, des CVP- und FDP-Milieus. «Aber das hat mich nie gestört», sagt Nussberger. Nussberger war lange Mitglied in beiden Vereinen. Galten die Naturfreunde als Wanderverein für die ganze Familie, war der SAC der Club der ambitionierten Bergsteiger. In Trimbach sass Nussberger 13 Jahre lang für die FDP im Gemeinderat. Im Verein aber interessierte ihn die politische Färbung nicht. Nussberger bleibt stehen. Von irgendwo am Hang ist das Gebimmel von Kuhglocken zu hören. Zur Linken führt eine digital betriebene Seilbahn hoch zur Rumpelweid. Jeweils im Frühling und im Herbst wird eine Getränkefuhr geladen. Das Jahr durch transportiert sie Lebensmittel. Aber keine Personen, betont Nussberger. Ein inzwischen verstorbener Hüttenwart rief die Seilbahn vor etwa zwanzig Jahren ins Leben. Die genaue Jahreszahl müsste Nussberger in den Hüttenbüchern nachsehen. Davor gab es nur einen uralten Karren an einer Seilwinde. Bis zur Rumpelweid sind es noch wenige Schritte. Die Holztreppe, die hinaufführt, hat der Verein in Handarbeit gebaut. Die Wiese wirkt verwaist, die Fensterläden des Rumpelhauses sind verriegelt. Nur sonntags ist es für Ausflügler geöffnet. Zwei Vereinsmitglieder leisten dann jeweils Hüttendienst. Sie bieten ein paar einfache Menüs an, Rösti mit Bratwurst, Spaghetti Bolognese. Solche Sachen. Das Haus sollte den Arbeitern einst die Möglichkeit bieten, mitten in der Natur günstig zu speisen und zu übernachten. Vor etwa vierzig Jahren wurde das Haus vergrössert, erzählt Nussberger. Damals wuchs der Verein noch. Heute verfügt es über vierzig Schlafplätze in Zimmern mit vier bis acht Betten. Es wird an Schulen oder Organisationen vermietet, auch Seminare werden hier abgehalten. «Im Haus gibt es aber nur Regenwasser», sagt Nussberger. Duschen kann man damit nicht. «Man nimmt halt den Waschlappen», sagt er lachend. Eine Tour, welche die Kameraden in all den Jahren unzählige Male machten, war jene vom Oberalppass zur Maigelshütte. Ein schönes Gebiet und im Winter lawinensicher, wenn man die richtige Route nimmt. Nussberger weiss den Weg im Schlaf. «Du musst ihn bei jedem Wetter finden», sagt er, und geht ihn in Gedanken ab: das Wasserschloss im Talboden, die alte Geisshütte zur Linken, der Bührle-Schiessstand, das Brüggli der Genie-Truppe, die Barriere. Und dann ist links oben am Fels die Maigelshütte zu sehen. Im Winter ist es dort oben eiskalt. «Auf Hochtouren muss eine gewisse Kameradschaft vorhanden sein», sagt Nussberger. Man


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Die Alpenkette schimmert am Horizont. Titlis, Sustenhorn, Pilatus, Grosses Schreckhorn, Eiger, Mönch, Jungfrau, Mittagshorn. Die Panoramatafel kennt alle Bergspitzen beim Namen. muss sich kennen, die Seilschaft hängt von jedem einzelnen ab. In der Sektion Olten gab es in seiner Zeit nie einen tödlichen Unfall. Zwölf Kameraden waren sie, die häufig miteinander unterwegs waren. Unternahmen sie Touren in der Schweiz, war nie ein Bergführer dabei. Jeder kannte ein Teilstück. Einer wusste, wo hier Lawinengefahr herrschte, ein anderer, welcher Weg dort einzuschlagen war. Bergkameradschaft. «Aber wie’s so geht, einer nach dem andern stirbt.»

Nur am Wochenende ist das Haus offen für Ausflügler: Die NaturfreundenHütte auf der Rumpelweid.

Zurück auf dem Rumpel, oder Rundbüel, wie der Jurahügel einmal geheissen hat. «Es ist schön hier oben, wunderbar», sagt Hansruedi Nussberger, als hätte er noch nie von dieser Warte auf Olten hinabgeblickt. Die ganze Stadt liegt ihm zu Füssen. Dahinter erhebt sich der Engelberg, rechts davon das Sälischlössli. Weiter drüben klafft der Steinbruch am Born. «Jetzt chömeds langsam füre», sagt Nussberger und lächelt. Die Alpenkette schimmert am Horizont. Titlis, Sustenhorn, Pilatus, Grosses Schreckhorn, Eiger, Mönch, Jungfrau, Mittagshorn. Die Panoramatafel kennt alle Bergspitzen beim Namen. «Wenn das Wetter ganz gut ist, sieht man sogar bis zum Mont Blanc.» Seinen höchsten Gipfel erklomm Nussberger, da war er 49 Jahre alt. Sie waren 13 Kameraden und bezwangen den Kilimandscharo, knappe 6000 Meter über Meer. Der Aufstieg auf den Kilimandscharo sei einzig eine Frage der Kondition und technisch für geübte Berggänger nicht schwierig,

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sagt er. Ein halbes Jahr, bevor sie nach Tansania reisten, begann er zu trainieren: Velo fahren und schwimmen, und an ein bis zwei Abenden in der Woche sprang er von Trimbach den Rumpel hinauf. «Um Sauerstoff ins Blut zu bringen.» Heute will er nur noch selten hoch hinaus. Alle zwei Wochen macht er eine Wanderung, «öppe uf de Belche ufe». Er bleibt in der Region. Dreibis viermal in der Woche schwingt er sich aufs Mountainbike und strampelt auf den Rumpel oder den Engelberg. Mit der Pro Senectute legt er auch mal Strecken bis zu 120 Kilometern zurück. Mit seiner Frau Susanna ist er viel im Wohnwagen unterwegs. Er schwärmt von der wunderbaren norwegischen Welt, den Lofoten, der finnischen Seenplatte. Diese Reisen sind leichter als die Touren früher, er geniesst sie. Im Verein hilft Nussberger mit, wenn zweimal im Jahr die Getränke ins Rumpelhaus transportiert werden. Oder wenn Reparaturen am Haus an-


Schon fast sein ganzes Leben ein Naturfreund: der 79-jährige Hansruedi Nussberger.

In ihren besten Zeiten hatte die Sektion Olten rund 180 aktive Mitglieder. Derzeit sind es noch 96. Der Nachwuchs fehlt.

fallen. Drei bis vier Arbeitstage schenkt jedes Mitglied dem Verein im Jahr. Aber es fehlt an Leuten, die sonntags das Haus bewirtschaften und die Umgebung in Stand halten. «Es sind immer die gleichen», sagt Nussbaumer. In ihren besten Zeiten hatte die Sektion Olten zwischen rund 180 aktive Mitglieder. Derzeit sind es noch 96. Der Nachwuchs fehlt. «Heute wollen die Jungen nicht nur im Jura umetschalpe, sondern Gipfel erklimmen», glaubt Nussberger. Weil die meisten Mitglieder in die Jahre gekommen sind, stehen in der Sektion Olten nur noch leichte Wanderungen in der Region auf dem Tourenprogramm. Wer jung ist und sich sportlich verausgaben möchte, kommt beim Schweizer Alpenclub vielleicht besser auf seine Kosten. Schweizweit verzeichnet der SAC 150 000 Mitglieder jeden Alters. Die Schweizer Naturfreunde, in den 1980ern noch rund 26 000 Personen stark, kamen anfangs dieses Jahres noch auf 14 000

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Mitglieder. Die Mitgliederzahlen gehen Jahr für Jahr zurück. Nussberger macht sich Gedanken darüber, was aus «seinen» Naturfreunden wird. Zum Jahresende gibt er das Amt des Kassiers ab. Aus dem Verein austreten wird er aber nicht. «Die Sektion könnte mit einer anderen fusionieren», meint er. Kürzlich erst wurde die Sektion Grenchen aufgelöst. Die Sektion Schönenwerd ereilte dieses Schicksal schon vor mehreren Jahren. Schweizweit werden auf Ende Jahr drei weitere Sektionen geschlossen. Der Sektion Olten könnte dasselbe passieren. «Vielleicht noch nicht morgen, vielleicht auch noch nicht übermorgen.» Nussberger hängt seinen Gedanken nach... Sie haben keinen neuen Fähnrich gefunden. Die Fahne der Sektion Olten ruht.


DER KOLTIGE MONAT

Entschuldigung, liebe Abonnent_innen.

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s will, dass jeweils im September die meisten Rechnungen für die KOLT-Jahresabonnemente verschickt werden. Schon lange wurde uns kommuniziert, dass im Jahr 2018 der Schweizerische Zahlungsverkehr harmonisiert und ein neuer ISO-Standard eingeführt werde. Nun hat es die Postfinance tatsächlich geschafft, sämtliche Dateiformate schon Ende August entsprechend zu ändern. Die Konsequenz: Unser Rechnungs-und Buchhaltungssystem, das einigermassen automatisch funktionieren sollte, konnte die Dateien nicht mehr einlesen, was dazu führte, dass wir nicht mehr erkennen konnten, wer seine Rechnungen bereits bezahlt hat. Erst Mitte Oktober wurde das System aktualisiert, mit einem kleinen wichtigen Fehler: Sämtliche zwischen dem 1. und dem 16. September getätigten Zahlungen wurden nicht oder nur teilweise erkannt. Das System hat daraufhin viel zu viele Zahlungserinnerungen verschickt. Dies natürlich zum Ärger vieler Abonnent_innen. Und zu unserem eigenen. Allerdings müssen wir zugeben: Solche digitalen Lösungen erleichtern den Arbeitsalltag enorm.

29. Oktober 2017 – 6. Mai 2018

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Die Wiedergeburt eines Pharaonengrabes

Partner: Ministry of Antiquities, Cairo Factum Foundation, Madrid Universität Basel

Sponsoren:

Dass Fehler passieren, ist selbstverständlich. Es würden wahrscheinlich noch viel mehr Fehler und Versäumnisse geschehen, würden wir noch alles manuell abgleichen und verbuchen. So möchten wir unser System und die irrtümlich versandten Zahlungserinnerungen, die Umstände und den Ärger vielmals entschuldigen. Wir versuchen, stets unser Bestes zu geben. Glaubt uns. Herzlich, flott und koltig Euer KOLT-Team

Medienpartner:

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Trau dich und lebe ohne Brille oder Kontaktlinsen.

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Naturfreund ist derjenige, der sich mit allem, was in der Natur lebt, innerlich verbunden weiss. Albert Schweitzer

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