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Radolfzell

Eine wirtschaftsaffine Politik

IM GESPRÄCH | Simon Gröger, Oberbürgermeister der Stadt Radolfzell, und Wirtschaftsförderer Manuel Kern über Wirtschaftspolitik, die Radolfzeller Unternehmen und Fragen zur Energie

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Herr Gröger, Sie sind seit Dezember 2021 Oberbürgermeister in Radolfzell. Was waren Ihre wirtschaftspolitischen Prioritäten in den ersten zwölf Monaten? Gröger: In Radolfzell gibt es einen starken Mittelstand, mit Unternehmen, die zum Teil familiengeführt sind und eine lange Tradition haben. Auch historisch bedeutende Firmen wie Schiesser, Allweiler und Hügli haben hier ihren Sitz. Mir war klar, dass es Chefsache ist, schnell Vertrauen zu den Unternehmen aufzubauen.

Da ich der Wirtschaftsförderung einen größeren Stellenwert und ein stärkeres politisches Gewicht verleihen möchte, habe ich die neue Stabsstelle Wirtschaftsförderung und Liegenschaften eingerichtet und direkt an das Amt des Oberbürgermeisters angegliedert. Dies soll gewährleisten, dass Unternehmen und Investoren jederzeit eine rasche und dynamische Unterstützung erhalten.

Unsere Priorität ist es, sich um die Unternehmen vor Ort zu kümmern. Weiteres Ziel ist natürlich, neue Unternehmen anzusiedeln.

Welche Anliegen haben die Radolfzeller Unternehmen? Gröger: Die Unternehmen wünschen sich mehr Gehör, das wurde mir in meinen ersten Wochen klar so kommuniziert. Ich sehe es als meine Verpflichtung, aktiv auf die Unternehmen zuzugehen, deren Entwicklungen mitzubekommen und sie in ihrem Fortschritt zu unterstützen.

Aktuell geht es oft um die grundlegende Infrastruktur wie die Mobilitätsanbindung. Auszubildende müssen schnell und komplikationslos mit dem ÖPNV zum Arbeitgeber kommen können. Der Fachkräftemangel hat sich bundesweit zugespitzt. Hiesige Unternehmen stehen zudem oft vor der Herausforderung, dass man zwar Fachleute findet, diese in einigen Fällen den Arbeitsvertag jedoch nicht unterschreiben, da sie vor Ort keinen adäquaten Wohnraum finden oder die Kinderbetreuung nicht gewährleistet ist. Beides sind wichtige Standortfaktoren, und wir müssen ihnen ein stärkeres Gewicht verleihen.

Kern: Weitere Anliegen der Unternehmen sind Fördermittel, Wachstumsmöglichkeiten und eine Anbindung an bestehende Netzwerke oder an wichtige Einrichtungen des Landes, insbesondere im Technologie- und Energiebereich. Auch Fachkräftegewinnung spielt eine große Rolle. Hier führen wir Gespräche mit den Agenturen, Berufsschulzentren und Verbänden.

Wichtig ist, dass wir die Bedarfe der Unternehmen bis ins Detail kennen und frühzeitig in die unternehmerischen Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Insbesondere, wenn diese eine entsprechende Vorbereitungszeit von unserer Seite voraussetzen, damit wir rechtzeitig handeln können.

Wie würden Sie Ihre Wirtschaftspolitik generell beschreiben? Gröger: Die Rolle Radolfzells als eine der drei großen Kreisstädte im Landkreis Konstanz, neben Singen und Konstanz, möchte ich mit einer wirtschaftsaffinen Politik ausfüllen und neue, besondere Akzente setzen. »Gerade weil die Wirtschaftskraft des Landes auf vielen Kommunen verteilt liegt, möchten wir als

Wirtschaftsstandort Radolfzell unseren aktiven Teil dazu beitragen und schon frühzeitig wichtige

Zukunftsthemen auf Landesebene mitgestalten.«

Dafür suche ich gezielt den Kontakt zu den Vertretern auf Landes- und Bundesebene. In Baden-Württemberg liegt die wirtschaftliche Kompetenz bekanntermaßen in der Fläche und nicht in einzelnen Ballungsräumen oder bei einigen wenigen Großunternehmen. Gerade weil die Wirtschaftskraft des Landes auf vielen Kommunen verteilt liegt, möchten wir als Wirtschaftsstandort Radolfzell unseren aktiven Teil dazu beitragen und schon frühzeitig wichtige Zukunftsthemen auf Landesebene mitgestalten.

Aus diesem Grund setzen wir verstärkt auf den Ausbau von Netzwerken und ein proaktives Clustermanagement, um dadurch Synergien feststellen und frühzeitig nutzen zu können. Dazu brauchen wir ebenso die Einbeziehung der Hochschulen wie auch der Kammern und Verbände. Letztlich soll hieraus eben auch ein entsprechender Wissenstransfer und vereinfachter Zugang zu Fördermitteln entstehen, der unseren Unternehmen bei deren Entwicklungsvorhaben die benötigte Unterstützung bietet.

Der Oberbürgermeister von Radolfzell, Simon Gröger (links), und Wirtschaftsförderer Manuel Kern

Blick auf die Dächer der Altstadt

Apropos Netzwerk – die Stadt Radolfzell wird Gründungsmitglied im künftigen Bodensee Institut für Technologie (BIT). Was hat es damit auf sich? Kern: Unsere Unternehmen benötigen Zugang zu Fachkräften und Know-How. Hier setzt das BIT an. Auf Initiative von Hochschulen, Universitäten, Unternehmen und Kommunen entsteht am Bodensee ein Wissenszentrum für Zukunftstechnologien, das in der Lage sein wird, künftig noch verstärkter hochqualifizierte Fachkräfte an die Region zu binden und Forschungs- und Entwicklungsvorhaben interdisziplinär zu unterstützen.

Die Stadt Radolfzell ist Gründungsmitglied der ersten Stunde, setzt sich dadurch schon frühzeitig für die Bedürfnisse unserer örtlichen Betriebe ein und leistet somit einen aktiven Beitrag zur Fachkräftesicherung. Noch befindet es sich im Entstehungsprozess, aber wir sind mit die ersten, die dabei sind.

Welche Kriterien sollten neue Unternehmen, die sich in Radolfzell ansiedeln, erfüllen? Gröger: Im Hinblick auf die Lebensqualität verfügt Radolfzell mit dem Bodensee vor der Haustür sowie den zahlreichen Biotopen und Naturschutzgebieten über einen einzigartigen Reichtum. Wirtschaftlich gesehen schränkt uns diese enorme Menge an ökologisch schützenswerten Flächen jedoch ein, denn Boden ist rar. Um unseren Handlungsspielraum als Kommune zu verbessern, also höhere Steuereinnahmen zu generieren, sind wir abhängig davon, dass sich weitere Unternehmen hier ansiedeln. Diese Struktur verlangt nach Unternehmen, die auf wenig Fläche eine hohe Wirtschaftskraft entwickeln können, wie die IT oder die Medizintechnik.

Sie sprachen von Herausforderungen bei den Themen Wohnraum, Kinderbetreuung und ÖPNV – wie sehen Ihre Lösungsansätze aus? Gröger: Wir haben ein Dialogforum Wohnen für das Jahr 2023 initiiert, in dessen Rahmen ein umfangreicher Austausch mit allen Beteiligten stattfinden wird. Wir müssen uns auf einen gemeinsamen neuen Weg fokussieren – mit mehr bezahlbarem Wohnraum und längeren Laufzeiten bei den Bindungsfristen im sozialen Wohnungsbau. Eine weitere Option wäre es, wenn die Stadt selbst beim Wohnungsbau aktiv werden würde. Damit einher ginge allerdings ein entsprechender finanzieller Aufwand für die Stadt. Bei der Kinderbetreuung haben wir einen massiven Personalmangel aufzuarbeiten, der zu Einschränkungen beim Betrieb der Kindertagesstätten geführt hat. Hier gilt es, einen Weg zu finden, um in diesem Bereich schnell mehr Fachkräfte zu gewinnen. Was die Mobilitätsanbindung angeht, so findet aktuell ein Workshop mit der Bürgerschaft statt. Zudem wurde die Stelle eines Radverkehrskoordinators geschaffen, um das kommunale Radwegenetz zu verbessern.

»Es gibt in der Stadt sehr viele Menschen, die bereit wären, in Nachhaltigkeit vor Ort zu investieren. Diese Gelder könnten wir bei solchen Teilhabeprojekten einsetzen.

Das Thema, das gerade alle Unternehmen umtreibt, sind die Energiekosten. Ein Zurück zu günstigen Rohstoffen wird es kaum geben, was bedeutet das für die Radolfzeller Unternehmen? Gröger: Die Unternehmen wollen weg vom Gas. Wir erzeugen hier in der Stadt keine Energie aus Wasser- oder Windkraft. Da bleibt nur die Photovoltaik. Vor 2022 war dies nur eine Option, jetzt ist es eine Notwenigkeit. Das umfangreiche Klimaschutzkonzept, das ich angestoßen habe, fährt einen klaren Kurs zum Ausbau der Photovoltaik - privat, städtisch und bei den Unternehmen. Die Frage ist: Wie speichern wir die Energie? Deswegen bin ich überzeugt, dass die Krise ein Booster für Wasserstoff sein wird. In diesem Bereich wollen wir uns als Kommune einbringen, wenn möglich mit einem Leuchtturmprojekt. Um transparent zu arbeiten, werden wir einmal im Jahr jeweils nach der Sommerpause eine öffentliche Bilanzierung über die Fortschritte im Klimaschutz machen.

Kern: Bei den Photovoltaik-Anlagen stellt sich für die Unternehmen nicht mehr die Frage, ob es gemacht wird, sondern wann. Hier befinden wir uns im engen Austausch mit den Firmen und beraten mit unserem eigenen Know-how und im Verbund mit unseren Netzwerkpartnern. Welches Potenzial hat die Stadt auf ihrer Gemarkung hinsichtlich Photovoltaik? Gröger: Bisher wird nur ein Bruchteil des Strombedarfs selbst regenerativ produziert. Das verfügbare Potenzial, das wir allein auf unseren Dachflächen haben, ist immens. Wir werden dennoch nicht umhinkommen, Großprojekte in diesem Bereich umzusetzen. Der massive Ausbau wird weitere finanzielle Ressourcen benötigen. Im Hinblick darauf prüfen wir gerade die Möglichkeiten von Contracting-Modellen. Bei kleineren Projekten sind auch Beteiligungsprojekte für die Bürgerschaft vorstellbar. Es gibt in der Stadt sehr viele Menschen, die bereit wären, in Nachhaltigkeit vor Ort zu investieren. Diese Gelder könnten wir bei solchen Teilhabeprojekten einsetzen.

Welchen Einfluss hat die aktuelle Wirtschaftslage auf die Ansiedlungen im neuen Gewerbegebiet Blurado? Kern: Schon im Entwicklungsprozess der Gewerbeflächen des Blurado hatten wir eine große Nachfrage nach Flächen erwartet und daraufhin ein umfangreiches Bewertungssystem und Auswahlverfahren erarbeitet, unter anderem mit Fragen nach der Wirtschaftlichkeit, angemessenen Grundstücksflächen und der Nachhaltigkeit. Wie erwartet hatten wir zunächst auch eine Überzeichnung des Gebietes. Aufgrund der steigenden Zinsen und der allgemeinen Marktlage folgte nun jedoch eine gewisse Zurückhaltung. Zugesprochene Flächen wurden zwischenzeitlich zum Teil wieder zurückgegeben. Sinnvollerweise siedelt man ein Gebiet von einer Richtung her auf, sodass die Unternehmen eine passgenaue Fläche erhalten. Gibt es Rückzieher, entstehen Lücken, die dann für andere Vorhaben wieder erst nutzbar gemacht werden müssen. Im gemeinschaftlichen Austausch mit den künftigen Firmen erarbeiten wir daraufhin passgenaue Lösungen, und stehen zeitgleich im offenen Austausch mit weiteren neuen Interessenten.

Oberbürgermeister Simon Gröger (2. v. re.) und das Team der neuen Stabsstelle Wirtschaftsförderung und Liegenschaften: Wirtschaftsförderer Manuel Kern, Marianne Lindenthal und Monika Wiesner (re.) Abschließend noch die Frage, welche Themen die Stadt Radolfzell im Jahr 2023 noch bewegen werden? Gröger: Derzeit erarbeiten wir ein umfassendes Innenstadtkonzept zur Stärkung des Handels und der Gastronomie im Stadtkern. Auch der Gemeinderat hat den Ball aufgenommen und 120.000 Euro als investive Mittel bereitgestellt, zum Beispiel für eine Begrünung der Innenstadt. In Planung ist auch ein digitaler Einkaufsgutschein.

Wir werden uns auch Gedanken machen, wie Radolfzell in Zukunft als Wohn- und Arbeitsplatz attraktiv bleibt. Zudem werden wir die Digitalisierung der Schulen vorantreiben. Ein wichtiges Zukunftsthema ist darüber hinaus die Frage des Standortes eines möglichen neuen zentralen Krankenhauses.

Stadtverwaltung Radolfzell am Bodensee Marktplatz 2 (Rathaus) D-78315 Radolfzell am Bodensee www.radolfzell.de

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