Thomas Adam
DER KRAICHGAU Eine kleine Geschichte
Thomas Adam
Der Kraichgau Eine kleine Geschichte
Der Kraichgau Eine kleine Geschichte
Kleine Geschichte
Der Kraichgau Eine kleine Geschichte Thomas Adam
Lauinger Verlag
Erschienen in der Reihe: »Regionalgeschichte – fundiert und kompakt« Einbandabbildung: Burg Steinsberg bei Sinsheim-Weiler. Aquarell auf Leinwand, Annegret Reiner, Eppingen, März 2007.
© 2017 Lauinger Verlag | Der Kleine Buch Verlag, Karlsruhe www.lauinger-verlag.de | www.derkleinebuchverlag.de Projektmanagement & Satz: Sonia Lauinger Umschlaggestaltung: Beatrice Hildebrand Neue, überarbeitete Auflage. Druck: Printed in EU Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts gesetzes (auch Fotokopie, Mikroverfilmung und Übersetzung) ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Dies gilt auch ausdrücklich für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen jeder Art und von jedem Betreiber. ISBN 978-3-7650-8433-1 Dieser Titel erscheint auch als E-Book: ISBN 978-3-7650-2203-6
Inhaltsverzeichnis
Was ist das eigentlich: der Kraichgau?
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Ein Lebensraum wird erschlossen
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Die Herren im Land
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Klöster, Städte, Burgen
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Spannungsfelder 60
Von Bauern und Böden
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Kampfplatz der Konfessionen
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Aus aller Herren Länder
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Grenzregion, begrenzte Region
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Inspirationen und Ideologien
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Ein Raum des kleinsten Widerstands?
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Landschaft im Umbruch
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Vom Finden und Erfinden einer Heimat
145
Ausgewählte Literatur
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168 Gastliche Begegnungen mit der Kraichgauer Geschichte
Ortsregister 177
Abbildungsnachweis 178
Was ist das eigentlich: der Kraichgau?
Glücklich, wer die Geschichte einer Stadt, einer Gemeinde, eines Landes zu schreiben hat. Denn sein Thema ist klar umrissen. Zu jeder Zeit werden politische Gebilde durch eindeutige Grenzen definiert. Diese Grenzen mögen sich ändern: Staaten dehnen sich aus, schrumpfen, brechen auseinander. Doch wo sie anfangen und wo sie aufhören, ist trotzdem (fast) immer auf den Meter genau festgelegt. Anders, wer es mit der Geschichte einer Landschaft zu tun hat. Hier gibt es keine Demarkationslinien, die Grenzen sind weich, fließend. Landschaften sind Definitionen, nicht abgezirkelte Territorien, sind Vorstellungen in den Köpfen von Menschen, keine administrativen Tatsachen. Wer die Geschichte einer Landschaft schreiben will, der muss zunächst einmal selber die Reichweite seines Themas abstecken. Der Kraichgau ist eine solche Landschaft mit fließenden Grenzen. Von einer Historikerin stammt der Satz, es sei leichter, seine Geschichte nachzuvollziehen als seine Ausdehnung. Wen man auch anspreche: Meistens erfahre man nur, wo der Kraichgau n i c h t sei und was n i c h t zu ihm rechne. Dieses Infragestellen des Dazugehörens erscheint geradezu als historische Konstante im Kraichgauer Regionalverständnis jedenfalls der letzten vier, fünf Generationen. Denn Ähnliches ist dem Verfasser dieses Buches bei seinen Vorträgen vielfach begegnet und klingt auch in dem an, was der Geograf Friedrich Metz schon anfangs des 20. Jahrhunderts berichtet hat: »Den Kraichgauer selber aber darf man nicht fragen und den Odenwälder noch viel weniger, wenn man sich über den Grenzverlauf unterrichten will.
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In Wiesloch wird man meinen, in Baiertal finge der Odenwald an, aber in Baiertal würde man entrüstet noch einige Stunden weiter nordwärts gewiesen.« Im Südwesten wären die Durlacher gewiss ähnlich diskrepante Gewährsleute, im Osten die Brackenheimer und die Anrainer der Lein um Schwaigern und Schluchtern. Allesamt dürften sie vehement darauf beharren, in eigenständigen Regionen zu leben – die einen im Pfinzgau, die anderen im Zabergäu, und die dritten verstehen sich eben als Leintäler. Selbst im eigentlichen Herzen des Kraichgaus, östlich von Eppingen, werden zuweilen Details über das Ganze gestellt: Dort erinnern manche an die historische Zugehörigkeit zum so genannten Gartachgau und ziehen unter Berufung darauf gleichfalls einen sachten Grenzstrich (auch wenn der archaische Begriff selbst urkundlich letztmals im Hochmittelalter verwendet wurde). Häufig jedenfalls beginnt der Kraichgau erst ein Stück weiter weg irgendwo hinter dem übernächsten Nachbarort. Hält sich der Autor einer Landschaftsgeschichte solche Diskussionen nicht weit auf Abstand, sollte er besser gleich zu einem anderen Thema wechseln. Denn mit derartigen Debatten wird er zum Unglück – für sich selbst und für seine Leser. Eben weil Landschaften keine messerscharfen Ränder haben, gibt es über ihre jeweils aktuelle Erstreckung meist eine Fülle von Lesarten. Der Kraichgau des 8. Jahrhunderts ist ein anderer als der des 19. und 20., die Geologen meinen nicht den gleichen Kraichgau wie die Tourismusverbände, der kirchliche Kraichgau entspricht keineswegs dem landesplanerischen. Kulturelle, ökonomische und politische Räume überschneiden sich und konkurrieren. Nicht zuletzt von dieser Bedeutungsvielfalt rührt die kritische Frage der Fachwissenschaft her, ob denn die Geschichte einer Landschaft überhaupt sinnvoll geschrieben werden könne. Ja, meint der Verfasser dieses Buches. Vorausgesetzt, es sind zwei Bedingungen erfüllt: Erstens muss der Autor gleich zu Anfang s e l b e r definieren, wo nach seiner Meinung die Grenzen des Themas verlaufen, also jener Landschaft, von der er fortan
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spricht. Er muss begriffsklärend wirken, auch auf die Gefahr hin, dass andere seiner Auslegung nicht folgen wollen. Und zweitens sollte er historische Kontroversen über Umfang und Abgrenzung dieser Landschaft (die es immer irgendwo gegeben hat) bewusst zum Gegenstand seiner Betrachtungen machen und sie in ihrer Subjektivität entschleiern. Denn hinter all solchen Debatten stecken Menschen – und deren Absichten. Von einem »mentalen Gebilde Kraichgau« mit ständig anders gedachten, unklar umrissenen Scheidelinien und Zuschreibungen spricht denn auch die Heidelberger Historikerin Carla Meyer 2012 in ihrer Rezension zur zweiten Auflage dieses Buches, weiter von der Aufgabe des Geschichtsforschers, den verschiedenen gedanklichen Konstruktionen dessen nachzugehen, was »der Kraichgau« eigentlich sei. Welche Bedeutung kam diesem Wortgebrauch in der jeweiligen Epoche zu? Als was verstand sich ehedem einer, der im Kraichgau lebte? Denn einen überzeitlich existierenden Kulturraum gibt es hier nicht, politisch, sozial, religiös ist die Region seit jeher völlig uneinheitlich. Das einzig Kontinuierliche in ihrer Geschichte, sagt Carla Meyer, sei das Wechselvolle, sei der nicht selten von außen herangetragene Umbruch. Der Begriff einer Geschichtslandschaft und was er jeweils bezeichnet entlarvt sich am Beispiel des Kraichgaus als das wandelbare Produkt von Interessen und Konflikten. Diesem Buch nun wird der »große« Kraichgaubegriff zugrunde gelegt, der uns noch verschiedentlich begegnen wird, eine Definition, die als Kraichgau alles das versteht, was zwischen dem Neckartal im Osten und Norden sowie den Ausläufern des Schwarzwaldes – auf einer Linie von Ettlingen nach Birkenfeld und dann der Enz folgend bis Besigheim – im Süden liegt. Den Abschluss im Westen markiert die Geländestufe entlang der Grabenrandverwerfung zur Oberrheinischen Tiefebene hin. Innerhalb dieser naturräumlichen »Grenzen« erstreckt sich als tektonische Mulde das relativ flache Kraichgauer Hügelland mit seinen abgerundeten welligen Formen und ein paar niedrigen
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Bergen dazwischen. Der höchste davon ist der Bickeldorn bei Kälbertshausen mit 359 Metern, an Berühmtheit freilich weit überragt vom Steinsberg bei Weiler, dessen spektakuläre stauferzeitliche Burg auch den Umschlag dieses Buches ziert. Unser Kraichgau entspricht also in etwa dem des Gelehrten Ladislaus Sunthaym, der ihn um das Jahr 1500 pauschal »zwischen dem Neckher unnd dem Rein« verortet und fortfährt: »Ist ain guts klains länndl und stost an den Otennwald.« Er entspricht dem, was der gebildete Adelige Reinhard von Gemmingen 1631 als Kraichgaubegriff »in dem weitern Verstandt« bezeichnet hat – in Abgrenzung zur Definition »in dem engern Verstandt«, womit allein das Einzugsgebiet des Kraichbachs zwischen dem Ort Sternenfels und der Oberrheinebene gemeint wäre. Dieser »große« Kraichgaubegriff schließt, wenn auch heute meist als eigenständige Landschaft charakterisiert, das Zabergäu um Stromberg und Heuchelberg mit ein. Die Zabergäuer mögen dieses Vereinnahmen entschuldigen, es handelt sich nicht um eine Brüskierung, sondern um eine Notwendigkeit: In historischer Perspektive sind Brackenheim, Güglingen und die anderen Gemeinden entlang der Zaber viel zu stark mit der Region im Ganzen verzahnt, als dass sie in einer Geschichte des Kraichgaus fehlen dürften. Damit haben wir den äußeren Rahmen abgesteckt. Was diese Landschaft war und ist, wird Gegenstand der folgenden 270 Seiten sein: Einfallstor und offener Durchgangsraum, Grenzregion und Schmelztiegel, Vakuum, Zankapfel, Schlachtfeld – eine Gegend, zu der untrennbar das Trennende gehört, eine »Landschaft dazwischen«, oft genug zwischen allen Stühlen.
Kein Paradiesgarten für Europas Adam
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Ein Lebensraum wird erschlossen
Heute habe er den Adam gefunden, verkündete der Sandgräber Daniel Hartmann am Abend des 21. Oktober 1907 voller Stolz den anderen Gästen seiner Stammkneipe. Einen Unterkiefer hatte er in der Grube im Gewann Grafenrain zwischen den Kraichgaudörfern Mauer und Wiesenbach aus dem Boden gezogen, relativ groß zwar, aber von Gestalt und Bezahnung her offenkundig menschlich. Augenscheinlich also ein uraltes Stück.
Kein Paradiesgarten für Europas Adam Reiner Zufall indes ist weder diese Entdeckung selbst noch der Umstand gewesen, dass Daniel Hartmann als einfacher Arbeiter deren immense Bedeutung rasch erfasste. Als Fundstätte prähistorischer Fossilien waren die so genannten Mauerer Sande aus der Grube am Grafenrain schon seit Jahrzehnten bekannt, und längst hatte der Heidelberger Paläontologe Otto Schoetensack anhand von knöchernem Anschauungsmaterial die Arbeiter für entsprechende Entdeckungen sensibilisiert. Die Augen sollten sie aufhalten und sofort Bescheid geben, wenn ihnen etwas auffiel. Das für lange Zeit älteste Relikt eines Hominiden in Europa und das bis heute früheste aus Deutschland hat Daniel Hartmann im Grafenrain ausgegraben und damit unserem Stammbaum einen weiteren zentralen Ast hinzugefügt. Nur zwei Arten von Urmenschen, der europäische Neandertaler und der Homo erectus in Asien, waren vor diesem 21. Oktober 1907 bekannt gewesen. Jetzt konnte Professor Schoetensack dem ursprünglichen Träger des Unterkiefers die Bezeichnung Homo heidelbergensis geben und diese Spezies in einer berühmt gewordenen Abhandlung der
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Ein Lebensraum wird erschlossen
menschlichen Ahnentafel zuordnen. Noch wesentlich deutlicher zugunsten der modernen Forschung neigte sich damit die Waage bei einer Diskussion, die zwar wissenschaftlich schon weitgehend entschieden, aber weltanschaulich längst nicht ausgestanden war: Die meisten Zeitgenossen mussten sich erst an den Gedanken gewöhnen, ihre vermeintlich bevorSo könnte der Urmensch von Mauer ausge- rechtigte Existenz nicht sehen haben. Digitales Lebensbild auf Grund- einem göttlichen Schöplage einer anatomischen Büste aus den Reiss- fungsakt zu verdanken, Engelhorn-Museen Mannheim. sondern durch evolutionäre Entwicklung dem Tierreich entwachsen zu sein. Nach zahlreichen weiteren Hominidenfunden und einem lange andauernden Disput, wo genau denn der Homo heidelbergensis als Spezies einzureihen sei, trägt heute der Frühmensch in ganz Europa seinen Namen. Mehr als eine halbe Million Jahre sind vergangen, seit er an den Ufern des Neckars lebte und starb. An den Ufern des Neckars deshalb, weil der Fluss damals noch auf Höhe des heutigen Neckargemünd in einem scharfen Knick nach Süden abzweigte und einen über 15 Kilometer weit ausgreifenden Mäander bildete, in unserer Zeit mit die längste verlassene Flussschlinge Süddeutschlands. Und eine solche Flussschlinge muss als Lebensraum für den Frühmenschen geradezu ideal gewesen sein. Homo heidelbergensis siedelte mit seiner kleinen Sippe in einer ganzjährig frostfreien, wintermilden Landschaft, überwiegend bewaldet,
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dazwischen größere Abschnitte offenen Graslandes. Beerensträucher säumten die Lichtungen und das Neckarufer. Einen friedvollen Paradiesgarten fand Europas Adam hier freilich nicht vor. Flusspferde, Waldelefanten und Nashörner waren die spektakulärsten Großsäuger jener Epoche, doch auch Bisons und Pferdeherden, Bären, Löwen und Leoparden durchstreiften das Land. Niederwild vor allem diente dem Urmenschen als Beute, von vierbeinigen Räubern aber drohte ihm ständige Gefahr. Unten am Ufer des Flusses, wo periodische Tiefstände mit Hochwassern sich abwechselten, kreisten die Geier über den Kadavern verendeter Tiere. Schwoll der Urneckar nach einem Starkregen an, dann riss er all das mit, was in seinem Talgrund zu liegen gekommen war, und schwemmte es etliche Kilometer flussabwärts völlig zerstreut wieder an. Der Mensch von Mauer war kein tumber Tor. Zwar verstand er sich augenscheinlich noch nicht darauf, Schmuckstücke anzufertigen und wertzuschätzen. Seine Fertigkeiten und Jagderfolge aber bedurften zumindest einer gewissen Form von Kommunikation. Wohl wusste Homo heidelbergensis bereits mit dem Feuer umzugehen und verfügte über messerscharfe Schneidewerkzeuge aus Stein, über Faustkeile und lange Wurfspeere, mit denen er seinen Fang auch aus größerer Entfernung erlegen konnte. Den zerteilte er dann, weidete ihn aus, führte das Fleisch zum Mund und durchtrennte die zähen Bissen vor den Frontzähnen mit einem Steinmesser in der Rechten. Manchmal rutschte er dabei ab und ritzte die Zahnoberflächen an. Teile vom Fell getöteter Tiere verarbeitete der frühgeschichtliche Jäger vielleicht schon zu Kleidung, ihre Sehnen zu Schnüren; was er übrig ließ, diente nach ihm dem Raubwild zum Fraß. Er selbst ernährte sich außerdem von Früchten, auch harte Nüsse und bestimmte Baumrinden gehörten zu seinem Speiseplan. Zum Schutz vor Wind und Wetter mag er sich kleine zeltähnliche Abdeckungen aus Ästen und Zweigen errichtet und mit Tierfellen oder Borke bezogen haben.
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»Die berühmteste Kinnlade der Welt« Was genau wissen wir eigentlich über diesen Heidelbergmenschen, was lässt sich herauslesen aus dem bloßen Einzelfund seines Unterkiefers? Er war, darauf deutet vieles hin, ein erwachsener Mann, könnte um die 1,70 Meter groß und zwischen 20 und 40 Jahre alt gewesen sein. In der Kindheit hatte er sich bei einem Sturz oder durch einen heftigen, aufwärts geführten Schlag das Kiefergelenk gebrochen. Dieser Bruch war zwar gut verheilt, zwang ihn aber, seine Zähne beim Beißen einseitig rechts zu belasten. Er starb unten in der Neckaraue oder wurde nach seinem Tod, dessen Ursache unbekannt ist, dorthin geschleift. Einzig sein Unterkiefer – von einem Journalisten nonchalant als »berühmteste Kinnlade der Welt« bezeichnet – wurde wiederentdeckt. Aber schon der allein bedeutete eine wissenschaftliche Sensation.
Bauern, Viehzüchter – und erste Umweltprobleme Wie der Homo heidelbergensis, so waren die Menschen der Altund Mittelsteinzeit bis um etwa 5500 v. Chr. noch vorwiegend Jäger und Sammler. Ihr Nomadentum hinterließ in der Natur kaum bleibende Spuren. Das änderte sich radikal, als anfangs der Jungsteinzeit eine zusehends sesshafte Bevölkerung von Bauern und Viehzüchtern, die so genannten Bandkeramiker, damit begann, den fruchtbaren und ökologisch begünstigten Kraichgau recht dicht zu besiedeln. Von Osten her, vom Neckarraum aus, haben sie ihre Landnahme begonnen und sich an den breiten Hauptbachtälern orientiert: der Lein folgend in Richtung des heutigen Eppingen, später an Weißach, Saalbach und Kraich entlang. Auf relativ bequemem Weg gelangten sie so in einen sanft hügeligen, sommerwarmen Landstrich mit mäßigem Niederschlag, zeitigem Frühlingsbeginn und entsprechend
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langer Vegetationsperiode – je weiter im Westen, jenseits des Strombergmassivs, desto ausgeprägter. Im zentralen Kraichgau entstand ein Netz kleiner, aus jeweils wenigen Langhäusern bestehender Siedlungen, stellenweise kaum einen Kilometer voneinander entfernt gelegen. Mehrere zehntausend Menschen lebten schon damals zwischen dem Saalbach im Südwesten und dem Neckar im Nordosten. In den zunächst noch dicht geschlossenen Wald haben die Kolonisten Schneisen gehauen oder mit Feuer hineingebrannt. Holz wurde benötigt für Hausbau und als Heizstoff, den jungen Aufwuchs verbiss das Weidevieh. Starben dann irgendwann die letzten alten Baumriesen ab, dehnten die Lichtungen sich immer weiter aus. Die Vegetation veränderte sich, Pflanzen mit Neigung zu Wärme und Licht rückten auf die offenen Flächen nach – ein nahrhaftes Futter für Zuchttiere. Vor mehr als 7000 Jahren erreichte die Erschließung und landwirtschaftliche Nutzung ihren ersten Höhepunkt. Rund hundert Quadratkilometer, immerhin fünf Prozent der Gesamtfläche, waren allein im südlichen Kraichgau gerodet. Weitgehend siedlungsleer blieben nur Regionen mit ungünstigen Wasserverhältnissen und kargen Böden oder Flächen in besonders steiler Lage.
Fundreiche Region Was archäologische Entdeckungen aus der Steinzeit anbelangt, zählt der Kraichgau neben dem Nördlinger Ries und der hessischen Wetterau zu den ergiebigsten Landschaften in Süddeutschland. Eine späte weibliche Verwandte des Menschen von Mauer, womöglich eine Übergangsform vom Homo heidelbergensis zum Neandertaler, wurde 1933 in nächster Nachbarschaft – auf der anderen Neckarseite bei Steinheim an der Murr – entdeckt. Gleich zwei jungsteinzeitliche Kulturen, die Michelsberger und die Großgartacher, sind nach den Orten ihrer Erstfunde im Kraichgau benannt.
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Ein generelles Problem stellte für die frühgeschichtlichen Siedler allerdings die Versorgung mit Rohstoffen dar. Hier tat sich, von seiner naturräumlichen Ausstattung her, eine gewisse Schwachstelle des Kraichgaus auf. So übernahmen mindestens zwei größere bandkeramische Dörfer – das eine bei Bretten, das andere im Raum Eppingen – wichtige Funktionen als regionale Verteilungszentren und deckten ihr Umland mit Material ein: Felsstücke beschaffte man aus dem Schwarzwald und Odenwald, den begehrten Feuerstein von der Schwäbischen Alb. Fundament einer Gesellschaft von Bauern und Viehzüchtern aber ist die Güte des Bodens. In dieser Hinsicht waren die Bandkeramiker im Kraichgau bestens bedient. Über die ursprünglich wohl deutlich schroffere, stärker zerklüftete Landschaft hatte ein ständiger trockener Wind aus Westen und Südwesten feine gelbliche Partikel geweht, den fruchtbaren Löss. Im Steppenklima der letzten Eiszeiten blies er ihn heraus aus den kargen und vegetationsarmen Schotterflächen der Überschwemmungsgebiete im Rheintal und trug ihn fort bis hinüber ins Land am Neckar. Die mächtigsten, bis zu 20 Meter starken Schichten aus schwerem grobkörnigem Löss finden sich an den Talmündungen und auf den Randhügeln im Westen; nach Osten hin werden die Partikel winziger und die Deckschichten dünner. Im gesamten Kraichgau aber hat sich angewehter Löss wie ein Weichzeichner über die ohnehin nicht tief gegliederte Landschaft gelegt, hat sie modelliert, hat sie geglättet. Recht geschmeidig wirkt sie nun mit ihrer wellenförmigen, rundlichen Oberfläche, mögen einzelne Geografen diesen Naturraum auch eher gelangweilt als ein ermüdendes »Hügelauf-Hügelab« beschrieben haben. Der Löss bot den Steinzeitbauern ideale Bedingungen für ihre düngerlose, wilde Feldgraswirtschaft. Das Siedlungsland brachen sie, nachdem es dem Wald abgetrotzt war, zu Acker um; ihre Rinder, Schweine, Schafe und Ziegen dezimierten den natürlichen Baumbestand weiter. Das alles blieb nicht ohne Folgen, zumal eine gleichzeitige Klimaverschlechterung kühlere Sommer und
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vermehrten Starkregen über das Land brachte. Um den Rückgang der Ernteerträge auszugleichen, mussten die Menschen noch mehr Äcker unter den Pflug nehmen und aufs neue Waldflächen roden – eine verhängnisvolle Spirale mit erheblichen ökologischen und dann auch sozialen Auswirkungen. Zumindest im direkten Umfeld der Siedlungen griff eine ausgeprägte Erosion um sich. Von den entblößten Böschungen rutschte der nährstoffreiche Oberboden weg, teilweise in Mächtigkeiten von mehreren Metern wurde Löss die Schrägen hinuntergeschwemmt und setzte sich ab in Senken und Mulden.
Verteilungskonflikte Über das Ende der bandkeramischen Kultur hinaus scheint dies zu einer fundamentalen Krise und zu Wellen der Gewalt geführt zu haben. Steinzeitliche Dörfer, bislang eher im unteren Bereich der Talhänge angesiedelt, wurden auf höher gelegene Standorte versetzt und wie Verschanzungen befestigt. Die Erdwerke der Michelsberger Kultur im fruchtbaren Löß des Bruchsaler Raumes sprechen Bände, ebenso die Siedlung bei Klingenberg südwestlich von Heilbronn, erbaut an strategisch exponierter Stelle auf einem Geländesporn, dessen Südseite zum Neckar hin abfällt. Ungehindert ging der Blick von hier nach fast allen Richtungen weit ins umgebende Land hinein. Um sich selbst und ihre Viehherden zu schützen, hoben die jungsteinzeitlichen Kolonisten tiefe Gräben aus und errichteten dahinter Wälle mit Bruchsteinen und Holzwänden aus Spaltbrettern. Mehrere dieser Anlagen fanden ein gewaltsames Ende: Brennend stürzten die Palisaden hinunter in die Grabensohle. Was mag die Ursache gewesen sein? Unglücksfälle? Absichtliche Brandstiftung? Zerstörung durch Krieg? Manches Indiz, Jahrtausende später von Archäologen ausgewertet, deutet auf den Austrag feindseliger Zusammenstöße hin. Ohne Zweifel