2 minute read

Theatralität des Alltags

Wie schaut einer auf die Welt, die er seit sechzig Jahren nahezu täglich fotografiert? Es muss eine starke Triebkraft geben, abertausenden Fotos immer wieder neue hinzuzufügen. Daidō Moriyama, 1938 im japanischen Osaka geboren, scheint im besten Sinne ein Besessener zu sein. Er verlässt das Haus nicht ohne seine Kamera. Was ihn interessiert, da hält er drauf. Manisch klickt er sich durch den Alltag, schaut oft nicht einmal durch den Sucher und fängt so das Leben um ihn herum unverstellt ein. Dabei tritt der Fotograf, soweit es nur geht, hinter die Arbeiten zurück. Bescheidenheit, Beobachtungslust und eine gewisse Demut gegenüber dem Eigenleben der Kamera haben Moriyama zu einem ganz Großen seiner Zunft geformt.

Am Anfang seiner beispiellosen Karriere stehen Auftragsarbeiten für Magazine. Moriyamas feinfühlige Theaterimpressionen entfalten bis heute einen ungebrochenen

Zauber. So wurde die Neuauflage des Bildbandes »Japan – ein Fototheater«, der vor fünfzig Jahren auf der Photokina in Paris für Furore sorgte, von der internationalen Fotogemeinde sehnsüchtig erwartet. Kaum ein Fotograf hat so viel publiziert. Von Anbeginn bevorzugte Moriyama Zeitschriften, Kataloge und Fotobücher, über hundert sind es insgesamt.

In seinem Atelier in Tokio hängt nicht ein einziges Foto. In einer seiner Ausstellungen stand nur ein Fotokopierer im Raum, und das Publikum konnte sich eigene Fotobücher zusammenheften. Moriyamas Credo: Die Bilder gehören dem Betrachter. Der Fotograf thematisiert die Reproduzierbarkeit von Bildern, ihre Verbreitung und ihren Konsum und setzt auch sein eigenes Bildarchiv in immer neue Zusammenhänge.

Wie stellt man ein solches Œuvre angemessen aus? Moriyama hat die Konzeption und Entstehung der Schau – die erste in

Europa überhaupt – von Tokio aus begleitet, sein Neffe war ein wichtiger Berater vor Ort in Berlin. Angesichts der Materialfülle dauerte allein die Vorbereitung, in enger Zusammenarbeit mit dem brasilianischen Kurator Thyago Nogueira, drei Jahre. Entstanden ist eine Retrospektive mit rund 250 Werken, die schlüssig herausarbeitet, wie Moriyama zum Meister der Straßenfotografie reifte und die Fotokunst weit über Japan hinaus prägte.

Schon bald nach der Theaterserie der 1960er­Jahre machte sich der junge Fotograf von Auftraggebern frei und streifte, nur seinen Eindrücken verpflichtet, durch die Gegend, fasziniert von der Theatralität des Alltags. Mit größter Neugier an kleinsten Details suchte er den magischen Augenblick festzuhalten. Ein Treffen mit Andy Warhol änderte dann alles. Fortan interessierte Moriyama, wie man mit Bildern die Gesellschaft reflektieren kann. Fast beiläufig erzählen seine Fotografien von einer Zeitenwende, der Verwestlichung der japanischen Gesellschaft, dem Anbruch der Konsumkultur. Ohne eine eindeutige politische Position thematisiert er Entfremdung, Verlust, die dunklen Seiten dieses neuen, amerikanisch geprägten Japans. Und nichts, was sein geschulter Blick des Festhaltens für würdig erachtet, langweilt, nichts wirkt beliebig.

Moriyamas Stil »are, bure, boke« (körnig, verwackelt, aus dem Fokus) war prägend für eine ganze Generation von Fotografen. Er experimentierte mit Vergrößerungen, Fragmentierungen und Bildauflösungen. Sein künstlerischer Pioniergeist und die visuelle Intensität gelten als wegweisend. In der von Instagram geprägten Bildwelt heutiger Tage, dominiert von durch Filter veränderten Fotos, ist es eine Wohltat, dieser authentischen (hauptsächlich) Schwarz­Weiß­Fotografie zu begegnen. Die überzeugende Ausstellungsgestaltung hebt chronologisch die verschiedenen Schaffensphasen durch kluge Inszenierungen voneinander ab. Unfallserien der 1970er­Jahre sind jeweils mit ausführlichen Erklärungen genau verortet, Fotocollagen, unter anderem von der Leuchtreklame am Times Square, erscheinen als raumgreifende Bildinstallationen. Moriyamas Alter Ego, ein struppiger, mürrisch dreinblickender Straßenköter – meist als metaphorisches Selbstporträt gedeutet –, taucht mehrfach auf, so wie auch der Künstler das ikonische Foto immer wieder in verschiedene Werke integrierte. Dutzende noch nie zuvor ausgestellte Magazine und Fotobücher, in Vitrinen übersichtlich ausgebreitet, illustrieren Moriyamas Vorliebe für die gedruckte Fotografie. Am Ende der Schau kann man diverse Originale durchblättern.

Text GABRIELE MIKETTA

This article is from: