Morgenrot
Laura Thiesbrummel
Bereits am frühen Morgen ertönt klassische Musik laut durch die Arena. Mädchen mit sorgfältig hochgesteckten Haaren stehen mit Spannung vor der blank geputzten Spiegelwand. Unüberhörbare Kommandos des Trainers unterbrechen den Fluss der Musik. Die Gymnastinnen im Alter von zehn bis 16 Jahren lassen sich nichts anmerken. Sie folgen. Leicht und unbeschwert wirken ihre Bewegungen. Doch ihre Glieder sind schwer und schmerzen von den Trainingseinheiten der vergangenen Tage. Sport wird in Aserbaidschan groß geschrieben. Besonders bei der Vorzeigesportart des Landes, der Rhythmischen Sportgymnastik. Die Gymnastinnen turnen sportlich-akrobatische Übungen zu Musik mit den Geräten Band, Ball, Keule, Reifen oder Seil. Jede Kür ist ein perfektes Zusammenspiel von Talent, Leistung und Eleganz. In der Hauptstadt Baku besitzt die Nationalmannschaft der Rhythmischen Sportgymnastik seit Anfang 2014 die größte und modernste Sportstätte der Welt. Um in jeder Disziplin konkurrenzfähig zu sein, werden oft hochkarätige Trainer angeworben und die Mannschaften sogar mit talentierten Sportlern aus anderen Nationen aufgestockt. Dies bietet Chancen, erhöht aber auch massiv den Druck auf die Sportlerinnen. Denn: Beste Platzierungen werden gefordert – auch von der Regierung. Hartes Training, das fast an Selbstaufgabe grenzt, wird vorausgesetzt. Die jungen Mädchen trainieren sechsmal die Woche, zehn Stunden täglich. Sie müssen funktionieren. Jeden Tag. Jede Stunde. Ihr Leben ist die Rhythmische Sportgymnastik. Für eine Schulausbildung bleibt den Spitzengymnastinnen meist keine Zeit. Motiviert werden sie – bei Erfolg – durch Prämien und die Aussicht, Ruhm und Ehre in der Heimat zu erlangen.
Die Heimat, Aserbaidschan, reich geworden durch große Öl- und Gasvorräte, liegt am östlichen Rand von Europa. Die Hauptstadt Baku, direkt am Kaspischen Meer, ist mit knapp vier Millionen Einwohnern mittlerweile eine Metropole. Seit 1991 ist Aserbaidschan von der Sowjetunion unabhängig. Der erste Präsident, Heydar Aliyev, regierte die Republik bis 2003 und vermachte sein Amt seinem Sohn Ilham Aliyev, der bis heute Präsident ist. Innenpolitisch wird Aserbaidschan unter Missachtung vieler demokratischer Grundrechte diktatorisch von Aliyev regiert. Außenpolitisch fordert das Land mit dem Wissen um seine wirtschaftliche Macht seine Stellung in Europa ein. Ein Großteil des aus dem Öl- und Gasgeschäft erwirtschafteten Geldes fließt in den Ausbau der Hauptstadt Baku. Hier treffen Ost und West unmittelbar aufeinander. Eine Autofahrt durch Baku ist chaotisch. Die wichtigsten Verkehrsregeln sind: hupen, drängeln und abruptes bremsen. Verrostete Ladas fahren neben polierten Geländewagen; atemberaubende Appartementblocks und gewagte Hotelbauten stehen neben heruntergekommenen Sowjetbauwerken. Der kilometerlange Prachtboulevard am Meer, die öffentlichen Plätze und die Fußgängerzonen sind im westlichen Stil errichtet und werden stetig durch städtisch eingesetzte Reinigungseinheiten auf Hochglanz poliert. Alles Unrepräsentative wird geschickt durch hohe, meist dekorative Sichtschutzwände ausgeblendet. Bakus Selbstdarstellung ist immer perfekt und makellos. Auch nachts, dann funkelt die Skyline in allen Farben. Doch die Ursprünglichkeit, die historischen Wohngegenden mit ihrem typisch orientalischen Flair, werden weitestgehend verdrängt. Die Individualität Bakus droht nach und nach verloren zu gehen. Immer hilfsbereit und bemerkenswert freundlich sind die Menschen der Stadt. Ausgesprochen stolz sind sie, ihr neues Baku zu zeigen. Die Menschen auf dem Land hingegen leben noch wie zu Sowjetzeiten, meist in einfachen Häusern oder gar Hütten, oft ohne fließend Wasser und Strom. Das Land besitzt auf geringer Distanz eine große Vielfalt spannender Landschaftssznarien: dürre Halbwüste, Steppe, Hochgebirgswälder, schneebedeckte Gebirge des Kaukasus, Schlamm-Vulkane, ewiges Feuer und natürlich die zahlreichen Ölfelder. Diese sind die große Einnahmequelle des Landes. Doch die durch Öl hochgradig verschmutzte Bucht von Baku, die kontaminierten Böden und die ausgedienten Ölfelder stellen eine neue Herausforderung für Aserbaidschan dar. Nachhaltigkeit steht bis heute nicht im Fokus des Staates. Neben dem Bestreben, das Wirtschaftswachstum zu steigern und mit Europa aufzuschließen, versucht Aserbaidschan, sich zukünftig auch durch die Teilnahme an großen Sportwettbewerben und durch das Ausrichten internationaler Sport-Events einen Namen zu machen. Bereits 2015 werden in Baku die 1. European-Games stattfinden und im Anschluss daran will Aserbaidschan die Olympischen Spiele 2024 ausrichten. Die Vorbereitungen laufen bereits auf Hochtouren. Erst spät abends erlischt das Licht in der Trainingshalle und draußen entfaltet dann das Lichtspiel der Außenfassade seine ganze Schönheit und Kraft. Kaum jemand ahnt, dass hinter dieser Fassade tagtäglich Kinder für ihre bessere Zukunft und die ihres Landes trainieren.
Weissrussland M i n sk
Polen
W a r schau
Deutschland B e r li n
Tschechien Prag
Sl o w a k e i
B r a t islava
Ă– s t e rr e i c h Wien
M o ld a w i e n
K ischi n au
Ungarn
B udap e s t
Rumänien
B uka r e s t
BuLgarien S o fia
Ukraine
K a s a c h s ta n
Kiew
A s ta n a
Russland
M o skau
S chwa r z e s Meer
Georgien
Tiflis
Ar m e n i e n J e r e wa n
A s e rb a i d s c h a n B aku
T端rkei
A n ka r a
K aspisch e s Meer
Ir a n
Teheran
Ir a k
Syrien
D amaskus
B a g hdad
Beyza Demir. Jahrgang 1998. Geboren in der Türkei. Für die Rhythmische Sportgymnastik verließ Beyza ihre Familie in der Türkei und wechselte ihre Nationalität. Heute lebt sie bei ihrer Trainerin in Baku. Ihr großes Ziel ist die Teilnahme an den Youth Olympic Games, die Ende 2014 in Nanjing, China, stattfinden.
Arzu Jailova. Jahrgang 2004. Geboren in Baku, Aserbaidschan. Arzu gehört zu den jüngsten Mädchen im Kader der Nationalmannschaft. Ihr Kinderzimmer zieren bereits unzählige Medaillen und Auszeichnungen internationaler Wettkämpfe. Schon im Alter von neun Jahren wurde sie zum ersten Mal Aserbaidschanische Meisterin in der Rhythmischen Sportgymnastik.
Leman Geyushova. Jahrgang 1999. Geboren in Baku, Aserbaidschan. Große gesundheitliche Probleme ignoriert Leman und trainiert trotzdem täglich mit vollem Einsatz in der Gruppenformation der Jugend-Nationalmannschaft. Dies versteht sie als selbstverständliche Pflicht gegenüber ihren Eltern, den Trainern und der Mannschaft.
Fatima & Gunel Jafarova. Jahrgang 2000 und 2001. Geboren in Baku, Aserbaidschan. Die Geschwister Fatima und Gunel wurden erst vor Kurzem in den Aserbaischanischen Kader berufen. Sie sind zwei der zukünftigen fünf Gymnastinnen, die die neue Juniorengruppe der Nationalmannschaft bilden. Hohe Erwartungen werden an dieses junge Team geknüpft.
Simara Cafarova. Jahrgang 2000. Geboren in Absheron, Aserbaidschan. Nach einem Jahr intensiven Trainings in der Nationalmannschaft wurde Simara im Frühjahr dieses Jahres aus dem Kader verwiesen, da sie das geforderte Körpergewicht nicht konstant halten konnte. Jetzt besucht sie wieder die Schule. Aber der Traum von einer Sportkarriere bleibt.
Narin Barbamarova. Jahrgang 2003. Geboren in Russland. Erst Anfang 2014 wurde Narin Mitglied der Aserbaidschanischen Nationalmannschaft. Die ausgezeichneten Trainingsbedingungen und guten Zukunftsperspektiven bei der Rhythmischen Sportgymnastik waren die Gründe für ihren Wechsel. Ihre Eltern leben weiterhin in Russland.
Ayshan Bayramova. Jahrgang 1998. Geboren in Baku, Aserbaidschan. Aufgewachsen ist Ayshan in problematischen privaten Verhältnissen am Stadtrand von Baku. Seit Langem wohnt sie deshalb schon bei ihrer Trainerin. In der Rhythmischen Sportgymnastik sieht Ayshan ihre große Chance. Sie kämpft intensiv für ihren sportlichen Erfolg. Ihr Ziel ist eine Medaille bei einer Weltmeisterschaft.
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Fotografie & Text: Laura Thiesbrummel www.laurathiesbrummel.com Grafik: Simon Schmitz Betreuung: Hochschule München, Frau Renate Niebler Druckerei: Druckreiz, München Risographique, Berlin Buchbinderei: Katharina Lechner, München Papier: Colambo Text & Cover, weiß Design Offset, naturweiß Auflage:
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