Bürokratiemonster vs. Bandwurmgruppe: Über Armutsexperten und Expertenarmut
Politik und Kultur für Sachsen, Europa und die Welt Mai 2014
Regierungen lieben Expertenkommissionen. Gibt es Kritik an einer Entscheidung, sagen Regierende maliziös: „Aber wir haben doch die Experten gefragt!“ Von Hartz bis Rürup gingen Regierungen so vor. Feigenblätter seien die Komissionen, sagen KritikerInnen. Nur bedeckt in der biblischen Geschichte ein Feigenblatt die Scham. In Bezug auf die Hartz-IV-Gesetze ist von den neuen alten Koalitionären der SPD von Scham keine Spur. Im Gegenteil, ganz schamlos arbeitet eine Kommission der Vorgängerregierung weiter. Ihr Name hat Bandwurmqualitäten: „ASMK-Bund-Länder Arbeitsgruppe zur Vereinfachung des passiven Leistungsrechts – einschließlich des Verfahrensrechts – im SGB II (AG Rechtsvereinfachung im SGB II)“. Seit geraumer Zeit schlägt sie sich dieser Bandwurm durch den Paragraphendschungel der Hartz-Gesetze und scheidet „Verbesserungsvorschläge“ aus. Sein Ziel: Die schlimmsten bürokratischen Monster im Sozialgesetzbuch II erlegen, die seit Jahren Klagewellen und Widerspruchsfluten verursachen. Wovor die LINKE gemeinsam mit Hartz-IV-Initiativen seit langem warnt, hat nun auch die BILD-Zeitung erreicht, und auf einmal werden die Pläne zur Schlagzeile. Neben einigen kosmetischen Verbesserungen bestehen die „Vereinfachungen“ vor allem in Kürzungen. Kürzungen bei
den Kosten der Unterkunft, Kürzung bei den Zuschlägen für Alleinerziehenden und zu guter Letzt: Kürzung des Rechtswegs für die Betroffenen. „Aber die Experten …“, höre ich die Regierung sagen. Das Lateinische expertus kommt von „in etwas erfahren sein“ und meinte in antiker Zeit, etwas am eigenen Leib erfahren zu haben. Nun sitzen in der Kommission schlaue Frauen und Männer, Referentinnen aus den Arbeits- und Sozialministerien zumeist. Nur ExpertInnen sind sie vor allem im einem: Verwaltungsorganisation. Die Lebensrealitäten von Hartz-IV-Beziehenden haben sie in der Regel nicht am eigenen Leib erfahren. Nach einer Vollsanktion plötzlich um die Krankenversicherung bangen zu müssen; nicht zu wissen, wie man den eigenen Kindern ein möglichst normales Aufwachsen ermöglichen kann; sich Rechte, die auf dem Papier stehen, erst vor Sozialgerichten erstreiten zu müssen, all das sind Dinge, die diese ExpertInnen in der Regel fremd sind. Das wäre kein Problem, man kann ja fragen. Nur fehlt genau diese Expertise in derartigen Kommissionen. Vertreter von Erwerbsloseninitiativen, Gewerkschaften und Sozialberatungsstellen waren nicht geladen. Das ist gewollt. Und so leidet die Diskussion dieser ministerieller Armutsexperten vor allem unter einem: Expertenarmut. Katja Kipping