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Besonnen im Boliden

BESONNEN IM BOLIDEN

Herbert Blomstedt ist ein Phänomen. Längst ist er der älteste aktive Vertreter seiner Zunft im internationalen Konzertbetrieb, sein Kalender ist unverändert voll. Diesen Herbst tourt er mit den Wiener Philharmonikern durch Europa und reist zum NHK Symphony Orchestra Tokyo nach Japan. Am 15. November ist er mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden im Konzerthaus zu Gast.

Mit Nebensächlichkeiten hält sich Herbert Blomstedt nicht auf. Er probt mit einer Taschenpartitur, mehr braucht er nicht. Seine Anweisungen sind trocken und klar. Ein kurzes Crescendo, das gleich wieder abebben soll, erklärt er, während er die Arme ausbreitet und wieder zusammenfaltet: »Da hat es sich jemand anders überlegt.« Und genauso klingt es bei den Bratschen dann auch. Als der 91-Jährige nach der Vormittagsprobe ins Dirigentenzimmer kommt, wirkt er nicht angestrengt, sondern erfrischt. Mit einer knappen Geste bittet er die Autorin dieses Artikels herein, da fällt sein Blick auf zwei benutzte Gläser auf dem Tisch. »So eine Unordnung«, sagt er, »das stört mich«. Erst räumt er die Gläser beiseite, dann setzt er sich zum Gespräch, mit blitzenden Augen. Im vergangenen Jahr habe er mit dem Gewandhausorchester die Beethoven-Sinfonien eingespielt. »Als wir fertig waren, schlug der Intendant vor, als nächstes könnten wir ja alle 104 Haydn-Sinfonien machen«, erzählt Blomstedt. »Der Mann hat Humor!« Im Übrigen macht er keine großen Worte über sein Alter. »Man muss neugierig bleiben«, sagt er. »Jedes Mal wenn ich ein Stück einstudiere, ist es für mich wie das erste Mal. Wir bleiben ja nicht dieselben.«

Sonja Werner

Diese Auffassung ist in seinem Musizieren deutlich zu hören. Mit sparsamen Gesten spannt er Bögen, zugleich entfaltet er jedes Motiv zu sprechender Lebendigkeit. Warm, nuancenreich und beweglich klingen die Orchester unter seiner Stabführung – ob er nun Mozart dirigiert oder Neue Musik, für die er sich zeit seiner Karriere eingesetzt hat, oder den schwedischen Komponisten Wilhelm Stenhammar, der von 1871 bis 1927 lebte und einen sehr eigenen Personalstil ausgeprägt hat. Seinen Landsmann stärker auf den Spielplänen zu etablieren ist ein erklärtes Ziel von Blomstedt; Stenhammars Hauptwerk, seine zweite Sinfonie, hat er vor wenigen Jahren zum ersten Mal aufgeführt.

Paul Yates · Accentus Music

Der Dirigent Blomstedt herrscht nicht. Er eskortiert oder schlägt vor, und er achtet den Raum, den jeder Orchestermusiker innerhalb einer gemeinsamen Interpretation braucht. Mit dem Topos Macht kann er erkennbar wenig anfangen: »Ich weiß natürlich, dass ich meinen Fuß auf dem Gaspedal habe. Ich fahre einen Maserati! Aber das heißt nicht, dass ich es auch ausnutze.« Und wenn er von der unangenehmen Pflicht eines Chefdirigenten spricht, einem Musiker beizubringen, dass dieser seiner Position nicht mehr gewachsen ist, dann spürt man deutlich, wie sehr ihn solche Momente mitnehmen. Was ist es, das die Orchester an ihm lieben? Eine Antwort gibt er zwischen den Zeilen: Blomstedt ist einfach er selbst. Er inszeniert sich nicht – oder fast nicht. »Der Star bin nicht ich, der Star ist der Komponist«, sagt er. »Ein bisschen Theater ist schon dabei. Soviel vielleicht,« – er hält Daumen und Zeigefinger etwa einen Zentimeter auseinander – »aber Eitelkeit ist immer ein Übel. Eitelkeit stinkt!« Seine Augenbrauen kommentieren seine Sätze auf ihre Weise. Dicht, borstig und weiß heben und senken sie sich im Rhythmus der Sprache, und wenn Blomstedt sich amüsiert, dann taucht die linke Braue schon mal unter den Rand seiner Brille.

Blomstedts Karriere hat ihn von Schweden über Deutschland und Skandinavien in die ganze Welt geführt. Sogar in San Francisco war er Chef. Von 1975 bis 1985, lange vor dem Mauerfall, stand er der Staatskapelle Dresden vor, 1998 folgte er Kurt Masur als Gewandhauskapellmeister nach. Von den politischen Verhältnissen hat er sich wenig beeindrucken lassen, auch wenn er deren Langzeitwirkungen auf die kollektive Psyche, etwa in Leipzig, deutlich wahrgenommen hat. Seine Richtschnur findet er im Glauben; Blomstedt ist Adventist. Die Zeit von Freitagabend bis Samstagabend, die Adventisten nennen sie Sabbat, verteidigt er eisern gegen Proben. Als ihm sein Lehrer einmal vorschlug, sich für eine Generalprobe am Samstag eine Befreiung vom Priester zu holen, erwiderte Blomstedt trocken: »Da hilft kein Priester. Das ist eine Sache zwischen mir und Gott.« Ausschweifungen haben in seinem Leben keinen Platz. Deswegen ist eines sicher: In den beiden Gläsern auf dem Tisch im Dirigentenzimmer kann nichts als Wasser gewesen sein.

Sonja Werner

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