Museumsjournal 3/2024

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DISKURS Humboldt Forum

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Potenziale ausschöpfen

Ein Beitrag zur Debatte um das Humboldt Forum aus der Stiftung Zukunft Berlin

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Schlossplatz 1

Was das Humboldt Forum bewegt

Diese Ausgabe des Museumsjournals erscheint mit einem Split-Cover, für das wir zwei Fotos aus der Serie »Self-Portrait in Drag« (1980) von Andy Warhol ausgesucht haben ANDY WARHOL 48 ANDREAS MÜHE IM INTERVIEW

AUSSTELLUNGEN

40

Paradiesische Botschaften

C/O Berlin würdigt den Fotografen

Tyler Mitchell

42

Anstoß und Empörung?

Interview

Wie Andreas Mühe mit Bunkern auf Kuschelkurs geht

33

Schutzbauten

Ein Kulturtrip von der Feuerle Collection bis in den Untergrund

Im Neuen Berliner Kunstverein wird der wahre Pier Paolo Pasolini gezeigt

44

Locker barock

Die Gemäldegalerie feiert eine starke Persönlichkeit: Frans Hals

48

Queer

Die Neue Nationalgalerie fokussiert auf Andy Warhols Sexualität

Tyler Mitchell, »New Horizons II«, 2022
Andreas Mühe in der Werkstatt

52 Unheimlich

In der Stiftung Kunstforum arbeitet sich Michael Müller an Freud ab

53

Künstliche Intelligenz

im Museum für Kommunikation

Klimawandel im Park Sanssouci

Sandra Vásquez de la Horra in der Akademie der Künste

54

Trauma und Widerstand

Im Hamburger Bahnhof ist Mark Bradford zu erleben

56 Keramisch

Das Kunstgewerbemuseum stellt das Werk von Antje Brüggemann vor

57 Organisch

Hoda Tawakol bringt das Georg Kolbe Museum auf die Palme

58 Zeitenwandel

Die Akademie der Künste breitet die Fotografie von Michael Ruetz aus

60

Weimarer Verhältnisse

Die Topographie des Terrors erklärt die frühen Jahre der Demokratie in Deutschland

61

Eva Mamlock im Museum FriedrichshainKreuzberg

Josephine Pryde im Haus am Waldsee

Georgia Krawiec in der Kommunalen Galerie

FALSCHGELD IM MÜNZKABINETT 64

62

Kreatürlich

Im Schinkel Pavillon geht Ivana Bašić auf Seelenwanderung

64

Falsche Moneten

Das Münzkabinett im BodeMuseum überführt Betrüger

66

Extrem physisch

Galli macht im PalaisPopulaire Halligalli

Indigen

Das Museum Europäischer Kulturen öffnet seine sámische Sammlung

70

Familienbilder

Das Schöneberg Museum zeigt jüdisches Leben im Nationalsozialismus

71

Zeitgeist im Haus am Kleistpark

Lina Bo Bardi in der Tchoban Foundation Berlin in der Helmut Newton Foundation

72

Wiederentdeckung

Die Liebermann-Villa geht auf Tuchfühlung mit Dora Hitz

74

Kulturkampf

Das KW Institute stellt die dekoloniale Arbeit von Pia Arke vor

76

Sammlerviten

Das Brücke Museum gibt Einblicke in die Provenienzforschung

78

Petersburger Hängung

Im Schloss Sacrow ist Kunst der Generation Z zu sehen

IVANA BAŠIĆ IM SCHINKEL PAVILLION

Ivana Bašić, »Blossoming Being #1«, 2024
Sogenannter Paduaner aus Venetien, 1540–70
Dora Hitz, »Margarete Hauptmann«, 1906

EINBLICKE

82 Spot auf Berlin

Im Ephraim-Palais kann man eine Zeitreise durch die Stadt machen

84

Nachhaltig

Das Bröhan-Museum formuliert Wünsche an das Design der Zukunft

86 Kreuzigungsgruppe

Ein Hauptwerk von Georg Petel wird im Bode-Museum wieder vereint

88

Gewichtiges Erbe

Die Nationalgalerie hat ihre JosephBeuys-Sammlung umsortiert

90 Siegeszug

Im Technikmuseum wurde die Eisenbahnausstellung neu gestaltet

92 Jubiläum

Berlin feiert 100 Jahre S-Bahn

93

Aus den Häusern

Kleine Einblicke in Berliner Institutionen

SOFIE KROGH CHRISTENSEN

Als Kuratorin untersucht Sofie Krogh Christensen die Schnittstellen von kritischer Theorie und Methode, Diaspora & Decolonial Studies und künstlerischer Forschung. Die 1988 geborene Dänin war zuvor als Assistenzkuratorin für die 15. IstanbulBiennale tätig und in New York bei der Künstlerresidenz »International Studio & Curatorial Program«. Sie schreibt für Kunstmagazine wie »Frieze«, ist gern unterwegs und freut sich, neue Orte und kulinarische Spezialitäten kennenzulernen. In Grönland probierte sie neulich die Delikatesse Mattak – rohen Walspeck. Seit 2020 arbeitet sie im KW Institute for Contemporary Art, wo sie die Ausstellung »Arctic Hysteria« zu Pia Arke kuratiert hat (siehe S. 74).

LISA BOTTI

Lisa Botti ist Kuratorin an der Neuen Nationalgalerie Berlin und immer wieder aufs Neue begeistert, wenn sie an diesem ikonischen Gebäude vorbeiradelt, um den Tag im Museum zu beginnen. Mit Klaus Biesenbach hat sie die aktuelle Andy-Warhol-Ausstellung kuratiert (siehe S. 48). Von 2019 bis 2021 war sie für die Biennale in Sydney tätig, eine der schönsten Städte der Welt, wie sie findet. Die Erinnerung an das Meer, die tollen Museen und entspannten Menschen, lässt oft noch Fernweh hochkommen. Davor hat sie drei Jahre in Singapur gelebt und dort einen Non-Profit-ArtSpace geleitet. An der Stadt im Herzen Asiens begeisterte sie besonders das köstliche Essen. Studiert hat Lisa Botti an der Humboldt-Universität bei Horst Bredekamp und Susanne von Falkenhausen in Berlin. Hier hat sie schon fast überall gewohnt. Außer in Charlottenburg, das erinnert sie an Frankfurt am Main, wo sie aufgewachsen ist, und das kennt sie ja bereits.

JÉRÔME DEPIERRE

Es freut ihn immer wieder, wenn ihm ein Foto gelingt, das einfach und unkompliziert das Wesentliche darstellt. Wenn das Licht die Schatten und Farbe beeinflusst, sodass diese selbst zum Protagonisten des Bildes werden. Als Fotograf arbeitet Jérôme Depierre meist im Porträtbereich und hat für uns Andreas Mühe fotografiert (siehe S. 28). Zurzeit lebt er in Berlin, ursprünglich kommt er aus Basel in der Schweiz. Dort hatte er zusammen mit Freunden Parkour unterrichtet und mit Hilfe seiner Freundin gelernt, wie man diesen dynamischen Sport fotografieren kann. Nach einem Foto-Praktikum bei einer Tageszeitung, diversen Assistenzen bei Fotografen und einem Studium in Berlin dominiert die Fotografie sein Leben. Es sei denn, er ist gerade damit beschäftigt, seinen Hund im Wald einzufangen.

PANORAMA

Kopf durchstecken und Fotos machendie Installation mit Gucklöchern »Face Off« (2024) von Zohar Fraiman im Haus am Lützowplatz

Akademie der Künste Doppelspitze

Auch die Akademie der Künste hat eine neue Führung. Auf ihrer 62. Mitgliederversammlung wurde der 1956 in Düsseldorf geborene Komponist und Schlagzeuger Manos Tsangaris zum Präsidenten gewählt. Er wird Nachfolger der Filmemacherin Jeanine Meerapfel, deren Amtszeit satzungsgemäß nach neun Jahren endete. Vertreten wird Tsangaris von dem 1974 in Vietnam geborenen Architekturtheoretiker und Publizisten Anh-Linh Ngo, der ebenfalls mit großer Mehrheit zum Vizepräsidenten bestimmt wurde, er folgt auf die Regisseurin Kathrin Röggla. Auch die meisten Sektionen des Senats haben eine neue Leitung, in der Bildenden Kunst ist es nun Karin Sander und in der Baukunst HG Merz.

Anh-Linh Ngo

Berlin Biennale Axel Wieder wird

neuer Direktor

Die Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst bekommt zum 1. August eine neue Leitung. Axel Wieder kommt von der Bergen Kunsthall in Norwegen, ist in Berlin aber kein Unbekannter. 1999 gehörte der 1971 geborene Kunsthistoriker zu den Mitgründern der Buchhandlung und Diskursplattform Pro qm. 2004 war er bereits Co-Kurator einer Sektion der dritten Berlin Biennale. Nach Stationen am Künstlerhaus Stuttgart, dem Arnolfini in Bristol oder Index in Stockholm folgt er als Direktor nun auf Gabriele Horn, die die Berlin Biennale mehr als 20 Jahre lang organisiert und verantwortet hat. Axel Wieder verfüge nicht nur über ein breites berufliches Netzwerk, erklärte die Künstlerin Katharina Grosse, die auch Vorsitzende der Kunst-Werke e.V. und Leiterin der Auswahlkommission für den einflussreichen Posten ist, er sei zudem »bestens vertraut mit aktuellen Diskursen sowie den organisatorischen Abläufen, die für ein groß angelegtes, internationales Ausstellungsformat wie die Berlin Biennale relevant sind«. Wieder habe sich in einem offenen Bewerbungsverfahren unter zahlreichen internationalen Bewerbern und Bewerberinnen erfolgreich durchgesetzt.

Berlinische Galerie

Thomas Köhler bleibt

Der Berliner Senat setzt auf kontinuierliche Qualität und Verlässlichkeit. Thomas Köhler bleibt Direktor der Berlinischen Galerie und damit auch Stiftungsvorstand. Sein Vertrag wurde bis Januar 2029 verlängert. Der Kunsthistoriker leitet das Landesmuseum für moderne Kunst, Fotografie und Architektur seit 2010 und hat es zu einem experimentierfreudigen Ort entwickelt. Im Mittelpunkt der Sammlung steht Kunst, die von 1870 bis heute in Berlin entstand. Zuletzt sorgte die Ausstellung »Edvard Munch – Zauber des Nordens« für enormen Zulauf.

Haus der Kulturen der Welt

Der Intendant des Hauses der Kulturen der Welt hat einen einflussreichen Nebenjob: 2025 kuratiert Bonaventure Soh Bejeng Ndikung eine der bedeutenden Kunstbiennalen weltweit. Den im HKW gepflegten Kollektivgedanken trägt er nach Brasilien. Seine Stellvertreterin Henriette Gallus wird ihn als »Beraterin für Strategie und Kommunikation« begleiten. Das insgesamt sechsköpfige Team vereine »das Streben nach Großzügigkeit und intellektueller Integrität und das Streben danach, einander und der vor uns liegenden Aufgabe gerecht zu werden«, poetisiert die Bundeseinrichtung: »Was unsere kuratorische Methode betrifft, so werden wir es den Zugvögeln gleichtun und ihre Flugrouten nachvollziehen, die die vier Himmelsrichtungen der Erde kreuzen. Inspiriert von ihrem Orientierungssinn, ihrem Bewegungsdrang, ihrem Sinn für das Überleben, ihrem Verständnis von Räumen und Zeiten werden wir eine tiefgreifende und umfassende Recherche für die 36. Biennale von São Paulo unternehmen.« Auf das HKW-Programm im kommenden Jahr darf man noch gespannt sein.

Keyna Eleison, Anna Roberta Goetz, Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, Alya Sebti, Thiago de Paula Souza und Henriette Gallus
Manos Tsangaris

Institut für Museumsforschung Museen genießen höchstes Vertrauen

Gemäß der ersten bevölkerungsrepräsentativen Studie zu Vertrauen in Museen in Deutschland aus dem Dezember 2023 besitzen Museen das Potenzial, das gesellschaftliche Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken und Vertrauen in kulturelle Institutionen insgesamt zu fördern. Dieses verborgene Sozialkapital und die gesellschaftspolitische Dimension von Museumsarbeit sind nun empirisch unterfüttert. Zu den wichtigsten Erkenntnissen gehört, dass Museen im persönlichen und institutionellen Umfeld das höchste Vertrauen nach Familie und Freunden und vor Wissenschaft und Medien genießen. Sie heben sich damit deutlich von anderen öffentlichen Einrichtungen sowie politischen Organisationen ab. Dieses Vertrauen speist sich vorrangig aus der Wahrnehmung ihrer Neutralität. Menschen, die Museen als neutral und unparteiisch wahrnehmen, vertrauen diesen wesentlich stärker als diejenigen, die diese Neutralität nicht anerkennen. Doch selbst bei Nichtbesuchern genießen Museen einen Vertrauensvorschuss. Mit der Besuchshäufigkeit wachsen auch die angegebenen Vertrauenswerte. Diese klare Korrelation schafft einen Spielraum, in dem Museen durch entsprechendes Engagement weiteres Sozialkapital generieren können. Die Studie lieferte auch erstmals seit 2013 Daten zur Besuchshäufigkeit in deutschen Museen. 5,3 Prozent der Befragten gehen gar nicht, 6 Prozent mindestens einmal im Quartal ins Museum. Ein gutes Drittel (35,1 Prozent) hat in den letzten zwölf Monaten mindestens einmal ein Museum betreten, bei knapp der Hälfte (47,7 Prozent) ist dies mehr als ein Jahr her. Alles in allem könnte die Studie den Blick auf Museen beeinflussen: In Zeiten zunehmender Polarisierung und drängender gesellschaftlicher Probleme sind es unverzichtbare Orte, die Verlässlichkeit bieten. smb.museum

Tropez

Hamburger Bahnhof Techno trifft Museumsgarten

Vom Ausstellungsbesuch zum Rave: Mit einer zweiten Auflage der erfolgreichen Musikreihe »Berlin Beats« feiert der Hamburger Bahnhof den Sommer und macht den Museumsgarten erneut zum Dancefloor. Im letzten Jahr groovten allein rund 50.000 Menschen an zwölf Donnerstagabenden zu elektronischen Klängen bei freiem Eintritt. »Wir hoffen, dass vor allem diejenigen kommen, die noch nie bei uns gewesen sind«, so Co-Direktor Till Fellrath. »Man soll sich einfach mal hierher trauen.« Mit dem Anspruch, das Museum in alle Richtungen weiter zu öffnen, werde auch die »performative Community« als künstlerische Position stärker integriert. Offen zeigt sich auch das musikalische Spektrum von experimentellem Sound bis harten Beats. Man wolle die Lebendigkeit Berlins widerspiegeln, heißt es, und so beinhaltet das Line-up der DJs klingende Namen wie Ellen Allien, Marie Montexier oder Nick Höppner. Die Berliner Technokultur wurde übrigens in diesem Jahr von der Unesco in die Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen. smb.museum

Ausschwärmen im Humboldthain

Ohne es zu bemerken, trägt jeder im Sommerbad Humboldthain ein kleines Kunstwerk am Handgelenk. Denn Niclas Riepshoff, einer von mehreren ausstellenden Künstlern, hat spezielle Tracker an den Schlüsselarmbändern angebracht, ähnlich Peilsendern, die Fischen implantiert werden. Wie die »Megabrain-Umkleidekabine«, die »SciFi-Wippen« oder »Himmelspfützen« sind sie Teil des dreimonatigen Ausstellungs- und Performanceprogramms »Swarm«, einer vom Kunstraum Tropez initiierten Reihe. Ob es sich bei all dem um intelligente Nutzung handelt oder als eine Schwarmdummheit entlarvt wird, darüber kann im Freibad, auf dem Rasen, am Beckenrand oder vor dem Kiosk bei Pommes und Eiscreme bis zum 1. September nachgedacht werden. tropeztropez.de

Niclas Riepshoff, »Roaming«, 2024
Berlin Beats, 7.7.2024: Rui Ho
Hinter Bunkern aus Plüsch: Andreas Mühe in seinem Berliner Atelier

»Der Mensch bleibt der größte Fremdkörper«

Der Künstler ANDREAS MÜHE arbeitet sich am eigenen Erbe, an der deutschen, auch an der europäischen Vergangenheit ab. Wir haben ihn im Atelier getroffen, über seinen Beitrag zur Geschichte gesprochen und mit Kuschel-Bunkern geworfen

ANDREAS MÜHE, geboren 1979 in Karl-Marx-Stadt, lebt und arbeitet in Berlin. Nach einer klassischen Ausbildung als Fotograf machte Mühe sich 2001 selbständig. In den ersten Jahren entstanden für Zeitungen und Magazine zahlreiche Porträts von Prominenten wie Gerhard Richter, Helmut Kohl oder Angela Merkel. Macht, deutsche Geschichte und die Figur des Politikers wurden zu Mühes Themen, die er in präziser Regie inszeniert. Einzelausstellungen fanden in den Deichtorhallen Hamburg (2017), im Hamburger Bahnhof in Berlin (2019) oder im Frankfurter Städel Museum (2022) statt.

AUSSTELLUNGEN

Bilder, die befreien können

TYLER MITCHELL ist der erste Schwarze, der ein

Cover für die Modezeitschrift »Vogue« schoss. Seine Fotos transportieren auch politische Botschaften

Der amerikanische Fotograf Tyler Mitchell (1995) spürt Träumen vom Paradies nach, in denen Selbstbestimmung und die besondere Atmosphäre alltäglicher Situationen im Fokus stehen. Bereits als Teenager begeisterte er sich für das Skateboarden. Er studierte Film und Fernsehen an der New York University und veröffentlichte 2015 im Selbstverlag sein erstes Buch »El Paquete« über die Skaterszene und Architektur in Havanna, Kuba. Darin werden die gewagte Verwendung von Farbe und sein authentischer Blick auf Mode sichtbar. Im Jahr 2018 erhielt Mitchell den Auftrag, die Sängerin Beyoncé für die amerikanische Modezeitschrift »Vogue« zu fotografieren und schrieb im Alter von 23 Jahren Geschichte als erster Schwarzer Fotograf, der ein Coverfoto für das Magazin aufnahm.

Mitchells Anliegen ist es, das Leben Schwarzer Menschen echt und unverfälscht darzustellen. Seine erste Einzelausstellung in Deutschland bei C/O Berlin umspannt fast ein Jahrzehnt und verdeutlicht den Einfluss der »New Black Vanguard« – eine vom amerikanischen Schriftsteller Antwaun Sargent so bezeichnete Bildproduktion Schwarzer Künstler*innen, deren Fotografie zwischen Kunst und Mode angesiedelt ist.

Geprägt von digitalen Plattformen wie Tumblr, auf denen Kunst und Alltagskultur nebeneinander existieren, verschmelzen in Mitchells Arbeiten die Genres Porträt- und Modefotografie und spiegeln seine Vision utopischer Räume für Schwarze Jugendliche wider. Gerade in einer Zeit, in der die Gewalt gegen Schwarze Menschen immer stärker in den Blick rückt, können Mitchells Arbeiten auch als eine Art Selbstschutz und ein Weg zu persönlicher Freiheit gesehen werden.

So verbinden sich in seinen Videos »Wish This Was Real« und »Chasing Pink, Found Red« paradiesische Szenen, etwa eines sommerlichen Picknicks in einer idyllischen Landschaft, mit unserem Wissen um soziale Spannungen und prekäre Lebensrealitäten der Schwarzen Bevölkerung in den USA. In der Fotoserie »Dreaming in Real Time« stellt Mitchell die Idee der »postkolonialen Idylle« als romantische Beschwörung eines traumatisch belasteten Landes dar. Seine Bilder zeigen Augenblicke des Spiels,

der menschlichen Verbundenheit, der familiären Beziehungen, die trotz oder gerade wegen der Unterdrückung existieren. Auch von dem Regisseur und Fotografen Gordon Parks und dessen Auseinandersetzung mit dem Zuhause als Ort des kosmologischen Gedächtnis ließ sich Mitchell inspirieren und schuf Bilder, in denen er Kleidungsrituale, Formen der Selbstdarstellung und Ahnenverehrung reflektiert. Mit seinen neuesten Arbeiten erweitert Mitchell schließlich die Grenzen der fotografischen Präsentation, indem er Sublimationsdrucke auf Stoffen und Spiegeln anfertigt.

Die Ausstellung ist in drei lose Themenbereiche gegliedert: Porträt, Jugend und Mode in »Lives/Liberties«, dann Landschaft als Ort der Freizeit und Gemeinschaft in »Postcolonial/Pastoral« und schließlich die Bewahrung des sozialen Gedächtnisses in »Family/Fraternity«. Im Zentrum der Ausstellung ist mit »Altars/ Acres« eine generationenübergreifende Werkauswahl von Künstler*innen wie Carrie Mae Weems, Garrett Bradley und Baldwin Lee zu sehen, mit denen Mitchell ein tiefes Gefühl der Verwandtschaft und des Dialogs verbindet.

Text BRENDAN EMBSER, Senior Editor bei Aperture SOPHIA GREIFF, Kuratorin und Co-Programmleitung bei C/O Berlin

Tyler Mitchell, »Atlanta«, i-D Magazine, September 2021 »Motherlan Skating«, 2019 (vorherige Doppelseite)

Tyler Mitchell. Wish This Was Real bis 5. September 2024 C/O Berlin co-berlin.org

Leihgabe aus dem Louvre: Frans Hals, »Der Lautenspieler«, um 1623/24

Mit einem Augenzwinkern

Lockerer als FRANS HALS malte wohl niemand in den calvinistischen Niederlanden. Über die Kunstgeschichte einer starken Persönlichkeit

Frans Hals (um 1582/84 geboren, im Jahr 1666 gestorben) darf zweifelsohne zu den größten europäischen Porträtmalern überhaupt gezählt werden. Seine Bildnisse der holländischen Elite, die er über einen Zeitraum von 50 Jahren in der Stadt Haarlem schuf, sprühen vor Leben und Ausdrucksstärke. Neben der Porträtmalerei, die den überwiegenden Teil seines erhaltenen Œuvres ausmacht, malte Hals auch eine bedeutende Anzahl von Genrebildern –Darstellungen von Figuren und Szenen aus dem Alltagsleben. In diesen wurden erstmals auch soziale Randgruppen und gesellschaftliche Außenseiter in einem porträthaften Format dargestellt. Scheinbar mühelos gelang es dem Maler, sowohl in seinen Bildnissen als auch in jenen Genrebildern den flüchtigen Moment einer Bewegung oder eines Gesichtsausdrucks einzufangen und so den Eindruck einer gemalten Momentaufnahme zu erzeugen. Mit seinem lockeren, breiten Pinselstrich, den man heute mit den Werken des Impressionismus assoziiert, kann Hals zudem als Vorreiter der Moderne bezeichnet werden. Zum ersten Mal wird in Deutschland eine monografische Ausstellung die Geschichte dieses einzigartigen niederländischen Meisters erzählen. Betrachtet man Hals’ Bildnisse, so gewinnt man den Eindruck einer auffallend ehrlichen, authentischen, mitunter sogar nicht sehr schmeichelhaften Wiedergabe der Dargestellten. Die Auftraggeber des Künstlers zählten zur reichsten Schicht der Gesellschaft und dürften viel Geld für ihre Porträts ausgegeben haben. Dennoch scheute Frans Hals offenbar nicht davor zurück, mitunter auch Charakterzüge wie Überheblichkeit oder Eitelkeit anzudeuten.

Seine Kunden wussten sicher, worauf sie sich einließen, wenn sie ein Porträt von seiner Hand in Auftrag gaben und nicht bei einem anderen Maler. Dafür erhielten sie nämlich eine ungewöhnlich lebendig erscheinende Darstellung, die in einem sehr innovativen, dem sogenannten »rauen« Stil ausgeführt war.

Auffallend ist auch die positive, beschwingte Stimmung, die viele der Bildnisse ausstrahlen. In der niederländischen Porträtmalerei des 17. Jahrhunderts waren Ernst und Strenge die Norm,

während ein Lächeln als unangemessen galt. Zahlreiche Porträts von Hals zeigen jedoch gut gelaunte, heitere Menschen, die, wenn nicht mit einem tatsächlichen Lachen, so doch zumindest mit einem Lächeln oder Augenzwinkern dargestellt sind. Das offene Lachen war Hals’ Genrebildern vorbehalten, die Musiker, Schausteller oder arme Kinder zeigen – Menschen also, die nicht zu den privilegierten Gruppen der Gesellschaft gehörten. Einige dieser Figuren charakterisieren ein herzhaftes Lachen mit entblößten Zähnen. Eine solche Gefühlsäußerung war in der calvinistischen, niederländischen Gesellschaft verpönt. Gleichwohl machte Hals seine Genrefiguren nicht zur Lachnummer, sondern stellte sie mit Respekt dar. Indem er sie im Porträtformat und in Lebensgröße inszenierte, bot er ihnen eine gleichwertige Bühne wie seinen wohlhabenden Auftraggebern – ein absolutes Novum in der Malerei.

Bemerkenswert ist auch, dass Frans Hals mehrere Gemälde von Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen malte, darunter den stadtbekannten Haarlemer Straßenmusiker »Boontje«, der einen sogenannten Rommelpott oder Brummtopf spielend durch die Straßen zog. Besondere Berühmtheit erlangte Barbara Claes, die als »Malle Babbe« (verrückte Barbara) von Hals gemalt wurde. Claes wurde 1646 wegen unmoralischen Verhaltens und um weitere »Fälle von Schande und Entehrung« zu vermeiden, in das Haarlemer Arbeitshaus (eine Art von Armen- und Zuchthaus) eingewiesen. Hals dürfte sein Bild der »Malle Babbe« noch vor ihrer Einlieferung als eines seiner wohl berühmtesten und malerisch virtuosesten Werke geschaffen haben. Das Gemälde ist eines der bedeutendsten Werke der Berliner Gemäldegalerie und wird als ein Höhepunkt der Sonderausstellung in einem eigenen Ausstellungskapitel gewürdigt. Die beeindruckend spontane, schnell gesetzte und intuitive Malweise von Hals machte auch auf die Maler des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts großen Eindruck. So sah Gustave Courbet »Malle Babbe« 1869 in der großen »I. Internationalen Kunstausstellung« in München und war derart begeistert von dem Bild, dass er

Stadien des Seins

Die Kreaturen von IVANA BAŠIĆ verkörpern den steten

Wandel. Nun begeben sie sich auf Seelenwanderung

Nähert man sich dieser Tage dem Schinkel Pavillon unweit der Museumsinsel, dann vernimmt man ein leises, aber beständiges Hämmern, das sukzessive lauter wird. Das Hämmern wird durch den Atemrhythmus der New Yorker Künstlerin Ivana Bašić angetrieben, den sie in eine mechanische Choreografie übertragen hat, die repetitiv durch das Gebäude hallt. Pneumatische Stahlhämmer, die mittels Luftdruck angetrieben werden, zertrümmern mit präzisen Schlägen nach und nach einen Alabasterstein. Er ist sinnbildlich das Herzstück einer raumgreifenden Skulptur der Künstlerin, die den oberen oktogonalen Ausstellungsraum fast gänzlich einnimmt. Umgeben ist der Stein von schützendem Glas, das sich wie Lungenflügel um das steinerne Herz legt. Zwei in steinerne Kokons gehüllte hybride Wesen ragen aus der Konstruktion an langen Stahlrohren heraus. Über Seile und Schläuche scheint das fragile Gebilde mit dem Raum eine Einheit zu bilden. Mit verschiedenen Stadien des Seins befasst sich die Künstlerin in ihrer ersten institutionellen Einzelausstellung, worauf auch der Titel »Metapsychosis: The Passion of Pneumatics« verweist. Metempsychose ist ein Begriff aus der griechischen Philosophie, der die Transmigration einer Seele in einen anderen Körper beschreibt.

Ivana Bašić, die 2012 ihr Studium an der New Yorker Tisch University abschloss, wurde 1984 in Belgrad geboren. Aufgeladen mit den Kindheitserfahrungen der Künstlerin, die während des Zusammenbruchs ihres Heimatlandes Jugoslawien in den 1990er-Jahren von Krieg, Gewalt und Brutalität geprägt waren, sprechen Bašićs humanoide Skulpturen weitreichende Themen wie intergenerationelles Trauma und die Suche nach Unsterblichkeit an. In ihrer Kunst setzt sich Bašić mit der Verletzlichkeit und Transformation des menschlichen Körpers auseinander. Ihr vorrangiges Farbspektrum legt Assoziationen an Knochen, Blut und Fleisch nahe.

Im verwinkelten Untergeschoss des Schinkel Pavillons sind weitere, sich in verschiedenen Stadien einer Metamorphose befindliche Skulpturen verteilt, die insektenhafte Züge aufweisen. Auffallend ist

dabei die Verbindung der Materialien Stahl, Glas und Stein mit Technik wie Druck und Pneumatik. Nach und nach zerfallen die Steine zu Staub, entweder durch den Lauf der Zeit oder durch die mechanische Einwirkung der Hämmer, die auf sie immer und immer wieder einschlagen, während der Atem der Künstlerin im Glas konserviert wird. Jedes der humanoiden Gebilde wiederum benötigt Stützstrukturen. Sie klammern sich an Stahlrohre und -prothesen, sie lehnen sich an Wände; unfähig sich alleine zu halten, wirken sie verletzlich. Ebenso legen muschelförmige Gebilde schützend um die Wesen, die Bašić in verschiedenen Stadien in Skizzen festhält und die ebenfalls Teil der Ausstellung sind.

Der Zwischenzustand im Moment des Zerfalls und dem daraus womöglich resultierenden Übergang zieht sich dabei wie ein roter Faden durch beide Etagen, getragen von einem Sturm, der den Staub in Bewegung versetzt und in einem der animierten Videos eine fast schon menschliche Form annimmt. Aus dem Staub, der dort kontinuierlich aufgewirbelt wird, scheint sich ein Körper zu erheben, der genauso schnell wieder in sich zusammenfällt. Alles, so scheint es, befindet sich in Bašićs künstlerischem Kosmos kontinuierlich im Wandel.

Text LINA LOUISA KRÄMER, Programmund Produktionsleitung

Ivana Bašić. Metapsychosis: The Passion of Pneumatics

bis 25. August 2024 Schinkel Pavillon schinkelpavillon.de

Ivana Bašić, »Camille/ Sympoetic Being«, 2024

Eingehüllt von Schweigen

In der dekolonialen Debatte von Grönland und Dänemark ist PIA ARKE eine Schlüsselfigur, ihre Kunst ein Ringen um Identität

In meinen Bildern geht es um das Schweigen, das die Beziehung zwischen Grönland und Dänemark einhüllt. Ich selbst wurde in dieses Schweigen hineingeboren«, sagte die dänisch-grönländische Künstlerin Pia Arke (1958–2007) 1995 in einem Interview der schwedischen Zeitung »Dagens Nyheter«. Sie beschrieb das nach wie vor bestehende Kolonialverhältnis zwischen Kalaallit Nunaat (Grönland) und Dänemark und dass sie davon selbst betroffen war. Während Arke in der postkolonialen Szene der nordischen Länder und der zirkumpolaren Regionen trotz ihres kurzen Lebens als starke Stimme wahrgenommen wurde, künstlerisch als wegweisend galt, fand ihr Werk in der etablierten dänischen Kunstszene und der breiteren Öffentlichkeit kaum Beachtung. Durch seine lebendige und kritische Kunst- und Aktivist*innenszene ist Grönland in den letzten Jahren wieder in den Mittelpunkt intensiver dekolonialer Debatten gerückt. Da Grönland zwar autonomes Gebiet ist, aber immer noch zum Königreich Dänemark zählt, wird das (Fehl-)Verhalten Dänemarks in der Vergangenheit sowie dessen andauernde Präsenz in der Arktis kritisiert. Arkes bahnbrechende Arbeit ist von grundlegender Bedeutung für diese Diskussionen und ein zeitgenössisches postkoloniales Denken in Nordeuropa und Grönland.

Das KW Institute for Contemporary Art zeigt mit »Arctic Hysteria« die erste umfassende Einzelausstellung von Pia Arke außerhalb Grönlands und der nordischen Länder. Zentral in Pia Arkes Werk ist seit Ende der 1980er- bis Anfang der 2000er-Jahre die Beschäftigung mit Identitätsfragen und Repräsentationsverhältnissen in Bezug auf Dänemark und Grönland. Zu Grunde liegt Arkes Arbeiten das tiefe Bedürfnis, die eigene Familiengeschichte im Kontext kolonialer Beziehungen zu verstehen. Als Tochter einer grönländischen Inuk-Mutter und eines dänischen Vaters verbrachte Arke ihre Kindheit in Grönland. Aufgrund des Berufs ihres Vaters, der Telegrafist war, zog die Familie häufig innerhalb des Landes um.

Später studierte Arke an der Königlichen Kunstakademie in Kopenhagen, wo sie blieb und arbeitete. Jedoch kehrte sie immer wieder nach Grönland zurück. Ihre Arbeiten sind Ausdruck eines

Ringens um Identität, die weder als dänisch noch als grönländisch bezeichnet werden kann. Wie sie in ihrem Essay »Ethno-Aesthetics« (1995) ausführt, strebte sie danach, sich einem dualistischen Prinzip zu entziehen, weder das ethnografische Objekt noch das Subjekt zu sein. Sie suchte nach einem »dritten Ort«, von dem aus sie sprechen konnte: Einem Ort, an dem es möglich war, sich von einem kulturellen Essenzialismus zu lösen, um Hybridität zuzulassen.

Pia Arke arbeitete mit verschiedenen Medien, vor allem fotografisch. Sie verwob autobiografische Elemente und griff gleichzeitig auf unterschiedliche historische, alltägliche und archivalische Quellen zurück. 1990 baute sie sogar eine Camera obscura nach eigenen Maßen, da es ihr wichtig war, in den Apparat hineingehen und so physischer Teil des Bildherstellungsprozesses werden zu können – ein Akt der Rückeroberung der Fotografie, die historisch gesehen die koloniale Archivierungstechnik der Polarforscher gewesen war. Die Schlüsselwerke »Self-Portrait« (1992), »The Three Graces« (1993), »Nature Morte alias Perlustrations I–X« (1994) und »Arctic Hysteria« (1996) zeigen, inwieweit die Performativität der Kamera und der inszenierte menschliche Körper zentrale Gestaltungsmittel sind.

Körper zeigt Arke in ihren Arbeiten meist als weibliche Inuit, die wie sie zugleich Objekt und Subjekt sind und Kolonialgeschichte (aktiv und passiv) in sich tragen. Bei ihren Recherchen und bei der Realisierung ihrer Arbeiten schlüpfte Arke bewusst in die Rollen der Künstlerin, der Ethnografin und der Forscherin, um diese vergessenen Körper und ihre zum Schweigen gebrachten Stimmen zurück in die Geschichte zu holen. So wollte sie den Kontrast zwischen Fotos und Geschichten anderer über grönländische Inuit verdeutlichen im Vergleich von solchen, die grönländische Inuit selbst von sich fertigten oder erzählten, etwa in den Bricollagen »Legend I–V« (1999) und ihrer umfangreichen Forschungsveröffentlichung »Stories for Scorebysund. Photographs, Colonisation and Mapping« (Borgen Publishers, 2003). Auf diese Weise beanspruchte Arke das Recht am eigenen Bild und damit das Recht auf Selbstdarstellung der eigenen Geschichte.

»Arctic Hysteria« erstreckt sich über zwei Etagen und versammelt Pia Arkes fotografische, skulpturale, performative und schriftliche Werke sowie ihre Arbeiten auf Papier. Eine Auswahl von über 100 Werken wird so präsentiert, dass Arkes »Sichtachsen-System« erkennbar wird und sich der Fokus auf das Dazwischen konzentriert. Indem sich diverse Narrative zur kolonialen Beziehung Grönlands und Dänemarks ausmachen lassen, rückt die Schau Arkes Werk in einen neuen internationalen Kontext. Der Ausstellungstitel geht auf ihre einflussreiche Werkreihe »Arctic Hysteria« (1996–1997) zurück, in der sie den Zustand und die Rolle des (weiblichen) InuitKörpers thematisiert. Mit dem Einsatz performativer Techniken wie Montage, Inszenierung und Reenactment versuchte sie, ein Gefühl der Zugehörigkeit und kritischer Selbstreflexion zu erzeugen. Das umfangreiche Begleitprogramm versammelt zeitgenössische grönländisch-dänische Stimmen aus Film, zeitgenössischem Tanz und Wissenschaft in einer Veranstaltungsreihe, die mit einem Symposium über die Sichtbarkeit von Frauen in der arktischen Kolonialwelt abschließt.

Text SOFIE KROGH CHRISTENSEN, Kuratorin

»De tre gratier (Die drei Grazien)«, 1993 ohne Titel (Spiel mit Nationaltracht), 1994 (oben)

Pia Arke. Arctic Hysteria

6. Juli bis 20. Oktober 2024 KW Institute for Contemporary Art kw-berlin.de

Besitz im Fokus

Wem gehörten die Gemälde der Brücke-Künstler? Ein Fall für die PROVENIENZFORSCHUNG

Biografien der Moderne. Sammelnde und ihre Werke

1. September bis 24. November 2024 Brücke-Museum bruecke-museum.de

Max Pechstein, »Vier Akte in Landschaft«, 1912

Die Provenienzforschung ist eine der zentralen Museumsaufgaben, sie erforscht die Wege von Kunstwerken in die eigene Sammlung und überprüft, ob diese rechtmäßig erfolgt sind. Da sich unter den Brücke-Sammler*innen viele Jüdinnen und Juden befanden, die durch die Verfolgung der Nationalsozialisten ihrer Kunst beraubt wurden, ist diese Forschung für das Brücke-Museum besonders relevant. Vor diesem Hintergrund werden seit 2018 die Herkunftsgeschichten der eigenen Sammlung untersucht. Auch wenn der Fokus auf den Biografien der Werke liegt, findet sich bei diesen Recherchen darüber hinaus viel Wissen über die Personen, die die Kunst einmal besessen haben. Die Ausstellung »Biografien der Moderne« rückt nun die einstigen Besitzer*innen in den Fokus. Sie alle trugen in den 1910er- und 1920er-Jahren zum Erfolg der Künstlergruppe »Brücke« und zum kulturellen und gesellschaftlichen Leben in Deutschland bei. Da Sammlerinnen in der Vergangenheit häufig weniger Beachtung fanden, blickt die Präsentation auf drei außergewöhnliche Förderinnen der Moderne: Die Saloniere Elsa Glaser und Max Pechstein standen viele Jahre im engen brieflichen Austausch. Selbst als der Künstler mehrere Jahre auf Reisen war, bedachte er sie mit Postkarten. Karl Schmidt-Rottluffs große Wertschätzung für Rosa Schapire, eine der ersten promovierten Kunsthistorikerinnen in Deutschland, kommt in mehreren Porträts zum Ausdruck. »Es gibt niemanden mehr, dessen Urteil mir mehr wertvoll sein könnte – bei Dir war ich gewiss, dass Du Deine wahre Meinung sagtest«, schrieb er der engen Freundin 1953 ins englische Exil. Knapp 30 Jahre vorher hatte sie sein erstes Grafikwerkverzeichnis verfasst. Teile ihrer Sammlung befinden sich heute im Bestand des Brücke-Museums – ebenso wie zwei Hauptwerke Ernst Ludwig Kirchners aus dem einstigen Besitz der bedeutenden Sammlerin Rosy Fischer, deren erstklassige ExpressionismusSammlung weit über ihre Heimat Frankfurt am Main bekannt war. Der Ökonom und wichtige Pechstein-Sammler Hans Heymann und sein Bruder, der Schriftsteller Walther Heymann, werden ebenso vorgestellt wie der Kunstkritiker Max Osborn, dessen Bedeutung für die Kunstszene Berlins sich in der Gratulationskarte von Max Pechstein zeigt, unterzeichnet von allen Mitgliedern der Berliner Secession. Auch die Tagespresse ehrte ihn an diesem 60. Geburtstag als großherzigen und vorausweisenden Förderer. Der Tausendsassa, Bankier, Politiker, Landwirt und Kunstmäzen Hugo Simon wird ebenso porträtiert wie der Kunsthistoriker und Galerist Victor Wallerstein. Gerade letzteren gilt es wiederzuentdecken: Wallerstein setzte sich in Berlin nicht nur als Galerist, sondern auch als Publizist für Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel und Emy Roeder ein, mit denen er enge Freundschaften pflegte.

60. Geburtstag«, 1930

Als jüdische Deutsche wurden sie von den Nationalsozialisten verfolgt und die Repressalien der Diktatur zwangen sie dazu, Deutschland und ihre bisherigen Existenzen für immer hinter sich zu lassen. Ihre Sammlungen konnten sie nur selten mitnehmen. Ein besonders eindrückliches Beispiel ist der Berliner Hans Heymann, der eine der größten Pechstein-Sammlungen besaß. Er emigrierte 1936 in die USA. Der Verbleib seiner zurückgelassenen Sammlung ist bis heute ungeklärt. Bereits kurz nach Kriegsende unternahm er gemeinsam mit dem Künstler den vergeblichen Versuch, die rund 160 Werke wiederzufinden.

Die Ausstellung macht die Ergebnisse dieser Provenienzforschung der letzten fünf Jahre transparent. In enger Zusammenarbeit mit den Nachfahren sind die Familien mit ihren Perspektiven eingebunden. Einen weiteren, sehr individuellen Zugang eröffnet die Künstlerin Sophie von Hellermann mit ihrem exklusiv gestalteten Wandgemälde. So schreiben sich die Sammlerpersönlichkeiten in die Architektur eben jenes Museums ein, das den von ihnen geförderten Künstler*innen gewidmet ist.

Text VALENTINA BAY, wissenschaftliche Volontärin, kuratorische Assistenz

Faire Lösung

Ein bedeutendes Kirchner-Porträt der Künstlerfreunde Heckel und Mueller bleibt im Brücke-Museum. Im Sinne der Washingtoner Prinzipien in Bezug auf Kunstwerke, die von den Nationalsozialisten entzogen wurden, konnte mit der Erbengemeinschaft des jüdischen Vorbesitzers Victor Wallerstein eine faire und gerechte Lösung gefunden werden. Die Kulturstiftung der Länder fördert den Ankauf mit einem sechsstelligen Euro-Betrag. Das Bild wird in der Ausstellung »Biografien der Moderne« präsentiert.

Max Pechstein, »Die Berliner Secession gratuliert Max Osborn zum
Ernst Ludwig Kirchner, »Erich Heckel und Otto Mueller beim Schach«, 1913

Berlin im Schlaglicht

Das Märkische Museum ist wegen Sanierung für Jahre geschlossen. Im EPHRAIM-PALAIS wird aus dieser Not eine Tugend gemacht

Stahltür für einen Luftschutzraum, Mitte der 1930er-Jahre

BerlinZEIT –Die Stadt macht Geschichte! bis 2028 Museum Ephraim-Palais stadtmuseum.de

Paul Grunwaldt, »Varieté«, 1925

Das Stadtmuseum Berlin zeigt auch während der mehrjährigen Sanierung und Modernisierung seines traditionellen Standorts Märkisches Museum, wie Berlin zu dem wurde, was es ist. Dafür zog die historische Dauerausstellung Ende letzten Jahres in das Museum Ephraim-Palais im Nikolaiviertel: unter dem Titel »BerlinZEIT – Die Stadt macht Geschichte!« inhaltlich grundlegend überarbeitet und gestalterisch vollständig erneuert. Gemeinsam mit dem gegenüberliegenden Knoblauchhaus und der nur wenige Meter entfernten Nikolaikirche ist das Quartier nun der zentrale Ort, um die Berliner Stadtgeschichte zu erschließen.

Schlaglichtartig geht es auf zwei Etagen auf eine Zeitreise von der Gründung Berlins um 1200 in die Gegenwart und darüber hinaus. Leicht verständlich, multimedial und anhand zahlreicher originaler Objekte stellt sich Berlin als Stadt der Vielfalt und Offenheit, aber auch der Brüche und radikalen Veränderungen vor. Drei Leitgedanken sind dabei prägend: Wachstum und Zerstörung, Toleranz und Verfolgung, Herrschaft und Mitbestimmung.

Etwa die Hälfte der 300 Originalobjekte ist neu ausgewählt, die Texte folgen einem kompakten und überraschenden Sprachkonzept zwischen Storytelling, Gegenwartsbezügen und unkonventionellen Assoziationen. Der Erzählbogen verläuft

chronologisch, doch in jedem der vier Themenbereiche lässt sich in die bewegte Stadtgeschichte eintauchen: vom Mittelalter bis zur napoleonischen Besatzung, von der Metropolenwerdung bis zur Novemberrevolution, von den 1920er-Jahren bis zur Nachkriegszeit oder vom Mauerbau zum wiedervereinigten Berlin.

Für die Gestaltung konnte das Büro Schiel Projekt gewonnen werden, das in Berlin auch die Schifffahrtsabteilung des Deutschen Technikmuseums überarbeitete und für das 2019 eröffnete Futurium eine ambitionierte Formensprache entwickelte. Das klare Farbkonzept unterstützt die Orientierung, die architektonische Ausgestaltung folgte dem Anspruch auf Nachhaltigkeit. Leere Wand- und Bodenflächen bieten als »Freistellen« Raum für wechselnde Perspektiven und Positionen, die bisher in den Sammlungen und Ausstellungen selten vertreten sind. So thematisieren Studierende der HTW ab November 2024 die antikolonialen Positionen und Aktionen südafrikanischer Exilant*innen in Ost- und West-Berlin zwischen 1960 und 1990.

An zwölf Aktivierungsstationen ist zu erfühlen, welche Struktur beispielsweise mittelalterlich hergestellte Stoffe haben oder zu erschnuppern, welcher Parfumduft um 1760 in Berlin gefragt war. Auf einem originalen DDR-Motorroller vom Typ »Pitty« kann man Probe sitzen und sich fotografieren lassen. Das multimediale Angebot reicht von digitalen Stadtplänen und -modellen, über Touchscreens, die historische

Blick auf den historischen Stadtgrundriss in der Ausstellung

Informationen zur Frauenbewegung um 1900 oder zur schwul-lesbischen Emanzipation in den 1920er-Jahren bieten, bis zu Kurzfilmen, die historisches Filmmaterial und Interviews mit Berliner Akteur*innen der 1990er-Jahre aus Politik, Wirtschaft und Kultur kombinieren. Im Epilog lädt die Schau zum KI-generierten Blick in die Zukunft Berlins ein.

Im Jahr 2028 wird das Stadtmuseum Berlin mit dem erneuerten Märkischen Museum und dem gegenüberliegenden Marinehaus einen neuen Standort eröffnen: das Museums- und Kreativquartier am Köllnischen Park. Bis zur Eröffnung erprobt und entwickelt das Museum neue Formate, Inhalte und Zugänge – wie im Ephraim-Palais auf den »Freistellen«.

Text GERNOT SCHAULINSKI, Kurator

KI-generierte Zukunftsvision für Berlin
Manfred Hamm, Türkische Gastarbeiter in einem Kreuzberger Betrieb, Berlin, 1977

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