Links! Ausgabe 07-08/2014

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Schattenseiten der WM in Brasilien

Politik und Kultur für Sachsen, Europa und die Welt Juli-August 2014

Darf man sich bei der FußballWeltmeisterschaft an tollen, spannenden Spielen erfreuen, wenn man um die schwierige soziale Situation in Brasilien, die enormen Kosten für umstrittene Stadionbauten und den Gigantismus der FIFA weiß? Die meisten Fußball-Fans werden diese Frage sicher mit einem klaren Ja beantworten. Auch ich bin dem Fußball sehr zugetan, und es macht Spaß, solche Spiele wie das 5:1 von Holland gegen Spanien oder auch den 4:0-Erfolg der deutschen Mannschaft gegen Portugal anzusehen. Und doch kann ich die Schattenseiten der am Ende wohl teuersten WM aller Zeiten nicht ausblenden. Während für die Vorbereitung des Fußball-Festes nach offiziellen Angaben mindestens 8,5 Milliarden Euro ausgegeben wurden (andere Quellen sprechen von 10 Milliarden), ist für Bildung, das Gesundheitswesen, den dringend notwendigen Ausbau der Infrastruktur sowie des öffentlichen Personennahverkehrs und insbesondere auch für eine wirksame Armutsbekämpfung in Brasilien angeblich kein Geld vorhanden. Allein in der Stadt Sao Paulo gibt es derzeit etwa 15.000 Obdachlose, also mehr als halb so viele wie in der gesamten Bundesrepublik. Im Vorfeld der WM gab es massive Vertreibungsaktionen gegen die Obdachlosen aus der Innenstadt, wobei auch Tränengas und Gummigeschosse eingesetzt wurden. Die Gäste aus aller Welt sollten das Elend möglichst nicht zu Gesicht bekommen. Zahlreiche Bauvorhaben wurden erst in letzter Minute oder gar nicht richtig fertig gestellt. Die Arbeitsbedingungen für die Bauleute waren zwar nicht so katastrophal wie in Katar; dennoch gab es mehrere Todesopfer. Während die Bildungsmisere größer wurde, verwies die Regierung unter Präsidentin Roussef immer wieder auf leere Kassen, die zusätzliche Ausgaben nicht erlauben würde. Zugleich stiegen die Kosten für die Fußball-WM immer

weiter, denn statt der von der FIFA geforderten acht Spielorte entschied die Regierung, sogar 12 Stadien zu errichten, wobei für einige die Nachnutzung völlig offen ist, weil es in der Region gar keine höherklassige Mannschaft gibt, die künftig dort spielen könnte und ausreichend Zuschauer anzieht. Doch damit nicht genug: Brasilien hatte sich ja auch für die Austragung der Olympischen Sommerspiele beworben und mit Rio de Janeiro den Zuschlag für 2016 erhalten. Auch das wird wieder viele Milliarden Euro kosten. Das Land hat sich offensichtlich finanziell völlig übernommen, und die Proteste in Brasilien dagegen sind absolut nachvollziehbar. Bereits zur Generalprobe zur WM, dem Confederations Cup im Sommer 2013, protestierten mehr als zwei Millionen Menschen gegen die verfehlte Politik ihrer Regierung. Und wenn in einem so fußballbegeisterten Land wie Brasilien die Hälfte der Einwohner gegen die WM ist, dann müsste das für die Verantwortlichen Alarmsignal genug sein. 2008 unterstützten immerhin 79 Prozent die Austragung, im Februar 2014 waren es gerade noch 52 Prozent. Aktuell verfolgen natürlich auch viele Brasilianer in den Stadien und am Fernseher die insgesamt 64 Partien des Turniers. Doch spätestens nach dem Endspiel werden die Probleme wieder mehr ins Rampenlicht kommen. Umso unverschämter ist es, dass sich die FIFA vertraglich zusichern ließ, für ihre Gewinne durch die WM keinerlei Steuern in Brasilien zahlen zu müssen. Um welche Beträge es dabei geht, wird klar, wenn man weiß, das der Weltfußballverband bei der WM 2006 in Deutschland durch ähnliche Regelungen ca. 800 Millionen Euro nicht an den Gastgeber abgeführt hat – Geld, das gerade Brasilien dringend benötigen würde. Was bedeutet das nun für eine linke Sportpolitik? Ganz sicher nicht die generelle Ablehnung aller Sportgroßereignisse, auch nicht hier bei uns. Aber wir müssen vom Gigantismus, von ausufernden Kosten wegkommen, brauchen klare Kriterien für deutlich bescheidenere Spiele bei Einhaltung sozialer und ökologischer Standards. Nicht zuletzt müssen die Menschen im Land mitgenommen werden, am besten durch Bürgerentscheide vor einer offiziellen Bewerbung.


Links! im Gespräch

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„Immun gegenüber Sachsen-bezogener Arroganz und Vorurteilen“ Links! sprach mit dem sächsischen Landtagsabgeordneten Heiko Kosel (Fraktion DIE LINKE) über dessen Vernetzungsarbeit mit der polnischen und tschechischen Linken, Sorbenrechte und Internationalismus. Herr Kosel, was ist derzeit das drängendste grenzüberschreitende Problem? Ein aktueller Gesichtspunkt sind grenzüberschreitende Aktionen der Neonazis, das ist eine allgemeine politische Aufgabe. Im parlamentarischen Arbeitsbereich ist vor allem die grenzüberschreitenden Zusammenarbeit im Rettungsdienst von entscheidender Bedeutung, auch die Kooperation im Bereich der Polizei und des allgemeinen Katastrophenschutzes. Vor kurzem wurde die Kooperationsvereinbarung linker Fraktionen in tschechischen, polnischen und deutschen Regionalparlamenten zehn Jahre alt. Wie kam es zu diesem Abkommen? Wir hatten schon seit 1999 die Kontakte nach Polen und Tschechien verstärkt beziehungsweise wieder aufgenommen, nachdem die damalige PDS sich in den Jahren unmittelbar nach der Wende sehr stark nach Westen ausrichten musste, weil von dort ein Großteil der politischen Herausforderungen gestellt wurde. Das hatte fast zur Folge, dass wir unseren östlichen Nachbarn den Rücken zugewandt haben. Das galt es zu korrigieren. Als der EU-Beitritt Polens und Tschechiens heranrückte, wurde die Idee geboren, dass nicht nur die Staaten kooperieren sollten, sondern auch wir als Linke. Die Besonderheit besteht darin, dass dabei Fraktionen zusammenarbeiten, die sich unterschiedlich politisch definieren. Wir als LINKE und damalige PDS verstehen uns als eine demokratisch-sozialistische Partei, die KSCM in Tschechien schon dem Namen nach als kommunistisch, und die SLD in Polen in weiten Teilen als sozialdemokratisch, sodass das Projekt von manchen nicht allzu optimistisch gesehen wurde. Es ist uns dennoch gelungen. Das zeigt, dass es nach wie vor ein Bedürfnis nach Internationalismus, nach internationaler Zusammenarbeit innerhalb der Linken gibt, was ich für positiv halte. Warum? Wir haben eine Ausgangslage geschaffen, die für unser politisches Profil entscheidend ist. Es ist die Komponente des Internationalismus, die uns auch vom politischen Gegner abhebt. Es ist für die weitere Arbeit unse-

rer Fraktion sehr wichtig, dass unsere Abgeordneten wie auch die Parteimitglieder über praktische Erfahrungen grenzüberschreitender Zusammenarbeit verfügen. Das macht sie immun gegenüber Sachsen-bezogenem Egoismus, gegen Sachsen-bezogene Arroganz, gegenüber von der hiesigen Presse manchmal verbreiteten Vorurteilen über Polen und Tschechien. Wer waren die Gründungsmitglieder der Kooperation? Zunächst waren wir als damalige PDS-Fraktion im Sächsischen Landtag beteiligt und die KSCMFraktionen in den damaligen drei nordtschechischen Regionen Liberec, Ústí nad Labem und Karlovy Vary und die SLD-Fraktion aus unserer Nachbar-Wojewodschaft Dolny Slask. Etwa zwei Jahre später hatten auch wir unseren ersten „Beitritt“, es kamen die Linksfraktion im Landtag von Brandenburg und die SLD-Fraktion in der Wojewodschaft Lubuskie dazu. Wir vereinigen jetzt also sieben Fraktionen, und wir haben uns von Anfang sozialen Themen zugewandt, die in den Grenzregionen als besonders brennend empfunden werden. Welche waren das? Die erste größere Veranstaltung, die wir durchgeführt haben, beschäftigte sich mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit und dem gesetzlichen Mindestlohn. Hier haben wir von Anfang an darauf verwiesen, dass die bereits vor Jahrzehnten erfolgte Einführung des gesetzlichen Mindestlohns in Polen und Tschechien zu keinerlei negativen Verwerfungen in der Wirtschaft geführt hat. Wir haben uns mit dem grenzüberschreitenden Gesundheitswesen auseinandergesetzt, das uns nach wie vor nicht loslässt. Es kamen weitere aktuelle Fragen hinzu: Grenzkriminalität, Hochwasserschutz. Auch die Lage der Roma nicht nur, aber vor allem Tschechien ist brennend. Hier sind wir aktiv geworden, etwa bei Roma-Familien, die aus ihrer Wohnung geworfen werden sollten. Da waren unsere KSCMKollegen vor Ort und haben als Regional- und Kommunalpolitiker erfolgreich

agiert. Wir werden auch in Zukunft die wesentlichen grenzüberschreitenden Fragen im Blick behalten, zumal neue hinzukommen, zur Verkehrsorganisation, zur Schienenanbindung, zur Binnenschifffahrt. Wir werden das Instrumentarium, das diese Kooperationsvereinbarung ausmacht, weiterentwickeln. Wir haben uns die Möglichkeit geschaffen, uns sofort gegenseitig über wichtige politische Fragen oder Projekte zu informieren. Hier sind wir beispielhaft, denke ich. Wir waren die ersten, die im Sächsischen Landtag eine solche Vereinbarung abgeschlossen haben. Wir sind die einzigen geblieben. Bei der Europawahl standen die kooperierenden Parteien in Konkurrenz zueinander. Hatte das Auswirkungen? Nein. Die Europaabgeordneten der KSCM und der LINKEN gehören derselben Fraktion an, die Europaabgeordneten der SLD einer anderen Fraktion, der sozialdemokratischen. Das hatte aber auch keine Auswirkungen. Die Fraktionen und auch die Parteiorganisationen der SLD hatten zwar vor zehn Jahren durchaus Diskussionen mit der Zentrale in Warschau auszustehen, die haben sie aber überstanden. Wie schätzen Sie die aktuelle Situation der linken Fraktion im Europaparlament ein? Positiv ist, dass unsere Fraktion größer und stärker geworden ist. Aber die Herausforderungen, was die Integration der ver-

schiedenen Strömungen und politischen Kulturen und Richtungen angeht, werden ebenfalls größer. Hier kommt der LINKEN, aber auch der KSCM eine große Bedeutung zu, weil sie beide in wesentliche linke Strömungen hineinwirken können. Wenn Politiker aus diesen beiden Parteien ihre Verantwortung erkennen und eine Scharnierfunktion wahrnehmen, dann wird aus der neuen Größe dieser Fraktion auch eine neue Stärke erwachsen. Neben der Europapolitik sind Sie auch für Minderheitenpolitik zuständig, sind selbst sorbischer Abgeordneter. Vor einiger Zeit gab es Schmierereien an Ortsschildern in Ostsachsen, bei denen flächendeckend die sorbischen Bezeichnungen übersprüht wurden. Es gab eine seltene Einigkeit über die Parteigrenzen hinweg, eine gemeinsame Pressemitteilung auch von CDU und LINKEN verurteilte die Taten. Wie gut funktioniert die Zusammenarbeit mit den sorbischen Koalitionsabgeordneten? Gut war, dass es uns erstaunlich schnell gelang, diese parteiübergreifende Einigkeit herbeizuführen, die neben Landtagsabgeordneten auch Bundestagsabgeordnete umfasst. Etwas unangenehm überrascht war ich dann aber schon, als ich auf der Liste der Unterzeichnenden den Abgeordneten Tillich nicht vorfand. Ich denke, es wäre ein wichtiges Zeichen gewesen, wenn er sich wie seine beiden sorbischen CDU-Kollegen gemeinsam mit uns geäußert hätte. Das ändert aber nichts daran, dass es gut und richtig war, in diesem Punkt eine breite Front der Ablehnung solcher Vorgehensweisen zu errichten. Denn wir haben es dabei nicht mit Dumme-Jungen-Streichen oder bloßer Sachbeschädigung zu tun. Dahinter steckt eine Ideologie, die sich gegen die Sorben richtet, aber auch gegen interkulturelles Zusammenleben in der Region. Damit ist vollkommen klar, aus welcher Ecke die Täter kommen. Das rot-rot regierte

Brandenburg hat jüngst sein Sorbengesetz novelliert und dabei auch die Mitbestimmungsrechte der Minderheit gestärkt. In Sachsen wartet man darauf bislang vergeblich. Wo liegt der hauptsächliche Änderungsbedarf? Es gibt fünf Punkte, die auch in Sachsen änderungsbedürftig sind. Das ist zum einen die Forderung, dass der Sorbenrat durch die Sorben selbst und nicht durch den Landtag gewählt werden soll, zumal das Parlament wesentlich nicht-sorbisch besetzt ist. Das ist eine Fremdbestimmung, da die Entscheidungen stets nicht den Empfehlungen der Domowina, sondern den Mehrheiten im Landtag folgten. Zweiter Punkt ist die Frage des Verbandsklagerechts für die Domowina, das ich für wesentlich halte. Denn die Wahrnehmung von Minderheitenrechten kann im Einzelfall nicht den betroffenen Personen überlassen werden, schon aus finanziellen Gesichtspunkten. Drittens muss das sorbische Siedlungsgebiet besser vor bergbaulicher Inanspruchnahme geschützt werden. Wenn es zu bergbaubedingten Umsiedlungen kommt, so haben das die Brandenburger geregelt, wird der neue Ansiedlungsort Teil des sorbischen Siedlungsgebietes. Viertens haben die Brandenburger einen Landesbeauftragten für die Sorben eingeführt. Wir haben in der Vergangenheit immer wieder erlebt, dass es Abstimmungsschwierigkeiten zwischen den Ministerien gab, wenn es um sorbische Angelegenheiten ging. Fünfter Punkt: Der Bericht des sorbischen Volkes. Aktuell liegt er wieder vor, und wir werden ihn in der letzten Sitzung des Plenums behandeln. Das heißt, dass es unmöglich ist, in dieser Legislaturperiode irgendwelche Konsequenzen aus diesem Bericht zu ziehen, sodass die Gefahr besteht, dass dieser Bericht wie die anderen auch in den Schubladen verschwindet. In Brandenburg muss der Bericht in der Mitte der Wahlperiode vorgelegt werden. Und er muss Handlungsaufträge enthalten. Wie stehen die Chancen, dass in der nächsten Wahlperiode auch das sächsische Sorbengesetz novelliert werden kann? Vertreter der CDU haben uns in Aussicht gestellt, dass sie mit uns als demokratischer Opposition gemeinsam eine Analyse zu Modernisierungsbedarfen des sächsischen Minderheitenrechts vornehmen wollen. Was daraus wird, werden wir sehen. Die Fragen stellte Kevin Reißig.


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Aufrüstung für den BND? Was den Bundesnachrichtendienst (BND) von vielen anderen Institutionen unterscheidet, ist der Fakt, dass sein neues Domizil in Berlin wohl fristgemäß fertiggestellt wird. Der BND zieht nach Berlin, lässt aber wenigstens 1000 Mitarbeiter in Pullach, auch nach dem Umzug. Palmen aus Metall zieren die Baustelle, Kunst am Bau nennt man das und bietet so ernsten bis albernen Verschwörungstheorien über die wahre Natur dieserPalmen ausreichend Futter. Dem BND ist aber ein neues Hauptquartier allein nicht genug. Denn wenn es eine Konsequenz aus dem andauernden eigentlichen Skandal, von der Bundesregierung aber nicht einmal als Skandälchen akzeptiert, rund um NSA, GCHQ, Edward Snowden usw. gibt, dann die, dass flächendeckende, anlasslose Überwachung unbedingt ausgeweitet werden muss. Jedenfalls ist es das, was man Ende Mai vom BND dazu hören konnte. Deren Etat müsse dringend aufgestockt werden, damit man die Datenflut, v. a. im „Social Web“, also Facebook & Co., bändigen und auswerten kann.Dafür braucht man viel Know-How und Technik, und das kostet: 300 Millionenwaren vorgesehen, sechs haben sie bekommen. Diese sind aber schon vorbereitend zu verstehen. Wenn in Pullach dann genügend vorbereitet wurde, kommt das ganze quasi zur Wiedervorlage in den Bundestag. Bis 2020, so lautet der ehrgeizige Zeitplan, soll die „Strategische Initiative Technik“ abgeschlossen sein.

Alle kennen das Spiel: „Ich seh‘, ich seh‘, was Du nicht siehst und das ist ...“ Ein ehrliches Spiel, muss man doch am Ende den Gegenstand nennen, der die gefragte Farbe hat. Eine gar nicht so ehrliche Abart dieses Spiels findet sich im ebenso bekannten und oft strapazierten Märchen „Des Kaisers neue Kleider“. Alle, die nicht dumm sein oder es vermeiden wollten, ihr Amt zu verlieren, erblickten und lobten die gar nicht vorhandenen Kleider des Kaisers. „Sie sahen, sie sahen“ bunt gemustert, was nicht wirklich existierte. Erst ein Kind deckte den Schwindel auf. Der Kaiser aber „... er dachte bei sich: ,Nun muss ich aus-

Wenn sich Deutschland beim Abschluss solcherlei IT-Großprojekte aber treu bleibt, dürfte auch 2025 davon noch nichts zu sehen sein. Gut, das ist natürlich auch schwer, denn das, was man sehen könnte, darf höchstens das parlamentarische Kontrollgremium begutachten und dann noch nicht einmal darüber berichten. Aber davon abgesehen: Wie funktioniert diese Forderung nach 300 Millionen Euro in Zeiten von Snowden? Sie funktioniert vermutlich vor allem intern, denn Deutschland will für NSA & Co., gegen die das Budget eines BND lachhaft erscheint, interessant bleiben und mitmachen dürfen, denn die besseren Programme und Tools gibt es eben auf der anderen Seite des Atlantiks. Da heißt es Geben und Nehmen: Wir geben euch XKeyscore, aber was kriegen wir dafür

von euch? Zum Beispiel irgendwas, das 300 Millionen Euro kostet. Das ist doch schon was. Aber nach außen bleibt nur Kopfschütteln übrig. Erinnert sich noch jemand an das „Nationale Cyber-Abwehrzentrum (NCAZ)“? Mit viel Tamtam vom ehemaligen Innenminister Friedrich 2011 eröffnet, sollte es das tun, was der Name plump suggeriert: Deutschland fit für den „Cyberkrieg“ der Zukunft machen. Dafür sollten Mitarbeiter aus anderen Behörden, wie Verfassungsschutz, BKA, Geheimdienste usw. an einem Tisch sitzen und sich austauschen. Seitdem ist es gefühlt still geworden um das NCAZ. Bis Anfang Juni diesen Jahres. Da stellte der Bundesrechnungshof fest: Die Einrichtung einer solchen Institution (NCAZ) sei „nicht gerechtfertigt“. Es sei insgesamt „fraglich“, welchen Nut-

zen sie bieten würde, fehlt es doch offensichtlich an Akzeptanz. Denn bei den angesprochenen Besprechungen am runden Tisch fehlen seit langer Zeit schon wichtige Akteure. Nicht einmal die sogenannten Kernakteure (z. B. der Verfassungsschutz) des NCAZ nähmen noch an den Lagebesprechungen teil. Nicht, dass dies im Einzelnen zu bedauern wäre und die Arbeit des NCAZ mehr geschätzt werden müsse, aber es ist schon interessant, mit welchen verbalen Geschützen so manche Maßnahmen aus dem Katalog der Überwachung eingeführt und verteidigt werden, die sich kurze Zeit später als absolut unsinnig herausstellen. Manchmal sogar hochoffiziell, wie z. B. die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts oder des Europäischen Gerichtshofs zur Vorratsdatenspeicherung.

Und während die private Firma Facebook Hunderttausenden Nutzern in die Timeline eingreift, um deren persönliches Wohlbefinden zu beeinflussen – im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie –, betont Außenminister Steinmeier bei einem Treffen deutscher und amerikanischer Würdenträger zum Thema NSA: Man müsse jetzt nach vorne blicken. Hat ja auch etwas Positives, dieser Blick nach vorne. Und es ist ja auch nichts mehr zu erwarten. Generalbundesanwalt Range findet wochenlang keine Gründe, im Fall NSA & Co. zu ermitteln, bemängelt gar fehlende Dokumente in der Angelegenheit, was von Patrick Sensburg (MdB) mit „Es gibt derzeit keine Originaldokumente von Herrn Snowden“ sekundiert wird. Fehlende Originale eines Whistleblowers bemängeln, das geht vielleicht auch nur in Deutschland. Nun, Herr Range startete dann doch Ermittlungen, als irgendjemandem wieder einfiel, dass ja das Handy der Bundeskanzlerin auch abgehört werden soll. Und während er in seinen Pressekonferenzen abwechselnd von der „NASA“ oder „SNA“ statt NSA spricht, wird klar: Was Edward Snowden aufgedeckt hat, mag erschreckend sein – vor allem die Tatsache, dass er es aufgedeckt hat. Solange Deutschland aber mitspielen will, in der globalen Analyse eines immer dichter werdenden Datenstroms, solange darf das kein Skandal sein. Die 300 Millionen für den BND werden wohl kommen. Vielleicht zur nächstenFußballweltmeisterschaft. Gregor Henker

halten.‘ Und die Kammerherren gingen und trugen die Schleppe, die gar nicht da war.“ Kann man so einfältig sein? Oder waren der Kaiser und die Kammerherren besonders schlau? Märchen verallgemeinern in einer schönen und lehrhaften Geschichte, was die Wirklichkeit immer wieder konkret, brutal und gar nicht so schön bietet. Weil im Krieg zum Beispiel die Wahrheit immer zuerst stirbt, ist es gang und gäbe, den Kriegsgrund in Wahrnehmungen zu suchen, die Wirklichkeit nur vortäuschen. Ich seh‘, ich seh‘, was Du nicht siehst, und das sind – Polen, die den Sender Gleiwitz überfallen, nordvietnamesische Schnellboote, die zwei US-amerikanische Zerstörer im Golf von Tonking angreifen, irakische Massenvernichtungswaffen usw. Gesehen hat es niemand, so getan, als ob, haben viele: Politiker, Feldherren, Diplomaten, Journalisten, einfache Leute. Sie trugen die Schleppe, die gar nicht da war, und es begannen der 2. Weltkrieg, der Viet-

namkrieg, der Irakkrieg. Die Liste ist wohl beliebig verlängerbar. Aber was hat das alles mit Genscher zu tun, dem unumstrittenen Helden von Prag? Dort war ihm keine Täuschung nachzusagen. Wohl aber der Führung der DDR, die die Welt wider alle Fakten sehen lassen wollte, dass die Leute legal über Dresden aus der DDR ausreisten. Diese Führung stand bald nackt da. Zu

nem Kampf gegen Terroristen. Solche gab es dort zwar kaum, aber die Welt und das Volk sollten sie sehen. Denn wer sie nicht sah, war entweder dumm oder für Geschäfte mit Argentinien nicht geeignet. Beweise sollten beigebracht werden. Dafür taugten europäische Studentinnen und Studenten vorzüglich. Es war die Revolte der 68er noch in guter Erinnerung, und es verbreitete gerade die RAF in Deutschland mit ihrem Terror Angst und Schrecken. Wer aus Europa zu dieser Zeit in Argentinien studierte, war hoch gefährdet, der Junta „neue Terroristen“ abzugeben, zumal wenn man sich gegen Unterdrückung wandte oder gar früher im Umfeld von Rudi Dutschke bewegt hatte. Die Deutsche Elisabeth Käsemann, eine junge Frau, war eine von ihnen. Sie wurde verhaftet, gefoltert, vergewaltigt, unter der Hand aber der Bundesrepublik auch zum Freikauf angeboten. Die deutschen Verantwortlichen taten jedoch so, als sähen sie nur die vorgebliche

Terroristin. Andere Länder verhielten sich anders. Dem deutschen Außenminister – es war Herr Genscher –, seinem Botschafter – einem Herren Kastl – und auch dem Präsidenten des Deutschen Fußballbundes – Herrn Neuberger – war das Schicksal von Frau Käsemann, wie es aussieht, egal. Sie wollten doch geschäftsfähig bleiben, ein Freundschaftsspiel der Nationalmannschaften und die bevorstehende Fußballweltmeisterschaft nicht gefährden. Jegliche Intervention schlug man aus. Elisabeth Käsemann wurde bei einem fingierten Kampf gemeinsam mit 15 anderen Gefangenen erschossen. Getroffen im Genick und Rücken. Das war 1977 (!). Die ARD berichtete am 05. Juni 2014 (!) zu später Nacht ausführlich. Klaus von Dohnanyi und Hildegard HammBrücher gehörten einst auch zu den Schleppenträgern von Genscher. Er meinte nun, „man hätte etwas tun müssen“. Ihr war damals „schon ein wenig mulmig.“

Wenn Genscher sieht, was Du nicht siehst ... Genscher, dem späteren Chodorkowski-Befreier, müssen wir dennoch zurück, denn da gibt es noch eine andere Geschichte. Sie trug sich 1977 in Argentinien zu und zwischen Argentinien und Deutschland. Im Jahre 1976 war in dem südamerikanischen Land eine Junta von Generälen an die Macht gekommen. Sie legitimierten ihren Putsch mit ei-


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Tipps für die Sommer-Lektüre

Hier liegt eine Streitschrift vor, verfasst mit klarem Kopf und wissenschaftlicher Akribie – aber auch mit Zorn! Zorn angesichts der Nebelwerfer, die aus Anlass des bevorstehenden 100. Jahrestages des Beginns des Ersten Weltkrieges in Stellung gebracht wurden, um das seit einem halben Jahrhundert dokumentarisch vielfältig belegte Wissen über die Motive der Mächte und Kräfte zu verhüllen,

gemeiner Anerkennung, und selbst die Geschichtsoberlehrer der Nation - die Medienzaren bzw. deren Schreibfedern und Lautsprecher – beugten sich der Akzeptanz. Dem stellte sich nun der Cambridge-Professor Christopher Clark mit der These entgegen, die deutschen Eliten träfe am Ausbruch des Ersten Weltkrieges nicht mehr Schuld als die Eliten anderer europäischer Großmächte, die allesamt wie Schlafwandler agiert hätten. Dem gebürtigen Australier ist von Berufskollegen an renommierten britischen Lehrinstituten heftig widersprochen worden. Ignoranz und Böswilligkeit

die 1914 die Mordmaschinerie in Gang gesetzt hatten und über vier Jahre am Laufen hielten. Für die Wissenschaft ist die Frage seit 1961 beantwortet, als der Hamburger Lehrstuhlinhaber Fritz Fischer mit seinem Buch „Griff nach der Weltmacht“ auf breiter Quellenbasis ausleuchtete, was die deutschen Eliten bewog, auf einen großen Waffengang hinzuarbeiten und diesen schließlich im Sommer 1914 auszulösen: nämlich die Verwirklichung des Anspruchs auf einen „Platz an der Sonne“ für das wilhelminische Kaiserreich, wie er ausgangs des 19. Jahrhunderts unverhohlen von der Tribüne des Deutschen Reichtags aus der Welt mitgeteilt wurde. Die seinerzeitigen wütenden Angriffe bundesdeutscher Fachkollegen gegen Fischer wurden angesichts der Überzeugungskraft weiterer entlarvender Dokumente bald schwächer und verstummten schließlich ganz. Fischers Sicht gelangte zu all-

wurden ihm attestiert: Nicht in sein Konzept passende – aber allgemein bekannte – Quellen würde er einfach nicht beachten. In Deutschland hingegen machte sich sofort eine Phalanx von Historikern und Journalisten auf, Clarks These als Grundstock für eine Umwertung inzwischen allgemein anerkannter Wahrheiten zu feiern. Den Nebelkerzen, die dabei geworfen werden, stellt sich nun seinerseits Kurt Pätzold entgegen. Der Berliner Geschichtsprofessor analysiert den Grundtenor der Umdeutung und untersucht auch die sich daraus ergebenen Nebenschauplätze mit erfrischender Polemik. Die verschiedenen schillernden Bezeichnungen für das erste industrialisierte Völkergemetzel sollen lediglich dessen wahren Charakter verschleiern: Der Erste Weltkrieg war ein imperialistischer Krieg. Diese Tatsache zu verdecken,

Weder Kulturkampf noch Opfergang Kurt Pätzold zerpflückt Mythen und Legenden über den Ersten Weltkrieg

waren bereits mit dem ersten Tag des Krieges Lügen und Legenden in Umlauf gebracht worden, so die von der Vaterlandsverteidigung, von der angeblichen Einkreisung Deutschlands, vom „völkischen Aufbruch“ (das „August-Erlebnis“), von Kulturkampf und Opfergang, von Kriegshelden und Heimatfront bis hin zu Dolchstoß, Schmachfrieden und Totenkult. Letzterem ist hier ein eigenes Kapitel gewidmet, das gnadenlos seziert, wie die Trauer um die „im Krieg Gebliebenen“ missbraucht wurde, um den Boden für die geistige Vorbereitung des nächsten Krieges zu bereiten. Einen Gipfel verbissener Revancheideologie nennt Pätzold nicht: Das regierungsamtlich geschaffene „Reichsehrenmal“ - Schinkels umgestaltete Neue Wache im Herzen Berlins - trug, als es 1931 eröffnet wurde, die Inschrift „INVICTIS VICTI VICTURI“ (Den Unbesiegten die Besiegten, die Sieger sein werden). Sie stammt vom Klassischen Philologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, der im Oktober 1914 das Bekenntnis von mehr als 3600 deutschen Hochschullehrern initiiert hatte, in dem der preußische Militarismus als Zwillingsbruder der deutschen Kultur verklärt wurde. Die Unterschrift von Wilamowitz-Moellendorff befand sich zuvor bereits unter dem Aufruf von 93 namhaften deutschen Intellektuellen, der unter der Überschrift „An die Kulturwelt“ den gerade eröffneten Waffengang als Verteidigung der deutschen Kultur gegen eine dem deutschen Wesen fremde Zivilisation erhob und künftige Kriegsverbrechen des deutschen Militärs vorab rechtfertigte. Dieses traurige Dokument totaler Verblendung der deutschen Geisteselite veröffentlicht Pätzold im Anhang seiner Streitschrift, allerdings ohne die Namen der Unterzeichner. Das „INVICTIS“ an der Neuen Wache in Berlin bezog sich auf das breit gepflegte Dogma von dem „im Felde unbesiegten“ deutschen Heer. Dieses hatte der Sozialdemokrat Friedrich Ebert am 6. Dezember 1918 vor dem Brandenburger Tor ausund ins Leben gerufen. Die alten Eliten nahmen es gierig auf, hegten und pflegten es, der breiten Front der Revanchisten jeglicher Couleur in die Hände spielend. Und noch heute ist diese Lüge im öffentlichen Raum präsent, wie allein Straßenschilder in Städten und Kommunen bezeugen, auf denen führender Militärs und hoch dekorierter „Kriegshelden“ gedacht wird, die in den Heeresberichten 1914 bis 1918 Erwähnung fanden – ein hierzulande nur ungern angesprochenes Thema, das Kurt Pätzold ebenfalls entlarvt. Kurt Wernicke / nd

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Kurt Pätzold: 1914. Das Ereignis und sein Nachleben. Verlag am Park, 173 S.. Greg Graffin: Anarchie und Evolution. Glaube und Wissenschaft in einer Welt ohne Gott Nur Atheist zu sein, genügt dem Punk-Sänger und Evolutionsbiologen Greg Graffin nicht. Er plädiert für eine naturalistische Weltsicht. „Naturalisten gehen davon aus, dass das Universum bloß auf vier Dingen aufbaut: Raum, Zeit, Materie und Kraft – das war‘s.“ So erklärt Greg Graffin kurz und bündig seine Sicht auf die Dinge. Aber natürlich ergibt sich für ihn daraus eine Menge von weiteren Dingen, die es zu erklären gibt, zum Beispiel, warum man nicht beim bloßen Atheismus stehen

gründigen, oft metaphorischen Texten zu verbinden, ohne dass dabei der Spaß zu kurz käme, und die damit weltweit ein Millionenpublikum begeistert. In seinem Buch, eigentlich eine Autobiographie, stellt Graffin die Gründung und Entwicklung seiner Band neben ausführliche Ausflüge in die Evolutionsgeschichte. Dies kommt manchmal ein wenig holprig daher, stört aber kaum, da man ihm abnimmt, von beidem genug zu verstehen. Indes gibt es wiederum für einen von Kindesbeinen atheistisch geprägten Menschen rein faktisch nicht viel Neues zu erfahren. Was vielmehr beeindruckt, ist die von kindlicher Neugier gespeiste und schließlich wissenschaftlich untersetzte Entwicklung Graffins zum entschiedenen Gegner jeder Religion und zu seinem naturalistischen

Bild: Ricapar / Wikimedia commons / CC-BY-SA-3.0

bleiben sollte – und hier macht er es sich dann ganz und gar nicht leicht, wie man in seinem nun auch in deutscher Sprache im Riva-Verlag erschienenen Buch nachlesen kann. Gregory Walter Graffin hat es sich, so kann man erfahren, ohnehin nie leicht gemacht. Es war ein Stück Weg, vom Kind aus amerikanischem, traditionell protestantischem Elternhaus zum Atheisten, Punk, Rockstar, promovierten Evolutionsbiologen und Dozenten für Biologie und Paläontologie an der University of California. Graffin ist Gründungsmitglied und Frontman der Punkband „Bad Religion“, deren Logo, ein Kreuz im Verbotszeichen, als sogenannter Crossbuster fast noch bekannter wurde als die Band selbst. Jener Band also, die es schaffte, rüde Musik mit tief-

Gegenmodell. Dabei verzichtet er völlig auf vordergründige Belehrungen, sondern erzählt einfach seine Geschichte, ohne dabei seinen Respekt vor dem Glauben anderer Menschen zu verlieren. Betrachtet man den in den USA allgegenwärtigen, christlichen Fundamentalismus, ist dies eine umso größere Leistung. So gerät das Buch zu einem wirklich starken Plädoyer dafür, die Welt, so wie sie ist, nicht einfach hinzunehmen oder gar im Nihilismus zu verkommen, sondern sie ständig zu hinterfragen und verändern zu wollen, wo sie verändert werden muss. Uwe Schaarschmidt Greg Graffin: „Anarchie und Evolution. Glaube und Wissenschaft in einer Welt ohne Gott“, Riva -Verlag, 288 Seiten.


Hintergrund

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Sächsisches Demokratie(un)verständnis Am 19. Februar 2011 demonstrierten zehntausende Menschen in Dresden gegen den Missbrauch des Gedenkens durch die Nazis. Anschließend überzog die Staatsanwaltschaft Dresden hunderte friedlicher Demonstranten mit Ermittlungsverfahren. Auch gegen Falk Neubert, Landtagsabgeordneter der LINKEN im Sächsischen Landtag, wurde ein Verfahren wegen angeblicher „Störung von Versammlungen und Aufzügen” eingeleitet und seine Immunität aufgehoben. Bis es zum Prozess kam, gingen über drei Jahre ins Land, vier Verzögerungsrügen wurden erhoben. Der Prozess selbst verkam dann zu einer einzigen Farce. Der erste Prozesstermin sollte eigentlich am 16. April stattfinden. Zwei Tage zuvor fiel dem Amtsgericht Dresden aber auf, dass es nicht möglich war, diesen Termin wahrzunehmen, da zwei Zeugen sich im Ausland befanden. „Ich bin mehr als verwundert ob der kurzfristigen Absage des Prozesstermins“ äußerte sich Falk Neubert kurz danach gegenüber den Medien. „Insbesondere vor dem Hintergrund, dass das Gericht wahrscheinlich sowieso mehr als einen Prozesstag benötigt, wäre ein Prozessbeginn am Mittwoch

trotz der beiden Zeugenabsagen naheliegend gewesen“. Somit musste der Prozessauftakt nochmals um ganze 21 Tage verschoben werden, bis er dann endgültig am 7. Mai stattfand. Doch auch da endete diese Posse eines Prozesses nicht. Während der Staatsanwalt nur sehr selten das Wort ergriff, übertraf sich der vorsitzende Richter in Ignoranz und Desinteresse gegenüber der Verteidigung. Anträge zum Prozess selbst so-

wie Beweisanträge, die Rechtsanwalt André Schollbach einbrachte, wurden meistens ohne Begründung abgelehnt. Sie durften vorher vom Verteidiger auch zumeist nicht verlesen werden, so dass die anwesenden Gäste keine Kenntnis darüber erhielten, was für ein Antrag gerade gestellt wurde. Und auch sonst hatte es den Anschein, dass der Richter relativ lustlos diesen Prozess führte und sich bereits ein vorgefertig-

tes Urteil gebildet hatte. Diesen Eindruck bestätigten auch etliche der Anwesenden, die zur Unterstützung von Falk Neubert mit ins Gericht gekommen waren. Dieses Verhalten zeigte der Richter an allen drei Prozesstagen. Der Gipfel dieses Prozesses – der bis dahin ja schon wie eine Geschichte aus Schilda anmutete – war dann die Urteilsverkündung am 28. Mai selbst. Nur eine Minute nach Verlesung der Bild: Hans Weiske

Plädoyers verkündete der Richter das Urteil. Er unterließ jegliche Auseinandersetzung mit den Argumenten der Verteidigung und schloss sich kurzerhand und begründungslos den Ausführungen der Staatsanwaltschaft an. Er machte kurzen Prozess und verurteilte Neubert wegen angeblicher „Störung von Aufzügen“ zur Zahlung einer Geldstrafe von 1.500 Euro. Nun ist das Urteil selbst nicht sehr überraschend gewesen. Aber die Art und Weise, wie der Prozess verlaufen war, lässt die sächsische Justiz schlecht aussehen. Eine massenhafte Kriminalisierung von Antifaschisten, jahrelanges Warten auf den Gerichtstermin und dann ein Prozess, der diesen Namen eigentlich nicht verdient. Falk Neubert legte deshalb Anfang Juni Rechtsmittel gegen das Urteil ein: „Ich werde weiterhin, stellvertretend für die vielen Menschen, die am 19. Februar 2011 friedlich gegen Nazis demonstriert haben, gegen die Kriminalisierung zivilgesellschaftlichen Protestes kämpfen“. Die nächsthöheren Instanzen haben dann vielleicht mehr Anspruch an ihre juristische Arbeit als das Amtsgericht Dresden, und ein fairer Prozess ist möglich. Sabine Pester

Von Staatsnähe und Staatsferne „Die Zusammensetzung der Aufsichtsgremien der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten ist gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG am Gebot der Vielfaltsicherung auszurichten. Danach sind Personen mit möglichst unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungshorizonten aus allen Bereichen des Gemeinwesens einzubeziehen. Die Organisation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks muss als Ausdruck des Gebots der Vielfaltsicherung dem Gebot der Staatsferne genügen. Danach ist der Einfluss der staatlichen und staatsnahen Mitglieder in den Aufsichtsgremien konsequent zu begrenzen.“ So lauten in Kurzform die beiden Leitsätze des jüngsten Medienurteils des Bundesverfassungsgerichtes. Die Klage war eine Folge des Unmutes, den der ZDF-Verwaltungsrat, das kleinere der beiden Aufsichtsgremien des Zweiten Deutschen Fernsehens, ausgelöst hatte, indem er 2010 nach massiver politischer Einmischung des damaligen hessischen CDU-Ministerpräsidenten Roland Koch die Vertragsverlängerung für Chefredakteur Nikolaus Brender verhindert hatte. Das ZDF entstand, nachdem Adenauers Pläne für ein „Bun-

desfernsehen“ verfassungsrechtlich gescheitert waren, als eine Gemeinschaftseinrichtung der 16 deutschen Länder, und die ist es auch heute noch. Insofern ist es nichts ungewöhnliches, dass auch alle 16 in den Aufsichtsgremien, also im Verwaltungsrat oder dem Fernsehrat vertreten sein wollen. So sind fünf von 14 Plätzen im Verwaltungsrat für Ministerpräsidenten reserviert, einen davon belegt der sächsische Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich. Aber auch in dem größeren Aufsichtsgremium, dem 77-köpfigen Fernsehrat, will jedes Bundesland, oder genauer gesagt jede Landesregierung Sitz und Stimme. Und wer belegt den sächsischen Platz? Der Chef von Tillichs Staatskanzlei, Johannes Beermann. Aber nicht genug damit: Auch die Bundespolitik, obwohl für das ZDF gar nicht zuständig, will mit von der Partie sein. 15 Vertreter des Bundes und der Parteien. Davon entfällt auf die beiden Oppositionsparteien DIE LINKE und Bündnis90/Grünen jeweils genau ein Platz. Die anderen 13 teilen sich SPD, CDU und CSU mit der nunmehr außerparlamentarischen FDP. Die Große-Koalitions-Mehrheit ist hier also noch

erdrückender als selbst im Bundestag. Aber immerhin, so könnte man meinen, stehen den Abgesandten von Regierungen und Parteien schließlich auch viele andere gegenüber, unter anderen ebenfalls 16 „Vertreter aus den Bereichen des Erziehungsund Bildungswesens, der Wissenschaft, der Kunst, der Kultur, der Filmwirtschaft, der Freien Berufe, der Familienarbeit, des Kinderschutzes, der Jugendarbeit, des Verbraucherschutzes und des Tierschutzes“. Und wer begegnet uns da als Vertreter Sachsens? Überraschung: Holger Zastrow, Landes- und Fraktionsvorsitzender des kleineren Koalitionspartners FDP. Für welchen der genannten Bereiche Zastrow genau stehen soll, bleibt unklar. Am ehesten käme für den Selbstdarsteller noch die Kunst in Frage. Dem Postenschacher im großen Stil schob das Verfassungsgericht jetzt einen Riegel vor. „Der Anteil der staatlichen und staatsnahen Mitglieder darf insgesamt ein Drittel der gesetzlichen Mitglieder des jeweiligen Gremiums nicht übersteigen. Für die weiteren Mitglieder ist die Zusammensetzung der Aufsichtsgremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks

konsequent staatsfern auszugestalten. Vertreter der Exekutive dürfen auf die Auswahl der staatsfernen Mitglieder keinen bestimmenden Einfluss haben; der Gesetzgeber hat für sie Inkompatibilitätsregelungen zu schaffen, die ihre Staatsferne in persönlicher Hinsicht gewährleisten.“ Seitdem suchen die Ministerpräsidenten nach einem Weg, ihren Einfluss zu erhalten, dem Urteil aber dennoch gerecht zu werden. Das Urteil wirkt aber weit über das ZDF hinaus, es gilt im Grunde für alle öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, also auch für den MDR. Zwar ist in seinen Gremien das Übergewicht der Politik nicht so erdrückend wie beim ZDF, aber ein Muster für Staatsferne ist der MDR auch nicht. Erinnert sei nur an die turbulente Intendantenwahl im Herbst 2011. Damals versuchte der Chef der Sächsischen Staatskanzlei Johannes Beermann (der gleiche, der im ZDF-Fernsehrat sitzt) einen der sächsischen Staatsregierung besonders genehmen Kandidaten durchzusetzen, was ihm in den siebenköpfigen Verwaltungsrat im vierten(!) Wahlgang auch gelang. Immerhin, in dem größeren Rundfunkrat scheiter-

te dieser grandios. Eine deutliche Zweidrittelmehrheit stimmte gegen ihn und wählte die jetzige Intendantin Prof. Karola Wille. Dennoch, Handlungsbedarf besteht auch hier. Hat doch das Verfassungsgericht auch festgestellt: „Der Gesetzgeber hat dafür zu sorgen, dass bei der Bestellung der Mitglieder dieser Gremien möglichst unterschiedliche Gruppen und dabei neben großen, das öffentliche Leben bestimmenden Verbänden untereinander wechselnd auch kleinere Gruppierungen Berücksichtigung finden und auch nicht kohärent organisierte Perspektiven abgebildet werden“. DIE LINKE brachte jetzt in allen drei MDR-Ländern einen Antrag ein, der nicht nur die Erfüllung der Forderungen des Verfassungsgerichtes, sondern auch eine Erhöhung des beschämend geringen Frauenanteils im Rundfunkrat (nur vier von 43) forderte. Bezeichnend: Während dies die schwarz-gelbe Koalition in Sachsen rundheraus ablehnte, erkannte die schwarzrote Koalition in Sachsen-Anhalt mit einem abschwächenden Ersetzungsantrag den Handlungsbedarf zumindest an. Falk Neubert


Links! 07-08/2014

Schwerpunkt: Schulpolitik

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Wenn der Topf aber nun ein Loch hat … Als Brunhild Kurth im Frühjahr 2012 ihr Amt als Kultusministerin antrat, waren die Erwartungen an ihre Amtsführung groß. Sie galt als eine Frau vom Fach, weil sie aus der Schulverwaltung kam und mit den schulorganisatorischen Angelegenheiten vertraut zu sein schien. Ins Amt berufen worden war sie, um die verfehlte Personalpolitik ihres Vorgängers zu beenden und den eklatanten Lehrermangel in Sachsen zu beseitigen. Doch schon der erste von ihr verantwortete Haushaltsentwurf für die Jahre 2013/2014 ließ Zweifel daran aufkommen, ob sie dieser Aufgabe gewachsen ist. Eine Antwort auf die personalpolitische Herausforderung im Lehrerbereich gab der Haushalt nicht. Weder kurz- noch langfristig genüge der Planungsansatz den Anforderungen an eine wirksame Personalpolitik im Lehrerbereich, lautete die einhellige Kritik. Stattdessen beschränke sich die Ministerin darauf, die vorhandenen Löcher zu stopfen. Zwei Jahre später zeichnet sich immer deutlicher ab: Die Kultusministerin bekommt den Lehrermangel nicht in den Griff. Ihre Bildungspolitik besteht allein darin, die Löcher, die sich immer wieder auftun, zu stopfen. Das hat schließlich dazu geführt, dass die Ministerin keine ordnungsgemäße Vorbereitung

des Schuljahres mehr garantieren kann. Trotz der massiven Versuche, die Schulklassen bis an die zulässige Obergrenze von 28 Schülerinnen und Schülern zusammenzulegen, sprich vollzustopfen, und den jahrgangsübergreifenden Unterricht in den Grundschulen voranzutreiben, musste der Termin für den sogenannten Schulfeststellungsbescheid verschoben werden. Eigentlich hatten die Eltern bis zum 5. Juni erfahren sollen, in welche fünfte Klasse ihr Kind an welcher Mittelschule bzw. an welchem Gymnasium im neuen Schuljahr gehen soll. So schreibt es die vom Kultusministerium selbst erstellte Verwaltungsvorschrift zum Bedarf und Schuljahresablauf 2013/2014 vor. Sie hatten sich eine weitere Woche zu gedulden, bis sie wussten, welche Schule ihr Kind im neuen Schuljahr 2014/2015 besuchen wird. Das hat es hierzulande noch nicht gegeben. Falls Eltern mit der Schulzuweisung ihres Kindes nicht einverstanden sind, verkürzt sich für sie die Klagefrist dementsprechend. Dem Kultusministerium kann das nur recht sein, erspart es der Behörde womöglich einige Klagen. Die Eltern wird es ärgern. Sie wollten ihren verdienten Sommerurlaub ganz bestimmt nicht in Ungewissheit über den Schulbesuch ihres Kindes antreten.

Wegen der öffentlichen Kritik an dem einmaligen Vorgang hatte der Ministerpräsident eilends eine Krisensitzung einberufen. Nachdem der Generationen-Vertrag mit GEW und ddb Tarifunion Ende vergangenen Jahres für „Ruhe an der Lehrerfront“ gesorgt hatte, drohte nun kurz vor den Landtagswahlen Ungemach von unerwarteter

Seite. Herausgekommen ist bei der Krisensitzung mit dem Finanzminister und der Kultusministerin am 6. Juni die Einstellung von weiteren Lehrerinnen und Lehrern zum Beginn des Schuljahres. Eine genaue Zahl nannte die Ministerin in ihrer Pressemitteilung nach der Sitzung nicht. In den Medien ist von 160 Einstellungen die Rede.

Bild: Claudia Hautumn / PIXELIO

Das Ergebnis der Krisensitzung kommentiert die Kultusministerin mit einer ihrer Lieblingsvokabeln: Es biete ihrem Ministerium „die Möglichkeit, flexibel auf wachsende Schülerzahlen und damit einhergehende zusätzliche Lehrerbedarfe reagieren zu können“. Auf Deutsch heißt das: An der Personalpolitik im Lehrerbereich ändert sich nichts. Das Löcherstopfen geht munter weiter. Keine Spur von einem Personalentwicklungskonzept, ohne das sich der Lehrermangel jedoch nicht beheben lässt. Davon betroffen sein werden vor allem die Schulen in Großstädten, die schon heute aus allen Nähten platzen und an denen Unterrichtsausfall an der Tagesordnung ist. Und auch im ländlichen Raum braucht es zusätzliche Lehrkräfte, wenn kleine Schulen nicht geschlossen werden sollen. Bei all dem ist die steigende Zahl der Schülerinnen und Schüler noch nicht einmal berücksichtigt. 4400 mehr als bisher werden es sein. Wer den Unterricht in Sachsens Schulen in guter Qualität garantieren will, der muss anders als die Kultusbürokratie langfristig planen und tiefer in die Tasche greifen. Sachsen benötigt laut Cornelia Falken, der bildungspolitischen Sprecherin der Fraktion DIE LINKE im Sächsischen Landtag, 1000 bis 1500 Einstellungen pro Jahr. Jochen Mattern

Ländliche Räume als bildungspolitisches Labor Völlig gleich, welcher politischen Couleur die jeweiligen SchulpolitikerInnen angehören – alle fordern sie mehr Geld für die Bildung. Kurzfristig mag das erfolgreich sein – langfristig führt eine solche Strategie in die Sackgasse. Denn weder global noch regional ist es realistisch, von ökonomischen Wachstumsraten auszugehen, die den Aufbau eines idealen Schulsystems ermöglichen könnten. Dies ist nicht einmal wünschenswert, denn der ökologische Preis für dieses Wachstum würde in relativ kurzer Zeit jedes Bildungssystem überflüssig machen. Statt besserer finanzieller Ausstattung stehen folgende Punkte auf der bildungspolitischen Agenda: Die Demokratisierung der Schule; Schule soll qualifizieren, nicht aussortieren; ein flächendeckendes, für alle zugängliches Bildungsnetz muss abgesichert werden; Schulstruktur und Bildungsinhalte sollen so gestaltet sein, dass soziokulturelle Nachteile ländlicher Räume kompensiert und gegebenenfalls sogar in Vorteile gegenüber urbanen Räumen verwandelt werden können; es

muss Freiraum für selbstbestimmtes Lernen geschaffen werden. Zivilgesellschaftliche Bildungsinitiativen brauchen Ermutigung statt bürokratischer Hindernisse oder gar Kriminalisierung; und schließlich: Die konkreten kulturellen, ökonomischen, sozialen und ökologischen Potenziale ländlicher Räume sollten bildungspolitisch und ganz konkret auch schulisch genutzt und mobilisiert werden. Folgende drei Szenarien stellen idealtypisch dar, wie den Anforderungen an allgemeinbildende Schulen in ländlichen Räumen begegnet werden könnte. Die radikalste Alternative wären nicht die jeweils anderen zwei Szenarien, sondern die Beibehaltung des Status quo: Erstens: Das technologische Szenario. Der technische Fortschritt ermöglicht Formen institutionalisierter Bildung, die ohne Klassenzimmer auskommen. Wie in einem Fernkurs würden SchülerInnen ab und an Blockseminare besuchen und die dort erworbenen Kenntnisse zu Hause vertiefen. Das würde Ressourcen in den Schulen, aber auch beim Verkehrsaufkommen

einsparen helfen. Betriebe und andere Institutionen in ländlichen Räumen erhielten eine zusätzliche Daseinsberechtigung, wenn ein Teil der Unterweisung in ihnen stattfinden würde. Die Lerninhalte wären stärker als bisher mit der Region und dem Lebensalltag der dort Lebenden verbunden. Spezielle fakultative Kurse in den Schulen und zivilgesellschaftliche Lernbörsen würden das Angebot abrunden. SchülerInnen würden so Zeitsouveränität und Bewegungsräume zurückgewinnen. Weiterführende Bildungsangebote würden in die benachbarten Mittelzentren verlegt, die durch effizient gestalteten ÖPNV und ein funktionsfähiges Straßennetz gut erreichbar wären. Denn prinzipiell bliebe das mehrgliedrige Schulsystem erhalten. Das allerdings würde „Humankapital“ verschwenden und Fachkräftemangel erzeugen. Da das Wirtschaftswachstum nicht zuletzt deshalb stagniert, werden auch nur wenige Arbeitskräfte nachgefragt. Zweitens: Das institutionelle Szenario. Nach einer Phase der Ausdünnung des Schulnetzes

aufgrund des vorherrschenden mehrgliedrigen Schulsystems würde verbindlich für alle die Gemeinschaftsschule eingeführt werden. Um Schulen herum würden sich weitere staatliche und zivilgesellschaftliche Bildungseinrichtungen ansiedeln. Nach dieser erfreulichen Konsolidierungsphase würden jedoch auch die Gemeinschaftsschulen von der demografischen Entwicklung eingeholt: Immer noch würden (potenzielle) Eltern auf der Suche nach Arbeitsplätzen den ländlichen Räumen den Rücken kehren. Aufgrund sinkender SchülerInnenzahlen müssten Schulen an zentralen Orten zusammengelegt werden. Unzumutbar lange Schulwege wären nur durch die Einrichtung von Internaten vermeidbar. Die Entleerung ländlicher Räume würde langfristig voranschreiten. Drittens: Das libertäre Szenario. Aufgrund immer stärkerer Ausdünnung des Schulnetzes würde der Gesetzgeber die Schulpflicht aufheben. Alle SchülerInnen bekämen weiterhin staatliche Hilfestellung für ihren Bildungsweg. Das könnte nicht verhindern, dass man-

chen Kindern wie bereits heute der Weg zu anregender Bildung weitgehend verschlossen bliebe. An Bildung Interessierte würden sich in Lernbörsen organisieren und dort ihre Kenntnisse und Fähigkeiten miteinander austauschen. Verwaiste Schulgebäude würden derartigen Nachbarschaftsinitiativen überlassen. Diese Projekte würden sich neben allgemeinbildenden Angeboten vor allem praktischen Strategien zur Gestaltung der Postwachstumsgesellschaft widmen. Um dies ökonomisch abzusichern, würde für BewohnerInnen ländlicher Räume ein Grundeinkommen ausgezahlt, das die dortige Arbeitswelt ohnehin verändern würde. Da dies allerdings an die Wirtschaftsentwicklung gekoppelt wäre, könnte es nicht krisenfest sein. Allerdings würde Bildung dann nicht mehr primär dem Zweck dienen müssen, zur Erwerbsarbeit zu qualifizieren. Welches Szenario ist wünschenswert? Die ganze Gesellschaft ist aufgefordert, kreative Utopien zu entwickeln und deren fehlerfreundliche Umsetzung zuzulassen. Jens-Eberhard Jahn


07-08/2014  Sachsens Linke!

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Juli-August 2014

Sachsens Linke

Tilo Kießling berichtet über eine Entwicklung im Dresdner Stadtrat, die der örtlichen CDU einiges Kopfzerbrechen bereiten dürfte. Silvio Lang blickt zurück auf insgesamt erfolgreiche antifaschistische Proteste gegen den „Tag der deutschen Zukunft“ in der Landeshauptstadt.

Dietmar Pellmann analyisiert die Versäumnisse der jüngsten Rentenreformen und zeigt, wo dringend nachgebessert werden muss.

Außerdem gibt es viel zu berichten über neue hochschulpolitische Entwicklungen in Sachsen und innerhalb der Partei DIE LINKE.

Dialog für Sachsen

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Die Linie steht

„Wir sind die erste Wahl für den politischen Wechsel“ Mit selbstbewusster und positiver Tonalität in den Wahlkampf In unserer Wahlstrategie konstatieren wir: „Seit 25 Jahren regiert die CDU in Sachsen ununterbrochen. Es ist Zeit für eine Wende.“ So müssten in Sachsen einmal mehr die Fenster geöffnet werden, um frischen Wind hereinzulassen. „Ein neuer demokratisch-kultureller Aufbruch ist notwendig“, steht in der Strategie, die vom Landesvorstand beschlossen und nunmehr veröffentlicht wurde. Wir rufen die Bürgerinnen und Bürger des Freistaates deshalb auf: „Machen Sie mit. Beginnen wir jetzt.“ Und wir laden zugleich SPD und Grüne dazu ein, die lähmende Langeweile einer CDUDauerregierung zu beenden und einen belebenden Neuanfang zu unternehmen. Uns geht es dabei nicht um uns selbst: „Wir sind nicht scharf darauf, den Ministerpräsidenten zu stellen oder Minister- und Staatssekretärsposten zu ergattern. Aber wir erklären im Wahlkampf selbstbewusst, dass wir besser regieren können als die amtierende Landesregierung. Während das Kabinett Tillich nur passiv verwaltet, würde eine rot-rot-grüne Regierung das Land mit den Menschen aktiv gemeinsam gestalten“. Wir sind damit die Herausforderin der CDU. Gleichwohl: Wir formulieren ein

Angebot für einen Politikwechsel. Wir wollen im Wahlkampf unsere Position, unsere politischen Alternativen zum Stillstand der CDU-geführten Landesregierung vermitteln und den Bürgerinnen und Bürgern eine realistische Perspektive für eine Politik im Freistaat ohne die Union aufzeigen. Ein Angebot muss man nicht annehmen, das gilt genauso für SPD und Grüne. Diese allerdings stellen ihren Wahlkampf – ebenso wie wir – unter das Credo eines Politikwechsels. Aus dem Umstand heraus, dass sie dies tun, sich aber gleichermaßen die Optionen offenhalten, mit uns wie der CDU zu regieren, erwächst ihnen ein Glaubwürdigkeitsproblem. Und dieses müssen wir entsprechend auch im Landtagswahlkampf thematisieren. Sie streben so im Zweifel nur einen kleinen Regierungswechsel, nicht jedoch einen wirklichen Politikwechsel an. DIE LINKE. Sachsen ist seit anderthalb Jahrzehnten die stärkste Oppositionspartei. Wir haben bewiesen, dass wir diese Rolle ausfüllen können, und wir werden sie wieder erfüllen, wenn die Wählerinnen und Wähler so entscheiden. Aber wir sind auch die einzige Kraft, die eine Koalition mit der CDU ausschließen kann.

Und damit sind wir die erste – um nicht zu sagen einzige – Wahl für den politischen Wechsel. So werden wir mit einem Mitmachwahlkampf für unsere Positionen werben, mit vielen kleinen Formaten vor Ort präsent sein und ebenso einen gleichberechtigten Onlinewahlkampf führen. Wir werden bundesweite Unterstützung erfahren, Parteiprominenz aus allen Teilen der Bundesrepublik wird uns im Wahlkampf zur Seite stehen. Dabei setzen wir auf eine selbstbewusste Tonalität: Unsere Botschaften sind positiv. Wir wollen vor allem gestalten statt zu verhindern. Wir wollen einladen zur Beteiligung. Und wir kämpfen für ein starkes Ergebnis für DIE LINKE. Sowohl bei den Zweitstimmen, als auch für die Direktkandidierenden. Die Umfeldbedingungen für Direktmandate sind dabei schwieriger geworden: Politisch bewusst wurde der Wahlkreiszuschnitt geändert, so dass wir uns gerade in den Wahlkreisen benachteiligt sehen müssen, die wir das letzte Mal mit unseren Kandidierenden gewinnen konnten. Gleichwohl werden wir Direktmandate nicht einfach abschreiben. Wer eine andere Politik in diesem Land will, wählt mit beiden Stimmen DIE LINKE. Jedes Direkt-

mandat, das wir gewinnen können, wird ein großer Erfolg sein. Das Selbstbewusstsein, mit dem wir in den Landtagswahlkampf ziehen, ist notwendig: Die Landtagswahl in diesem Jahr ist von bundespolitischer Bedeutung. Sie kann die Richtung bestimmen, in der es in den beiden anderen Landtagswahlen geht, die nur wenige Wochen nach unserer Landtagswahl anstehen. Wir werden alles dafür tun, um ein sehr gutes Ergebnis vorzulegen. Und das trotz Sommerwahlkampf, trotz Ferienzeit und trotz Demobilisierung durch die CDU. Klar ist dabei unsere inhaltliche Schwerpunktsetzung: Wer DIE LINKE wählt, entscheidet sich so für eine aktive Arbeitsmarktpolitik, für eine Wirtschaftsförderung jenseits der Leuchtturmpolitik, für eine moderne und bürgernahe Verwaltung, für eine progressive und mitnehmende Schulpolitik, für eine vielfältige Hochschullandschaft, für eine demokratische Erneuerung und für ein soziales und nachhaltiges Sachsen. Wir sind die politische Sozialversicherung im Landtag. Und die werden wir bleiben. Thomas Dudzak Die Wahlstrategie zur Landtagswahl ist auch online einzusehen unter http://gleft.de/Co

Das ist die letzte Ausgabe von „Sachsens Linke!“ vor der Landtagswahl am 31. August. Die Bewerbungen sind eingereicht, Programm und Wahlstrategie beschlossen, die Plakate sind im Druck. Sie werden genauso produziert wie die vielen kleinen anderen Dinge, die einen Wahlkampf ausmachen. Wir können jetzt noch einige Stellschrauben bewegen. Die große Linie aber steht. Während ich diese Zeilen schreibe, sind es noch zwei Monate bis zur Landtagswahl. Der Kommunal- und Europawahlkampf ist gerade erst vorbei, nur wenig Zeit bleibt zur Ruhe und zur Regeneration, bevor wir alle wieder in den nächsten Wahlkampf starten müssen. Einen, der die Weichen stellt für die nächsten fünf Jahre in diesem Land. Wir wollen Sachsen nicht kampflos der CDU überlassen. Wir wollen, dass in Sachsen eine Perspektive entsteht, die auch andere Mehrheiten, jenseits der Union, möglich macht. Wir wollen eine andere Politik für dieses Land. Und das werden wir in diesem Wahlkampf zeigen. Wir werden, wie kaum zuvor, vor Ort Präsenz zeigen: Allein acht verschiedene landesweite Touren werden wir gleichzeitig bestreiten, von den vielen Wahlkampfaktivitäten in den Stadt- und Kreisverbänden ganz zu schweigen. Wir werden vor Ort sein, um Anregungen und Probleme direkt aufnehmen zu können, aber auch, um Alternativen zu formulieren. Wir werden kämpfen. Für eine starke LINKE. Bis zum 31. August. Um jede Stimme. Wir sind die erste Wahl für Sachsen. Und ich danke Euch dafür, dass Ihr das ermöglicht.


Sachsens Linke! 07-08/2014

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Meinungen Zu „Ukrainische Linke - gibt‘s da was?“, SachsensLinke 06/2014, S. 7 Ja, Russland ist ein kapitalistisches Land, Putin ist wie viele andere Politiker(innen) ein(e) Machtpolitiker(in). Die Bekämpfung nichttraditioneller Lebensformen kritisiere ich, egal ob diese von Evangelikalen, deutschen Konservativen oder der Mehrheit der Bevölkerung Russlands erfolgt. Aber ich hatte gehofft, wenigstens in der LINKEN diese Geßlerhüte nicht grüßen zu müssen. Denn darum geht es nicht. Es geht vielmehr darum, dass EU und USA in Nachfolge des Dritten Reichs mittels eines Putsches unter Bruch der Vereinbarung vom 21.2. in der Ukraine eine ihnen genehme Regierung aus Faschisten und deren Verbündeten installiert haben, um ihren Einfluss zu vergrößern (z. B. Aussage von Victoria Nuland (USA)). Massaker an Linken und russischsprachigen Personen wie in Odessa am 2. Mai und jetzt in den Regionen Donezk und Lugansk werden gebilligt oder sogar massiv unterstützt (mit bewaffneten Kräften, Geheimdienstinformationen, politisch, ökonomisch usw.). Sogar Nelia Vakhovska

muss zugeben, dass Linke auf dem Maidan von Faschisten gewaltsam unterdrückt wurden. Russland und die gegen die ukrainischen Faschisten kämpfenden Personen argumentieren nicht nationalistisch, sondern antifaschistisch. Sie fordern immer wieder eine friedliche Lösung, was von den ukrainischen Nationalisten und ihren Hinterleuten mit noch mehr Gewalt beantwortet wird. Die Unabhängigkeitsbestrebungen sind im Gegensatz zur Putschistenregierung durch Volksabstimmungen demokratisch legitimiert. Dies alles verschweigt oder leugnet Nelia Vakhovska. Ich hatte gehofft, dass wenigstens die Rosa-Luxemburg-Stiftung für Frieden und soziale Gerechtigkeit eintritt und deshalb die ukrainische Bevölkerung vor der antidemokratischen, militaristischen und Ausplünderungspolitik der EU warnt, statt die Herrschaftsinteressen der EUMächtigen zu unterstützen. Uwe Schnabel, Coswig Zu „Ein bisschen Frieden“, SachsensLinke 06/2014, S. 6 Wer die Montagsfriedenskundgebungen z. B. in Dresden kritisiert, sollte sich vorher darüber

informieren. Dort geht es sehr um Frieden und Kapitalismuskritik. Die Behauptung, dass nicht zwischen links und rechts unterschieden werden sollte, wurde schon vor vielen Wochen kritisiert und seitdem nicht mehr verbreitet. Rechtsorientierte Auffassungen wurden am offenen Mikrofon immer wieder kritisiert und so mit der Zeit zurückgedrängt. Wenn Linke nicht gerade kriegsbefürwortend auftreten, wie die Antideutschen, erhalten sie auch großen Zuspruch, z. B. wenn die Erklärung von Karl Liebknecht zur Ablehnung der Kriegskredite vom Dezember 1914 vorgelesen und als immer noch aktuell bezeichnet wird. Henry Hor wiederholt nur die antideutsche Kritik, statt die Friedensbemühungen zu unterstützen und die Friedliebenden über gesellschaftliche Zusammenhänge aufzuklären. Rita Kring, Dresden Erklärung der Landesseniorenkonferenz Am 16. Juni fand in Chemnitz die LandesseniorInnenkonferenz DIE LINKE.Sachsen statt. Mit nur wenigen Gegenstimmen wurde eine Erklärung beschlossen, die Peter Deutrich, Delegierter aus dem Kreisverband DIE LINKE.Nordwestsachsen, eingereicht hat. Diese Erklärung sollen der Parteivorstand und die Bundestagsfraktion erhalten. Sie hat folgenden Wortlaut:

Friedenskampf statt Grabenkampf Die Teilnehmer der LandesseniorInnenkonferenz DIE LINKE.Sachsen müssen erneut zur Kenntnis nehmen, dass Verantwortungsträger der Partei unsere Integrität und Glaubwürdigkeit ernsthaft in Frage stellen. So warnte erst kürzlich der Vorsitzende der LINKE-Bundestagsfraktion, Gregor Gysi, vor neuen Grabenkämpfen in Zusammenhang mit einem ominösen Papier unter dem Titel „Katja, die Grobe“, welches in der Öffentlichkeit kursiert. In entsprechenden Erklärungen der Parteivorsitzenden wurde deutlich, dass diese Vorgänge dem Ansehen des Parteivorstandes und der gesamten Bundesgeschäftsstelle geschadet haben. Wir fordern die Parteiführung auf, entsprechende Maßnahmen festzulegen, damit eine vertrauensvolle Zusammenarbeit aller Beteiligten, zeitnah und dauerhaft, gewährleistet werden kann. Gemeinsam mit vielen Mitgliedern von Basis-Organisationen und Zusammenschlüssen innerhalb unserer Partei sind auch wir zutiefst enttäuscht über die Haltung und Äußerung der Partei- und Fraktionsspitze gegenüber unserer Genossin Sevim Dagdelen (MdB). Diese hat bekanntlich in der jüngsten Ukraine-Debatte im Bundestag mit einem Brecht-Zitat mutig gegen die bewusste Verharmlosung

des Rechten Sektors in der Ukraine durch Abgeordnete des Deutschen Bundestages interveniert. Sicherlich kann man zu der Äußerung von Sevim geteilter Meinung sein. Dass aber die führenden Verantwortungsträger sich in aller Öffentlichkeit von Sevim Dagdelen distanzieren, betrachten auch wir als einen großen Fehler, der nicht zu einer verheerenden Signalwirkung führen sollte. DIE LINKE darf nicht zur Entsolidarisierung mit Mitgliedern unserer Partei bereit sein, wo diese der uneingeschränkten Solidarität im Kampf für Frieden, Demokratie und sozialen Fortschritt bedürfen. Unser Parteiprogramm, unsere Wahlprogramme stellen immer wieder das hohe Gut der Solidarität in den Mittelpunkt unseres Wirkens. Gemeinsam wollen wir mit den Bürgerinnen und Bürgern für einen Politikwechsel und eine bessere Gesellschaft kämpfen. DIE LINKE gewinnt nichts durch ewige Grabenkämpfe, durch Selbstbeschäftigung oder Pflege des Egos einiger Verantwortungsträger. Jedoch kann DIE LINKE das Vertrauen der Bürger ganz schnell wieder verlieren. Die Delegierten der LandesseniorInnenkonferenz sehen es als ihr Recht und als ihre Pflicht an, auch künftig kritisch zu Verwerfungen in der Partei Stellung zu beziehen. Peter Deutrich, Torgau

Landesarbeitsgemeinschaft Hochschulpolitik gegründet Am späten Nachmittag des 16. Juni 2014 wurde die Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Hochschulpolitik der Partei DIE LINKE. Sachsen gegründet. Auf ihrer konstituierenden Sitzung wählten die 20 anwesenden Gründungsmitglieder die Landtagsabgeordnete Dr. Monika Runge und den Studierenden Mathias Fröck zu ihren SprecherInnen. Auch wurde ein Thesenpapier zu den Aufgaben der LAG verabschiedet, in dem sich die LAG unter anderem gegen die Unterfinanzierung der sächsischen Hochschulen, den aktuellen Stellenabbau und die Ökonomisierung der Wissenschaft wandten. Dagegen engagiere sich die LAG u.a. für eine Verständigung über einen emanzipatorischen Bildungsbegriff, eine „progressive Entstaatlichung“ der Universitäten und Hochschulen, den Erhalt

Impressum Sachsens Linke! Die Zeitung der Linken in Sachsen Herausgeberin: DIE LINKE. Sachsen Verleger: Verein Linke Kultur

der Volluniversitäten und kritische Bewertung des Bolognaprozesses. Der Gründung der LAG war ein Aufruf von Prof. Dr. Peter Porsch und Rico Gebhardt vorausgegangen. Darin betonten sie, dass es notwendig sei, angesichts der prekären Situation an den Hochschulen und den aktuellen Kürzungsorgien die vielen Kompetenzen der Partei DIE LINKE auf dem Feld der Hochschulpolitik zu bündeln. „Wir dürfen die akademischen Einrichtungen nicht Technokraten und ignoranten Sparfüchsen überlassen. Wir müssen die Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre gegen die Zwecksetzung durch Wirtschaft und Militär verteidigen“, erklärten sie. Die Partei DIE LINKE müsse dies mit eigenen Konzepten und Aktionen für die Entwicklung von Wissenschaft und Hochschulen unterstützen. Thomas Dudzak

Hochschulpolitische Großdemo am 25. Juni in Leipzig.

und Bildung in Sachsen e.V., Kleiststraße 10a, 01129 Dresden Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Die Redaktion behält sich das Recht auf sinnwahrende Kürzungen vor. Termine der Redakti-

onssitzungen bitte erfragen. Die Papierausgabe wird in der LR Medienverlag und Druckerei GmbH in Cottbus in einer Auf­ lage von 15.000 Exemplaren gedruckt. Der Redaktion gehören an: Ute Gelfert, Jayne-Ann Igel, Rico Schubert, Antje Feiks

(V.i.S.d.P.), Andreas Haupt, Ralf Richter, Stathis Soudias. Bildnachweise, wenn nicht gesondert vermerkt: Archiv, iStockphoto, pixelio. Kontakt: kontakt@dielinke-sachsen.de

Tel. 0351-8532725 Fax. 0351-8532720 Redaktionsschluss 27.06.2014 Die nächste Ausgabe erscheint am 01.09.2014.


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Rot-Rot-Grün im Dresdner Stadtrat? angedeutet. Aber unmittelbar nach der Wahl schlossen die Vorstände von SPD und Grünen ein Zusammengehen mit der CDU erst einmal aus und orientierten sehr deutlich auf eine Ratsmehrheit jenseits des klassischen bürgerlichen Lagers. LINKE, Grüne und SPD kommen

mit steht die Landeshauptstadt Dresden vor einem entscheidenden Richtungswechsel: Zum ersten Mal seit der politischen Wende droht der CDU der reale Machtverlust. Schon am Montag nach der Wahl haben Annekatrin Klepsch und ich als Doppelspitze der Dresdner LIN-

terzeichnen. Manche wundern sich über die Geschwindigkeit und Eindeutigkeit, mit der sich dies vollzieht. Immerhin hatte ja keine der beteiligten Parteien im Wahlkampf Aussagen gemacht, die auf ein Bündnis nach der Wahl schließen ließen. Im Gegenteil: Manchmal entstand

KEN unsere Partner Grüne, SPD und Piraten zu Gesprächen eingeladen. Inzwischen sind wir, sofern man auf kommunaler Ebene davon sprechen kann, in der Phase von Koalitionsgesprächen mit Arbeitsgruppen und dem Ziel, vor der Konstituierung des neuen Stadtrates eine gemeinsame Vereinbarung zu un-

der Eindruck, der jeweilige Lieblingsgegner käme gerade aus der Gruppe, die nun die Mehrheit bilden soll. Aber dahinter steckt kein großes Geheimnis. Schon seit langer Zeit trafen sich die Spitzen von SPD, Grünen und LINKEN zu gemeinsamen Gesprächen. Und uns war klar: Da es in der Stadt keine Wechsel-

stimmung gab, wäre diese nur mit sehr eindeutigen Erklärungen aller drei Parteien über eine enge Zusammenarbeit nach der Wahl zu erreichen gewesen. Aber keine der Parteien wäre wohl dazu bereit gewesen. Deshalb haben wir einen getrennten Wahlkampf bevorzugt, der die jeweiligen Stärken der einzelnen Parteien ins rechte Licht gerückt hat und der vor dem realen Erwartungshintergrund in der Stadt auch am glaubwürdigsten war. Die Debatten miteinander haben dabei wohl sogar einen Nutzen gehabt, füllten sie doch den Raum, den die CDU mit ihrem weitgehenden Rückzug von der öffentlichen Debatte und ihrer Beschränkung auf wenige inhaltsleere Symbole geöffnet hat. Für uns LINKE war aber schon lange klar: Wir sind bereit für die Opposition, aber wir sind auch bereit, für unsere Stadt mit ihren über 500.000 Einwohnerinnen und Einwohnern Verantwortung zu übernehmen. Wir haben uns auf beide Optionen vorbereitet und können deshalb nun ohne Zeitverzug arbeiten. Dabei wird diese dünne Ratsmehrheit keine leichte Zeit vor sich haben: Sie hat die CDU mit der immer noch größten Ratsfraktion neben sich, mit der Oberbürgermeisterin und den meisten Beigeordneten vor sich, mit ihrem in Verwaltung und Gesellschaft geschaffenen Filz unter sich und mit der Staatsregierung und der Landesdirektion über sich. So umstellt können wir der uns übertragenen Verantwortung nur durch besonders kluges, besonnenes Handeln gerecht werden. Tilo Kießling

ter Richtung Zentrum, stattdessen mussten sie sich mit einem kurzen Fußmarsch zum nächsten stadtauswärts gelegenen SBahnhaltepunkt in Trachau begnügen. Anders als vielerorts zu lesen, war dies zwar nicht ein Marsch durch unbewohntes Industriegebiet und quasi der Marsch der Nazis aus der Stadt – es handelte sich so aber um eine deutlich weniger attraktive Route. Die Symbolik also war eindeutig, und so titelte publikative.org auch zu Recht von der „Deutschen Zukunft auf dem Abstellgleis“. Im Fazit hat unsere Partei, und dies sollte bei allen Gemeinsamkeiten mit anderen politischen Kräften im antifaschistischen Widerstand auch zu betonen erlaubt sein, eine gute und wichtige Rolle bei den Gegenprotesten gespielt. Es gab im Vorfeld nicht nur personelle und finanzielle Unterstützung,

sondern auch am Tag selbst die Bereitschaft einiger unserer Landtagsabgeordneten, als Anmelder_innen zur Verfügung zu stehen, und die Bereitstellung von Infrastuktur wie Lautis und deren Crews. Nicht zuletzt reiste sogar aus dem Pfingstcamp der linksjugend [´solid] Sachsen, finanziert durch Stadt- und Landesverband der Jugend, eine Busbesatzung voll Antifaschist_innen direkt aus Doksy nach Dresden und am selben Tag zurück. In Dresden konnte so, soviel ist zumindest schon jetzt sicher, verhindert werden, dass sich neben den alljährlichen Aufmarschversuchen im Februar ein weiteres Großevent der Naziszene etablieren kann. Auch wenn es weiterhin wünschenswert wäre, dass sich aus der Stadt mehr Menschen an solchen Widerstandsaktionen beteiligen, ist zumindest dies als Erfolg zu sehen. Silvio Lang

Bild: X-Weinzar / Wikimedia commons / CC BY-SA 2.5

Die Kommunalwahl am 25. Mai hat für die Stadt Dresden ein Ergebnis gebracht, das so von kaum jemandem prognostiziert wurde. Zwar rechneten wir selbst durchaus mit einem Stimmengewinn, denn fünf Jahre kontinuierliche und weitgehend fehlerfreie Arbeit der Stadtratsfraktion sowie ein glänzend gewonnener Bürgerentscheid mussten sich auswirken. Wir gewannen somit fast 5 % der Stimmen und drei Sitze im Stadtrat dazu. Unerwartet dagegen waren zwei ganz andere Ergebnisse: Zum einen konnten die Grünen ihr sehr gutes Ergebnis der vorherigen Stadtratswahl halten, sogar noch einige Stimmen zulegen und blieben bei ihren elf Mandaten. Zum anderen verlor die CDU prozentual deutlich und hat nun mit 21 Sitzen drei weniger als bisher. Die anderen Gruppierungen (SPD wie bisher neun Sitze, die AfD mit fünf Sitzen, die FDP von neun auf drei Mandate abgesunken, die Wählervereinigung freie Bürger von vier auf zwei Mandate gesunken, Piraten erstmals mit zwei Mandaten vertreten und die NPD weiter mit zwei Mandaten im Rat) blieben im Rahmen des erwarteten Ergebnisses. Damit ergibt sich für den Dresdner Stadtrat eine spannende Konstellation. Nur ein Bündnis aus CDU und LINKEN hätte zu zweit eine Mehrheit im Rat, aus naheliegenden Gründen kommt das aber nicht in Frage. Ein Dreierbündnis aus CDU, Grünen und SPD wäre ebenfalls möglich, ein solches Bündnis hatte sich in der Diskussion um den Doppelhaushalt 2013/2014 auch

zusammen auf 35 Stimmen, gemeinsam mit den beiden Piraten wäre mit 37 Stimmen sogar eine „richtige“ Mehrheit zu erreichen. Aber auch 35 Stimmen sind in der Alltagsarbeit des Stadtrates ausreichend, weil sich ein Block von NPD bis Piraten als „Gegenpol“ wohl kaum geschlossen zeigen kann. Da-

Wider die deutsche Zukunft Am 07. Juni war Dresden zum wiederholten Male in diesem Jahr Zentrum des antifaschistischen Widerstandes in der Auseinandersetzung mit braunem Ungeist. Unter dem Label „Tag der deutschen Zukunft“ wollten, nach Anmeldung durch den vom Februar hinlänglich bekannten NPD- und Freie Kameradschaftsmann Maik Müller, Nazis marschieren. Die geplante „Marschroute“ sollte vom SBahnhaltepunkt Pieschen durch die von vielen jungen Familien bewohnten Stadtteile Pieschen und Mickten Richtung Goldener Reiter führen. Gerade die Abschlussszenerie wäre also besonders symbolträchtig gewesen, und so nutzten die Nazis schon bei der Mobilisierung im Netz den goldenen August hoch zu Ross als Motiv. Der Veranstalter selbst rechnete laut Anmeldung bei der städtischen Versammlungsbehörde mit ca. 800 Teilnehmer_innen.

Dass es am Ende anders kam, liegt an mehreren Faktoren. Zunächst gab es in den Tagen unmittelbar vor dem 07. Juni eine für die sächsische Medienlandschaft selten kritisch und gut recherchierte Berichterstattung über das, was die Dresdner_ innen dort erwarten durften. Selbst der Haus- und Hofsender der sächsischen Staatsregierung, der MDR, berichtete mit einem guten Beitrag im Sachsenspiegel. Es ist daher vorstellbar, dass einiges Potenzial der Naziszene sich auch deswegen kurzfristig gegen die Anreise entschieden hat, weil die Berichterstattung bereits heftigen Widerstand suggerierte. So standen dann am Pfingstsamstag selbst nur knapp 450 Nazis, überwiegend aus Norddeutschland angereist, grob geschätzt 2.000 Gegendemonstrant_innen und ebenso vielen Polizist_ innen gegenüber. Die Taktik der staatlichen Organe sah eine kla-

re Trennung von Nazis und Gegendemonstrant_innen und die Vermeidung jeglicher Konfrontationen vor. Im Bewusstsein dieser Ausgangslage erschien es aus der Sicht des „Forum gegen Rechts“, das die Gegenproteste initiiert hatte, folgerichtig, die beiden Hauptmarschrouten über die Leipziger Straße und die Großenhainer Straße zu blockieren. Der Versuch einer Vollblockade direkt am Auftaktort wäre angesichts der Polizeistärke und der mit 2.000 Menschen immer noch viel zu geringen Zahl an Gegendemonstrant_ innen nicht zielführend gewesen. Da die Blockaden frühzeitig etabliert wurden, war es möglich, einen Marsch der Nazis Richtung Innenstadt, womöglich vorbei an so symbolträchtigen Orten wie Asylsuchendeneinrichtungen oder unserem Haus der Begegnung, zu verhindern. Im Gegenteil, es ging für die Nazis keinen Meter wei-


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Kandidierendenvorstellung

Susanne Schaper Ich wurde 1978 in Karl-MarxStadt geboren, lebe und arbeite hier. Ich bin 36 Jahre alt, verheiratet und habe drei Kinder. Von Beruf bin ich examinierte Krankenschwester. Derzeit absolviere ich ein berufsbegleitendes Studium des Pflegemanagements. Ich bin ver.di-Mitglied sowie Mitglied in verschiedenen Vereinen, besonders aktiv in der Hilfsorganisation „DEVIEMED“ (Deutsch-vietnamesische Medizingesellschaft). Regelmäßig fliegen wir ehrenamtlich nach Vietnam, um dort Kinder mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten zu operieren. Parlamentarische Erfahrungen sammle ich seit 2009 als Mitglied der Fraktion

DIE LINKE im Chemnitzer Stadtrat. Zur diesjährigen Kommunalwahl konnten wir ein Mandat dazugewinnen. Zurzeit bin ich Fraktionsvorsitzende sowie gesundheitspolitische Sprecherin. Meine 20-jährigen politischen und beruflichen Erfahrungen, ausgeprägten Vernetzungen in Strukturen des Gesundheitswesens in Sachsen und die Zusammenarbeit mit Bürgerinnen und Bürgern möchte ich im Sächsischen Landtag verstärken und auf eine grundlegende Verbesserung der medizinischen Versorgung hinarbeiten. Ich kandidiere im Chemnitzer Landtagswahlkreis 11. Soziale Gerechtigkeit setzt eine vernünftige und am Menschen orientier-

ter bringt mich sehr viel in diesem Land auf die Palme. Sachsens Regierung stellt sich mit Eierschecke auf die Autobahn, um Pendlerinnen und Pendler zurück zu locken und setzt auf Wunsch-Hits im Autoradio. Ich will wohnortnahe Arbeitsplätze und anständige Löhne und ein Landesarbeitsmarktprogramm, das Langzeitarbeitslosigkeit und Fachkräftemangel abbaut. CDU und FDP prahlen mit guten Pisa-Ergebnissen. Ich will dafür sorgen, dass krasser Leistungsdruck zurückgefahren, längeres gemeinsames Lernen durchgesetzt und die Schulabbrecherquote gesenkt wird. Unter Schwarz-Gelb ist in Sachsen die Pflegestunde für das eigene

Auto viermal teurer als die für einen Menschen. Ich will, dass der Pflegenotstand verhindert, das Personal entlastet und eine Bürgerversicherung für alle eingeführt wird. Die Staatsregierung kürzte die Mittel für Kinder- und Jugendarbeit von 140.000 Euro (1995) auf 26.000 Euro (2012) und verzockte damit wertvolle soziale Infrastruktur. Ich will eine langfristige sichere Grundlage für Jugend-, Schulsozialarbeit und Familienhilfe. Und jetzt der Clou: Für all das steckt genügend Geld im Landeshaushalt! Allein eine Mrd. Euro stehen als allgemeine Rücklage zur sofortigen Verfügung bereit. Worauf also noch warten? Am 31. August DIE LINKE!

te Gesundheitspolitik voraus. Es bedarf neuer Regelungen zur Krankenhausfinanzierung, im Rettungsdienst sowie dringende Änderung im Pflegebereich, um nur einiges zu nennen. Auch möchte ich mich dafür einsetzen, dass Chemnitz als Oberzentrum der Region durch den Freistaat mehr Unterstützung und Anerkennung erhält. René Jalaß Direktkandidat im Wahlkreis 26 (Region Wurzen) Nach 25 Jahren CDU-Herrschaft – mal allein, mal mit Koalitionspartnern – ist immer noch nicht die Rede davon, dass in Sachsen alles in Butter wäre. Als Sozialarbei-

Nichts als Natur auf unseren Feldern! Nach Berlin heißt es nun auch in Dresden am 5. Juli: „Wir haben es satt“. DIE LINKE Sachsen unterstützt den Aufruf des Aktionsbündnisses „Meine Landwirtschaft Sachsen“ zur Umkehr in der Agrarpolitik. Eine andere Landwirtschaft meint viel – einen sorgsamen Umgang mit Lebensmitteln, eine artgerechte Nutztierhaltung, das Ende einer chemielastigen Landwirtschaft, Ernährungssouveränität, eine gerechte globale Agrarordnung und die klare Absage an die Grüne Gentechnik. Der Widerstand gegen diese vermeintliche agrarische Zukunftstechnologie ist lange aus seiner pubertären Phase: Vor 25 Jahren experimentierte man erstmals in Deutschland mit transgenen Petunien. Später waren es vor allem Nutzpflanzen wie Mais, Zuckerrüben und Kartoffeln, die mittels Genmanipulation gegen Schädlinge und Witterungseinflüsse immunisiert und mit besonderen Eigenschaften ausgestattet werden sollten. Das Ziel der handvoll Agrarchemiekonzerne

ist klar: Es geht um die weltweite Kontrolle der Nahrungsmittelerzeugung durch eine totale wirtschaftliche Abhängigkeit bei Saatgut, Pflanzenschutz- und Düngemitteln. Bereits heute teilen sich die drei großen Agrarchemieriesen Monsanto, Syngenta und DuPont über 50 % des Anteils am kommerziellen und patentierten gentechnisch veränderten Saatgut. Der Siegeszug der Gentech-Lobby wird allerdings immer wieder durch unerwartete Fehlentwicklungen gestoppt: Missernten, Schädlingsbefall, Resistenzen oder unkontrollierbare Ausbreitung verhinderten, dass sich die Grüne Gentechnik von Amerika aus in Europa etablieren konnte. Erst Anfang dieses Jahres brachte eine Raupenplage in einem Gentech-Mais in Brasilien Kleinbauern Ernte- und Einnahmeverluste von bis zu 30 %. Dumm nur, dass dieser besondere und deshalb auch teurere Mais Nr. 1507 der Firma Pioneer mittels eines eingebauten Insektengiftes eigentlich gerade solche Schäd-

linge abtöten sollte. Und Pioneer drängt mit diesem Mais auch auf europäische Felder. Hier – wie weltweit – wird der weitaus größte Teil der Agrarfläche gentechnikfrei bewirtschaftet. In Sachsen findet seit dem Verbot des Gentech-Maises der Firma Monsanto MON 810 im Jahr 2009 und in Gesamtdeutschland seit 2013 kein Anbau von Gentech-Pflanzen mehr statt. Die EU muss sich neu positionieren. Auch, weil jährlich über mehr Anträge auf Zulassungen für neue Gentech-Pflanzen entschieden werden muss und die in der Vergangenheit verhängten nationalen Anbauverbote rechtlich angreifbar erscheinen. Die Bundesregierung tat sich in der Vergangenheit schwer mit einer deutlichen Haltung gegen die Grüne Gentechnik – trotz nationalem Anbauverbot für den Mais MON 810. Einerseits fürchtete man um den Forschungsstandort Deutschland. Andererseits will man den Partner USA nicht verärgern: Mit dem mauschelt die EU-Kommissi-

on, gestützt durch die Bundesregierung, gerade über die Eckpunkte des streng geheimen Transatlantischen Freihandelsabkommens. Der Exportweltmeister Deutschland verspricht sich davon neue Märkte. Den Pferdefuß sucht man zu verstecken: Hauptsächlich geht es dabei um Gesetze, Vorschriften, Standards, Normen, Informationspflichten, Zulassungs- und Kontrollverfahren, die den ungehemmten Warenstrom bremsen und deshalb wechselseitig angeglichen werden sollen. ChlorHähnchen und Hormonfleisch können dann auf die Teller der europäischen Verbraucher gelangen – und gentechnisch veränderte Pflanzen in die Futtertröge der Tiere. Der Koalitionsvertrag von CDU und SPD im Bund anerkennt allerdings die mehrheitlich ablehnende Haltung der deutschen Bevölkerung gegen die unberechenbaren Folgen der Grünen Gentechnik. Zahlreiche Bundesländer wie Bayern, NordrheinWestfalen oder Thüringen ge-

hören bereits dem Netzwerk gentechnikfreier Regionen der EU an. Die Bundesregierung muss Farbe bekennen und mit ihr Sachsens Staatsregierung: Die wiegelte bis zuletzt Forderungen nach Landesaktivitäten mit dem Fingerzeig auf eine Bundesverantwortung für ein Verbot der Grünen Gentechnik ab. Keine Haltung ist auch eine Haltung! Nun weist auch noch eine neue Studie der Universität von Canterbury aus Neuseeland nach, „…dass die Kombination von herkömmlichem Saatgut und guter Feldpflege, wie sie in Westeuropa praktiziert wird, die Erträge schneller wachsen lässt als die in den USA praktizierte Gentechnik-Anbaumethode“. Damit wird wissenschaftlich bestätigt, was für die LINKE längst klar ist: Die Grüne Gentechnik beseitigt keinen Welthunger, sie ist eine Gelddruckmaschine für Agrochemiekonzerne mit fatalen Folgen für die globale Agrarordnung, für die Gesundheit der Menschen und die Umwelt. Kathrin Kagelmann


07-08/2014  Sachsens Linke!

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Chance vergeben – Ungerechtigkeit bleibt: Zukunftsfähige Rentenreform ist überfällig!

Ungerechtigkeitslücken bleiben Das „Rentenpaket“ erweist sich bestenfalls als Päckchen, weil die eigentlich brennenden rentenpolitischen Probleme nicht angegangen wurden. Daher hat sich unsere Bundestagsfraktion auch der Stimme enthalten. Wir haben im Landtag mehrfach auf die Defizite hingewiesen und alternative Vorschläge unterbreitet. Im Wesentlichen enthält es drei Teile, die so genannte Mütterrente, die Rente mit 63 und geringfügige Verbesserungen bei den Erwerbsminderungsrenten. Greifen wir lediglich als Beispiel die „Mütterrente“ heraus. So werden auf Erziehungszeiten für vor 1992 geborene Kinder nunmehr zwei Rentenpunkte pro Kind angerechnet. Die erste Gerechtigkeitslücke besteht darin, dass für nach 1992 Geborene drei Rentenpunkte berechnet werden. Die zweite Gerechtigkeitslücke bezieht sich auf die nach wie vor unterschiedlich behandelten Anspruchsberechtigten in Ost und West. Während ab 1. Juli ein Rentenpunkt in den neuen Bundesländern 26,39 Euro beträgt, sind es in Westdeutschland 28,61 Euro. Die dritte Gerechtigkeitslücke, die bislang auch in den Medien kaum thematisiert wurde, ist die Benachteiligung jener Frauen, die vor allem in der DDR relativ frühzeitig nach der Geburt des Kindes wieder berufstätig waren und demzufolge auch Rentenbeiträge gezahlt haben. Gerade Letzteres dürfte zu erheblichen bürokratischen Aufwand bei den Rentenversicherungsträgen, zu fehlerhaften Berechnungen und zu Widersprüchen gegen die neuen Rentenbescheide führen. Deshalb ist zu fordern: Drei Rentenpunkte für jedes Kind,

ganz gleich, wann es geboren wurde; einheitlicher Punktwert in Ost und West und Gewährung der vollen Rentenpunkte ohne Anrechnung. Finanzierung nach Gutsherrenart Die „Mütterrente“, so die Bundestagsentscheidung, soll zunächst aus den Rücklagen der gesetzlichen Rentenversicherung finanziert werden. Das halten nicht nur wir, sondern auch Sozialverbände und Gewerkschaften für systemwidrig. Denn bei der „Mütterrente“ handelt es sich um eine durchaus begrüßenswerte soziale Leistung, für die allerdings mittels Steuergeldern aufzukommen ist. Zudem haben wir in Deutschland keine klassische staatliche Rente. Sie basiert vielmehr auf dem Umlageprinzip, nach dem die Rente aus den eingehenden monatlichen Beiträgen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gezahlt wird. Zudem ist die gesetzliche Rentenversicherung eine selbst verwaltete Körperschaft, in die der Staat eigentlich nicht nach Gutsherrenart hineinregieren dürfte. Das geschieht allerdings

Bild: André Dollan / PIXELIO

Am 1. Juli treten neue Rentenregelungen in Kraft, um die es schon im Vorfeld heftige Auseinandersetzungen gab. DIE LINKE begrüßt selbstverständlich Rentensteigerungen oder auch die Schließung von Gerechtigkeitslücken. Gerade deshalb aber haben wir zu fragen, ob das vom Bundestag auf den Weg gebrachte so genannte Rentenpaket seinen Namen auch verdient, ob Ungerechtigkeiten wenigstens ansatzweise gelindert wurden, ob die Regelungen eine solide finanzielle Basis haben, ob die deutsche Renteneinheit in Sichtweite ist und ob man vor allem von zukunftsfähigen Schritten im Kampf gegen zunehmende Altersarmut sprechen kann.

seit langer Zeit, und artfremde Leistungen, so begrüßenswert sie auch immer sein mögen, werden bislang durch staatliche Zuschüsse an die Rentenversicherungsträger nur ungenügend kompensiert. Die bislang zugewiesenen jährlich 80 Milliarden Euro entsprechen nur etwa zu zwei Dritteln dem, was der Staat eigentlich den Rentenkassen schuldet. Diese Schere geht nun durch die Finanzierung der „Mütterrente“ noch weiter auseinander. Deshalb wäre es wesentlich Zukunft gestaltender, wenn die gegenwärtigen Überschüsse der Rentenversicherung in eine Demografiereserve fließen würden, die den zu erwartenden Beitragsanstieg zumindest erheblich bremsen könnte. Die Bundesregierung rechnet ja selbst damit, dass die Rücklagen der Rentenkassen 2017 aufgebracht sind und dann entweder eine kräftige Beitragssteigerung folgt oder doch der Staat mit Steuermitteln einspringen muss. Renteneinheit erneut verschoben Nach der Rentensteigerung per

1. Juli im Osten um 2,53 Prozent hat sich zwar der Abstand zum Wert des westdeutschen Rentenpunktes verringert; er beträgt aber immer noch fast neun Prozent. Es ist nicht zu akzeptieren, dass nach einem Vierteljahrhundert immer noch eine Rentenmauer Deutschland durchzieht. Nachdem die Bundeskanzlerin die deutsche Renteneinheit bereits in der vergangenen Legislaturperiode versprochen hatte, wird sie auch in der bis 2017 laufenden Legislaturperiode keinesfalls vollzogen werden. Dies wird von der hiesigen Staatsregierung und ihrem Ministerpräsidenten mit Beifall und Scheinargumenten assistiert. Ostdeutsche Rentnerinnen und Rentner, so diese Lesart, würden doch Einbußen hinnehmen müssen, weil doch dann die Hochwertung der Löhne wegfiele. Im Landtag haben wir daher der CDU immer wieder entgegengehalten, dass die Herstellung der deutschen Renteneinheit eine lange überfällige politische Entscheidung ist, wofür jährlich ca. fünf Milliarden Euro aus Steuergeldern bereitzustellen sind. Dabei muss es die Hochwertung ostdeutscher

Löhne so lange geben, wie der Lohnrückstand existiert. Ansonsten wäre das eine doppelte Bestrafung der Ostdeutschen: Zunächst erhielten sie für die gleiche Arbeit niedrigere Vergütung und dann später auch noch niedrigere Renten. Kein Konzept gegen Altersarmut Gerade die Rente mit 63 belegt: Weder die Bundesregierung noch die sächsische Landesregierung haben ein Konzept zur Bekämpfung zunehmender Altersarmut. Anstatt Schritte in Richtung einer armutsfesten Mindestrente zu gehen, wird eine Personengruppe herausgegriffen, die schon jetzt mit einer überdurchschnittlich hohen Rente rechnen kann. Außerdem werden gerade in Sachsen nur relativ wenige die abschlagsfreie Rente mit 63 in Anspruch nehmen können, weil kaum noch jemand die notwendigen 45 Beitragsjahre vorzuweisen hat. Sächsische Neurentnerinnen und Neurentner haben aktuell im Durchschnitt nicht einmal mehr 40 Beitragsjahre. Und auch hier werden Frauen besonders benachteiligt. Die Rente mit 63, die wir all denen, die sie in Anspruch nehmen können, selbstverständlich gönnen, ist letztlich nichts anderes als ein Ablenkungsmanöver. Denn die einst unter Federführung der SPD eingeführte Rente mit 67 bleibt unangetastet. DIE LINKE fordert daher zunächst eine Rückkehr zum gesetzlichen Renteneintrittsalter mit 65 Jahren. Der Vorschlag des DGB zu einer Flexi-Rente ab 60 wird von uns konstruktiv zu prüfen sein. Darüber hinaus muss es uns aber vor allem darum gehen, die stetige Absenkung des realen Rentenniveaus zu verhindern. Bleibt es dabei, dass das Rentenniveau bis 2030 auf 43 Prozent des letzten Nettolohnes sinken soll, dann ist die Entwicklung hin zu massenhafter Altersarmut vorprogrammiert. Deshalb treten wir dafür ein, dass das reale Rentenniveau wieder auf jene 53 Prozent zu Zeiten der Kohl-Regierung angehoben werden muss. Als Fazit der am 1. Juli in Kraft getretenen Rentenregelungen bleibt: Entscheidende Chancen für den Abbau des rentenpolitischen Reformstaus wurden vergeben, erhebliche Gerechtigkeitslücken bleiben. Eine zukunftsfähige Rentenreform, für die es seitens der Sozialverbände, der Gewerkschaften und der LINKEN tragfähige Konzepte gibt, ist dringender denn je. Dr. Dietmar Pellmann


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»It‘s All Over Now«: Bobby Womack ist tot

Er war Sänger, Komponist und Produzent . Nun ist die Soullegende im Alter von 70 Jahren gestorben folg der anderen mit seinem Song. Bis zum ersten Scheck: Von den Tantiemen konnte der

Cooke wurde, halbnackt, von einer Motelmanagerin erschossen und Bobby heirate-

zur Frau. Aus heutiger Sicht ist das höchstens verworren, damals war es höchst anrü-

te schnell dessen Witwe. Ja, schlimmer noch, später nahm Bruder Cecil auch noch Cookes blutjunge Tochter Linda

chig. Cecil und Linda machten als Womack & Womack Karriere mit seichtem Pop. Später ging er nach Südafrika, be-

Bild: Bill Ebbesen / Wikimedia commons / CC BY 3.0

Nicht einmal vier Monate nach seinem 70. Geburtstag ist die Soullegende Bobby Womack gestorben. Seine Agentin bestätigte am Freitag den Tod des Sängers, Komponisten und Produzenten. Details, etwa zur Todesursache, wollte sie vorerst nicht nennen. Womack litt seit Jahren an Alzheimer. Womack war einer der einflussreichsten Musiker des Souls, der auch andere Musikzweige prägte. Der Vater von Robert Dwayne Womack war Musiker und er führte seine fünf Söhne in Cleveland, Ohio, schon früh an die Musik heran. Schon als Teenager nahmen sie als Womack Brothers Platten auf, vermittelt von Sam Cooke („Twisting the Night Away“, „Wonderful World“). Der benannte die Brüder in The Valentinos um, einer ihrer ersten Songs war 1964 „It‘s All Over Now“, ein Song über eine unglückliche Liebe. Platz 94 in den Charts. Kein Hit, aber immerhin. Das änderte sich, als in London zwei junge Nachwuchsmusiker namens Keith Richards und Mick Jagger den Titel hörten. Sie kauften den Brüdern den Song ab – und landeten die erste Nummer-Eins-Single der Rolling Stones in Großbritannien und ihren Durchbruch in Europa. Heute gehört der Hit zu den Hymnen des Rock. Bobby Womack bringen nur Kenner damit in Verbindung. Er war wütend über den Er-

20-Jährige eine Weile leben. Bald war auch der Name Womack in den Schlagzeilen – wegen eines Skandals. Sam

nannte sich in Zekuuba Zekkariyas um. Im Februar vergangenen Jahres starb er, nur 65 Jahre alt. Nach Cookes Tod zerbrachen die Valentinos, aber Bobby machte weiter Musik - an allen Fronten. Als Sänger hatte er Hits wie „Lookin‘ For a Love“, „That‘s The Way I Feel About Cha“ und „Woman‘s Gotta Have It“. Als Musiker arbeitete er mit Legenden wie Janis Joplin und Aretha Franklin zusammen. Und als Komponist schrieb er Filmmusik, etwa 1972 für „Across 110th Street“. Als Quentin Tarantino 25 Jahre später den Song als Titelmelodie für „Jackie Brown“ nutzte, trat das noch einmal eine Soul-Welle los. Da war die große Zeit des Bobby Womack längst vorbei. Drogen und Krankheiten hatten aus dem Mann ein Wrack gemacht, das letzte Studioalbum war 1994 erschienen. Bis es vor zwei Jahren mit „The Bravest Man In The Universe“ zu einem erstaunlichen Comeback kam. Vor eineinhalb Jahren bekannte Womack, dass er immer öfter Texte und Namen vergesse. Alzheimer. Dennoch trat er bis zum Schluss auf, Konzerte waren noch für die nächsten Monate in Planung. Sein größter Hit, sein Vermächtnis bleibt: „It‘s All Over Now“, „Jetzt ist alles vorbei“. Chris Melzer / neues deutschland

Zusammenarbeit linker Fraktionen gewinnt neue Qualität Auf einer in Ùstí nad Labem durchgeführten zweitägigen Arbeitsberatung der Gemeinsamen Kommission linker Fraktionen aus polnischen, deutschen und tschechischen Regionalparlamenten, die seit zehn Jahren durch einen Kooperationsvertrag verbunden sind, wurden erstmals zwei konkrete Projekte unter das Monitoring der linken Parlamentarier gestellt. Erstens geht es dabei um ein computergestütztes zweisprachiges Projekt zur beschleunigten Analyse und Entscheidungsfindung bei Großschadensereignissen. Dieses Projekt war die Grundlage dafür, dass beim Elbehochwasser 2013 die Informationen aus Tschechien schneller, klarer und zielgenauer nach Sachsen weitergereicht werden konnten als bei der sogenannten Jahrhundertflut 2002. Aus Sachsen konnten bisher nur Daten aus dem Landkreis Sächsische

Schweiz/Osterzgebirge einbezogen werden. Hier sollten die sächsischen Behörden nach Auffassung der tschechischen Experten mehr Unterstützung gewähren. Dies ist auch deswegen sinnvoll, weil dieses Projekt nicht nur bei Hochwasser, sondern auch bei anderen Großschadensereignissen, wie z. B. Chemieunfällen, eingesetzt werden kann. Die linken Abgeordneten haben vereinbart, dass die Experten der Regionalverwaltung Ústí n. L. regelmäßig auf den Folgeberatungen der Gemeinsamen Kommission über den Fortgang dieses Projektes berichten werden. Zweitens wurde ein neuer Lösungsansatz bei der Industrieund Gewerbeansiedlung am Beispiel des Nupharo-Campus bei Ùstí n. L. an der Autobahn Dresden – Praha diskutiert. Bei diesem Projekt soll das Anknüpfen an industrielle Traditionen mit einer besonderen Unterstützung für Unterneh-

mensneugründungen (startups) sowie kultureller und sozialer Infrastruktur unter einem Dach verbunden werden. Der Tendenz der Gründung von Gewerbegebieten als „tote Investition“ soll mit diesem konkreten Beispiel entgegengetreten werden. Auch vom Fortgang dieses Projektes werden sich die linken Abgeordneten regelmäßig berichten lassen. Außerdem beschäftigten wir uns mit Fragen des grenzüberschreitenden Arbeitsmarktes, hier besonders mit dem „Pakt für Beschäftigung“ der Region Ùsti n. L. Diese Region mit einer rot-roten Regionalregierung und einem KSCM-Landeshauptmann war mit ihrer Arbeitsmarktpolitik beispielgebend für die anderen Regionen Tschechiens, wo nach dem Ústíer Muster jetzt ebenfalls regionale „Beschäftigungspakte“ geschlossen werden sollen. Konsens herrschte zwischen dem linken Regionalabgeordneten aus Polen,

Deutschland und Tschechien auch bei der Unter-stützung des Projektes EURES TriRegio, da die Erfahrungen mit diesem Projekt überall nur positiv waren. Dabei handelt es sich um eine grenzüberschreitende Partnerschaft der Arbeitsverwaltungen, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Ihr Ziel ist die Entwicklung eines ge-meinsamen Arbeitsmarktes unter Einhaltung der bestehenden Arbeits- und Sozialstandards des jeweiligen Landes. Interessant war es, zu erfahren, dass das statistische Armutsrisiko in der Region Ústí – trotz schwierigerer Rahmenbedingungen – geringer ist als in Sachsen. Nach Ansicht der tschechischen Experten ergebe sich dies vor allem aus dem bereits seit Jahrzehnten in Tschechien bestehenden gesetzlichen Mindestlohn. Zum Thema des grenzüberschreitenden Rettungsdienstes wurden wir darüber infor-

miert, dass die Experten der Regionalverwaltung Ústí einen Vertragsentwurf an das sächsische Innenministerium geschickt haben. Wir erwarten, dass der sächsische Innenminister den grenzüberschreitenden Rettungsdienst zur „Chefsache“ macht und der tschechische Vertragsentwurf entsprechend solide und zügig beantwortet wird. Bei der grenzüberschreitenden Arbeit der Polizei wurde die Tendenz zur weiteren vertraglichen Regelung deutschpolnischer und deutsch-tschechischer Polizeikooperation begrüßt. Neben der vertraglichen Regelung wird es aber besonders darauf ankommen, Polizeibeamte einzustellen, die über die notwendigen Kenntnisse der Sprache, der Rechtsordnung und der Polizeistruktur in den Nachbarstaaten verfügen. Besonderer Handlungsbedarf besteht hier bei der sächsischen Polizei. Heiko Kosel


Kommunal-Info 6-2014 1. Juli 2014 Online-Ausgabe unter www.kommunalforum-sachsen.de

KFS

Kommunalpolitisches Forum Sachsen e.V. begriff „rechtzeitig“ zu verstehen ist. Als Regel wird in den meisten Geschäftsordnungen die 10-Tagesfrist genannt. Allerdings kann bei umfangreichen Tagesordnungen diese Frist nicht ausreichend sein, sodass hier im Einzelfall eine längere Frist angebracht ist. Wichtig ist, dass auch die entscheidungserheblichen Unterlagen im Vorfeld dem Mandatsträger übergeben werden, damit dieser die Zeit hat, sich ausführlich damit zu befassen. Sollten zu bestimmten Verhandlungsgegenständen nur Tischvorlagen zu Beginn der Sitzung ausgeteilt werden, dann muss aber ausreichend Zeit zum Befassen mit der Vorlage, eventuell in Form einer Auszeit, gegeben werden. Tischvorlagen dürfen nur in Dringlichkeitsfällen und als Ausnahmen erfolgen, da hier dem Mandatsträger die Möglichkeit zu einer komplexen Befassung mit der Problematik im Vorfeld der Sitzung genommen wird und somit

Rechte und Pflichten im Mandat Bei den Kommunalwahlen am 25. Mai wurden in Sachsen die kommunalen Vertretungen neu gewählt. Nach der endgültigen Feststellung der Wahlergebnisse werden in den konstituierenden Sitzungen die Gewählten ihr Amt als Gemeinde-, Stadt-, Ortschafts- oder Kreisräte antreten. Für die Betreffenden wird es dann interessant, welche Rechte sie haben und welche Pflichten auf sie zukommen.1 Zunächst ist festzustellen, dass zwischen kommunalen Mandatsträgern und Abgeordneten im Landes-, dem Bundes- oder dem Europaparlament wesentliche Unterschiede bestehen.2

Ehrenamtlichkeit

 Gemeinde-, Stadt- und Kreisräte üben ihr Mandat stets ehrenamtlich aus, während Abgeordnete im Landtag, im Bundestag oder im Europaparlament als Berufspolitiker tätig sind.  Kommunale Mandatsträger erhalten keine Diäten. Sie üben ihre Tätigkeit unbesoldet aus und erhalten lediglich eine Aufwandsentschädigung, sodass sie ihr Einkommen im Unterschied zum Berufspolitiker anderweitig sichern müssen.  Kommunale Mandatsträger besitzen weder Immunität noch Indemnität wie ein Abgeordneter in einem Parlament. Indemnität bezeichnet die Freistellung von straf- und zivilrechtlicher Verfolgung auch über die Zeit der Mandatsausübung hinaus, während Immunität nur die Strafverfolgung für die Zeit des Mandates hemmt.  Ehrenamtlich tätige Mandatsträger haben in der Regel einen Informations- und Wissensnachteil gegenüber Berufspolitikern, denn sie müssen sich ihre Fachkenntnisse neben der hauptberuflichen Tätigkeit verschaffen und haben in den Gemeinden und Städten

meist weder einen bezahlten Mitarbeiter noch einen qualifizierten Mitarbeiterstab, wie dies die Fraktionen auf Landes-, Bundes- und Europaebene besitzen.

Die Rechte Freie Mandatsausübung

Kommunale Mandatsträger sind bei ihrer Tätigkeit frei in ihren Entscheidungen, nicht an Aufträge, Vorgaben oder Weisungen gebunden, sondern sind lediglich „Treuhänder“ der Bürgerschaft. Auch Zusagen und Zusicherungen, die gegenüber den Wählern gegeben wurden oder den Bewerbern abgerungen wurden, können diese Freiheit nicht beschränken. Das kommunale Mandat ist kein imperatives (auftragsgebundenes) Mandat. Die gewählten Mandatsträger sind nicht Beauftragte ihrer Wähler oder Wählervereinigungen; sie unterliegen deshalb auch keinem Fraktionszwang. In ihrer Entscheidung unterliegen sie ebenso auch keiner „Parteidisziplin“. Bei Verletzung der Fraktionsdisziplin sind allerdings Ordnungsmaßnahmen zulässig. Freies Mandat heißt nicht, dass Mandatsträger völlig beziehungslos zu den kommunalpolitischen Zielvorstellungen der sie aufstellenden Partei stehen. Im Normalfall werden sie sich bei ihren kommunalpolitischen Aktivitäten und Entscheidungen schon an den politischen Leitvorstellungen der Partei orientieren.

Ungehinderte Mandatsausübung

Zur Sicherung der Ausübung dieses freien Mandates verfügen kommunale Mandatsträger über Rechte, die sie vor Beeinträchtigungen ihres Mandates schützen sollen. So ist jede berufliche Benachteili-

gung wegen der Übernahme oder Ausübung eines Mandats unzulässig. Hier sind Benachteiligungen jeder Art gemeint, sowohl materielle als auch ideelle. Hierzu zählen Zurücksetzungen bei Beförderungen, Versetzungen auf geringer bezahlte Arbeitsplätze sowie eine Kündigung oder Entlassung wegen der Mandatsausübung. Dies bedeutet allerdings nicht, dass sich ein Mandatsträger auf einen absoluten Kündigungsschutz berufen könnte. Er ist aus sonstigen Gründen kündbar, die nicht im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Mandatsträger stehen. Kommunale Vertreter haben Anspruch auf Gewährung der für die Mandatsausübung erforderlichen freien Zeit. Zur Mandatsausübung zählen jene Tätigkeiten, die zum Kernbestandteil des Mandats gehören. Dies umfasst zumindest die Teilnahme an den Sitzungen der Kommunalvertretung und ihrer Ausschüsse und in engem Rahmen auch Tätigkeiten, die als Mitglied in ihrem Auftrag wahrzunehmen sind. Als strittig gilt, ob dazu auch Fraktionssitzungen oder Fortbildungsmaßnahmen gehören. Ein Anspruch auf Bezahlung durch den Arbeitgeber für diesen Zeitraum besteht nicht. Die dem Arbeitgeber durch das Fernbleiben entstehenden Nachteile werden ihm nicht ersetzt.

Rechtzeitige Ladung

Vor der Sitzung hat der Mandatsträger ein Recht auf eine rechtzeitige Einladung zur Sitzung und auf die Zusendung der Tagesordnung mit samt den Sitzungsunterlagen. Dadurch soll erreicht werden, dass der Mandatsträger eine ausreichende Zeit zur Vorbereitung auf die Sitzung hat. Streitig ist, was unter dem unbestimmten Rechts-

eine sachgerechte Entscheidungsfindung erschert wird. Nicht zugesandt werden Unterlagen, wenn das öffentliche Wohl oder berechtigte Interessen Einzelner entgegenstehen. Das trifft insbesondere zu, wenn in einer nichtöffentlichen Sitzung aus Gründen der Vertraulichkeit und Geheimhaltungspflicht eine Vorberatung stattfindet.

Das Rederecht

Da es zum Rederecht in der Sächsischen Gemeindeordnung keine Bestimmungen gibt, wird die Redeordnung stets in der Geschäftsordnung des Gemeindrats geregelt. Insbesondere in größeren Räten wird es im Regelfall notwendig sein, Redezeitbegrenzungen einzuführen, damit die ohnehin oft langen Sitzungszeiten nicht bis zur Unzeit durch eine unendlich lange Rednerliste ausgedehnt werden können. Als Faustregeln werden in Mustergeschäftsordnungen genannt:  die Redezeit beträgt im Regelfall höchstens 5 Minuten;  ein Mandatsträger darf zum selben Verhandlungsgegenstand höchstens zweimal reden. Wenn Mandatsträger an Sitzungen von Ausschüssen teilnehmen, in denen sie nicht Mitglied oder Stellvertreter sind, kann ihnen ein Rederecht im Einzelfall eingeräumt werden. Die Entscheidung darüber obliegt dem jeweiligen Ausschuss. Näheres kann in der Geschäftsordnung geregelt werden. In kleinen Gemeinderäten sowie in Ausschüssen und in Beiräten wird häufig ein weitgehend uneingeschränktes Rederecht praktiziert, ist hier sogar eine wichtige Grundlage für eine breite und abgewogene Meinungsfindung. Fortsetzung auf Seite 2


Kommunal-Info 6/2014 Anträge stellen

Sach- und Geschäftsordnungsanträge zu stellen, gehört ebenso wie das Rederecht zu den elementaren Rechten jedes Mandatsträgers. Anträge zur Sache sind Änderungsoder Ergänzungsanträge zu einem Verhandlungsgegenstand in der durch die Kommunalvertretung bestätigten Tagesordnung. Sie können gestellt werden, solange die Beratung über den betreffenden Verhandlungsgegenstand nicht abgeschlossen ist. Sachanträge können mündlich oder schriftlich vorgebracht werden. Sie müssen so abgefasst sein, dass über sie abgestimmt werden kann. Sachanträge, die von einem Mandatsträger gestellt werden möchten, sollten zunächst in der Fraktion vorgetragen werden. Von einzelnen Mandatsträgern können auch Dringlichkeitsanträge gestellt werden, Angelegenheiten beschleunigt zu beraten und zu entscheiden, die nicht auf der Tagesordnung stehen, deren Aufschiebung aber für die Gemeinde oder für Dritte zu erheblichen Nachteilen oder Schäden führen würde. Ein Dringlichkeitsantrag ist rechtzeitig vor der Sitzung mit einer kurzen Begründung beim Vorsitzenden einzureichen. Anträge zur Geschäftsordnung können jederzeit, mit Bezug auf einen bestimmten Gegenstand gestellt werden. Ein Geschäftsordnungsantrag unterbricht die Sachberatung. Außer dem Antragsteller und dem Vorsitzenden erhalten jede Fraktion und nicht fraktionsgebundene Mandatsträger die Gelegenheit, zum Antrag zu sprechen. Typische Geschäftsordnungsanträge sind insbesondere der Antrag,  ohne weitere Aussprache zur Tagesordnung überzugehen;  die Aussprache zu beenden;  die Rednerliste zu schließen;  den Gegenstand zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu beraten;  die Beschlussfassung zu vertagen;  den Verhandlungsgegenstand an einen Ausschuss zu verweisen. Ein Schlussantrag ist erst zulässig, wenn von jeder Fraktion ein Mitglied vor Stellung des Schlussantrages das Wort ergriffen hatte. Ein Mandatsträger, der selbst zur Sache gesprochen hat, kann keinen Schlussantrag stellen.

Anfragen stellen

Jeder Mandatsträger kann schriftliche Anfragen oder in einer Sitzung der Kommunalvertretung mündliche Anfragen zu einzelnen Angelegenheiten der jeweiligen Kommune an den Bürgermeister/Landrat und dessen Verwaltung stellen. Eine Anfrage hat sich auf eine einzelne, klar umrissene Angelegenheit zu beschränken. Anfragen sind in einer angemessenen Frist zu beantworten, die grundsätzlich 4 Wochen beträgt. Handelt es sich um Angelegenheiten, die geheim zu halten sind, muss keine Auskunft erteilt werden. Im Übrigen ist der Bürgermeister/Landrat jedoch zur Offenlegung verpflichtet. Das gilt auch für vertrauliche Informationen, wenn das zur sachgerechten Information erforderlich ist. Gegebenenfalls hat die Auskunft in nichtöffentlicher Sitzung zu erfolgen.

Notiz in der Niederschrift

Mandatsträger können verlangen, dass ihre Erklärung oder Abstimmung

Seite 2 in der Niederschrift festgehalten werden. Die Aufnahme einer Erklärung kann aber nur in der Sitzung und nicht noch nachträglich verlangt werden. Der Vorsitzende und jedes Mitglied können verlangen, dass in der Niederschrift vermerkt wird, wie sie abgestimmt haben (was gegebenenfalls für Haftungsfragen von Interesse sein kann). Weigert sich der Vorsitzende, eine Erklärung oder die Gegenstimme in der Niederschrift namentlich zu vermerken, so kann der betreffende Mandatsträger eine allgemeine Leistungsklage beim Verwaltungsgericht erheben.

Ehrenamtlich Tätige erhalten außerdem Ersatz für Sachschäden entsprechend der für die Beamten geltenden Bestimmung Sächsisches Beamtengesetz. Darüber hinaus haben sie bei einem Dienstunfall dieselben Rechte wie ein Ehrenbeamter.

Dieser hat hierbei nur einen engen, eingeschränkten Beurteilungsspielraum, sofern der Betreffende nachweisen kann, dass gewichtige Gründe (insbesondere unter den 5 o.g. genannten Punkten) vorliegen.

Die Pflichten

Recht auf Entschädigung

Übernahme des Mandats

Obwohl es für jeden Mandatsträger zur selbstverständlichsten Pflicht gehört, an den Sitzungen der Kommunalvertretung und der Ausschüsse teilzunehmen, in die er bestellt wurde, hat der Gesetzgeber die klare Aussage getroffen: „Die Gemeinderäte/Kreisräte sind verpflichtet, an den Sitzungen teilzunehmen.“ Nur aus wichtigen persönlichen oder beruflichen Gründen darf ein Mandatsträger im Ausnahmefall der Sitzung fernbleiben. Er ist verpflichtet, dies gegenüber dem Vorsitzenden rechtzeitig mitzuteilen. Rechtzeitig bedeutet hierbei bis spätestens zum Beginn der Sitzung, um das bei der Feststellung der Anwesenheit, die der Vorsitzende vornimmt, vermerken zu können. Ist ein Mandatsträger an einer Sitzung eines Ausschusses, dessen Mitglied er ist, verhindert, ist er verpflichtet, neben der Entschuldigung beim Ausschussvorsitzenden seinen persönlichen Stellvertreter zu informieren und diesem rechtzeitig die entsprechenden Sitzungsunterlagen zu übergeben.

Für das ehrenamtlich ausgeübte kommunale Mandat besteht ein grundsätzlicher Entschädigungsanspruch auf konkreten Ersatz der notwendigen Auslagen und des Verdienstausfalls. Um die Abrechnung zu erleichtern, ist es erlaubt, per Satzung Durchschnittssätze festzulegen, die an die Stelle einer individuellen Abrechnung treten. Wird eine pauschalierte Aufwandsentschädigung gewährt, kommen andere Ersatzansprüche nicht in Betracht. Eine Vermischung der grundsätzlichen Entschädigungsmöglichkeit nach not-

Diejenigen, die eine ehrenamtliche Tätigkeit übernommen haben, stehen in der Pflicht, die übertragenen Aufgaben gewissenhaft, unparteiisch, uneigennützig und verantwortungsbewusst zu erfüllen. Zur Übernahme des Mandats besteht eine Verpflichtung für die Dauer der Wahlperiode, wenn jemand dazu gewählt wurde oder als Ersatzkandidat nachrücken muss. Sobald ein Kandidat also seine Bereitschaftserklärung für eine Kandidatur zur Wahl abgegeben hat und auf dem Stimmzettel aufgenommen wurde, kann er von einer möglich folgenden Verpflichtung nicht mehr zurücktreten. Wenn er dann am Wahltag die erforderlichen Stimmen erhalten hat und kein Hinderungsgrund gegeben ist, hat er die Pflicht das Mandat

Teilnahme an den Sitzungen

Nach Gesetz und Gemeinwohl

wendigen Auslagen und Verdienstausfall mit einer Entschädigungspauschale ist unzulässig. Deshalb darf in einer Satzung zur pauschalierten Aufwandsentschädigung nicht explizit ein Anspruch auf Ersatz der notwendigen Auslagen und des Verdienstausfalles zugestanden werden. Regelt die Satzung, dass die Aufwandsentschädigung zu einem Teil als pauschaler Grundbetrag und zu einem anderen Teil als Sitzungsgeld gewährt wird, kann auch die Teilnahme an Fraktionssitzungen entschädigt werden, die notwendig sind, um Sitzungen der Kommunalvertretung vorzubereiten. Die den Mandatsträgern gewährten Aufwandsentschädigungen unterliegen grundsätzlich als Einnahmen aus „sonstiger selbständiger Arbeit“ der Einkommenssteuer. Dies gilt insbesondere für Entschädigungen, die für Verdienstausfall oder Zeitverlust gezahlt werden. Für ehrenamtliche kommunale Mandatsträger sind pauschale Entschädigungen und Sitzungsgelder steuerfrei, soweit sie insgesamt während der Dauer der Mitgliedschaft bestimmte Beträge nicht übersteigen3.

anzutreten. Eine Ablehnung der ehrenamtlichen Tätigkeit und damit auch eine Nichtannahme bzw. Niederlegung des Mandats kann nur erfolgen, wenn ein wichtiger Grund dafür vorliegt. Ein wichtiger Grund liegt nach § 18 der Gemeindeordnung insbesondere vor, wenn die Person  älter als 65 Jahre ist,  anhaltend krank ist,  zehn Jahre dem Kreistag, Gemeinderat oder Ortschaftsrat angehört oder ein anderes Ehrenamt bekleidet hat,  durch die Ausübung der ehrenamtlichen Tätigkeit in seiner Berufs- oder Erwerbstätigkeit oder in der Fürsorge für seine Familie erheblich behindert wird,  ein öffentliches Amt ausübt und die oberste Dienstbehörde feststellt, dass die ehrenamtliche Tätigkeit hiermit nicht vereinbar ist. Diese Aufzählung ist aber nicht abschließend. Ein wichtiger Grund könnte auch sein, wenn jemand zu mehreren ehrenamtlichen Tätigkeiten verpflichtet würde und eines dieser Ehrenämter hierunter leiden würde. Ob ein wichtiger Grund vorliegt, entscheidet der Gemeinderat/Kreistag.

Kommunale Mandatsträger üben ihr Mandat „nach dem Gesetz“ und ihrer „freien, dem Gemeinwohl verpflichteten Überzeugung“ aus. Sie sind also in ihrer Tätigkeit streng an die geltenden Gesetze gebunden. Wie von der Verwaltung muss auch von ihnen gesetzeskonformes Handeln verlangt werden. „Gemeinwohl“ ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der auslegbar ist und im Streitfall der gerichtlichen Prüfung unterliegt. Allgemein wird darunter das Gesamt- oder Gemeininteresse einer Gesellschaft oder Gemeinschaft verstanden in Entgegensetzung zu Individual- oder Gruppeninteressen. In pluralistischen Gesellschaften hängt die konkrete inhaltliche Bestimmung des Gemeinwohls jedoch immer von den Interessen und Zielen derjenigen ab, die sich gerade auf das Gemeinwohl berufen, es bestimmen wollen oder denen es von Nutzen ist. Deshalb ist es auch legitim, wenn Mandatsträger in ihrem Wirken bestimmte politische Zielsetzungen verfolgen können, ohne dabei im Fortsetzung Seite 3 oben

Impressum Kommunalpolitisches Forum Sachsen e.V. Großenhainer Straße 99 01127 Dresden Tel.: 0351-4827944 oder 4827945 Fax: 0351-7952453 info@kommunalforum-sachsen.de www.kommunalforum-sachsen.de V.i.S.d.P.: A. Grunke Die Kommunal-Info dient der kommunalpolitischen Bildung und Information und wird aus finanziellen Zuwendungen des Sächsischen Staatsministeriums des Innern gefördert.


Juni 2014

Fraktion DIE LINKE im Sächsischen Landtag

PARLAMENTSREPORT Friede den Datschen – auch nach 2015!

Liebe Leserinnen und Leser, seit dem Einzug der NPD sind die Sicherheitskontrollen im Landtag verstärkt worden. Am 13. Februar wird das Gebäude regelmäßig für Besucher gesperrt. Umso mehr wundert es mich, dass etwa 40 Neonazis am 17. Juni nach Absprache mit der Landtagsverwaltung ohne Kontrollen Zutritt bekamen, nachdem sie vor dem Haus der Presse demonstriert hatten. Der NPD-Versammlungsleiter hatte zum gemeinsamen Rückmarsch zum Landtag aufgerufen, vor dem sich die Nazis sammelten. Gegendemonstranten wurden auf Abstand gehalten. Aus Sicht des Polizeieinsatzleiters war eine akute Gefährdungslage möglich, deswegen bat er um „Asyl“ für die Nazis. Die demokratische Opposition hat Aufklärung verlangt. Eine beantragte Sondersitzung des Präsidiums wollte der Landtagspräsident allerdings auf das Ende des ersten Beratungstages und damit in die Nacht verschieben. Wir konnten es nicht hinnehmen, einfach zur Tagesordnung überzugehen und über die Fachregierungserklärung des scheidenden FDP-Wirtschaftsministers zu debattieren. Immerhin hatte man Nazis Unterschlupf im Parlamentsgebäude gewährt. Aus Protest verließen LINKE, SPD und Grüne den Saal und kehrten erst zum nächsten Tagesordnungspunkt zurück. Inzwischen hat der Innenausschuss auf unsere Initiative hin festgestellt, dass die Lage es nicht erfordert hätte, die Nazis in den Landtag zu lassen. Hier hatte sich der Polizeieinsatzleiter geirrt, das gestehen wir ihm zu. Was wir aber nicht akzeptieren können, ist der Umgang des Präsidenten mit dem Vorfall. Bis heute gibt es kein Wort der Entschuldigung, dafür werden andere beschuldigt. So etwas darf sich nicht wiederholen!

Rico Gebhardt Fraktionsvorsitzender

Wer zu DDR-Zeiten ein bebautes Erholungsgrundstück – eine „Datsche“ – sein Eigen nennen konnte, weiß um die Vorzüge eines grünen Refugiums, in dem es sich vom Alltagsstress abschalten lässt. Viele kommen bis heute in diesen Genuss. Die Nutzung dieser Erholungsgrundstücke basiert auf Vertragsverhältnissen zwischen Grundstückseigentümern und Nutzern, die durch das Zivilgesetzbuch der DDR geprägt sind. Im DDR-Recht war es der Normalfall, dass das Eigentum an Grund und Boden und das Eigentum an darauf errichteten Bauwerken auseinanderfielen – im Gegensatz zur heutigen Rechtsordnung. So geschlossene Nutzungsverträge waren auf Dauer angelegt und faktisch unkündbar; sie konnten gegen den Willen des Nutzers nur durch gerichtliche Entscheidung aufgehoben werden. Viele haben im Vertrauen auf den Fortbestand ihrer Nutzungsrechte teils erheblich in Bauwerke wie Wochenendhäuser und in die Gestaltung der Grundstücke investiert. Im Einigungsvertrag wurden die Rechtsverhältnisse an Erholungsgrundstücken auch weiter geschützt. Das 1994 angenommene Schuldrechtsanpassungsgesetz, das die Rechtsgrundlagen über die Nutzung von Erholungsgrundstücken und Garagen aus der DDR-Zeit in das System des Miet- und Pachtrechts des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) überleitet, weicht diesen Rechtsschutz allerdings auf. Der besondere Kündigungsschutz für die bestehenden Nutzungsverträge endet demnach am 3. Oktober 2015. Dann kann das Nutzungsverhältnis uneingeschränkt nach den allgemeinen Bestimmungen des BGB gekündigt werden. Geschieht dies, haben

die Nutzer das Grundstück und von ihnen errichtete Bauwerke herauszugeben. Ihr Eigentum an den von ihnen errichteten Gebäuden geht auf den jeweiligen Grundstückseigentümer über, der die Nutzer grundsätzlich zu entschädigen hat. Sofern das Vertragsverhältnis jedoch nach dem 3. Oktober 2022 endet und sich der Grundstückseigentümer für den Abbruch des Bauwerkes entscheidet, kann der Nutzer keine Entschädigung mehr verlangen und hat zudem die Hälfte der Abbruchkosten zu tragen. Endet der Vertrag erst nach dem 31. Dezember 2022, muss der Nutzer nicht nur auf eine Entschädigung verzichten, sondern sein Bauwerk auch noch komplett auf eigene Rechnung abreißen lassen. Die Fraktion DIE LINKE machte diese Probleme mit dem Antrag „Wirksamer Schutz für Nutzer von Erholungsgrundstücken nach dem Schuldrechtsanpassungsgesetz – Moratorium zur Verlängerung des Kündigungsschutzes für Datschen jetzt!“ (Drucksache 5/14579) zum Thema. Klaus Bartl, rechtspolitischer Sprecher, wies darauf hin, dass ohne Veränderung der Rechtslage eine erneute entschädigungslose Enteignung von nach DDR-Recht erworbenen Eigentümerrechten droht. Er hob hervor, dass den bebauten Erholungsgrundstücken auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch ein hoher sozialer, insbesondere ideeller Stellenwert zukommt. Um die Grundstücksnutzer und ihre Datschen zu schützen, soll die Staatsregierung deshalb im Bund auf eine Änderung des Schuldrechtsanpassungsgesetzes hinwirken. Der am 3. Oktober 2015 auslaufende besondere Kündigungsschutz soll deutlich verlängert und zudem

verhindert werden, dass sich Nutzer nach dem Ende des Vertragsverhältnisses an Abrisskosten beteiligen müssen. Stattdessen sollen sie eine angemessene Zeitwertentschädigung für Bauwerke, Grundstückseinrichtungen und Anpflanzungen erhalten. Für die bisher von ihnen genutzten Grundstücke soll ihnen ein gesetzliches Ankaufsrecht eingeräumt werden. Die rot-rote Regierung des Landes Brandenburg hat im Mai einen Entwurf eines „Gesetzes zur Änderung des Schuldrechtsanpassungsgesetzes“ in den Bundesrat eingebracht. Damit soll der Kündigungsschutz für Grundstücke, die vom Nutzer vor dem 16. Juni 1994 mit einer Datsche bebaut worden sind, bis 2018 verlängert werden. Nachdem Sachsen zunächst im Rechtsausschuss ablehnte, hat die Länderkammer den Gesetzentwurf inzwischen angenommen – überraschenderweise mit Zustimmung des Freistaates. Über die Hintergründe dieses Sinneswandels kann nur spekuliert werden. Vielleicht hat der Antrag der LINKEN, der zwischen der Ausschusssitzung und der abschließenden Beratung im Bundesrat in den Landtag eingebracht worden war, ein wenig nachgeholfen. Umso wichtiger sei es nun, so Klaus Bartl, „dass sich Sachsen mit allem Nachdruck für eine zeitnahe und zügige Verabschiedung dieser Änderung des Schuldrechtsanpassungsgesetzes einsetzt“. Eine Zustimmung zum Antrag der LINKEN könne ein klares Signal an die Betroffenen und deren Angehörige sein. Bei der Koalition stieß das Vorhaben allerdings auf Ablehnung. Damit müssen die Datschenbesitzer wohl weiter um die Zukunft ihrer Rückzugsorte bangen.


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PARLAMENTSREPORT

Juni 2014

Porzellanmanufaktur oder Luxuskonzern? LINKE sorgt für Antworten Porzellan aus Meißen dürfte andere sächsische Produkte in ihrer Bekanntheit seit vielen Jahren weit überflügeln. Nicht nur wer das „gute Meißner“ selbst im Schrank oder auf dem Tisch stehen hat, kennt das traditionsreiche Unternehmen aus Sachsen. Heute gehört die Manufaktur zu 100 Prozent dem Freistaat. Mit dem neuen Geschäftsführer Christian Kurtzke begann 2008 ein radikaler Umbau des Unternehmens. Seitdem soll es sich zu einer weltweit agierenden „Luxus- und Lifestylegruppe“ entwickeln. Erfolgreiches Wirtschaften gelingt indes immer weniger. Der jüngste bekannte Geschäftsbericht – aus dem Jahr 2012 – weist einen Verlust von 1,2 Millionen Euro aus, der Strategiewechsel verlangt jährliche Zuschüsse des Staates – 14,8 Millionen Euro seit 2012. Das liegt vor allem daran, dass neue Produktsparten offenbar kaum Gewinn abwerfen. Nun geht die Angst um, dass sich die Manufaktur für den Freistaat zu einem Fass ohne Boden entwickeln könnte. Das Desaster um die Landesbank, das die sächsischen Steuerzahler inzwischen mehr als eine Milliarde Euro gekostet hat, steht den politisch Verantwortlichen noch deutlich vor Augen. Über den Erfolg des neuen Geschäftsmodells hatten Manufaktur und Staatsregierung lange geschwiegen. Mit einem Antrag (Drucksache 5/11852) forderte die Fraktion DIE LINKE nun Antworten

ein. Die Staatsregierung solle dem Landtag ausführlich über die Neuausrichtung der Manufaktur berichten. Dabei sollte insbesondere die Entwicklung neuer Produktlinien und Markenwelten dargestellt werden. Der Sächsische Rechnungshof solle zudem aufgefordert werden, ein Gutachten über die Haushalts- und Wirtschaftsführung vorzulegen. Der Finanzexperte der LINKEN, Sebastian Scheel, verwies auf die Bedeutung des Unternehmens: „Es gibt nicht viele Symbole von der Tragweite, der Größe und der Dimension der Manufaktur Meißen mit den zwei gekreuzten Schwertern, die weltweit einen so hohen Bekanntheitsgrad haben und Imageträger für den Freistaat Sachsen sind“. Die Idee, das Kerngeschäft durch neue, kostspielige Luxus-Sparten abzuwerten, sehe er kritisch. Dem Steuerzahler und

dem Freistaat entstehe dadurch ein Risiko, das nicht durch einen Nutzwert gerechtfertigt werde. Zwar sei eine Neuausrichtung der Manufaktur nötig, neue Märkte müssten erobert und die Vertriebsstruktur erneuert werden. „Aber der Ausbau des Geschäfts in einer solchen Breite mit dem damit einhergehenden Risiko ist nicht vertretbar.“ Inzwischen haben Finanzminister Georg Unland und der Vorsitzende des Aufsichtsrates, Ex-Ministerpräsident Kurt Biedenkopf, die Öffentlichkeit informiert. Seitdem ist klar: DIE LINKE lag mit ihren Kritikpunkten richtig. Die lange angemahnte neue Kommunikationskultur müsse kommen, bekannten Unland und Biedenkopf. Auch die Auffassung, dass das neue Geschäftsmodell mit erheblichen Risiken behaftet ist, wurde indirekt bestätigt: Die Wirt-

schaftsprüfungsgesellschaft KPMG wurde wohl nicht umsonst beauftragt, es zu analysieren. Außerdem wird dem jetzigen Geschäftsführer fachkompetentes Personal zur Seite gestellt, um die Produktion und den kaufmännischen Bereich abzusichern. Porzellan soll Hauptprodukt und Hauptertragsbringer bleiben. Obwohl der Antrag der LINKEN im Plenum abgelehnt wurde, dürfte er wesentlich zum öffentlichen Druck beigetragen haben. Infolgedessen konnten sich Aufsichtsrat und die Staatsregierung nicht länger in Schweigen hüllen und mussten umsteuern. Das ist gut, denn wenn die lange Geschichte der Manufaktur eines Tages mit der Vernichtung von Steuergeld in Millionenhöhe endete, wäre es wohl nicht nur um den guten Ruf ihrer Erzeugnisse geschehen.

Kampf gegen Lehrermangel? Setzen, 6!

Wer die landespolitischen Seiten seiner Tageszeitung aufschlägt, dem fallen oft eindeutige Schlagworte ins Auge: Ärztemangel, Fachkräftemangel, Studienplatzmangel, Lehrermangel. Mangel allerorten in Sachsen, möchte man meinen. Sie zeigen, was am finanzpolitischen Kurs von „Minister Njet“ Georg Unland zu kritisieren ist: Obwohl die Steuermehreinnahmen sprudeln und die Geldspeicher bald überlaufen, wird weiter Geld gehortet. Wo dringend Mittel gebraucht werden, winkt der Finanzminister ab, etwa bei neuen Lehrerstellen. Entsprechend holprig – besser: chaotisch – starten Sachsens Schulen ins

neue Schuljahr. Die Personaldecke ist viel zu dünn, Klassen müssen bis auf den letzten Platz „vollgestopft“ werden, Eltern wurden zu spät darüber benachrichtigt, wo ihr Kind in wenigen Wochen lernen darf. Für die Fraktion DIE LINKE waren diese Schwierigkeiten Grund genug, mit einer Aktuellen Debatte zum Thema „Staatsregierung akut versetzungsgefährdet – Chaos zum Schuljahresbeginn rechtzeitig abwenden!“ zu zeigen, wie es besser ginge. Cornelia Falken, bildungspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, räumte mit der Mär auf, das neue Schuljahr sei solide

vorbereitet. Es würden nur Löcher gestopft, der Hickhack um Stellenzahlen verwirre die Öffentlichkeit. Rico Gebhardt, Fraktionschef der LINKEN, zitierte aus dem Bildungsbericht des Freistaates: „Bildung ist eine Grundvoraussetzung für die wirtschaftliche, gesellschaftliche und individuelle Entwicklung sowie für die Zukunftsfähigkeit einer zunehmend wissensbasierten Volkswirtschaft“. Das sei richtig – und deshalb sei er es leid, „jedes Jahr am Schuljahresbeginn beim Ministerpräsidenten, der Kultusministerin und dem Finanzminister zu betteln, dass sie bitte Stellen für Lehrerinnen und Lehrer zur Verfügung stellen“. Die vollmundige Ankündigung des Ministerpräsidenten, künftig pro Jahr mindestens 1.000 neue Lehrer einstellen zu wollen, entpuppe sich bei näherem Hinsehen als Seifenblase, so Falken. „Die Kultusministerin spricht von lediglich 775 Neueinstellungen zu Beginn des Schuljahres, davon 360 auf ein Jahr befristet. Die Lehrkräfte, die aus dem Schuldienst ausscheiden, ersetzt das nicht“. Zwar würden zum Schuljahresbeginn 185 neue Lehrerinnen und Lehrer einge-

stellt. Allerdings müsse Kultusministerin Kurth diese Stellen aus dem Haushalt ihres Ministeriums finanzieren, das keine zusätzlichen Mittel vom Finanzministerium erhalte. „Die größte Unverfrorenheit ist aber, dass Sie weniger junge Leute unbefristet einstellen, als jetzt ausscheiden. Das heißt doch ganz klar, dass Sie im nächsten Parlament, falls Sie da noch regieren, einen Stellenabbau im Lehrerbereich vorbereiten!“ Nötig sei „eine ruhige, solide, langfristige Vorbereitung eines Schuljahres“, fordert Cornelia Falken. Seit März lägen die Bewerbungen der neuen jungen Lehrer auf dem Tisch. Sachsen brauche ein Personalentwicklungskonzept, das den Unterricht auf lange Sicht garantiere. Das Kultusressort müsse deutlich mehr Geld für neue Lehrerstellen erhalten. Schließlich würden die Altersabgänge bald rasant zunehmen – bei steigenden Schülerzahlen. Durch eine Umschichtung der vorhandenen Mittel könne erreicht werden, dass das sächsische Bildungssystem seine Aufgaben auf Dauer gut erfüllen kann. Dann könnte wenigstens eines der Negativ-Schlagworte aus den Gazetten verschwinden.


Juni 2014

PARLAMENTSREPORT

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Große Anfrage zeigt: Ärztemangel bleibt Die medizinische Versorgung in Sachsen ist seit mehr als zehn Jahren ein Dauerthema. Während die Bevölkerung und die Ärzte im Durchschnitt immer älter werden, steigt die Zahl der Arztbesuche, Wartezeiten werden länger. Die Krankenkassen und die Staatsregierung bestreiten indes hartnäckig, dass eine Unterversorgung mit Ärzten besteht. Um Aktivität zu demonstrieren, werden nun regionale Bedarfspläne erarbeitet. Den Stand der Umsetzung sollte die Große Anfrage der Fraktion DIE LINKE zur „Medizinischen Sicherstellung und Praxis der medizinischen Versorgung im Freistaat Sachsen“ (Drucksache 5/13375) zeigen. In der Debatte verwies Kerstin Lauterbach, gesundheitspolitische Sprecherin, auf Hauptursachen des Ärztemangels: „die zunehmende Überalterung der Ärzteschaft, der demografische Wandel sowie der nicht ausreichende ärztliche Nachwuchs“. Neue Berechnungsgrundlagen reichten nicht aus. Die neue Bedarfsplanung kenne nur sehr wenige Problemregionen, allein die zeigten aber Handlungsbedarf: So fehlen Nervenärzte in Stollberg, Weißwasser, Rochlitz und Großenhain; Augenärzte werden in Döbeln, Weißwasser, Reichenbach und Niesky gebraucht. Zudem fehlen sachsenweit 222 Hausärzte. Auch weitere zehn Augenärzte, 43 Psychotherapeuten und zwölf Kinder- und Jugendpsychiater sind

notwendig. Dem stehen 312,5 freie Arztsitze und 40,5 freie Sitze für Psychotherapeuten gegenüber. Zwar hätten die Kassenärztlichen Vereinigungen Maßnahmen ergriffen, um die ambulante Versorgung abzusichern, so Lauterbach. So würden ausländische Ärzte angeworben, Hausärzte studierten in Ungarn, Medizinstudierende, die in den ländlichen Raum gehen, würden finanziell unterstützt. Aber: „Es greift alles nicht so richtig und es reicht nicht“. Konsequenzen forderte die LINKE mit einem Entschließungsantrag. Der Landtag solle zur Kenntnis nehmen, dass im ambulanten und im stationären Bereich in Sachsen seit Jahren Ärztemangel besteht. Die Staatsregierung

solle gemeinsam mit der Kassenärztlichen Vereinigung umgehend ein Gesamtkonzept entwickeln, das eine integrierte medizinische Versorgung mit hoher Qualität sichert. Im Entwurf des Haushaltsplanes 2015/2016 solle sie Fördermittel einstellen, die vor allem Hausärzte erhalten, die sich in unterversorgten Regionen niederlassen wollen. Auch Krankenhausinvestitionen, Kapazitäten der Universitätsklinika und Studienplätze an den medizinischen Fakultäten müssten aufgestockt werden. Letzteres hatte auch der 117. Deutsche Ärztetag gefordert. Die Koalition wollte von all dem nichts wissen. Die medizinische Unterversorgung bleibt also weiter auf der Tagesordnung.

Am 18. und 19. Juni 2014 fanden die 98. und 99. Sitzung des 5. Sächsischen Landtags statt. Die Fraktion DIE LINKE war mit folgenden parlamentarischen Initiativen vertreten: Aktuelle Debatte: – „Staatsregierung akut versetzungsgefährdet – Chaos zum Schuljahresbeginn rechtzeitig abwenden“ Große Anfrage: – „Medizinischer Sicherstellungsauftrag und Praxis der medizinischen Versorgung im Freistaat Sachsen“ (Drs 5/13375) sowie Entschließungsantrag (Drs 5/14665) Anträge: – „DOPPIK-Einführung in Sachsen – zwischen Anspruch und Wirklichkeit“ (5/12920) – „Wirksamer Schutz für Nutzer von Erholungsgrundstücken nach dem Schuldrechtsanpassungsgesetz – Moratorium zur Verlängerung des Kündigungsschutzes für Datschen jetzt!“. (5/14579)

Warum einfach, wenn es „doppisch“ geht? Wer ein Haushaltsbuch führt, stellt seine Einnahmen den Ausgaben gegenüber. Diese „kamerale“ Buchführung kennen viele von uns aus dem Alltag. Reichlich 20 Jahre lang rechneten auch Sachsens Kommunen nach diesem Prinzip. Damit ist nun Schluss: Künftig wird die Doppische Buchführung in Konten (Doppik) eingeführt. Damit wird, um im Bild zu bleiben, aus dem schlichten Haushaltsbuch das Rechnungswesen eines Unternehmens: Es geht nun auch um Abschreibungen sowie eine Gewinn- und Verlustrechnung. Dass die Doppik kommt, wurde 2007 festgelegt, für die Umsetzung waren fünf Jahre vorgesehen. Zwischenzeitlich wurde der Erfüllungstermin auf 2016 verschoben. Die Umstellung des kommunalen Rechnungswesens von der Kameralistik auf die Doppik soll es den Kommunen ermöglichen, ihre Vermögens-, Ertrags- und Finanzlage realistisch darzustellen. Per Antrag (Drucksache 5/12920) wollte die Fraktion DIE LINKE erreichen, dass die Staatsregierung über den Umsetzungsstand berichtet. Ziel der Doppik, so der Finanzexperte der LINKEN, Sebastian Scheel, sei eine Abbildung des Ressourcenverbrauchs der kommunalen

Plenarspiegel Juni 2014

Ebene: Alle Abschreibungen, also Wertminderungen von Vermögensgegenständen, werden berücksichtigt. Um eine Vergleichsbasis zu schaffen, müssen die Kommunen Eröffnungsbilanzen erstellen, was für Schwierigkeiten sorgt: Denn wie soll man bewerten, was Bäume, Straßen, Parkplätze oder der Bürostuhl in der Stadtverwaltung wert sind? Dennoch müssen alle kommunalen Vermögenswerte erfasst werden, damit ihr Wertverlust abrechenbar wird. Diese Verluste müssen dann „erwirtschaftet“, also mit Einnahmen ausgeglichen werden. Kluge Kämmerer achten deshalb darauf, den Wert „ihres“ Vermögens kleinzurechnen – der Chemnitzer „Nischl“, die Karl-Marx-Büste, wurde auf den Wert von einem Euro taxiert. Die kommunalpolitische Sprecherin Marion Junge betonte, dass die meisten Kommunen ihre Fehlbeträge bis 2016 nur dann ausgleichen können, wenn sie vom Land unterstützt werden. „Die chronische Unterfinanzierung der Kommunen wird durch die Doppik sichtbar und muss endlich beseitigt werden“. Unter doppischen Gesichtspunkten könnten viele Haushaltspläne nicht mehr genehmigt werden, so

Scheel: „Jede Rechtsaufsichtsbehörde ist nach Gesetz beauftragt, einen Haushalt nur zu genehmigen, wenn er ausgeglichen ist. Über 80 % der sächsischen Kommunen können aber nicht die Abschreibungen erwirtschaften, die in ihren kommunalen Haushalten in der Doppik anfallen“. Das alles klingt so kompliziert, wie es ist. Wer als Stadt-, Gemeindeoder Kreisrat nicht über einen Abschluss im Rechnungswesen verfügt, wird an doppischen Haushaltsplänen wenig Freude haben. Selbst mancher Bürgermeister dürfte den eigenen Etat bald nicht mehr verstehen. Nötig wären Bildungsangebote vom Freistaat. „Es hat Weiterbildungsangebote für Kämmerer und Finanzverantwortliche gegeben“, so Marion Junge. Den ehrenamtlichen Mandatsträgern helfe das aber nicht. Vielleicht fußt das mangelnde Problembewusstsein mancher Landespolitiker auch auf der Tatsache, dass der Landeshaushalt weiter nach kameralem Muster gestrickt wird. Die Koalition wies den Antrag der LINKEN ab, obwohl er lediglich einen Bericht verlangte. Sachsens Kommunen müssen sich so weiter allein mit der unternehmerischen Haushaltsführung befassen.

Änderungsantrag: » Drs 5/14646 zum Gesetzentwurf der Staatsregierung in Drs 5/13651 „Gesetz zur Förderung der elektronischen Verwaltung im Freistaat Sachsen und zur Änderung des Gesetzes über die Errichtung der Sächsischen Anstalt für kommunale Datenverarbeitung“ Sammeldrucksache 5/14597-1: In den Berichten der Ausschüsse waren folgende Anträge der Fraktion DIE LINKE enthalten: – „Bundesratsinitiative zur Einführung eines flächendeckenden Versicherungsschutzes gegen Elementarschäden“ (Drs 5/12728) – „Konzept des Justizministers zur personellen Neuorganisation des Strafvollzugs für weibliche Gefangene in der JVA Chemnitz“ (Drs 5/13673) – „Stand der Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nach dem Urteil vom 25. März 2014 zum ZDF-Staatsvertrag“ (Drs 5/14424) erweitert mit Sammeldrucksache 5/14597-2 – „Umstände und Folgen der Neuausrichtung der Staatlichen Porzellan-Manufaktur Meissen GmbH (SPM) zu Meissen® zu einer weltweit agierenden ‚Luxus- und Lifestylegruppe‘“ (Drs 5/11852) Auf Empfehlung der Ausschüsse lehnte die Mehrheit im Plenum diese Anträge ab. Drucksachen (Drs) und Redebeiträge unter www.linksfraktion-sachsen.de


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PARLAMENTSREPORT

Juni 2014

„Nicht mit uns!“ – Ausstellung zum Gewerkschaftswiderstand gegen die Nazidiktatur Hulda und Arthur Schille, Franz Poralla, Max Kellner, Gustav Zwehr, Karl Schirmer, Johanna und Richard Teichgräber: Namen, die einem breiten Publikum in Sachsen kaum bekannt sein dürften. Sie alle sind – wie viele andere auch – Gesichter des Widerstands sächsischer Arbeiterinnen und Arbeiter und der Gewerkschaften gegen die Nazidiktatur. Ihrem Vermächtnis widmet sich eine Ausstellung des DGBBezirks Sachsen, die 2013 unter der Regie von Dr. Willy Buschak entstand. Sie wird seit dem 11. Juni von den Fraktionen der LINKEN und der SPD im Sächsischen Landtag gezeigt. Sachsen war vor 1933 die Hochburg der Gewerkschaften in Deutschland. Gewerkschaften waren indes die wichtigste Stütze der Demokratie und zogen deshalb den erbitterten Hass der Nationalsozialisten auf sich. Die Ausstellung zeigt, auch anhand bisher unveröffentlichten Archivgutes, wie sich Gewerkschaften vor 1933 gegen den alltäglichen Terror der Nationalsozialisten wehrten, aber schließlich eine Niederlage erlitten, weil sie auf sich allein gestellt waren. Sie berichtet von illegalen Maifeiern, der letztlich erfolglosen Verteidigung von Gewerkschaftshäusern, vom Heldenmut und den tragischen Schicksalen vieler aufrechter Antifaschistinnen und Antifaschisten, deren Handeln dem Vergessen anheim zu fallen droht.

Das darf nicht geschehen, denn sie dienen bis heute als Vorbild für Courage: Von der Diktatur, von Gefängnis und Konzentrationslager ließen sie sich nicht einschüchtern, stellten sich dem Regime von der ersten Stunde an entgegen. So organisierten Franz Poralla und Max Kellner den Widerstand der Eisenbahner in Sachsen, Karl Schirmer und Gustav Zwahr den der Textilarbeiterinnen und Textilarbeiter. Johanna und Richard Teichgräber sowie Hulda und Arthur Schille bauten von Dresden aus ein dichtes Netzwerk illegaler Vertrauensleute unter den Metallarbeitern auf. Richard Teichgräber brachte das einen langen Leidensweg durch Zuchthäuser und Konzentrationslager ein, bis er 1945 schließlich umgebracht wurde.

Rico Gebhardt, Vorsitzender der Fraktion DIE LINKE, verwies bei der Ausstellungseröffnung, an der auch SPD-Fraktionschef Martin Dulig teilnahm, auf überwundene Konflikte: „Heute stellen wir uns gemeinsam den Nazis entgegen – und haben damit Erfolge, nicht nur in Dresden. Uns trennt dabei nicht mehr die Frage des richtigen Klassenstandpunktes oder die, wer die wahren Demokraten oder Antifaschisten sind. Ob Sozialdemokrat oder Sozialistin, Christin oder Kommunist – all dies sind Unterschiede, die uns nicht mehr trennen, wenn es um das Entscheidende geht: die gemeinsame Verteidigung einer humanistisch orientierten Zivilisation gegen Menschenfeindlichkeit und

die Lüge alter und neuer Nazis von vermeintlich ungleichwerten Menschenleben“. Mit Blick auf sächsische Traditionen hob er den besonderen Wert der Exposition hervor: „Zu unserer Tradition gehört nicht nur ein verblichenes Königshaus. Zur sächsischen Tradition gehören auch die Kellnerin und der Metallarbeiter, die dem braunen Ungeist die Stirn zeigten“. Wer die Ausstellung noch im Sächsischen Landtag erleben will, sollte sich allerdings beeilen: Noch bis zum 10. Juli wird sie auf der Etage der LINKEN präsentiert. Danach zieht sie weiter nach Hoyerswerda und nach Borna – damit Namen und Engagement des gewerkschaftlichen Widerstandes vielen Menschen im Gedächtnis bleiben.

Perspektiven wechseln, um den Blick zu schärfen Politikerinnen und Politikern wird oft vorgeworfen, dass sie den Bezug zum Leben außerhalb der Parlamente verloren hätten – oder ihn zu verlieren drohten. Unabhängig davon, ob und bei wem diese Angst jeweils berechtigt ist, dürfte klar sein: Nur wer die Situation und die Bedürfnisse von Betroffenen kennt, kann im Parlament in ihrem Sinne entscheiden. Deshalb ist es gut, dass die Liga der Freien Wohlfahrtspflege in Sachsen auch in

diesem Jahr zur „Aktion Perspektivwechsel“ aufgerufen hat. Das Programm gibt Abgeordneten die Möglichkeit, einen Tag lang in einer sozialen Einrichtung mitzuhelfen, mit den Menschen vor Ort zu sprechen und Probleme mit eigenen Augen zu sehen. Der Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE, Rico Gebhardt, hat deshalb in der integrativen Kinder­ tagesstätte „Schatzinsel“ des Deutschen Roten Kreuzes in Dresden

mit angepackt. Auch eine Reihe anderer LINKER Parlamentarierinnen und Parlamentarier war dabei: Annekatrin Klepsch in der Psychosozialen Kontakt- und Beratungsstelle der AWO SONNENSTEIN gGmbH, Heiderose Gläß im Mutter-Kind-Bereich des Kinder- und Jugendwohnheims „Haus Carola“ in Hainewalde, Falk Neubert in der Sozialtherapeutischen Wohnstätte Seifersbach/Rossau, Dr. Volker Külow und Cornelia Falken im Leipziger Diakonissenkrankenhaus. Kerstin Lauterbach verbrachte entsprechend ihrer Funktion als gesundheitspolitische Sprecherin einen Tag mit dem Team des Diakonie-Pflegeheims „Helene Schmieder“ in Großenhain. Dr. Jana Pinka führte der „Perspektivwechsel“ ins Familienzentrum des Deutschen Kinderschutzbundes, Kreisverband Freiberg, zum Projekt „Erzieherischer Kinder- und Jugendschutz“ und in die Kindertagesstätte „Kibu“. Landtags-Vizepräsident Horst Wehner unterstützte ein Team der „Inneren Pflegestation“ des DRK-Krankenhauses in Lichtenstein. Diese Erfahrungen werden helfen, im Landtag auch

weiterhin für eine lebensnahe und soziale Politik zu streiten.

Impressum Fraktion DIE LINKE im Sächsischen Landtag Bernhard-von-Lindenau-Platz 1 01067 Dresden Telefon: 0351/493-5800 Telefax: 0351/493-5460 E-Mail: linksfraktion@slt.sachsen.de www.linksfraktion-sachsen.de V.i.S.d.P.: Marcel Braumann Redaktion: Kevin Reißig


Kommunal-Info 6/2014

Seite 3 Grundsatz gegen das Gemeinwohl zu verstoßen. Gleichwohl sind sie nicht an konkrete Aufträge und Verpflichtungen gebunden, die ihr auf das Gemeinwohl zu richtende Handeln beschränken könnte. Eine Pflichtverletzung würde insbesondere dann vorliegen, wenn ein Mandatsträger zu eigenem Vorteil handelt oder ihm nahestehende Personen begünstigt und dadurch das Gemeinwohl schädigt. Wer ein Ehrenamt ausübt, muss die ihm übertragenen Aufgaben „uneigennützig und verantwortungsbewusst erfüllen“.

Verschwiegenheitspflicht

Zwischen der Gemeinde und dem ehrenamtlich tätigen Bürger besteht ein spezielles Treueverhältnis. Danach sind Mandatsträger zur Verschwiegenheit über alle Angelegenheiten verpflichtet, wenn es  gesetzlich vorgeschrieben ist (z.B. in Steuerangelegenheiten),  besonders angeordnet wurde, (z.B. durch einen entsprechenden Beschluss des Gemeinderats/Kreistags oder durch Weisung des Bürgermeisters/Landrats im Rahmen seiner Zuständigkeit oder bei Weisungsaufgaben durch die Fachaufsichtsbehörde),  sich aus der Natur der Sache selbst ergibt (z.B. bei Personalangelegenheiten, Kreditverhandlungen u.a.m.). Die Verschwiegenheitspflicht hat ihrem Wesen nach nichts mit Geheimniskrämerei zu tun, sondern hier geht es um die Wahrung der Rechte von Dritten. Die Bürger müssen darauf vertrauen können, dass keine sensiblen Daten nach außen dringen, die für sie zu persönlichen oder geschäftlichen Schäden führen. Damit ist die Verschwiegenheitspflicht auch ein Schutz für die Gemeinde, damit nicht durch Pflichtverletzungen ein Schadensersatzanspruch gegen die Gemeinde entstehen kann. Insbesondere ist über alle in nichtöffentlicher Sitzung behandelten Angelegenheiten solange Verschwiegenheit zu wahren, bis das entsprechende Gremium im Einvernehmen mit dem Vorsitzenden die Schweigepflicht aufhebt. Zur Verschwiegenheitspflicht gehört nicht nur das Stillschweigen über die betreffende Angelegenheit selbst, sondern auch alles zu unterlassen, was die Geheimhaltung gefährden könnte, wie etwa das sorglose Liegenlassen oder Wegwerfen von Sitzungsunterlagen. Ein Mandatsträger darf die Kenntnis von geheim zu haltenden Angelegenheiten nicht unbefugt verwerten. Diese Verpflichtung besteht auch nach Beendigung der ehrenamtlichen Tätigkeit fort. Damit keine überzogene Geheimhaltung praktiziert werden kann, sind der Pflicht zur Verschwiegenheit jedoch enge Grenzen gesetzt: sie kann nur aus Gründen des öffentlichen Wohls oder zum Schutz berechtigter Interessen Einzelner angeordnet werden. Außerdem muss sie für jeden Einzelfall begründet sein! Das Gebot zur Verschwiegenheit verliert jedoch seine Bindungskraft, wenn die öffentliche Erörterung im Interesse des Wohls der Einwohner wünschenswert oder sogar notwendig ist, insbesondere wenn es um die Offenlegung von Missständen geht. Ohnehin gilt das bei Straftatbeständen oder bei der Aufdeckung unge-

rechtfertigter Begünstigungen.

Befangenheitsanzeige und Mitwirkungsverbot

Mandatsträgern und anderen ehrenamtlich Tätigen ist die Mitwirkung an Beratungen und Entscheidungen kommunaler Gremien untersagt, a) wenn sie bereits in der betreffenden Angelegenheit in anderer Eigenschaft tätig geworden sind und eigene Sonderinteressen verfolgt haben (z. B. als Gutachter oder Berater) b) oder wenn  sie selbst,  ihre Familienangehörigen oder Verwandten,  natürliche oder juristische Personen, zu denen eine besondere Bindung oder Abhängigkeit besteht, einen unmittelbaren Vorteil oder Nachteil erlangen können. In der Gemeindeordnung/Landkreisordnung ist abschließend der Personenkreis benannt, der eine Befangenheit eines Mandatsträgers bewirkt, wenn bei einer Entscheidung diese zu ihm in einer Beziehung stehenden Personen einen Vorteil oder Nachteil erzielen können. Entscheidend ist letztlich, ob ein individuell abgrenzbares Sonderinteresse vorliegt. Bei der Beratung über Gewerbesteuerhebesätze sind Gewerbetreibende (als Berufsgruppe) deshalb nicht befangen. Wird über den Ausbau einer Straße entschieden sind die Anlieger (als Bevölkerungsgruppe) nicht befangen, jedoch der Inhaber der Firma, die sich um den Auftrag bewirbt. Besteht in einer bestimmten Angelegenheit die Vermutung, dass ein ehrenamtlich Tätiger in der Sache befangen ist, hat er dies vor Beginn der Beratung dem Vorsitzenden anzuzeigen. Er darf dann weder an der Entscheidung noch an der Beratung der Angelegenheit teilnehmen. Er muss seinen Platz im Gremium verlassen und darf weiterhin an der Beratung auf den Zuhörerplätzen teilnehmen. Bei einer nichtöffentlichen Sitzung darf der Betreffende auch nicht mehr als Zuhörer an der Sitzung teilnehmen und muss den Sitzungsraum verlassen.

Vertretungsverbot

Mandatsträgern ist es verboten, die Ansprüche und Interessen anderer gegen ihre Kommune geltend zu machen, soweit sie nicht als gesetzliche Vertreter handeln (z.B. als Vormund oder als Erziehungsberechtigter). Dabei ist es ohne Bedeutung, ob die Vertretung entgeltlich, unentgeltlich, privatrechtlich oder öffentlich-rechtlich, gerichtlich oder im Verwaltungsverfahren erfolgt. Das Vertretungsverbot erhält praktische Bedeutung, wenn Mandatsträger in ihrer beruflichen Tätigkeit z.B. als Rechtsanwälte, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater und Architekten mit der Vertretung anderer betraut sind. Durch das Vertretungsverbot soll verhindert werden, dass sie in Konflikt mit ihrer Pflicht zur objektiven, unparteiischen und verantwortungsbewussten Wahrnehmung ihrer Mandatsausübung geraten.

Pflicht zur Haftung

Die Ausübung eines kommunalen Mandats ist nicht risikofrei. Bei der Vielzahl der zu treffenden Entschei-

dungen gibt es darunter zwangsläufig auch solche, die sich als nachteilig und mitunter höchst schädlich für die Kommune herausstellen. Allgemein steht in solchen Fällen Kommunalpolitikern wie allen anderen Menschen das Recht auf Irrtum zu. Die Kommunen selbst sind zwar in einem kommunalen Haftungsverband haftpflichtversichert, so dass bei fehlerhaften Entscheidungen die entsprechende Versicherung für den Schaden aufkommen dürfte. Schwierig sieht es dagegen für eine Versicherung des

stimmungen. Verantwortungsbewusstes Handeln eines Mandatsträgers setzen aber Sachkunde, Wissen und Kompetenz voraus. Dazu gehören insbesondere:  die fundierte Beschäftigung mit den Sitzungsunterlagen,  die Auswertung der lokalen Presse und Medien,  eine Minimalkenntnis der gesetzlichen Grundlagen,  die Nutzung von Fachliteratur und Zeitschriften,  sich zusätzliche Vor-Ort-Informationen zu beschaffen, bevor Entscheidungen getroffen werden, die Auswirkungen auf die Einwohner haben.

Pflicht zur Sorgfalt

Mandatsträgers aus, wenn in grob fahrlässiger oder vorsätzlicher Weise pflichtwidrig gehandelt wurde oder gar Strafgesetze verletzt wurden. In besonders schwerwiegenden Fällen des Schadens zum Nachteil der Gemeinde kann auf den Mandatsträger die Haftung zukommen, insbesondere dann, wenn  durch die Verletzung der Verschwiegenheitspflicht der Gemeinde oder Dritten ein Schaden entstanden ist,  der Mandatsträger bei einer Beschlussfassung mitgewirkt hat, obwohl er wegen Befangenheit davon ausgeschlossen war und ihm der Ausschließungsgrund bekannt war,  dazu beigetragen wurde, Finanzausgaben zu genehmigen, für die weder die Gesetze noch die Hauptsatzung eine Ermächtigung vorsahen,  Ausgaben beschlossen wurden, für die nicht gleichzeitig die erforderlichen Deckungsmittel bereitgestellt werden konnten.4

Pflicht zur Kompetenz

Wer eine ehrenamtliche Tätigkeit in Kommunalvertretungen ausübt, muss die ihm übertragenen Aufgaben verantwortungsbewusst erfüllen. Es liegt auf der Hand, wer verantwortungsbewusst handeln und sorgsam den gesetzlich bestimmten Pflichten nachkommen will, muss sich dafür entsprechend sachkundig machen und selbst aktiv werden. Jeder Mandatsträger ist deshalb verpflichtet, sich selbst mit den Vorlagen zu befassen und sich über die Angelegenheiten und Probleme der Kommune auf dem Laufenden zu halten. Da die Wählbarkeit eines Bürgers für eine kommunale Vertretung an keine besonderen fachlichen Qualifikationen gebunden ist – das liegt in der Natur der ehrenamtlichen Tätigkeit bei der kommunalen Selbstverwaltung, fehlen im Gesetz auch dementsprechende Be-

Die verantwortungsbewusste Wahrnehmung des kommunalen Mandats bedeutet auch, mit Sorgfalt anstehende Entscheidungen vorzubereiten. Zum sorgfältigen Handeln gehört unter anderem:  einseitige und oberflächliche Bewertungen zu vermeiden und unvoreingenommen an bestimmte Sachverhalte heranzugehen,  eine sachgerechte Abwägung zwischen maßgeblichen Gesichtspunkten und verschiedenen Alternativen,  rechtlich zweifelhaften Fragen nachzugehen und diese zu klären,  das kritische Durcharbeiten der Sitzungsunterlagen,  die finanziellen Konsequenzen von Entscheidungen zu kalkulieren und aufzuzeigen, d.h. auch die tatsächlichen Kosten und Folgekosten in Betracht zu ziehen sowie die evtl. Frage, was passiert, wenn die Fördermittel ausbleiben.

Information der Bürger

Wer in ein kommunales Ehrenamt gewählt wurde, hat damit auch das Vertrauen seiner Wähler erhalten und steht ihnen gegenüber in einer politisch-moralischen Pflicht, wenngleich er nach freiem Mandat nicht an Aufträge der Wähler gebunden ist. Zu dieser politisch-moralischen Pflicht gehört insbesondere:  für die Bürger ansprechbar zu sein und bereit zu sein, sich Bürgeranhörungen oder Bürgerfragen zu stellen, also sowohl für den Einzelnen als Ansprechpartner zu dienen als auch sich zu bestimmten kommunalen Problemen befragen zu lassen und sein Abstimmungsverhalten vor dem Bürger zu erklären und argumentativ tätig zu werden,  die Bürger rechtzeitig in die Entscheidungsfindung einbeziehen und das Geschehen im Rathaus für den Bürger durchschaubar machen. So kann es mitunter ratsam sein, mit Bürgerinitiativen ins Gespräch zukommen, um deren Sichtweise und Argumente kennen zu lernen. Entsprechend dem Prinzip des „Gläsernen Rathauses“ kommt es darauf an, die Entscheidungen in der KommuFortsetzung Seite 4 unten


Kommunal-Info 6/2014

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Besetzung von Aufsichtsräten Haben Städte, Gemeinden oder Landkreise in privatrechtlich organisierte Gesellschaften (z.B. GmbH), an denen sie beteiligt sind oder als Alleingesellschafter auftreten, Mitglieder in Aufsichtsräte zu entsenden, dann hat das nach § 98 Absatz 2 i.V.m. § 42 Absatz 2 der Sächsischen Gemeindeordnung (SächsGemO) nach denselben Vorschriften zu geschehen, die für die Besetzung der Ausschüsse gelten.1

Verfahren

Danach sind folgende Verfahren möglich:  die zu bestimmenden Aufsichtsratsmitglieder werden über ein Einigungsverfahren bestellt, falls das nicht möglich ist,  würden dann auf Grund von Wahlvorschlägen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl unter Bindung an die Wahlvorschläge die Aufsichtsratsmitglieder durch den Gemeinderat/Kreistag gewählt oder  wenn der Gemeinderat/Kreistag dazu einen Beschluss gefasst hat, würde die Bestellung im Zuge des Besetzungsverfahrens durch die Fraktionen nach dem d‘Hondtschen Prinzip erfolgen. Für die Tätigkeit in Aufsichtsräten privatrechtlich organisierter Gesellschaften werden an die Aufsichtsratsmitglieder bestimmte Anforderungen gestellt.

Anforderungen nach Gesellschaftsrecht

Mitglied eines Aufsichtsrates kann nur eine natürliche Person sein, die unbeschränkt geschäftsfähig ist (§ 100 Absatz 1 Aktiengesetz [AktG]). Der Amtsinhaber muss die notwendige Qualifikation „mitbringen“. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) sind dies „Mindestkenntnisse allgemeiner, wirtschaftlicher, organisatorischer und rechtlicher Art, die erforderlich sind, um alle normalerweise anfallenden Geschäftsvorgänge auch ohne fremde Hilfe verstehen und sachgerecht beurteilen zu können“.2 Nach vorherrschender Meinung in der Fachliteratur gehören dazu insbesondere:  Kenntnisse der gesetzlichen und satzungsmäßigen Aufgaben des Aufsichtsrats;  Kenntnisse der Rechte und Pflichten als Aufsichtsratsmitglied;  Kenntnisse, um die dem Aufsichtsrat vorliegenden Berichte verstehen, bewerten und daraus Schlussfolgerungen ziehen zu können;  Kenntnisse für die Prüfung des Jahresabschlusses mit Hilfe des Abschlussprüfers;  Kenntnisse zur Beurteilung der Ordnungsmäßigkeit, Wirtschaftlichkeit, Zweckmäßigkeit und Rechtmäßigkeit von Führungsentscheidungen sowie  nach Möglichkeit eigene unternehmerische Erfahrungen.3 Darüber hinaus muss der Aufsichtsrat über ein ausreichendes Zeitbudget verfügen, um die anspruchvollen Aufgaben mit notwendiger Vor- und Nachbereitungszeit erfüllen zu können. In Abweichung zur Aktiengesellschaft ist

die Anzahl der Aufsichtsratsmandate bei den GmbH nicht begrenzt ist, da § 52 Absatz 1 GmbH-Gesetz nicht auf § 100 Absatz Nr. 1 AktG verweist. In § 100 AktG (Persönliche Voraussetzungen für Aufsichtsratsmitglieder) wird festgestellt, dass Mitglied des Aufsichtsrats nicht kann sein, wer bereits in zehn Handelsgesellschaften, die gesetzlich einen Aufsichtsrat zu bilden haben, Aufsichtsratsmitglied ist. Zu beachten sind die geltenden Hinderungsgründe (§§ 105 Absatz 1, 100 Absatz 2 Nr. 2 und 3 AktG). Somit ist ausgeschlossen, dass der Geschäftsführer des Unternehmens oder der gesetzliche Vertreter eines beherrschten bzw. beherrschenden Unternehmens gleichzeitig Aufsichtsrat sein kann.

Anforderungen nach Kommunalrecht

Werden Vertreter der Gemeinde/des Landkreises in die Gesellschafterversammlung (§ 98 Absatz 1 SächsGemO) oder in den Aufsichtsrat bzw. eines entsprechenden Überwachungsorgans (§ 98 Absatz 2) eines Unternehmens in Privatrechtsform entsandt, an dem die Gemeinde beteiligt ist bzw. Alleingesellschafter ist, müssen diese Vertreter nach der im November 2013 novellierten Gemeindeordnung „die für diese Aufgabe erforderliche betriebswirtschaftliche Erfahrung und Sachkunde verfügen“. Damit wurden die Anforderungen an Aufsichtsratsmitglieder im sächsischen Kommunalrecht erhöht, denn bisher hieß es lediglich: sie sollen über betriebswirtschaftliche Erfahrung und Sachkunde verfügen. Allerdings bedeutete auch bereits die Soll-Bestimmung, dass betriebswirtschaftliche Erfahrung und Sachkunde eine grundsätzliche Voraussetzung für die Wahl in einen Aufsichtsrat waren. Da nicht näher bestimmt wird, welche konkreten Qualifikationsanforderungen in der Betriebswirtschaft mit betriebswirtschaftlicher Sachkunde gemeint sind, können demnach auch keine bestimmten Bildungs- oder Berufsabschlüsse als Voraussetzung für die Bestellung in einen Aufsichtsrat abverlangt werden. Von Vorteil wäre jedoch, wenn Gemeinderäte wenigstens die Teilnahme an einschlägigen Weiterbildungsmaßnahmen nachweisen können. Ebenfalls ist nicht näher beschrieben, was denn als betriebswirtschaftliche Erfahrung anerkannt wird. Gemeinhin können das Erfahrungen sein  aus eigener wirtschaftlicher Tätigkeit,  aus der beruflichen Praxis und  auch aus bisheriger Aufsichtsratstätigkeit erworbene Fähigkeiten.

Externe Fachleute

Da nun auch das sächsische Kommunalrecht die Qualifizierungs-Anforderungen erhöht hat, ist die Messlatte für die Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern auch höher gelegt. Werden nun aus dem Kreise der Mitglieder des Gemeinderats für Aufsichtsräte die Mitglieder bestellt, müssen diese jetzt über die für diese Aufgabe erforderliche betriebswirtschaftliche

Erfahrung und Sachkunde verfügen. Sind Fraktionen nicht in der Lage, geeignete Mitglieder mit der erforderlichen betriebswirtschaftlichen Erfahrung und Sachkunde für eine Besetzung des Aufsichtsrats aufzubieten, so können die Fraktionen wie bereits bisher auch auf externe Fachleute (Sachkundige Einwohner oder Sachverständige) mit der notwendigen Sachkunde und Erfahrung zurückgreifen und für eine Bestellung in den Aufsichtsrat vorschlagen. Das können z.B. Wirtschaftprüfer oder Angehörige aus rechts- und steuerberatenden Berufen sein, was aber nicht Bedingung ist. Werden externe Fachleute in Aufsichtsräte entsandt, besteht jedoch die Schwierigkeit, dass sie nicht mit gleicher Nachdrücklichkeit den Weisungen des Gemeinderats verpflichtet sind wie Mitglieder des Gemeinderats/Kreistags. Deshalb sollten die Fraktionen bei der Auswahl externer Fachleute sie auch darauf hinweisen, dass sie für die Gemeinde diese Funktion wahrzunehmen haben. Um dies zu gewährleisten, sollten sie zumindest in den sie betreffenden Angelegenheiten in die Arbeit der Fraktion eingebunden werden. AG 1

Neuausgabe sächsischer Gesetze Hrsg.: Kommunalpolitisches Forum Sachsen e.V.

Kleine Gesetzessammlung Teil 1:  Sächsische Gemeindeordnung Schutzgebühr: 4,00 Euro zzgl. Porto

Kleine Gesetzessammlung Teil 2:

 Sächsische Landkreisordnung  Sächsisches Gesetz über kommunale Zusammenarbeit  Sächsisches Kulturraumgesetz Schutzgebühr: 4,00 Euro zzgl. Porto

Siehe hierzu auch Kommunal-Info Nr. 5/2014: Kommunale Fraktionen. 2 Amtliche Sammlung der Entscheidungen des BGH - BGHZ 85, 293 (295) 3 Vgl. Qualifikation, Rechte und Pflichten der Aufsichtsratsmitglieder in kommunalen Unternehmen. Leitfaden des Sächsischen Staatsministerium des Innern, August 2003.

Kleine Gesetzessammlung Teil 3:

Fortsetzung von Seite 3

rationalisieren, indem sie die Meinungsbildung fraktionsintern koordiniert, kann nur erfüllt werden, wenn ihre Mitglieder ein Mindestmaß an kollektiver Geschlossenheit und Disziplin aufweisen.“5 AG

Rechte und Pflichten... nalvertretung für die Bürgerinnen und Bürger verständlich und transparent zu machen.

Pflichten gegenüber der Fraktion

Das kommunale Ehrenamt wird als freies, nicht auftragsgebundenes Mandat ausgeübt und ist daher mit jeglichem Fraktionszwang unvereinbar. Dennoch unterliegt im Sinne der Kollegialität jedes Fraktionsmitglied einer Fraktionsdisziplin. Dazu gehört zumindest:  sich an der Arbeit der Fraktion zu beteiligen und an den Sitzungen teilzunehmen,  sich auf die Fraktionssitzungen vorzubereiten,  eine möglicherweise abweichende Meinung zu einer mehrheitlich beschlossenen Fraktionsposition offen und rechtzeitig in der Fraktion auszusprechen,  sich rechtzeitig um eine Vertretung in den entsprechenden Ausschüssen und Gremien zu bemühen, sofern die eigene Teilnahme an der Sitzung nicht möglich ist. Dazu gehören auch, rechtzeitig die Unterlagen zu übergeben und Standpunkte mit dem Stellvertreter auszutauschen. Die einer Fraktion zugedachte Aufgabe, „die Arbeit im Gemeinderat zu

 Sächsisches Kommunalabgabengesetz  Sächsische Kommunalhaushaltsverordnung-Doppik  Sächsische Eigenbetriebsverordnung  Sächsisches Vergabegesetz Schutzgebühr: 4,00 Euro zzgl. Porto (Teile 1-3 zusammen: 10,00 Euro zzgl. Porto)

1

Eine ausführliche Darstellung der Rechte und Pflichten im kommunalen Mandat mit Verweis auf die Rechtsquellen erfolgt in einer gesonderten Publikation des Kommunalpolitischen Forums Sachsen e.V., die in einer aktualisierten Fassung in Vorbereitung ist. 2 Der Vereinfachung halber wurde im folgenden Text für Personen- und Amtsbezeichnungen grundsätzlich nur die männliche Form gewählt, es sind aber stets auch die Angehörigen des weiblichen Geschlechts mit gemeint. 3 Steuerliche Behandlung von Entschädigungen, die kommunalen Wahlbeamten und ehrenamtlichen Mitgliedern kommunaler Volksvertretungen gewährt werden, Erlass des Sächsischen Staatsministeriums der Finanzen vom 21. August 2009. 4 Vgl. Kommunale Selbstverwaltung. Rechtsgrundlagen-Organisation-Aufgaben…, 3. überarb. Aufl., E. Schmidt Verlag, S. 100 f. 5 Gemeindeordnung für den Freistaat Sachsen. Ergänzbarer Kommentar mit weiterführenden Vorschriften, Erich Schmidt Verlag, Kommentar zu § 35a.


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Hurra!? Wir 64er werden 50 privatisierten Kliniken, wo unnötige Operationen im Profitinteresse an uns vorgenommen werden. Oder man betrachte das Projektmanager-Leben heute hier morgen dort – bin kaum da, muss ich fort. Es betrifft sie alle: Chefärzte, Professoren, Direktoren von Staatlichen Kunstsammlungen – kaum hat man sich einen Namen einigermaßen eingeprägt, ist der Typ oder die Typin schon wieder auf der Flucht. Bei diesem Drama hat das Volk einfach nach 1990 die Notbremse gezogen: Es kam zum Gebärstreik. Wer wie wir gleich in den ersten Schuljahren politisiert wurde mit dem Freiheitskampf für die Afro-Amerikanerin Angela Davis („Free Angela – 1 Million Rosen für Angela Davis), als Schüler standardmäßig von Rügen bis zum Erzgebirge Professor Mamlock, Nackt unter Wölfen, Werner Holt, Der Untertan, Faust 1 oder das Wintermärchen las – also pflichtgemäß mit Schiller, Goethe, Heine, Heinrich Mann groß wurde, im Musikunterricht das Lied der Moorsoldaten und „Spaniens Himmel“ lernte sowie im Kunstunterricht die „Apokalyptischen Reiter“ von Albrecht Dürer oder die unglaublich aufschlussreichen Fotomontagen von John Heartfield diskutierte, kam sich nach 1990 vor wie im falschen Film, als plötzlich DDR und Drittes Reich gemeinsam unter dem „Totalitarismus“-Begriff zusam-

mengefasst wurden. Ja, wir waren zwischen 26 und 30, als durch die DM-Einführung die ostdeutsche Wirtschaft zusammenbrach. Millionen, arbeitslos oder auf Hilfsarbeiterjobs umgeschult, unsere Eltern in den Vorruhestand geschickt wurden, hunderttausende andere die Flucht in den Westen antraten – manche landeten in der Schweiz und in Österreich. Das Drama wurde von uns und den Jüngeren nach 1990 im Osten sofort erkannt: Die Geburtenrate sank dramatisch, von fast 2 Kindern pro Frau Ende der 80er auf unter ein Kind pro Frau bis Mitte der

war beispiellos in der Geschichte und hat es weltweit weder in Kriegen noch durch Seuchen gegeben – ein Geburteneinbruch auf der Basis höchster sozialer Unsicherheit. Eine Freundin in Frankfurt am Main sagte einmal: „Der Osten kommt mir vor wie eine Schweinehälfte am Haken, die langsam ausblutet.“ Dass inzwischen der Stress und der Sozialabbau im Westen unglaublich an Fahrt aufgenommen haben, war absehbar. Der „Testballon Ostdeutschland“ hat für die Initiatoren hervorragend funktioniert. Während im Osten in einer weitgehend tariffreien

Zone für niedrigere Löhne länger gearbeitet wird, hält man unserer Generation im Westen unsere geknechtete Ost-Generation als Vorbild vor – die Produktivität sei im Osten einfach viel hö-

her. Alle bleiben auf der Strecke – bis auf das obere erste Prozent, deren Kapitalerträge ins Unermessliche wachsen, während wir auf der Strecke bleiben. Unsere Wende ging offenbar in die falsche Richtung, wenn wir heute mehrheitlich feststellen, dass unsere Kinder und Enkel eine härtere Kindheit und Jugend durchmachen als wir, wie ich bei Umfragen auf Klassentreffen feststellen konnte. Ich glaube, unsere Brüder und Schwestern im Westen, die 1989 zugeschaut haben, wie wir uns mehrheitlich im Einheitstaumel verrannten, brauchen wir bei der nächsten Wende: Dann in eine Richtung gegen Sozialabbau, zu viel Kapitalismus und Neoliberalismus und für den Frieden. Denn die Mauern existieren weiter – die aus Metall und Stacheldraht wurden nur verschoben, und die in den Köpfen ist noch lange nicht abgebaut. Wir haben noch etwas zu tun, bevor wir richtig feiern können. Das Wichtigste heute aber ist: Wenn auch Frieden nicht alles ist, so ist ohne Frieden alles nichts. An diese frühe Erkenntnis sollten wir uns nicht nur erinnern, sondern sie jetzt, wo wieder Krieg in Sicht ist, auf Demos weitergeben: Wir sind das unseren im Krieg geborenen Eltern schuldig, ohne die wir nicht auf der Welt wären – und erst recht haben wir die Pflicht, für die Zukunft der nachfolgenden Generationen zu sorgen. Ralf Richter

durch die hörbare Intervention der beiden Vorsitzenden persönlich. War es gerade ihr Machtwort, das die Delegierten dazu bewegte, Thomas Nord zu ihrem neuen Schatzmeister zu wählen? Was ist da passiert, fragen sich der aufgeweckte Delegierte und das aufgeschreckte Mitglied? Man konnte im BerlinerVelodrom den Eindruck haben, dass man einen Schatzmeister der Vorsitzenden wählt, aber weniger einen, der für die gesamte Partei steht. Fragen wirft zudem die Niederlage von Dominic Heilig bei der Wahl zum stellvertretenden Vorsitzenden auf. Warum ist ein Politiker mit eindeutig europäischem Profil und mit profunder Kenntnis des Kontinents und dessen linker Parteienlandschaft für eine linke Parteitagsmehrheit nicht wählbar? Für seine Wahl hätte auch seine Mitgliedschaft im Vorstand der Europäischen Linkspartei (EL) gesprochen. Es hätte Signalwirkung gehabt und das europäische Gewicht der Partei im Kreis der EL und in Europa gestärkt, wenn DIE LINKE nun mit einem stellvertretenden Vorsitzenden Sitz und Stimme hätte. Nun ist

Dominic weder im Vorstand noch in der Riege der Stellvertreter zu finden. So etwas nennt man eine vertane Chance! Zumal man diesen Parteitag auch noch vor den Europawahlen am 25. Mai durchführen musste – strategisch klug gedacht und entsprechend gewählt war das alles nicht. Nun kann man sagen, gewählt ist gewählt. Im Nachhinein meckern ist nicht. Aber wichtig sind immer auch die Umstände, wie solche Wahlen vorbereitet, teilweise vorentschieden und beeinflusst werden. Und nicht zu vergessen ist, wer auf so umstrittene und nicht nachvollziehbare Weise aus Ämtern gedrängt, oder gar nicht erst dafür gewählt wird, den riskiert eine Partei ganz zu verlieren. Deshalb gilt es, zu einem solidarischen Miteinander, auch im persönlichen Umgang zurückzukehren und es nicht immer nur von der Gesellschaft zu fordern. Das macht nämlich unglaubwürdig, und Wahlen gewinnt man so auch nicht. Im Übrigen gefährdet die LINKE so ihren Mitgliederbestand, was sie sich schon aus demografischen Gründen nicht leisten kann. René Lindenau

Bild: Miia Ranta / Wikimedia commons / CC BY-SA 2.0

Gibt man bei google „Jahrgang 1964“ ein, bekommt man 1.520.000 Einträge. Was ist das Besondere an uns 1964ern? Mit 1.367.304 Lebendgeborenen sind wir der geburtenstärkste Jahrgang, der jemals zwischen Kap Arkona und Fichtelberg, Bodensee und Flensburger Förde ins Leben trat. Vor uns waren die Jahrgänge schwächer – und heute? 1991 wurden nur noch 830.019 Kinder geboren, 2012 noch 673.544 – und das wurde schon als großer Erfolg gefeiert! Denn der Negativrekord mit 662.685 Babys vom Jahr zuvor war gebrochen worden. Was ist los im Staate Dänemark? Da trifft man landauf landab Leute, die meinen wirklich, die Lage im Osten habe sich „stabilisiert“. Das ist ein großer Propagandaerfolg der Regierungsparteien, die seit 1990 mit Taschenspielertricks die Mär befördern, es gehe aufwärts in diesem unserem Land – obwohl es kontinuierlich abwärts geht: Mit den Löhnen, deren Steigerung in den letzten Jahrzehnten summa summarum tief unter der Inflationsrate lag, so dass es zu einem gigantischen Reallohnverlust kam. Abwärts ging es mit den Arbeits- und Lebensbedingungen. Man schaue sich die Perspektive der jungen Leiharbeiter an, der Burn-Outer im Öffentlichen Dienst, der Prekarianer mit Diplom oder Doktorgrad an den Universitäten, der Krankenschwestern und Ärzte in den

90er – und zwar auf einem Gebiet von Berlin bis Wladiwostok, denn Tschechen, Slowaken, Polen, Ukrainer und Russen wurden noch stärker gebeutelt als die Ostdeutschen. So etwas

Ein Parteitag hinterlässt Fragen Wer den Berliner Parteitag der LINKEN (4. Parteitag, 2. Tagung; 9.05. – 11.05. 2014) verfolgt hat und Revue passieren lässt, der bleibt mit gemischten Gefühlen zurück. Ob diese Mischung gesund für eine zukunftsfähige Parteienentwicklung und damit gut für eine Weiterentwicklung tragfähiger linker Politikkonzepte sein wird, das wird sich zeigen. Zumindest Zweifel sind angebracht, denn manche Personalentscheidung, die immer auch politische Entscheidungen sind, stieß auf Missfallen und spaltet die Partei. Dadurch bekam die durch das seit Göttingen agierende Vorsitzenden-Duo erbrachte Integrationsleistung in die Partei hinein Risse. Insbesondere Katja Kipping scheint dabei nicht nur Gramsci, sondern auch Machiavelli gelesen zu haben. Machiavelli in seinem „Fürsten“: „Jeder sieht, was du scheinst. Nur wenige fühlen, wie du bist“. Dagegen Gramsci im „Grido del Popolo“ vom 29. Januar 1916: „Sich selbst zu kennen, will heißen, sein eigenes Sein zu leben, will heißen Herr seiner Selbst zu sein, sich von den anderen ab-

zuheben, aus dem Chaos auszubrechen, ein Element der Ordnung zu sein, aber der eigenen Ordnung und der eigenen, einem Ideal verpflichteten Disziplin. Und das kann man nicht erreichen, wenn man nicht auch die anderen kennt, ihre Geschichte, die Anstrengungen, die sie unternommen haben, um das zu werden, was sie sind, die Gesellschaftsformation zu schaffen, die sie begründet haben, und die wir durch die unsere ersetzen wollen.“ Tue ich Katja Kipping nun Unrecht? Ich mag sie trotzdem, leitete sie doch gemeinsam mit Bernd Riexinger das Ende der Selbstbeschäftigung der Partei und ihre Rückkehr auf die politische Bühne ein, auf der endlich wieder ihre politischen Inhalte zur Aufführung kamen. Schließlich gelang der LINKEN 2013 ein mehr als passables Bundestagswahlergebnis, das sie zur stärksten Oppositionskraft machte. Das war vor der Neujustierung der Partei, die auf dem Göttinger Parteitag erfolgte und immer mit den Namen von Kipping und Riexinger verbunden bleiben wird, wohl kaum erwartet worden. Unter

anderem deshalb halte ich beide nach wie vor für einen Glücksfall. Fakt ist jedoch: Katja musste ein schlechteres Wahlergebnis hinnehmen als Bernd. Nun kann man über Gründe spekulieren, denn Genaues weiß die „mitlaufende“ Basis nicht, und was manchen Delegierten so entscheiden ließ, wie er entschied, erschließt sich auch nicht jedem. Neben guten Reden der beiden Vorsitzenden, klaren Standpunkten, klugen Debatten und guten Beschlüssen, sieht man zum Beispiel von dem Satzungsbeschluss ab, wonach sich die Partei konsequenterweise nicht einmal mehr Bockwürste für ihre Feste spenden lassen dürfte: Was war nun so Fragwürdiges passiert? Ich komme zum Beispiel nicht dahinter, warum ein Schatzmeister Raju Sharma, dem man keinen fehlerhaften Jahresabschluss und erst Recht keinen neuen Finanzskandal vorwerfen konnte und der durch zahlreiche Fürreden verschiedener Strukturen und Zusammenschlüsse auf dem Parteitag selbst gestützt wurde, zur Disposition gestellt wurde. Letztlich noch


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Von Pippi Langstrumpf und Dagobert Duck Am 25. Juni haben in Leipzig tausende Studierende, Lehrende und andere Engagierte gegen die Kürzungsmaßnahmen im sächsischen Bildungswesen protestiert. Besonders erfreulich: Auch die Vorsitzende der Landesrektorenkonferenz (LRK) und Rektorin der Universität Leipzig, Beate Schücking, marschierte mit. Das ist eine neue Qualität in der bildungspolitischen Debatte im Freistaat. Das trifft übrigens auch auf die klare Positionierung der Rektoren zum BAföGKompromiss zu. Sachsen wird ab 2015 jährlich um 85 Millionen Euro entlastet, weil der Bund die Aufwendungen für die BAföG-Leistungen und die Finanzierungsaufwüchse bei den außeruniversitären Forschungseinrichtungen übernimmt. Mit 56,6 Millionen Euro sollen, so der Wille der CDU, knapp zwei Drittel dieser Summe in einen „Zukunftsfonds“ fließen, mit dem allerdings Nachwuchsförderung, die Beschaffung von Großgeräten, der Hochschulbau und so insbesondere die medizinischen Fakultäten unterstützt werden sollen. Dazu, dass dieses Geld die Chance birgt, den Abbau von 1.042 Stellen bis 2020 zu verhindern, ist von der Koalition kein Wort zu vernehmen. „Eigentlich ist das an Sachsens Hochschulen dringend benötigte Geld nun da, um den Stellenabbau und seine verheerenden Folgen zu verhindern, aber es wird nicht wie gewünscht davon Gebrauch gemacht“, so die LRK-Vorsitzende Schücking. Mit der Summe könnten etwa 1.000 Vollzeitstellen finanziert werden. Regierungsvertreter begegnen solchen Forderungen allerdings meist mit dem Hinweis, dass mit Haushaltsstellen auch langfristige Zahlungsverpflichtungen für die Hochschulen und damit für den Freistaat einhergingen. Das stimmt, trägt aber an dieser Stelle nicht: Das Geld vom Bund wird schließlich jedes Jahr zuverlässig fließen, zumindest mittelfristig, wenn nicht gar langfristig. Es macht deshalb einigermaßen fassungslos, dass CDUMdL Günther Schneider in Vertretung des CDU-Hochschulpolitikers Geert Mackenroth beim „Politik-Talk“ zum Start der Demo behauptete, dass er die Rücknahme der Stellenkürzungen befürworte. Jedenfalls hielt er sein „Ja“-Schild hoch, als diese Frage gestellt wurde. Dass sich dieses öffentliche Bekenntnis auch in seinem Abstimmungsverhalten bei den kommenden Haushaltsverhandlungen widerspiegeln wird, darf indes bezweifelt werden. Sein Fraktionskollege Mackenroth hatte bereits im Vorfeld der

Demo den Zeigefinger erhoben und der Opposition den Versuch vorgeworfen, „die sächsische Hochschullandschaft erneut schlechtzureden“. Und weiter: „Besonders perfide: Für die durchsichtige Wahlkampfstrategie der Opposition und für ihre falsche Botschaft werden die Studierenden instrumentalisiert, missbraucht und in Mithaftung genommen“. Eine Studierendenschaft, die sich mit allem Recht politisch äußert, hat er so letztlich zu einer form- und manipulierbaren Masse erklärt, die vor allem – oder

mit dem Hinweis abblitzen, die „Zuschussvereinbarung“ habe Planungssicherheit für die Hochschulen geschaffen. Dieses Papier, das im Kern eine Abbauvereinbarung ist und den Wegfall von zunächst 288 Stellen bis 2016 fixiert, wurde zwischen den Hochschulleitungen und dem Wissenschaftsministerium ausgehandelt und im vergangenen Dezember unterzeichnet. Es dient dem Wissenschaftsressort seitdem immer wieder als Standardargument, wenn es darum geht, seinen bildungspolitischen Kurs gegen Kritiker zu

einer gewissen Komik, dass Vertreter von Koalitionsfraktionen den Oppositionsfraktionen im Landtag immer wieder vorwerfen, die Hochschulautonomie zu gefährden – etwa, wenn sie auf die Autonomiefalle verweisen, in der die Hochschulen stecken. Denn letztere werden einerseits durch die seit jeher unzureichende Finanzierung und den beschlossenen Stellenabbau dazu gezwungen, sich Stück um Stück ihres eigenen Fleisches zu amputieren. Andererseits betonen vor allem CDU-Hochschulpolitiker, die Hochschulen

einzig – aufgrund einer „Anstachelung“ durch die Opposition die Zustände kritisiere. Damit hat der CDU-Hochschulexperte nicht nur Ursache und Wirkung verkehrt, sondern auch erneut seine Geringschätzung einer politisch selbstständigen Studierendenschaft ausgedrückt. Das verwundert nicht, gehörte er doch zu den Wegbereitern der Austrittsoption aus derselben, die bis heute die studentische Mitbestimmung genauso gefährdet wie die Semestertickets. Im Wissenschaftsministerium übt man sich derweil in Ignoranz. Mit Blick auf die Forderungen der Mittelbauinitiative der TU Dresden, die sich an der Demonstration beteiligt und auf die prekäre Lage des wissenschaftlichen Nachwuchses hingewiesen hatte, erklärte ein Ministeriumssprecher in einem Bericht von MDR1 Radio Sachsen sinngemäß, dass Jungakademiker, denen die Zustände „nicht passen“, „ja gehen und sich woanders einen Job suchen“ könnten. Forderungen nach einer Revision des Stellenabbaus ließ die Ministerin erneut

verteidigen: Die Rektoren hätten, so wird gebetsmühlenartig wiederholt, dem Papier doch zugestimmt! Was hätten sie auch tun können? – fragt mit Recht, wer sich ein wenig mit den Entwicklungen befasst, die zu dieser von der CDU gepriesenen Jubelmeldung führten. Dabei stößt man unweigerlich auf die UmEtikettierung des Hochschulgesetzes, das sich fortan „Hochschulfreiheitsgesetz“ nennt und das diesen Anspruch an einigen Stellen ad absurdum führt. So wurden die Regelungen im § 10, der die Hochschulsteuerung betrifft, deutlich zum Vorteil der Regierungsseite verschärft. So kann das Ministerium nun, wenn (Ziel)Vereinbarungen mit den Hochschulleitungen scheitern, die Bestimmung von Zielen komplett an sich ziehen und so Profilbildung, Immatrikulationsund Absolventenzahlen sowie die „Leitlinien der inhaltlichen und organisatorischen Hochschulstruktur einschließlich deren personeller, sachlicher und finanzieller Ausstattung“ oktroyieren. Es entbehrt nicht

seien autonom und trügen somit die Verantwortung für die Kürzungen, oder zumindest für deren Großteil. Ein rotschöpfiges Mädchen aus einer bekannten Kinderbuchreihe von Astrid Lindgren hätte an dieser Bigotterie wohl seine helle Freude gehabt. Wir wollen an dieser Stelle darauf verzichten, dieses Prinzip beim Namen zu nennen; Andrea Nahles hat es immerhin im Bundestag bereits in, sagen wir, denkwürdiger Weise intoniert. Ja, was hätten die Rektoren tun können? Sie hätten die Unterzeichnung der „Zuschuss“- und anderer Vereinbarungen, der sie sich nach geltender Rechtslage kaum entziehen können, mit wahrnehmbarem öffentlichen Protest und nicht mit einem staffagenhaften Foto begleiten können. Sie könnten ebendiesen öffentlichen Protest mindestens bis zu Landtagswahl aufrechterhalten, denn das – faktenorientierte und wertfreie – Benennen von Problemen und Verantwortlichen bedeutet nicht zwangsläufig eine explizite Parteinahme. Und sie könnten ihr Mögliches beitragen, um die Studierenden

und den akademischen Mittelbau in ihren Kämpfen zu unterstützen. All dem steht allerdings der Konkurrenzkampf der Hochschulen entgegen, bei dem jede einzelne versucht, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen. Interessanterweise führt die Tatsache, dass besonders die Universitäten – mit Ausnahme der TU Dresden – gleichermaßen am Gängelband geführt werden, nicht zu Solidarisierungs-, sondern zu Abgrenzungseffekten. Der Staatsregierung kommt das sehr gelegen. Dabei könnte es den Hochschulleitungen nur zum Vorteil gereichen, untereinander und mit all ihren Mitgliedergruppen den Schulterschluss zu üben. Nur so ließe sich Druck aufbauen – Druck, der für die Durchsetzung wichtiger Forderungen unverzichtbar ist: Sachsen muss bei der Grundfinanzierung der Hochschulen endlich auf das Bundesniveau aufschließen und mehr Dauerstellen für Daueraufgaben schaffen. Nur so bleiben Fächervielfalt und Volluniversitäten erhalten. Der wissenschaftliche Nachwuchs braucht bessere Arbeitsbedingungen und klare Aufstiegsperspektiven. Wir dürfen keine Klassengesellschaft von Hochschulen oder Hochschulteilen zulassen, die aber zu entstehen droht, wenn einzelne Standorte – wie die Universität Leipzig – bei der staatlichen Finanzierung benachteiligt werden; oder wenn sich Forschung und Lehre, auch aufgrund der Exzellenzförderung, auseinanderentwickeln. Unsere Hochschulen brauchen demokratische Strukturen und Raum für freie Wissenschaft, damit sie ihre Funktionen erfüllen können – dazu zählt die kritische Selbstbeobachtung der Gesellschaft, obschon sie für die Herrschenden unbequem sein mag. Das alles geht nur, wenn mehr Geld ins System fließt. Der Freistaat kann das leisten: Immerhin sprudeln die Steuereinnahmen, die Rücklagen von „Minister Njet“ Georg Unland platzen. Anstatt wie Dagobert Duck seine Geldspeicher mit Argusaugen zu bewachen, sollte der Finanzminister dem Wissenschaftsressort entgegenkommen und Spielraum für dauerhafte und flächendeckende Investitionen einräumen. Die Aufnahme von Schulden wäre dafür nicht nötig, sie ist ohnehin verboten. Die durchsetzungsschwache Wissenschaftsministerin wird das aber nicht erkämpfen können. Beate Schücking hat in Leipzig Courage gezeigt. Das macht zumindest ein wenig Mut – ebenso wie die Tatsache, dass viele Studierende spätestens seit der Großdemo wissen dürften, worauf es bei der Landtagswahl am 31. August ankommt. Kevin Reißig


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Von Damaskus über Bagdad nach Teheran – Grenzen fallen Wozu gibt es Grenzen? Sie sollen Herrschaftsbereiche definieren. Wir sollten es hier in Europa und insbesondere in Deutschland besonders gut wissen – denn Kleinstaaterei ist zumindest in Mitteleuropa eine „Spezialität“ der Deutschen bis 1871 gewesen. Lange dauerte es danach noch, bis mit der Gründung des Reichsgerichtes in Leipzig ein einheitliches Recht geschaffen wurde. Doch die Grenzen waren auch danach umstritten, so mochten sich viele Sachsen mit der „kleindeutschen“ Lösung nach 1871 nicht abfinden. Man hatte in Dresden gehofft, dass die Gebiete im Süden ebenso Teil des Deutschen Reiches würden – schließlich hatte Sachsen über die Jahrhunderte stets bessere Beziehungen zu Österreich unterhalten als zu Preußen, sowohl militärisch wie wirtschaftlich, aber auch die verwandtschaftlichen Bande des Herrscherhauses waren eher nach Wien als Berlin ausgerichtet. Die Landesgrenze mit Österreich im Süden hatte Sachsen noch bis 1918, doch schon lange hatte man von Sachsen aus über den Gustav-Wasa-Verein die verbliebenen Protestanten in der böhmischen Diaspora unterstützt und auch nach 1918 rissen die Verbindungen nicht ab. Schließlich war die Landesgrenze keine Sprachgrenze. Auf beiden Seiten wurde Deutsch gesprochen, das änderte sich erst nach 1945. War Sachsens Grenze zu Böhmen bis 1945 eine Religions-, aber keine Sprachgrenze, so wurde die Grenze danach eine Sprachgrenze, wobei die Religionszugehörigkeit unwichtig wurde. Staaten wie Syrien, der Libanon, Jordanien oder der Irak haben

ebenfalls keine lange Geschichte. Sie beginnt mit dem Zerfall des Osmanischen Reiches und einem Geheimvertrag zwischen einem französischen Diplomaten und einem englischen Offizier: Mark Sykes und Francois Georges-Picot unterzeichneten am 16. Mai 1916 nach mehrmonatigen Verhandlungen, die im November 1915 begonnen hatten, ein Geheim-Abkommen mit langfristigen Folgen. Ziel war es, Einflusszonen zu sichern – Frankreich und Großbritannien zerteilten schon einmal das Fell des noch nicht erlegten Bären, war man doch sicher, dass der Sultan seine Besitzungen auf drei Kontinenten nicht würde halten können. Punkt 1 bestimmt: „Frankreich und Großbritannien sind bereit, innerhalb bestimmter Gebiete, einen arabischen Staat oder eine Konföderation arabischer Staaten anzuerkennen und zu schützen unter der Souveränität eines arabischen Oberhauptes.“ Natürlich bedeutete das, dass man erst einmal einen willfährigen Herrscher finden musste, der die Interessen seiner westlichen Gönner über die seines Volkes stellte: Es wurde also eine Art „früher Maliki“ gesucht und als irakischer König installiert. Zunächst verschmolzen die Briten drei osmanische Provinzen (Basra, Bagdad und Mossul) zu einem Land und am 23. August 1921 wurde Faisal, Sohn des Scherifen von Mekka, zum König proklamiert. Königreich von Londons Gnaden war der Irak bis zum Juli 1958, dann wurde der König von den Freien Offizieren ermordet und der Leichnam durch Bagdad geschleift – britische Soldaten blieben noch bis März 1959 im Land. Das Bei-

spiel Irak zeigt exemplarisch, wie westlich-imperialistische Interessen denen der Völker der Region seit 1915 übergeordnet wurden. Gleichzeitig kann man daran sehen, dass die jeweiligen Marionetten-Regimes keine lange Überlebenszeit haben. Wir erleben es heute am Beispiel der Regierung Maliki – anders als in Afghanistan, wo die USA mit Hilfe der Bevölkerungsminderheit, der so genannten Nord-Allianz, die Bevölkerungsmehrheit der Paschtunen unterdrücken (Die ihrerseits starken Rückhalt im benachbarten Pakistan haben, weshalb Kabul kaum zu halten sein dürfte.), hat Washington im Irak auf die schiitische Bevölkerungsmehrheit Süden gesetzt und damit die Sunniten im Zentral- und Nordirak verprellt. Gleichzeitig haben die USA mit der Einrichtung der Flugverbotszone in den kurdischen Gebieten nach dem Ersten Irakkrieg in den 90er Jahren ihrerseits die Kurden gefördert und damit eine Abspaltung der kurdischen Gebiete um die Provinz Kirkuk selbst gefördert. Die Darstellung westlicher Medien, dass die Kämpfer der ISIS „Steinzeitislamisten“ seien, stimmt offenbar nicht so ganz. Jedenfalls hat sich nach dem Fall Mossuls die Tochter Saddam Husseins aus Jordanien gemeldet und „Onkel Duri“, einem einst führenden General Saddam Husseins, gedankt – der Vormarsch der ISIS sei über zwei Jahre von ihm geplant gewesen und werde von der Baath-Partei ebenso unterstützt, die seit dem Sturz Saddam Husseins im Exil bzw. im irakischen Untergrund fortbesteht und in der eher säkulare Kräfte den Ton angeben, die

auf einen Sturz des „persischen Regimes“ in Bagdad gezielt hinarbeiten. Die Türkei ihrerseits hat die ISIS, die große Erfolge erzielen konnte – 800 Kämpfer nahmen das 1,5 Millionen Einwohner zählende Mossul ein, obwohl in der Stadt 30.000 irakische Soldaten kaserniert waren – unterstützt und sich dabei offenbar leicht verkalkuliert: Anstatt Präsident Assad in Damaskus zu bedrängen, wenden sich die ISIS-Kämpfer gegen Bagdad. Fast überall sind die Grenzen Makulatur: Die Nordgrenze Syriens, ebenso wie die Ost- als auch die Südgrenze des Landes werden willkürlich von verschiedenen Gruppen überschritten. Saudi Arabien und Katar unterstützen dabei sunnitische Verbände, während Hisbollah und Iran Alawiten und Schiiten in Syrien und im Irak unterstützen. Wenn die USA tatsächlich ein Interesse an einem fortbestehenden Irak hätten, wieso haben sie dann seit den 90er Jahren die Abspaltung der kurdischen Gebiete im Irak gefördert? Wir müssen uns daran gewöhnen: Namen wie Libyen, Irak oder Syrien – bald vielleicht auch Libanon, Jordanien und Ägypten – stehen nur noch für Regionen, die bis vor kurzem noch ein Land unter einer Regierung waren. Die klaren Grenzen gibt es nur noch im Atlas oder auf dem Globus – sie haben aber nichts mit der Realität zu tun. Inzwischen sind riesige Gebiete im Umbruch – doch auch hier können wir in Europa aus der eigenen Geschichte lernen, am Beispiel Jugoslawiens. Der Zerfall dieses Landes in viele kleine Zwergstaaten hat jeweils einer schmalen Oberschicht genützt,

der Masse des Volkes jedoch eher Verelendung als Wohlstand gebracht. Ziel der Völker ist es jedoch, nicht in Zwergstaaterei zurückzufallen, sondern auf großräumigen Gebieten möglichst gut zu leben und sich auch gegen äußere Feinde gegebenenfalls besser zur Wehr setzen zu können. Letzten Endes könnte es zwischen Damaskus und Teheran zwei Gewinner geben: Kräfte, die auf einen säkular-sunnitischen Großstaat Syrien-Irak setzen, und auch den Iran, dessen Einfluss in Syrien, im Irak und im Libanon nicht zu unterschätzen ist. In jedem Fall verlieren die westlichen Staaten ihre Dirigentenrolle in Bagdad wie Kabul, und die lokalen wie regionalen Akteure werden gestärkt aus den „BushKriegen“ der Nullerjahre hervor gehen. Vielleicht werden letztlich die arabischen Völker vom großen Sultan Saladin lernen, dem Gegenspieler von Richard Löwenherz, der in Damaskus beigesetzt wurde: Die Einigung der arabischen Völker hatte Saladin mehr Kraft und Zeit gekostet als letztlich der erfolgreiche Kampf gegen die Kreuzritter. Wer ein „verstärktes deutsches Engagement“ in Afrika oder im arabischen Raum fordert, sollte sich darüber klar sein, dass die komplizierten Machtverhältnisse und lokalen wie regionalen Interessenlagen nicht von den Gaucks, Steinmeiers, von der Leyens und Nouripours durchschaut werden – noch viel weniger von der Bundeswehrführung. Der westliche Imperialismus scheitert dort mit seinen Ideen schon seit 1916 – und ist soeben dabei, in der Region den nächsten grandiosen Schiffbruch zu erleiden. Ralf Richter

Neu-Auftakt der LAG Frieden und Internationales der LINKEN in Sachsen Mit einer Diskussionsveranstaltung zum Thema ‚Neue Krise – Neue NATO ‘ in Freital nahm die Landesarbeitsgemeinschaft Frieden und Internationales der sächsischen Linken am 18. Juni einen gelungenen neuen Anlauf. Zwei Experten linker Sicherheitspolitik, Alexander Neu, Obmann der LINKEN im Verteidigungsausschuss des Bundestags, und Wilfried Schreiber von der Dresdner Studiengemeinschaft für Sicherheitspolitik, diskutierten vor immerhin dreißig Interessierten das Problem NATO vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise und die Position der LINKEN zu ihr. Mit-Einlader und Mitorganisator war dankenswerterweise der Kreisverband Sächsische Schweiz/Osterzgebirge. Bei der Begrüßung verwies Andre Hahn, gastgebender MdB, auf den Stellenwert der Friedenspo-

litik für das Politikangebot der LINKEN. Er sei froh, dass sich GenossInnen im Landesverband dieses Themas wieder mehr annehmen. Er kritisierte das Vorgehen der ukrainischen Seite in

der Ostukraine, verwies auf die faschistischen Tendenzen dort, wies aber auch darauf hin, dass Russland mit der Besetzung der Krim zur Eskalation der Krise beigetragen habe.

Die beiden Diskutanten stellten die Ereignisse in der Ukraine in den Kontext des Themas ‚NATO‘. Beide stimmten überein, dass das Vorgehen in der Ukraine ein Beleg dafür sei, dass weder die Organisation noch die Mitgliedstaaten der NATO heute als Friedensbewahrer gesehen werden könnten, wie es die Allianz selbst von sich behauptet. Alexander Neu sah den Austritt aus den militärischen Strukturen der NATO für Deutschland als möglich und nötig, Wilfried Schreiber forderte die LINKE auf, die OSZE stärker als positives Gegenkonzept und als die Organisation zu propagieren, mit der in Europa Frieden und Stabilität gesichert werden müssten. Beide stimmten überein, dass die LINKE die Partei bleiben müsse, die die Friedensfrage selbstbewusst thematisiert. Aus dem Publikum wurde Unmut über die tendenzi-

ösen Ukraine- Berichterstattung in den öffentlich-rechtlichen Medien geäußert, und die deutliche Positionierung von Sahra Wagenknecht und Sevim Dagdelen in der jüngsten Bundestagsdebatte dazu gelobt. Die LAG Frieden und Internationales, der an dem Abend auch eine ganze Reihe Zuhörer neu beitraten, wird weitere Veranstaltungen für die sächsischen GenossInnen vor Ort machen, u.a. am 16. Juli in Leipzig zum Thema Ukraine. Am 17. September wird in Chemnitz die Ausstellung ‚Neue Bundeswehr‘ der Linksfraktion noch einmal vorgestellt. Voraussichtlich für den 28. November organisiert die LAG zusammen mit dem Stadtverband in Leipzig eine politisch-künstlerische Veranstaltung zum Gedenken an 100 Jahre Erster Weltkrieg. Thomas Kachel


Sachsens Linke! 07-08/2014

Jugend

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Für immer 600? – das Pfingstcamp 2014 Termine Es ist schon fast beängstigend: Letztes Jahr nahmen mit über 540 Personen so viele Menschen wie nie am Pfingstcamp der linksjugend [´solid] Sachsen teil. In diesem Jahr gab es nach derzeitigem Auswertungsstand sogar 612 Teilnehmer*innen bei der viertägigen Veranstaltung. Seit 2012 hüpft das Pfingstcamp damit von Rekord zu Rekord. Neben den Bungalows war auch das Programm reichhaltig gefüllt. Neben Dosenmusik, Live-Auftritten und von Teilnehmer*innen gestellten Live-Shows gab es natürlich auch zahlreiche politische Workshops und Vorträge, die im Einzelnen hier aufzuzählen schlichtweg nicht möglich ist, aber sich in Zahlen zumindest ansatzweise beschreiben lässt: 28 Kulturveranstaltungen, 59 Seminare oder Workshops und 16 sonstige Veranstaltungen oder spezielle Bereiche gab es in den real drei Tagen. Damit das Camp läuft und sich alle wohlfühlen, gesellt sich zu den politischen und kulturellen Beiträgen mittlerweile eine immense Camp-eigene Infrastruktur. Über 35 Personen beteiligten sich zwei Tage am Aufbau des Camps, die Helfer*innen an der Anmeldung mussten noch nie so viele Besucher*innen abfertigen und auch die Pflege der Angemeldeten im Vorfeld („Ich will doch ein anderes Zimmer“, „Wie komme ich hin?“,

„Ich will mit einem anderen Busshuttle zurückfahren“) war eine zeitfressende Aufgabe. Wie immer gab es auf dem Gelände im tschechischen Doksy auch einen eigenen Sanitätsdienst, einen Pfingstcampbeirat, der für Zwischenfälle aller Art zuständig und durchgehend erreichbar ist, einen Technikdienst, die Künstler*innen- und Referent*innenbetreuung sowie ein bis spät in die Nacht geöffnetes Info-Café. Dazu gesellten sich die so genannten drei Prinzess*innen und ein immerzu zählender, tippender und rechnender Schatzmeister („Finanzfee“). Damit die Teilnehmer*innen zum Camp und wieder zurückkamen, gab es vor Ort eigene Busshuttles zum Bahnhof Zittau sowie verschiedene Reiseleiter*innen aus den Ortsgruppen, welche Anund Abreise der aus ihrer Stadt kommenden Teilnehmer*innen koordiniert haben. Nicht mitgezählt sind bis hierher noch die von der Anlage zur Verfügung gestellten Dienste: Reinigung, Essensversorgung, Getränkeausschank und Security. In diesem Jahr gab es weiterhin eine selbst eingerichtete Outdoor-Pfingstcampsauna sowie erstmals einen eigenen Radiosender auf dem Camp, der via Streaming auch außerhalb des Camps gehört werden konnte. Dessen Programm wurde durch einige erfahrene und fes-

Das Wahlkombinat verkündet: Der Wahlkampf wird geil! Unsere 1. Sekretärin der Betriebsparteiorganisation „Wahlkombinat“ Marie Wendland lässt verkünden, dass die Volkseigenen Betriebe (VEB) „Material“, „Presse“, „Aktion“, „Tour“ und „Film“ zu abschließenden Ergebnissen gekommen sind und von der Zentralverwaltungswirtschaft genehmigt wurden. Demnach werden neben dem Landesjugendwahlprogramm noch folgende Materialien von professionellen Gestaltungsmitarbeiter_innen zur Verfügung gestellt: 14 Sticker, Kandidierendenvorstellungsflugblatt inkl. Poster, Postkarte, Plakate, Bierdeckel, Beutel, Becher, Magneten, Luftballons und vieles mehr. Zudem wird es sogenannte „Schnelle Eingreiftruppen für zielgerichtete Aktionen“ geben. Diese agieren insbesondere in einer genau geplanten Tour in allen Landkreisen in Sachsen und schrecken vor nichts zurück. Die jungen Kader, die sich be-

reit und willig für die Landesliste für den Sächsischen Landtag aufgestellt haben, sind voller Zuversicht, dass diese ihren Auftrag erfüllen können, den Stimmenanteil für die Partei bei den Unter-30-Jährigen in Sachsen massiv zu steigern. Dazu wurden spezifische Klassen als Zielgruppen ausgewählt und daran anlehnende Aktionen definiert, sodass keine Sozialistinnen und Sozialisten dem Zugriff der jungen Kader entkommen. Auch im sogenannten Internet wird es zielgerichtete Ansprachen geben, z. B. mit einem Foto-Bilderbuch, das erklärt, warum in Sachsen eine neue Regierung von dringender Notwendigkeit ist. Weitere Aktionen und das genaue Vorgehen der beschriebenen Maßnahmen stehen noch unter Verschluss und werden pünktlich zum Wahlkampfstart am 19. Juli präsentiert. Für die Jugend und allzeit bereit! Marco Böhme

te Moderator*innen wie auch durch andere Teilnehmer*innen gestaltet und war über mehrere Lautsprecher auf dem Gelände gut zu vernehmen. Gesammelt und zusammengetragen wurden alle Pfingstcamp-Ideen vorher sowohl bei einer Tour durch verschiedene Ortsgruppen der linksjugend [´solid] Sachsen, auf den großen Pfingstcampplena und den Orga-Kreis-Treffen. Mit Vorund Nachbereitung dauert das Pfingstcamp somit nicht nur vier Tage, sondern über ein halbes Jahr. Der Anteil an nicht aus Sachsen kommenden Teilnehmer*innen betrug 26 % und bewegte sich damit in etwa auf dem Niveau des Vorjahres. Das Durchschnittsalter lag bei 26 Jahren und der Anteil nicht-männlicher Teilnehmer*innen ist wie bereits die Jahre zuvor leicht angestiegen, beträgt nach wie vor jedoch nur 34,6 %. Knapp 100 der Teilnehmenden haben sich ein Info-Paket der linksjugend [‚solid] Sachsen bestellt. Erfreulich ist auch, dass die Erhöhung des Mindestbeitrags für eine Übernachtung im Bungalow (statt 30 € nun 35 €) zusammen mit einer gestiegenen Zahlungsmoral bei mittleren und höheren E i n ko m m e n s t r ä ge r * i n n e n dazu geführt hat, dass die Einnahmen durch Teilnehmer*innenbeiträge stärker gestiegen sind als die Zahl

der Besucher*innen. Die finale Abrechnung ist bei Drucklegung dieses Heftes jedoch noch in Arbeit. Bei dem in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegenen Teilnehmer*innenzahlen steht zu befürchten, dass irgendwann auch die Anlage in Doksy zu klein werden könnte. Klar ist aber auch, dass das Wachstum der Anzahl und der Breite der kulturellen, organisatorischen und politischen Angebote auf dem Camp ein Wahnsinnserfolg ist. Dieser fußt auch auf den über 150 Besucher*innen des Camps, die sich an dieser, jener oder gleich mehreren Stellen selbst an der aktiven Ausgestaltung desselben beteiligen. Besonders wichtig sind natürlich auch diejenigen Planer*innen und Organisator*innen, die auch im Vorfeld besonders viel Arbeit wegschleppen. Das waren in diesem Jahr beispielsweise die drei „Prinzess*innen“ Marie Wendland, Heiko Weigel und Juliane Roubal – und natürlich der inoffizielle Weltmeister aller Tabellendisziplinen, Rico Knorr. Diesen Vieren insbesondere und auch allen anderen Helfer*innen gebühren mindestens ein gezückter Hut, ein großer Knicks und ein übermäßig freundliches Lächeln. Das nächste Pfingstcamp findet übrigens vom 22. bis 25. Mai 2015 statt. Tilman Loos

11. bis 19. Juli 2014: CSD-Woche Leipzig, Infos: csd-leipzig.de 11. Juli 2014, ab 19:00 Uhr: Workshop „Gendersensibilität im Milieu der LGBTIQ*-Aktivist_ innen in Russland“ im linXXnet, Bornaische Straße 3d, Leipzig 12. Juli 2014: Global Space Odyssey in Leipzig, mehr unter www.gso-le.de 12. Juli 2014: CSD in Pirna, Infos unter www.csd-pirna.de 12. Juli 2014, ab 17:00 Uhr: Forum „Zwischen Aufbruch und Verfolgung“ - Zur Geschichte der LGBTIQ* Bewegung in Russland“, Harkortstraße 10, Leipzig 13. Juli 2014: Treffen des WahlKombinats 13. Juli 2014, ab 16:00 Uhr: Workshop „Sexarbeit und linke Standortbestimmung“, Harkortstraße 10, Leipzig 14. Juli 2014, ab 18:00 Uhr: Vortrag und Diskussion „Ehe + Steuer = Ehegattensplitting oder die Ungerechtigkeit im Staat“ im linXXnet, Leipzig 15. Juli 2014, ab 19:00 Uhr: Buchvorstellung „Queer und (Anti-)Kapitalismus“ im linXXnet 16. Juli 2014, ab 19:00 Uhr: Input und Diskussion „Schönheitsideal, Fatshaming, lookism und anderer Irrsinn“ im Ziegenledersaal, StuRa Uni Leipzig 17. Juli 2014, ab 19:00 Uhr: Vortrag und Diskussion „Sexuelle Orientierung als Fluchtgrund“ im linXXnet, Leipzig 18. Juli 2014, ab 19:00 Uhr: Film und Diskussion „Queering Education – Sexuelle Vielfalt in der Schule“ im Soziokulturellen Zentrum Frauenkultur, Windscheidstraße 51, Leipzig 18. Juli 2014, ab 19:00 Uhr: Lesung und Diskussion „Gib auch uns ein Recht auf Leben!“ Ziegenledersaal, StuRa Uni Leipzig 19. Juli 2014, ab 14:00 Uhr: CSD-Demo, ab 16:00 Uhr CSDStraßenfest, Marktplatz Leipzig. 19. Juli 2014: Wahlkampfauftakt 20. bis 31. Juli 2014: Jugendplakatierungstouren. Wenn Du dabei sein willst, schreib an marie. wendland@dielinke-sachsen.de 27. Juli 2014, ab 12:00 Uhr: BRSitzung im linXXnet, Leipzig 31. Juli bis 24. August 2014: Jugendwahlkampftouren. 15. bis 22. August 2014: linksjugend-Sommercamp auf der Nordsee-Insel Föhr, Infos und Anmeldung unter www.linksjugend-solid.de 17. August 2014, ab 12:00 Uhr: BR-Sitzung in der WahlFabrik, Kleiststraße 10a, Dresden 29. August 2014: Wahlkampfabschluss 31. August 2014: Wahlparty in Dresden oder auch bei Dir, Infos unter www.wahlparty.org 13. September 2014: Stains In The Sun Festival, Naturbühne Schwarzenberg, Infos und Tickets unter www.agenda-alternativ.de/events/stains-inthe-sun-festival


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DIE LINKE im Europäischen Parlament

07-08/2014  Sachsens Linke!

Die neue linke Fraktion im Europaparlament Noch steht der Name der neuen linken Fraktion nicht fest, aber sie steht. Deutlich gestärkt, von 35 auf 52 Mitglieder, ist sie größer als die Fraktion Grüne/EFA, und sie ist zu 50 % mit Frauen besetzt! Die große Freude darüber darf uns nicht täuschen, denn die größten Gewinner der Europawahlen sind Rechtspopulisten und extreme Rechte. Glücklicherweise ist der Versuch von Marine Le Pen, die mit 24 Abgeordneten ins Parlament kam, eine weitere rechte Fraktion neben der EFD und ECR zu gründen, gescheitert. Doch zurück zu uns. Von den 52 Mitgliedern unserer Fraktion kamen zwölf erst im Juni von Verhandlungen hinzu. Zwei verließen die Fraktion, beide Mitglieder der Griechischen Kommunistischen Partei, die jetzt bei den Fraktionslosen sind. Den ganzen Juni über wurde mit den Neuankömmlingen verhandelt. Erstmalig gab es die Situation, dass viele neue Abgeordnete zu den Grünen und zu uns kamen, um über Fraktionsmitgliedschaft zu sprechen. Und erstmalig wurde unserer Fraktion in sehr vielen Fällen der Vorzug gegeben. Die linke Fraktion hat de facto völlig neue Politikströmungen als Zuwachs, die für das bisherige Spektrum eine echte Herausforderung darstellen. Wir sind in Nord- und Südeuropa deutlich gestärkt worden. In Mitteleuropa sind wir stabilisiert, im unmittelbaren Osteuropa haben wir jedoch keinerlei Vertretung, ebenso wenig auf dem Balkan. Die KSCM ist mit ihren drei Mitgliedern die einzige linke Partei hin zum Osten, und dabei müssen wir sie unterstützen. Parteien wie die AKEL in Zypern haben trotz Regierungsverlust die meisten Stimmen im eigenen Land geholt und sitzen erneut mit zwei Mitgliedern im Boot. Während wir LINKEN, Front de Gauche in Frankreich und die Bloco de Esquerda Por-

tugal zwar gute Ergebnisse einfuhren, aber einen Platz verloren, ist der Zuwachs in anderen Regionen enorm. Im Übrigen hat in Portugal die auch in unserer Fraktion verankerte PCP (Kommunistische Partei) auf drei Abgeordnete zugelegt. Die großen Ergebnisse kommen aber zuallererst aus Griechenland und Spanien. SYRIZA ist von 1 auf 6 Abgeordnete hochgeschnellt, unter ihnen der legendäre Antifaschist Manolis Glezos. Neben der spanischen Izquierda Plural, die von 1 auf 5 Abgeordnete hochschoss, kamen aus Spanien noch zwei

enische Linke in unserer Fraktion gibt. Ein Wahlbündnis mit Hilfe von Alexis Tsipras kam in Italien zustande, die Liste „Das andere Europa mit Tsipras“ mit drei Abgeordneten, unter anderen der Tochter des großen Linken Alterio Spinelli. Deutlich stärker wurde auch der Norden, die Nordisch-Grüne-Linke. Sinn Fein in Nordirland hat jetzt 4 Abgeordnete (früher 1). Die schwedische Vänsterpartiet ist mit einer Abgeordneten dabei, neu ist der finnische Linksbund mit einer jungen Powerfrau, die bereits 2 Ministerämter ausgeübt hat. Auch die Sozialistische

Mitgliedsstaaten kommen 19 Delegationen, das heißt unterschiedliche Parteien. Die nächsten Monate sind davon geprägt, sich aufeinander einzustellen, niemanden zurückoder stehen zu lassen, was unter Linken eine besonders schwere Aufgabe ist. Wie schwer das sein kann, spürten wir ein paar Tage später, als es um die innerfraktionellen Posten ging. Man muss wissen, dass aufgrund des konföderalen Charakters Entscheidungen dieser Art einvernehmlich und ohne Abstimmungen erfolgen. Das bedeutet, dass Entscheidungspro-

weitere neue politische Richtungen hinzu, die links verankert sind. Das ist Podemos („Wir können!“) mit gleich 5 Abgeordneten, eine Partei, die erst im März 2014 im Umfeld der Proteste gegen die Sparpolitik gegründet wurde. Pablo Iglesias, ein 35jähriger Professor, gehört zu den bekanntesten Gesichtern in Spanien. Und es gibt noch eine dritte Partei, BILDU, ein sozialistisches baskisches Wahlbündnis mit einem Abgeordneten. Besonders stolz sind wir auch, dass es erstmals wieder itali-

Partei in den Niederlanden legte auf 2 Abgeordnete zu. Nicht zuletzt kamen über das niederländische Verhandlungsticket noch zwei Tierschützer dazu, aus Deutschland und den Niederlanden. Wir haben sogar auch einen Unabhängigen Vertreter aus Irland in der Fraktion, der sich selbst als Lokalisten bezeichnet. Neben aller Freude gab es auch schlechte Meldungen. Unseren kroatischen Freund Nikola haben wir nicht mehr in der Fraktion, weil seine Partei das Quorum verfehlte. Fazit: Aus 14

zesse teilweise langwierig sind und man Durchhaltevermögen braucht. So erklärte mir beispielsweise ein neu gewählter Abgeordneter, der, wie das immer so ist, vorgeschoben wurde, Gabi solle nicht Fraktionsvorsitzende werden. Es müsse eine Doppelspitze geben, damit die Pluralität der Fraktion sich besser widerspiegelt. Zugleich meldete SYRIZA an, den Vorsitz nach zweieinhalb Jahren übernehmen zu wollen. Wir LINKEN haben letzteres sehr unterstützt und es als ein gu-

tes politisches Zeichen verstanden, wenn SYRIZA in den ersten zweieinhalb Jahren für unsere Fraktion den VIZE-Präsidenten des Europaparlamentes stellt und danach die Fraktion übernimmt. Als das Unterstützer fand, erklärten dieselben, die vorher Gabi nicht wollten, dass unbedingt Gabi Vorsitzende werden müsse, weil sie die Fraktion gut führe und lediglich Unterstützung brauche. So wurde dann zur Repräsentanz der politischen Familien in der Fraktion drei Vize-Vorsitzende gewählt, ein Modell, das wir LINKEN unterstützt haben. Naja, ihr kennt solche Spielchen, am Ende saßen in meinem und anderen Büros von früh bis spät allerhand Abgeordnete, erst verärgert, aber dann eifrig und gut an einer Lösung arbeitend. Nach vielem Gezerre und Geziehe über Wochen hinweg entströmte dann doch weißer Rauch und eine gute Lösung wurde gefunden, die – typisch Linke – in gebührendem Pathos gepriesen und später begossen wurde. Unsere Gabi wurde einstimmig für zweieinhalb Jahre zur Fraktionsvorsitzenden gewählt. Ihre Vize wurden je ein Vertreter von AKEL, Front de Gauche und der NGL. Als Vizepräsident des Europaparlamentes für unsere Fraktion wurde unser griechischer SYRIZA-Genosse Dimitris Papadimoulis vorgeschlagen, der in der zweiten Parlamentsrunde den Fraktionsvorsitz übernimmt. Fakt ist, dass zum ersten Mal in der Geschichte der GUE/NGL die Wahlen zum Fraktionsvorsitz nicht durch die Parteivorsitzenden vorbestimmt wurden, sondern wirklich und tatsächlich dort entschieden wurden, wo es auch stattfinden muss. Das ist im Sinne der innerfraktionellen Demokratie ein ziemlicher Fortschritt. Und ich sage Euch, es wird nicht der einzige bleiben … Cornelia Ernst

Die Kinder des Windes: Vom Leben der brasilianischen Roma Brasiliens Roma kamen ab 1685 als aus Portugal deportierte Menschen nach Brasilien. Das Sprechen der eigenen Sprache, des „Romanes“, wurde als Verbrechen geahndet. Heute gibt es über eine Million Roma in Brasilien, die sich selbst Kale nennen, wie es auch spanische und portugiesische Roma bis heute tun. Kale heisst „Schwarze“. 75 % der Kale leben offiziell unter der Armutsgrenze. Sie sehen anders aus, kleiden sich anders und fallen dennoch auf im bunten Schmelztiegel Brasiliens. Auf die Frage nach ihrer Besonderheit und danach, warum sie sich nicht zum Beispiel am Strandleben Rio de Janei-

ros beteiligen, kommt häufig die Antwort: „Das ist eben nicht unsere Kultur. Noch nie gewesen.“ Ihre Kultur, das ist das freie Leben in Zeltcamps, das sichtbare Tragen von Gold (als Zähne, aber auch als Kettenschmuck), die langen Röcke der Frauen, die Wahrsagerei und das Tanzen ... Sie sind aber auch teilweise angekommen in Brasiliens Arbeitswelt, sind Zahnarztassistentin und Taxifahrer. Als Wohnungsmieter sind sie aber nicht beliebt. Vorurteile begegnen ihnen sehr häufig.Ihre Besorgungen machen Sie lieber auf dem Basar in der Altstadt, nicht nur der günstigeren Kosten wegen. Die Atmosphäre in den Supermärk-

ten ist nicht zu vergleichen mit den vielen Gesprächen und Begegnungen auf dem Basar. Außerdem besitzen viele Kale nur Bargeld (aufgrund der unregelmäßigen Einkommen), und Kreditkarten werden ihnen häufig verwehrt. Was sie leben, sind ihre rauschenden Feste und ihre Traditionen. Die Frau kocht, heiratet jung (unter 18) und kümmert sich um Wasser und Familie. Wasser ist seit jeher das wichtigste Siedlungsmerkmal. Die Männer handeln und sorgen sich ums Einkommen. Nach außen wirkt die Gesellschaft der Kale sehr patriarchalisch. In Wirklichkeit lenken aber die Frauen die Geschicke der Kale.

Feministische Ansätze breiten sich immer mehr aus und verdrängen, stückweise aber langsam, althergebrachte und traditionelle Verhaltensweisen. Ein Großteil der Frauen besteht darauf, die Schulbildung ihrer Kinder zu bestimmen und diese auch sehr umfassend durchzusetzen. Die wohl wichtigsten Eigenschaften der Kale sind ihr Gemeinschaftssinn und ihre Gastfreundschaft. Das schützt sie in gewisser Weise, gibt Zusammenhalt und macht sie aber auch sehr offen für ihre Umwelt und für die Zukunft. Die Zukunft der Kale ist aber auch eng verwoben mit den Problemen und Umbrüchen der brasilianischen

Gegenwart. Der Respekt, der Familiensinn, die Gastfreundschaft, die Geborgenheit in ihrer Gemeinschaft können aber auch den anderen Völkern Brasiliens Wegweiser sein. In diesem Sinne sind die Kale auch Pendler zwischen Tradition und Moderne, zwischen Metropole und Campleben, und vielleicht ist es gerader dieser Spagat, der ihr Überleben als Volk in Brasilien ermöglicht. Sven Scheidemantel


Sachsens Linke! 07-08/2014

DIE LINKE im Bundestag

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„Das ist Verschwendung im großen Stil“

Ein Gespräch mit Michael Leutert über den Etat des Verteidigungsministeriums Michael, Du bist für DIE LINKE Mitglied im Haushaltsausschuss und dort unter anderem für das Verteidigungsministerium zuständig. In der abschließenden Debatte zum Bundeshaushalt 2014 hast Du direkt auf Ministerin von der Leyen geantwortet. Wie kritisiert man einen Haushalt, den DIE LINKE grundsätzlich kritisch sieht? Grundsätzlich und konkret. Natürlich haben wir fundamentale Kritik, ob beim Thema Auslandseinsätze oder anderswo. Aber sich ans Rednerpult zu stellen und zu sagen: „Wir wollen das so nicht“, ist zu wenig. Das Verteidigungsministerium hat mit 32 Milliarden den zweithöchsten Etat. Das sind öffentliche Gelder. Da muss man als Haushälter schon genau hinschauen, wie mit dem Geld umgegangen wird.

um aufräumen, zumal sie den zuständigen Staatssekretär genauso wie den Abteilungsleiter entließ und endlich eine transparente Beschaffungspolitik gegenüber dem zuständigen Haushaltsausschuss ankündigte. Doch seitdem ist kaum etwas geschehen. Stattdessen sind im neuen Bundeshaushalt erneut Mittel für diese Projekte eingestellt. Und das, obwohl bislang nicht eines überprüft worden ist und somit bei keinem feststeht, ob es überhaupt beschafft werden soll. Das ist Verschwendung im großen Stil. Das können und müssen wir am Haushalt kritisieren.

Hat von der Leyen wenigstens ihre anderen Ankündigungen umgesetzt? Das kann man nicht sagen. Unmittelbar vor der abschließenden Beratung des Bundeshaushalts im Plenum wurde bekannt, dass die Bundeswehr zunächst den Kauf einer weiteren Marge ihres Standardgewehrs G36 für 34 Millionen Euro stoppt. Grund ist ein vom Bundesrechnungshof in Auftrag gegebenes Gutachten, dessen Ergebnis nahelegt, dass das Gewehr bei Hitzeentwicklung ungenau schießt. Nun ist das Problem nicht neu. Bislang

hatte sich das Verteidigungsministerium aber damit herausgeredet, dass es Einzelfälle gewesen seien, an denen die Munition Schuld gehabt habe. Von dem neuen Gutachten haben wir Abgeordneten erst aus der Presse erfahren. Wenn das die neue Transparenz sein soll, versteht von der Leyen da entweder etwas anderes darunter als ich oder sie hat ihr Haus nicht im Griff. Von der Leyen hat unter anderem dadurch von sich reden gemacht, dass sie die Bundeswehr zu einem „attraktiven Arbeitgeber“ ma-

Kannst Du das an einem Beispiel verdeutlichen? Nehmen wir das Thema Rüstungsprojekte. Kaum im Amt, hat Frau von der Leyen keinen einzigen Statusbericht ihres Ministeriums zu den großen Rüstungsvorhaben gebilligt. Deren Entwicklungszeiträume und damit die Kosten waren völlig aus dem Ruder gelaufen, technische Mängel keine Seltenheit. Die Ministerin kündigte an, alle auf den Prüfstand zu stellen. Das betrifft nicht weniger als fünfzehn Rüstungsprojekte. Es sah zunächst so aus, als werde sie wirklich in dem Ministeri-

chen will. Kann und soll eine Armee, die in letzter Konsequenz für den Krieg da ist, ein attraktiver Arbeitgeber sein? Auch hier möchte ich zwischen genereller und konkreter Kritik unterscheiden. Unabhängig von unserer Kritik, zum Beispiel beim Thema Auslandseinsätze, sollten die einzelnen Soldatinnen und Soldaten nicht unsere Gegner sein. Das sind die Politikerinnen und Politiker, die sie in falsche und gefährliche Einsätze schicken. Es ist kein verkehrter Gedanke, zu verhindern, dass Familien häufig und manchmal mitten im Schuljahr umziehen müssen, weil ein Familienangehöriger in der Bundeswehr ist. Schließlich geht es da um Menschen, das wird nicht anders, wenn jemand Uniform trägt. Doch das Konzept wurde erst vorgestellt und bildet sich in diesem Haushalt noch nicht ab. Ich möchte auf etwas anderes hinweisen: Die Bundeswehr ist mittlerweile an 18 Auslandseinsätzen beteiligt. Das kostet pro Jahr nicht nur weit über eine Milliarde Euro. Die Soldaten wissen nicht mehr, warum sie überall eingesetzt werden. Das beschäftigt sie mehr als die Frage, ob sie einen LCD-Fernseher auf der Stube haben. Wir LINKE haben da eine klare Position: Die Bundeswehr hat den Auftrag der Landesverteidigung und nicht Auslandseinsätze nach dem Motto: „Koste es, was es wolle.“ Die Fragen stellte Nikolas Tosse.

Endlich: Der Mindestlohn kommt. Aber das reicht nicht! Der gesetzliche Mindestlohn kommt und das ist gut so. In Deutschland wurde ein Niedriglohnsektor etabliert, der europaweit seinesgleichen sucht. Und trotzdem haben sich SPD und Grüne, zuletzt noch die Union, lange Zeit gegen den Mindestlohn gewehrt. Dass der Mindestlohn kommt, ist der Verdienst von hunderttausenden, ja Millionen Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern vor allem von ver.di und NGG. Und es ist unser Verdienst als LINKE. Wir haben als politische Kraft als erste und am entschlossensten dafür gekämpft und sollten dies überall sagen und uns freuen. Ein gut gemachter Mindestlohn nützt vor allem Frauen, Migrantinnen und Migranten und nicht zuletzt Beschäftigten aus den neuen Bundesländern. Denn all diese sind derzeit übermäßig

von Niedriglöhnen betroffen. Aber der Mindestlohn der Großen Koalition reicht nicht! Er reicht zum einen nicht, weil er zu niedrig und zu löchrig ist. Ein geplanter Mindestlohn von 8,50 Euro in der Stunde ist zu wenig, um wirklich aus der Armut herauszukommen. Und er reicht nicht, um im Alter nicht auf staatliche Unterstützung angewiesen zu sein. Seine Höhe liegt unter den Mindestlöhnen unserer westlichen Nachbarländer Frankreich, Belgien und den Niederlanden. Und er wird in den nächsten Jahren durch die Inflation entwertet, denn der Gesetzentwurf sieht eine Erhöhung frühestens ab 2017 vor. Zu Recht wird der Mindestlohn der Großen Koalition mit einem Schweizer Käse verglichen. Es gibt vorübergehende Ausnahmeregelungen für Branchen-

tarifverträge unter 8,50 Euro. Jahrlange Lohnsubventionen sind für die Zeitungsbranche im Bereich der Zusteller geplant. Junge Beschäftigte unter 18 Jahren sind ebenso ausgenommen wie Langzeitarbeitslose, für die der Mindestlohn in den ersten sechs Monaten einer neuen Beschäftigung nicht gelten soll. DIE LINKE sagt klar: Wir brauchen einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn ohne Ausnahmen und in Höhe von zehn Euro. Nur so ist sichergestellt, dass der Mindestlohn wirklich für alle gilt und bei Vollzeitarbeit aus der unmittelbaren Armut herausführt. Das sehen auch die Gewerkschaften so. DIE LINKE sagt aber auch klar – und das wird leider allzu oft vergessen: Der Mindestlohn soll eine untere Haltelinie sein, nicht die Regelbezahlung! Wir

brauchen insgesamt höhere Löhne. Dieser Weg führt nur über mehr und bessere Tarifverträge, in denen die Löhne und Gehälter geregelt sind. Seit Jahren nimmt die Tarifbindung ab. In den neuen Bundesländern werden inzwischen mit 53 % mehr als die Hälfte aller Beschäftigten nicht mehr nach einem Tarifvertrag bezahlt, in den alten Bundesländern sind es schon 40 %. Um dies zu ändern, brauchen wir stärkere Gewerkschaften. Hier ist jeder von uns gefordert, aktiv beizutragen. Und prekäre Beschäftigung muss eingedämmt werden. Denn diese schüchtert ein, spaltet und schwächt die gemeinsame Interessensvertretung. Die Große Koalition will hier nichts tun und hält so eine wesentliche Stütze des Niedriglohnsektors aufrecht. Sie will das Verfahren zur so-

genannten Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen erleichtern, damit diese für alle Beschäftigten einer Branche gelten. Das ist richtig und wichtig. Aber die Pläne der Regierung haben einen Haken. Sie räumen dem bundesweiten Lobbyverband der Arbeitgeber ein Widerspruchsrecht ein. So wird der Bock zum Gärtner gemacht. In diesem Sinne ist nach dem Mindestlohn vor dem Mindestlohn! Wir sind in den nächsten Jahren weiter gefordert! Sabine Zimmermann


Geschichte

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Der fremde Freund Die Hassliebe zwischen den beiden Gründervätern der deutschen und der europäischen Arbeiterbewegung, Ferdinand Lassalle und Karl Marx, bereitet noch heute Unbehagen. Der Sohn eines begüterten jüdischen Tuchhändlers in Breslau, damals die zweitgrößte Stadt Preußens, rebelliert gegen die vom Vater oktroyierte kommerzielle Berufsperspektive, bricht eigenmächtig den Besuch der Leipziger Handelsschule ab und erstreitet durch ministerielle Verfügung die Zulassung zum Studium der Philologie und Philosophie, zunächst in seiner Geburtsstadt, ab 1844 in Berlin. Er ist von Hegel fasziniert und wählt, wie vor ihm Marx, griechische Naturphilosophie als Dissertationsthema. Obwohl beiden die akademische Karriere verwehrt wird, definieren sie sich als Männer der Wissenschaft. Lassalle verkehrt in den Berliner Salons und genießt wegen seiner altphilologischen Forschungen die Anerken¬nung der hauptstädtischen Gelehrten, was Marx im fernen London so weder wahrnehmen kann noch will. Beide waren mit Heine befreundet, der den zwanzigjährigen Lassalle »als Mann von den ausgezeichnetsten Geistesgaben: mit dem weitesten Wissen, mit dem größten Scharfsinn« feiert. Nach vertraulichen Gesprächen beschreibt Otto von Bismarck Jahrzehnte später die von Lassalle ausgehende Faszination so: »Was er hatte, war etwas, was mich als Privatmann außerordentlich anzog; er war einer der geistreichsten und liebenswürdigsten Menschen, mit denen ich je verkehrt habe […] ich würde mich gefreut haben, einen ähnlichen Mann von dieser Begabung und geistreichen Natur als Gutsnachbar zu haben.« Und nun Marx: Miteinander bekannt werden beide im Revolutionsjahr 1848. Bei Besuchen in Köln und Düsseldorf wachsen rasch enge Freundschaftsbande. Lassalle akzeptiert, ja bewundert den sieben Jahre älteren Chefredakteur der »Neuen Rheinischen Zeitung« als das »geistige Oberhaupt jener Partei, zu der er sich«, wie er später zu Protokoll geben wird, »frühzeitig aus eigener Kraft hineingefunden hatte«. Währenddessen beeindrucken Marx Intelligenz, Tatkraft und Mut seines Duzfreundes. Jenseits aller später aufkeimenden politischen Differenzen sind es die Persönlichkeit und das Privatleben des Jüngeren, die Hass und Zwietracht säen werden: Im Auftreten grell, egozentrisch und mit einem unverkennbarem Hang zur Selbststilisierung polarisiert Lassalle. Dass er 1852 im Kölner Kommunistenprozess im Unterschied zu ande-

ren Freunden und Mitstreitern von Marx nicht angeklagt wird, nährt weiteren Verdacht. Seine Beziehung zu Sophie Gräfin von Hatzfeldt, die in einer Ehe mit einem Tyrannen gefangen ist, der sie drangsaliert und demütigt, gilt als Skandal. Lassalle organisiert den Scheidungsprozess, vermag die öffentliche Meinung gegen den gewalttätigen Ehegatten zu mobilisieren und arrangiert sogar den Diebstahl belastender Dokumente, die viel Aufsehen erregende Kassettenaffäre. 1853 endlich geschieden, kann die Gräfin über ein beträchtliches Vermögen verfügen. Es soll für alle seidenen Morgenmäntel und fürstlich möblierten Wohnungen reichen, die Lassalle sich jemals wünschen wird und befreit sein intellektuelles und politisches Engagement von allen Erwerbsnöten – eine äußerst komfortable Lage, von der Familienvater Marx im Londoner Exil nur träumen kann. Viel Feindseligkeit, die Lassalle nun entgegenschlägt, gründet im Unverständnis für sein unkonventionelles Privatleben. Es bleibt unklar, so der amerikanische Marx-Biograf Jonathan Sperber, »was schwerer wog: dass man in ihm einen Gigolo sah, der vom Vermögen einer wohlhabenden älteren Frau lebte, oder aber dass er (und so gestaltete sich Lassalles Beziehung zur Gräfin tatsachlich) kein Gigolo war, doch mit einer wohlhabenden älteren Frau zusammenlebte und sich von ihr aushalten ließ, ohne indes eine

Affäre mit ihr zu haben.« Lassalle vermittelt nicht nur zwei für Marx’ Lebensunterhalt wichtige Anstellungen als Londoner Korrespondent der Breslauer »Neuen Oder-Zeitung« und der Wiener »Presse«. Für das erste Resultat der ökonomischen Forschungen des Freundes, Marx’ Schrift »Zur Kritik der politischen Ökonomie«, aber auch Engels’ Abhandlung »Po und Rhein« kann er einen Verleger gewinnen. Wiewohl er den Konflikt mit Karl Vogt lieber vermieden hätte, beschafft er den Löwenanteil der Druckkosten für Marxens Pamphlet und ist zur Stelle, wenn der Londoner Freund knapp bei Kasse und Engels nicht solvent ist. Allerdings ist ihm immer daran gelegen, als unabhängiger Denker und radikaler Theoretiker wahrgenommen zu werden, und in gravierenden politischen Fragen vertritt er zunehmend divergierende Auffassungen, die der Realität aber zuweilen näher kommen als die Optionen der Londoner Freunde. Im März 1861 folgt Marx der Einladung zu einem Besuch in die preußische Metropole. Lassalle lässt für seinen Gast aus London den roten Teppich ausrollen. Marx bereitet ein »dinner in honour of my return« mit Honoratioren der hauptstädtischen Gesellschaft Entzücken. Er will mit Lassalles Hilfe die preußische Staatsbürgerschaft zurückerlangen und, falls dies gelingen sollte, ergründen, welche Chancen ein gemeinsames Zeitungsprojekt hat. Von der Aussicht, sich wieder

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ins Getümmel stürzen zu können, ist er hin- und hergerissen. Er genießt die Gastfreundschaft und lässt sich von der Berliner Gesellschaft als Salonlöwe feiern. Obwohl Lassalle für den Freund alle Hebel in Bewegung setzt, Medien mobilisiert, sogar eine parlamentarische Intervention initiieren kann, wird Marx die preußische Staatsbürgerschaft verwehrt. Schließlich gerät ein dreiwöchiger Gegenbesuch in London im Juli 1862 zum Fiasko. Während Lassalle noch lange und mit entwaffnender Naivität glaubt, er sei der Dritte im Marxschen Freundschaftsbunde, mehren sich in dessen vertrauter Korrespondenz mit dem Alter ego in Manchester Bekundungen des Misstrauens und, hier sträubt sich die Feder, antisemitische Schmähungen über den vermeintlichen Freund. Dessen ungeachtet vollbringt der viel und nicht immer rechtens Gescholtene mit der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins am 24. Mai 1864 in Leipzig sein politisches Meisterwerk, die weltweit erste sozialistische Partei, für viele Linke ein Mythos. Das geradezu tragikomische Ende ist schnell erzählt: Ein Liebeshändel mit Helene von Dönniges, der kapriziösen 20jährigen Tochter des bayerischen Gesandten in der Schweiz. Lassalle will partout die Genehmigung ihres Vaters zur Heirat. Freunde drängen Richard Wagner vergebens, bei Ludwig II. für den Schwerenöter zu intervenieren. Lassalle fällt nach dem ersten Schuss in einem lächerlich operettenhaften Duell mit Janco von Racowitza, Helenes Verlobtem aus der Wallachei. Der liebestolle Sozialist stirbt, schwer verletzt, drei Tage später am 31. August 1864, noch nicht einmal 40 Jahre alt. Ein Leben wie ein Roman. Im viktorianischen England wird ihn George Meredith (1880), in der DDR Stefan Heym (1968) schreiben. Was lehrt die Archäologie dieser für Linke paradigmatischen Hassliebe? Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich oft, wissen wir von Mark Twain. Mit gebotenem Skeptizismus könnte folgendes bedacht werden: Selbst in nebensächlichen Entscheidungen müssen nicht immer nur die recht behalten, die als die Klügsten gelten. Es scheint ein fatales Kontinuum der Geschichte auch von Linken zu sein, Konkurrenz und Neid nicht zügeln zu können und den Freund als erbittertsten Feind zu verkennen. In seinem grandiosen Roman »Leben und Schicksal« antwortet Wassili Grossmann auf die selbstgestellte Frage »Was aber ist Freundschaft? Genügt eine Gemeinsamkeit des Berufs oder

des Schicksals, um eine Freundschaft zu begründen?« elegisch: »Manchmal ist doch der Hass zwischen Menschen, die der gleichen Partei angehören und deren Ansichten sich nur um Nuancen voneinander unterscheiden, größer als der Hass auf die Feinde dieser Partei. Hassen Kampfgenossen einander nicht mitunter mehr als den gemeinsamen Feind?« Manfred Neuhaus

Briefe Vor einigen Jahren machte das Berliner Auktionshaus J. A. Stargardt mit einem weitgehend unbekannten Brief von Marx an Sophie von Hatzfeldt Schlagzeilen. Für stattliche 52.000 Euro erhielt ein deutscher Privatsammler den Zuschlag. Das besondere Interesse des Feuilletons fand das vierseitige Schreiben vom 16. Oktober 1864 nicht zuletzt deshalb, weil Marx darin der Gräfin zum Tod des Freundes kondoliert: »Sie haben ganz recht, wenn sie unterstellen, daß Niemand mehr als ich das Große u. Bedeutende in L. anerkennen konnte. Er selbst wußte dieß am besten, wie seine Briefe an mich beweisen. Ich habe ihm, solange wir in Correspondenz standen, auf der einen Seite stets meine wärmste Anerkennung über seine Leistungen ausgesprochen, auf der andern stets rückhaltslos meine kritischen Bedenken über dieß oder jenes mir mangelhaft Scheinende mitgetheilt. Noch in einem seiner letzten Briefe an mich spricht er sich über die Befriedigung, die ihm dieß gewährte, in seiner eigenthümlich gewaltsamen Weise aus. Aber von aller Leistungsfähigkeit abgesehen, liebte ich ihn persönlich. Das Schlimmste ist, daß wir [es] uns wechselseitig immer verhehlten, als sollten wir ewig leben …« Für die Öffentlichkeit, so empfahl Marx, müsse die Vorgeschichte des Duells einfach, wahrheitsgemäß und ohne Rücksicht dargestellt werden. Es sei im Interesse der Partei, die Privatcharaktere der Führer vor Verleumdungen zu schützen, sollte aber nicht wie ein Parteimanöver aussehen. Es handele sich zunächst um »die Vertheidigung L’s des Menschen, nicht des Parteiführers«, also »um die Darstellung der verhängnißvollen persönlichen Wirren, die seinen Tod herbeiführten«. Im Übrigen teile er nicht ganz die sanguinische Auffassung der Gräfin über »die ›Partei‹ in Deutschland«. Nach vielen Illusionen, die er in dieser Sache erlebt habe, müsse sie ihm etwas Skeptizismus zugute halten; »Scepticismus nicht an der Sache, auch nicht am schließlichen Sieg unserer Ansichten, wohl aber Zweifel an den Massen und den Leitern dieser Massen«. Manfred Neuhaus


Geschichte

Links! 07-08/2014

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Größe und Schuld Georgi Dimitroffs Das „kurze 20. Jahrhundert“, das als „Jahrhundert der Exreme“ in die Geschichte eingehen könnte, wenn nicht – wie bei der Klimaentwicklung bereits absehbar – auch die gesellschaftliche Entwicklung neuen, bisher nicht gekannten Konvulsionen entgegengeht, ist reich an herausragenden Gestalten, die für dieses zerrissene Jahrhundert stehen. Zu ihnen gehört zweifellos Georgi Dimitroff, dessen Todestag sich am 2. Juli zum 65. Mal jährte. Er steht für eine dieses Jahrhundert prägende Bewegung, den Kommunismus, die trotzihres Scheiterns nicht als „abgeschlossenes Sammlungsgebiet“ zu den Akten gelegt werden kann. Dem „übriggebliebenen“ Kapitalismus ist seine Alternative abhanden gekommen. Er steht unverhüllt in seinen neuen Kleidern. Das triumphalistisch ausgerufene „Ende der Geschichte“ ist kleinlaut verstummt. Die gescheiterte Alternative gewinnt insofern – wenn nicht alle Zeichen trügen – erneut und neues Erkenntnisinteresse. Leben und Wirken des Bulgaren Georgi Dimitroff stehen paradigmatisch für die sich herausbildende kommunistische Weltbewegung, die Kommunistische Internationale als erster und bisher einziger Weltpartei, für ihre Erfolge, Widersprüche und ihr Scheitern, für den kommunistischen Antifaschismus, dessen Repräsentant Dimitroff wie kein anderer war, aber auch für den aufkommenden Stalinismus, dessen Verrat der kommunistischen Ideale er nicht verhinderte/ verhindern konnte. Schließlich steht er für den Versuch, nach der Zerschlagung des Hitlerfa-

schismus seiner Heimat und dem zerrissenen Balkan eine Zukunft zu weisen. Das Bild Georgi Dimitroffs gewann nach jahrzehntelanger Entstellung erst in diesem Jahrhundert durch die Veröffentlichung seiner Tagebücher (Bd. l I Bd. 2, Berlin 2000) und durch den Zugang besonders zu den Moskauer und anderen Archiven neue Konturen. Die Tagebücher gewähren einen Einblick in das Innenleben der kommunistischen Weltbewegung in einer Zeit, in der diese einerseits zunehmend gekennzeichnet wurde durch das repressive stalinistische Regime, das mit dem großen Terror einem Exzess der Gewalt und des Verrats an ihren eigenen Gründungsidealen entgegeneilte. Andererseits wirkten diese Ideale in der kommunistischen Weltbewegung weiter. In der Gestalt Sowjetrusslands gewannen sie angesichts des triumphierenden Hitlerfaschismus in den Augen der Zeitgenossen neue Anziehungskraft als einzige antifaschistische Alternative. Durch seine glanzvolle Verteidigung im Leipziger Reichstagsbrandprozess wie kein anderer geeignet, den kommunistischen Antifaschismus zu repräsentieren, wurde Dimitroff an die Spitze der Komintern gestellt, deren tatsächliche Steuerung jedoch spätestens seit dem Ende der zwanziger Jahre in den Händen Stalns und seiner Nomenklatura lag. In dieser Konstellation, so wissen wir Nachgeborenen, gab es für den ersten Mann der Komintern nur die Entscheidung zwischen Akzeptanz und lebensbedrohlicher Verweigerung. Akzeptanz schloss, wie sich alsbald zeigen sollte, nicht nur Verstrickung,

sondern Mitschuld an den Verbrechen des stalinistischen Regimes ein. Der Name Dimitroff steht jedoch auch für den Versuch, mit der Volksfrontpolitik eine Wende in der Politik der

tekonstellation auch undenkbar gewesen. Für einen weltgeschichtlich kurzen Moment stimmten außenpolitisches Kalkül Stalins und die Notwendigkeit einer Kurskorrektur in der

Stalin und Dimitroff, 1936.

Komintern durchzusetzen. Dieser Versuch scheiterte. Die Tagebuchaufzeichnungen lassen deutlich werden, dass die Politik des VII. Weltkongresses der Komintern nicht gegen Stalin durchgesetzt werden musste. Dies wäre in der damaligen Kräf-

Komintern überein. Ohne eine grundsätzliche Revision der programmatischen Grundlagen der Komintern, ohne Überwindung der stalinistischen Strukturen war jedoch eine dauerhafte Neuorientierung der kommunistischen Weltbewegung nicht

möglich. So blieb der VII. Weltkongress letztlich eine verlorene Wende. Seine Ideen wirkten jedoch weiter und beeinflussten das strategische Denken und das antifaschistische Handeln, als seine offiziellen Repräsentanten diese Positionen längst preisgegeben hatten. Schon seit 1936 und gipfelnd im Stalinschen Verrat am Antifaschismus mit dem Nichtangriffs- und Freundschaftspakt mit Hitlerdeutschland 1939 konterkarierte und desavouierte blanke Machtpolitik das antifaschistische Grundbekenntnis der Kommunisten. Nicht wenige sind an diesem Widerspruch zerbrochen. In diesem Spannungsfeld agierte Georgi Dimitroff. Seine geschichtlichen Leistungen wie seine Grenzen, seine Größe wie seine Schuld und sein Scheitern sind von ihm geprägt. Nach seiner Rückkehr nach Bulgarien im November 1945 mit der Regierungsbildung der Volksrepublik Bulgarien beauftragt, öffnen sich für ihn nochmals neue Horizonte. Gemeinsam mit Tito sucht er nach Lösungen für die schon seit Jahrhunderten virulente Balkanfrage auf dem Wege einer Balkanföderation. Das Scheitern dieses Projekts letztlich am Veto Stalins blockierte eine aussichtsreiche Chance für diese schwierige Region und führte zur Zuspitzung des Verhältnisses zur Sowjetunion und letztlich zum Bruch. Stalins Machtpolitik blockierte die Suche nach einer modernen Lösung der permanenten Balkankrise. Dimitroff übte Selbstkritik, flüchtete sich in die Krankheit und starb 1949 verbittert und desillusioniert. Klaus Kinner

Drei Zahlen – ein Datum: 12 - 28 -´89. Der 13. August Politische Ereignisse sind vielfach nicht isoliert von historischen Vorläufern zu bewerten. Um wirklich zu verstehen, muss man tiefer graben: Wie konnte das passieren, wie ist was passiert? Nichts ist ohne Ursache, nichts ohne Wirkung. So verhält es sich auch mit dem 13. August 1961, den es so ohne die HitlerHerrschaft und den 2. Weltkrieg nicht gegeben hätte. Schon aus der Frühgeschichte der DDR ist eine Protestnote des Vorsitzenden der Sowjetischen Kontrollkommission, Marschall Tschuikow, an den Hohen Kommissar der USA in Deutschland, Donelly, bekannt. In diesem Papier vom 1. Oktober 1952 stellte der Marschall fest: Westberlin sei zu einem Treibhaus von Spionage-, Diversions- und terroristischer Aktivität gegen die DDR geworden. Am 8. Juli 1961 forderte die CDU in einer

Grundsatzentschließung „die Einverleibung der Sowjetzone in das NATO-Bündnis“. Mitte Juli 1961 kündigte Kanzler Adenauer auf einer CDU-Tagung in Köln an, die Abwerbung von Arbeitskräften und Fachleuten aus der DDR zu verstärken und die dafür einsetzbaren Finanzmittel zu erhöhen. Betrugen die Flüchtlingszahlen 1959 143.000, so lagen sie 1960 bei 199.000. Insgesamt sollen zwischen 1949 und 1961 über 2,6 Millionen Menschen die DDR verlassen haben. Die Professoren Fritz Baade und Hans Apel schätzten übereinstimmend, dass der DDR durch Republikflucht und Abwerbung Schäden in Höhe von ca. 100 Milliarden DM entstanden waren. Zum Vergleich: Das Nationaleinkommen der DDR betrug 1961 76 Milliarden Mark. Der Oberbefehlshaber der NATOLandstreitkräfte Mitteleuropa,

General Dr. Hans Speidel, unternahm am 9. August 1961 eine Inspektionsreise zu an der DDRGrenze stationierten Bundeswehr-Einheiten. Wochen zuvor, am 30. Juni, erfuhren die Leser der Neuen Züricher Zeitung von General Adolf Heusinger, dass sieben Divisionen bereit stünden, um gegen die DDR unverzüglich jede Mission auszuführen. Beide Militärblöcke führten vom Frühsommer bis zum Herbst 1961 sogenannte „militärische D e m o n s t r a t i v h a n d l u n ge n “ durch. Vom 23. bis zum 30. Mai befehligte Marschall Gretschko eine Kommandostabsübung. In Moskau trat vom 3. bis zum 5. August der Politisch Beratende Ausschuss des Warschauer Vertrages zusammen. Am Ende der Konferenz verabschiedeten die teilnehmenden Parteichefs ein Kommuniqué. Darin sprachen sie davon, an der Westberliner

Grenze eine solche Ordnung einzuführen, durch die der Wühltätigkeit gegen die Länder des sozialistischen Lagers zuverlässig der Weg verlegt werde. Am 13. August 1961 nahmen die SEDMächtigen die Sicherung der Staatsgrenze in Angriff. Diese politisch motivierte Baumaßnahme hat brutal in Leben eingegriffen, Leben zerstört oder gar genommen. Familien wurden getrennt, einige mühsam zusammengeführt. Vor FDJ-Funktionären sagte Ulbricht: „Manche sagen, Deutsche können nicht auf Deutsche schießen. Auf die Deutschen, die den Imperialismus vertreten, werden wir, wenn sie frech werden, schießen“. Und so starben allein im ersten Mauer-Jahr 50 Menschen. Stellvertretend: Ida Siekmann, die am 22. August 1961 in der Bernauer Straße aus dem Fenster sprang und starb. Der erste Grenzsoldat,

der sein Leben verlor, war am 18. April 1962 Jörgen Schmidtchen. Und der Westberliner Dieter Bellig wurde am 2. Oktober 1971 im Grenzgebiet erschossen. Der Publizist Sebastian Haffner fand in einer Ausgabe des „stern“ (1964) folgende Worte: „Adenauer war seit dem 13. August 1961 ein gescheiterter Politiker, nicht weniger als vor ihm Wilhelm II. und Hitler“. Als gescheiterter Politiker dürfte auch Erich Honecker gelten: Im 12. Jahr des Bestehens der DDR leitete er als Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates den Bau der Mauer. 28 Jahre sollte sie stehen. Mit ihrem Fall begann sich die DDR, die der „grüne, unreife Kommunist“ (so Ulbricht 1970 über Honecker) mit aufgebaut und maßgeblich geprägt hat, rasend schnell von der politischen Weltkarte zu lösen. Sie wurde zum Abziehbild. René Lindenau


Rosa-Luxemburg-Stiftung

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07-08/2014 Links!

Suchen und Finden, Stöbern und Entdecken: In den Bibliotheken der RLS Sachsen In Leipzig, Chemnitz und Dresden gibt es nicht nur die Geschäftsstelle bzw. Regionalbüros der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen. An allen drei Standorten gibt es auch Bibliotheken, vornehmlich mit Literatur zur Geschichte des sozialen Denkens und der sozialen Bewegungen, zur Geschichte, Literatur, Kunst und Wissenschaft der DDR sowie zur Geschichte Osteuropas und zur Transformationsforschung zur Verfügung. Einschlägige Zeitschriften ergänzen das Angebot. Darüber hinaus werden in der Leipziger Bibliothek Werke von und über Rosa Luxemburg als besonderer Sammlungsschwerpunkt in einem Sonderbestand („Luxemburgiana“) geführt. Es gibt alle bisher erschienen Bände der „MEGA“ (Marx-Engels-Gesamtausgabe) sowie die „MEW“ (Marx-Engels-Werke). In Dresden gibt es mit der Genderbibliothek, die gerade in das Suchprogramm eingegeben wird, einen besonderen Sammelschwerpunkt. In Kooperation mit dem VVN-

bequem von zu Hause die Bestände anschauen können, ein Vorbeischauen lohnt sich, denn in den Bibliotheken finden Sie auch aktuelles Material der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Bücher zum Mitnehmen. Den Katalog finden Sie unter: www.opac.rls-sachsen.de

Wissenschaftspreis 2015

BdA Chemnitz können auch die Bestände der „Walter-Janka-Bibliothek“ zum Kernpunkt Antifaschismus in Chemnitz eingesehen werden. Alle drei Bibliotheken haben bibliophile

und historische Schätze in ihren Beständen. Ein besonderer unter diesen Schätzen ist die Sammlung von „Sozialistica“ (Werke zum Kommunismus und Sozialismus, die vor 1945 erschienen sind). Um die Bestände der Bibliotheken besser nutzen zu können, übertrug und programmierte Gregor Henker einen elektronischen Bibliothekskatalog, der über Computer erstellt und abgerufen werden kann. Mit dem neuen Bibliotheksprogramm kommen Sie jetzt schneller und einfacher ans Ziel und zum gesuchten Buch. Auf der Internetseite www.opac.rls-sachsen. de können Sie bereits zu Hause Bibliothek Leipzig: Harkortstraße 10, 04107 Leipzig Öffnungszeiten: Mo-Do 9-17.30 Uhr, Fr 9-12 Uhr; Im Juli und August: MoDo 9-16.30 Uhr, Fr. 9-12 Uhr info[at]rosalux-sachsen.de; Telefon: 0341-960 85 31 Bibliothek Dresden: Martin-Luther-Straße 21 01099 Dresden Öffnungszeiten: Di-Do 10 –

Impressum Links! Politik und Kultur für Sachsen, Europa und die Welt Herausgebergremium: Dr. Monika Runge, Verena Meiwald, Prof. Dr. Peter Porsch, Dr. Dr. Achim Grunke, Rico Schubert

Verleger: Verein Linke Kultur und Bildung in Sachsen e.V., Kleiststraße 10a, 01129 Dresden Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Die Redaktion behält sich das Recht auf sinnwahrende Kürzungen vor. Ter-

mine der Redaktionssitzungen bitte erfragen. Die Papierausgabe wird in der LR Medienverlag und Druckerei GmbH in Cottbus in einer Auflage von 15.000 Exemplaren gedruckt. Redaktion: Kevin Reißig (V.i.S.d.P.), Jayne-Ann Igel, Ute Gelfert, Ralf Richter

nachschauen, ob das gesuchte Werk in der Bibliothek in Leipzig, Chemnitz oder Dresden vorhanden ist. Man kann nach VerfasserIn, Schlagwort, Titel oder Freitext suchen. Es gibt sogar eine Funktion, bei der man „Im Regal stöbern“ und schauen kann, welche Bücher an diesem Standort auch noch stehen. Und wer Hilfe braucht, bekommt sie auch. In Dresden kümmert sich Dr. Wilfried Trompelt ehrenamtlich um die BesucherInnen der Bibliothek. Sonja Naphtali hilft in Chemnitz Interessierten weiter. In Leipzig wird die Bibliothek durch die Geschäftsstelle betreut. Auch wenn Sie jetzt 18 Uhr sowie nach Vereinbarung. dresden-bibliothek[at] rosalux-sachsen.de; Telefon: 0351-804 03 02 Bibliothek Chemnitz mit der Walter-Janka-Bibliothek: Rosenplatz 4, 09126 Chemnitz Öffnungszeiten: Di + Do 14-18 Uhr, Mi: 10-14 Uhr. chemnitz[at]rosaluxsachsen.de; Telefon: 0371-538 27 18

Kontakt: redaktion@linke-bildung-kultur.de Tel. 0351-84389773 Bildnachweise: Archiv, iStockphoto, pixelio Redaktionschluss: 27.06.2014 Die nächste Ausgabe erscheint am 01.09.2014.

1996 konnte erstmals der Wissenschaftspreis der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen vergeben werden. Er gründet sich auf eine Stiftung des deutsch-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers und Publizisten Günter Reimann aus New York. Den Wissenschaftspreis können vornehmlich junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erhalten, die in ihrer Forschungsarbeit originelle Überlegungen zu gravierenden gesellschaftlichen Problemen entwickeln. Er wird an Personen verliehen, die sich selbst bewerben, von Dritten oder vom wissenschaftlichen Beirat vorgeschlagen werden. Eine Beschränkung auf bestimmte Fachrichtungen gibt es nicht. Der Preis ist 1.500 Euro dotiert. Bewerbungsende für den Wissenschaftspreis 2015 ist der 15. Oktober 2014. Die Preisverleihung findet im traditionell zusammen mit dem jährlichen Neujahrsempfang im Januar 2015 statt. Für eine Bewerbung benötigen wir ein gedrucktes und ein digitalisiertes Exemplar der Bewerbungsarbeit sowie eine Kurzbiografie der vorgeschlagenen Person. Die Adresse für Bewerbungen ist: Ro s a - Lu xe m b u r g - St i f t u n g Sachsen e.V. Harkortstraße 10 04107 Leipzig E-Mail: info@rosalux-sachsen.de Die Zeitung kann abonniert werden. Jahresabo 10 Euro incl. Versand. Abo-Service Tel. 0351-84389773 Konto: 3 491 101 007, BLZ: 850 900 00, Dresdner Volksbank


Essay

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Bitte einen Broiler mit Sättigungsbeilage! durch als solche aus dem Russischen, weil die größere strukturelle Ähnlichkeit zwischen Deutsch und Englisch dies leicht macht. Vor allem kommen aber die Wörter von daher, wo auch die Dinge herkommen. Andererseits veralteten in der Zeit der Zweistaatlichkeit Wörter und Formulierungsgewohnheiten in differenzierter Weise. Weil die DDR aus offizieller eigener Sicht

hätte, oder an das „Erdmöbel“ für „Sarg“. Man sollte sich bei solider Analyse jedoch hierbei nicht lange aufhalten. Die Wörter spielten im Alltag keine Rolle. Wir feierten immer und überall Weihnachten. Särge verloren zwar allmählich an Qualität, bis es sogar angeblich welche aus Pappe gab. Im „Erdmöbel“ wurde aber niemand begraben. Diese Wörter tauchten höchstens

eher das „Neue“ war und aus westdeutscher Sicht das „Andere“, konzentrierten sich die Untersuchungen und entsprechende Befunde vornehmlich auf sie. Die Literatur ist unüberschaubar, die Sammlungen von Beispielen ebenso. Alles ist bei unterschiedlicher linguistischer Solidität fast immer auch politisch-agitatorisch ausgerichtet – je nach Entstehungsort natürlich verschieden. Die Beispiele suchte man dafür passend aus. Sprachregelungen zur Benennung ein- und desselben Phänomens differierten naturgemäß. Die „Mauer“ selbst ist ein gutes Beispiel. In der Alltagskommunikation war sie in Ost und West gleichermaßen die „Mauer“; im Westen eher assoziiert mit „Trennung“, „Spaltung“, im Osten mit „Grenze“, hinter der das normalerweise unerreichbare „Drüben“ begann. Der offizielle Sprachgebrauch der DDR wollte den „antifaschistischen Schutzwall“. Dem verweigerte sich aber sehr bald selbst die „Verlautbarungssprache“. Sie wechselte zur unverfänglicheren „Staatsgrenze“. Solche Regelungsversuche sind beliebtes Terrain für polemische Häme. Erinnert sei an die immer wieder strapazierte „Jahresendflügelfigur“, die angeblich den „Weihnachtsengel“ verdrängt

in einer von Hansgeorg Stengel schon 1965 in der Zeitschrift „Eulenspiegel“ so genannten „Formularsprache“ auf. Gleiches gilt für die in einer aktuellen Untersuchung des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim von Manfred W. Hellmann und Doris Steffens angeführten Wörter wie „Sättigungsbeilage“ und „Arbeiterschließfach“. Diese Wörter werden nach Ansicht der Autoren auch heute noch verwendet. Mag sein, dass in der einen oder anderen Gastwirtschaft im Osten „Sättigungsbeilage“ in der Speisekarte auftaucht. Das Wort war aber schon in der DDR kaum in die Alltagssprache eingedrungen, blieb der „Verwaltungs-“ bzw. „Formularsprache“ vorbehalten. Es folgte allerdings einem Trend zur Präzisierung sprachlicher Benennungen. Das hatte z. B. auch den „Gliedermaßstab“ statt „Zollstock“ und den „Schraubendreher“ für „Schraubenzieher“ zur Folge. „Arbeiterschließfach“ (für „Plattenbauten“) gab es nur in scherzhafter Verwendung. Und wenn der Sender N24 einer Reportage über die Ergebnisse von Hellmann und Steffens den Titel „Der Tod des Winkelements“ gibt, so kann man getrost sagen: Richtig lebendig war das Wort „Winkelement“ auch in der DDR nie.

Bild: Tom Harpel / Wikimedia commons / CC BY 2.0

Demnächst jährt sich der Fall der Mauer zum 25. Mal. In drei Jahren wird dieses Bauwerk bereits so lange verschwunden sein, wie es einst gestanden hat. Da taucht oft die Frage auf, was denn geblieben sei von dieser DDR, die sich hinter der Mauer verschanzt hatte, und was endgültig versickert ist im Treibsand der Geschichte. Die Antworten werden unterschiedlich

ausfallen. Dass wir immer noch zwischen „Ossis“ und „Wessis“ unterscheiden, mag von einer beharrlichen Resistenz von Gewohnheiten, Ansichten und alltäglichen Lebensweisen zeugen, die als DDR-typisch angesehen werden können. Sie verfestigen sich in der immer noch anderen Lebenswirklichkeit der „Neuen Bundesländer“ genauso wie in stereotypen Anschauungen über den Osten in der alten BRD. Ein wichtiger und ziemlich verlässlicher Seismograph für Einheit, Teilung und Spannungen ist die Sprache. Sie gibt eigentlich seit dem Bestehen der beiden deutschen Staaten das beliebteste Indizienreservoir für einschlägige Untersuchungen ab. Aus gutem Grund, mussten doch in beiden Staaten neue Gegenstände, Erscheinungen, Prozesse, Institutionen sprachlich benannt und in Texten erfasst und bewältigt werden. Zugleich begannen mit der Trennung unterschiedliche Veränderungsprozesse in der Sprache, nicht zuletzt durch unterschiedliche Sprachkontakte. Wir kennen die „Datsche“, den „Kosmonauten“ oder die „Soljanka“ aus dem Russischen, den „Astronauten“ und viel anderes mehr aber aus dem „Englischen“. Entlehnungen aus dem Englischen setzten sich auch im Osten leichter

Sachliche Analyse der Leipziger Germanistik findet man in dem 1987 in erster und 1988 in zweiter Auflage erschienen Buch „Wortschatz der deutschen Sprache in der DDR“. Schon der Titel sagt es: Es gab keine Sprachspaltung, die die Annahme eines besonderen Spaltungsprodukts DDR-Deutsch gerechtfertigt hätte. Naturgemäß war es aber der Wortschatz, der Spezifika des Landes schnell registrierte. Die „Sprachgemeinschaft“ blieb sehr wohl erhalten. Die „Kommunikationsgemeinschaft“ DDR schuf sich jedoch ihre Besonderheiten; insbesondere eigenen Benennungen für Neues (LPG, EOS, Staatsrat ...). In der Bundesrepublik war das nicht anders (soziale Marktwirtschaft, Bundeskanzler, Grundgesetz ...). Vor allem in der DDR entstanden neue Textsorten mit eigener Struktur. (Eingabe, Brigadetagebuch, Schülerbeurteilung ...). Bei Gesetzen und Verordnungen gab es z. B. das ernsthafte Bemühen, die Texte so zu formulieren, dass sie auch ohne anwaltliche Hilfe verstanden werden konnten. Über Presse und Bildungsinstitutionen drangen Elemente der Terminologie des Marxismus-Leninismus in die Alltagssprache der DDR ein. Gibt es die Sache nicht mehr, so verschwindet auch das Wort, das sie benennt. Es wird zum „Historismus“. Das trifft ebenso für die Bundesrepublik zu. Freilich betraf dieser Prozess manche Wörter unterschiedlich. „Arbeitslosigkeit“ galt z. B. in der DDR als Historismus, in der BRD benannte das Wort ein konkretes gesellschaftliches Phänomen. Dinge, die zwar vergleichbar waren, aber erst im Laufe der Zeit in beiden deutschen Staa-

ten neu entstanden, wurden oft unterschiedlich benannt: „Kaufhalle“ versus „Supermarkt“, „Plaste“ versus „Plastik“. Manchmal war in der DDR auch ein Bedürfnis zu sprachlicher Abgrenzung wirksam: „Kollektiv“ versus „Team“, „Popgymnastik“ versus „Aerobic“. Nicht alles setzte sich durch. Gerade bei diesen Benennungen hat heute meist die westdeutsche Version die Oberhand gewonnen und die DDR-Wörter zu „Archaismen“ gemacht, zu veralteten Wörtern. Die deutsche Sprache ist eine „multizentristische“. Das heißt, sie ist nicht nur stark dialektal gegliedert, sondern auch in ihrer Standardversion vor regionalen Besonderheiten nicht gefeit. Am stärksten kommt das wieder im Wortschatz zum Tragen. Im Süden ist es der „Rauchfang“, in der Mitte der „Schornstein“, im Norden die „Esse“. „Samstag“ und „Sonnabend“ oder „Semmel“ und „Brötchen“ stoßen in Sachsen aufeinander. Die Linguistik spricht von „regionalen Doubletten“ oder „Heteronymen“ und von „Austriazismen“, „Bajuwarismen“, „Helvetismen“ oder „Teutonismen“. Weil die regionale Gliederung des Wortschatzes Normalität ist, können sich auch Differenzen bis heute halten, die erst nach dem Vollzug der Zweistaatlichkeit entstanden sind. Der „Broiler“ ist ein oft genanntes Beispiel dafür. Neue Textsorten waren in der DDR freilich längst erdacht, bevor sie gesamtdeutsche Wirklichkeit wurden. Bereits 1966 schlug ein Herr Teich aus Leipzig im „Eulenspiegel“ vor: „Man sollte auf die Schachteln drucken, ,Rauchen macht alt und hässlich‘.“ Peter Porsch

Die LPG Großbothen bei der Arbeit, 1986. Bundesarchiv, Bild 183-1986-0813-020. Foto: Kluge, Wolfgang


Rezensionen

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07-08/2014 Links!

Zuletzt verstand er linke Positionen: Frank Schirrmacher Wirtschaft“ und die Wichtigen in der gesamten alten wie neuen Bundesrepublik in der Politik lasen und lesen Handelsblatt und FAZ, zusätzlich den Focus. Auch wenn man die FAZ aus politischen Gründen nicht moch-

punkt“ her das Thema angegangen. Doch die hohe Qualität war stets unverkennbar – im Gegensatz zu Blättern, bei denen die Ideologie im Vordergrund stand und nicht die Beherrschung des journalistischen Handwerks.

Naturtalent. Er wuchs in das Feuilleton hinein, bevor dieses mit ihm wuchs und dann das ganze Blatt. Er sah sich bei aller Könnerschaft aber nicht als Sonnengott. Was ihn auszeichnete, war, dass er, wenn er

te: Stilistisch und inhaltlich war immer unglaublich viel drin, nur wurde vom „falschen Stand-

In diesem Umfeld bewegte sich der Wiesbadener Frank Schirrmacher, ein journalistisches

scharf kritisiert wurde, die Kritiker zur Mitarbeit einlud. Dazu gehört eine menschliche Grö-

Bild: Eilmeldung / Wikimedia commons / CC BY-SA 3.0

Es wird jetzt viel geredet über einen großen Publizisten, der 54jährig den Folgen eines Herzinfarktes erlag: Frank Schirrmacher war die Stimme der FAZ, des Blattes des konservativen Bürgertums aus Frankfurt am Main. Frankfurt am Main hat ein paar mehr Einwohner als Dresden bzw. Leipzig, aber dafür (immer noch) drei Tageszeitungen: Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Frankfurter Rundschau (als links-liberales Blatt vom KPD-Journalisten und KZ Buchenwald-Überlebenden Emil Carlebach mitgegründet) und die Frankfurter Neue Presse (ein Blatt für Beamte und nur lokal Interessierte). Wenn man nach Frankfurt kam und erst einmal jedes der drei Blätter zur Probe las, konnte man sich nur zwischen FAZ und FR entscheiden – falls man nicht ganz im Frankfurter KleinKlein der Lokalthemen ersticken wollte. Wer nun wiederum links oder liberal oder beides war, neigte eher der Frankfurter Rundschau zu. Doch die „Oberschicht“ in Rhein-Main trug demonstrativ die Frankfurter Allgemeine unterm Arm – „die

ße, die nur den Wenigsten gegeben ist. Frank Schirrmacher war jedoch nicht nur ein brillianter Journalist, der menschliche Größe besaß, sondern er war sogar im politischen Sinne lernfähig – wozu Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine mit Sicherheit sehr viel beigetragen haben. Schirrmacher begann die neoliberale Wirtschaftspolitik zu kritisieren und steuerte allmählich das gesamte Blatt vorsichtig nach links. Der ehemalige Kohl-Anhänger äußerte schließlich, dass er in ökonomischen Fragen die Linken verstehen könne. Während andere ehemalige PDSler und Linke zu CDU- und FDP-Positionen wechselten, ging er in gewisser Weise den umgekehrten Weg. „Post-Marxist“ nannte ihn im DeutschlandradioKultur einen Tag nach seinem Ableben ein Medienkritiker. Ein Großer ist gegangen. Er hat die FAZ auch für Liberale und Linke lesbarer gemacht. Seine Stimme der Vernunft und des Geistes wird fehlen in Talkrunden – ebenso wie seine klugen Beiträge in der FAZ. Ralf Richter

Ludwig Renns Soldaten-Roman „Krieg“: aktuell wie nie Es wird viel geschossen in diesen Tagen. Nahezu wöchentlich wechselte in letzter Zeit das Feindbild. Mussten wir nicht vorgestern alle gegen Assad sein, so hieß es gestern „Putin, Du alter Schuft“, aber der hatte dann auch gleich abgewirtschaftet. Nun ist isi-pisi, pardon, ISIS der neue Feind – man kommt bald nicht mehr hinterher. Man sehnt sich nach Übersichtlichkeit in dieser Welt. 1913 waren noch alle Throne Europas – und, das vergessen wir oft, insbesondere die vielen in Deutschland – sicher. Sachsen war eine Monarchie und feierte sich – man findet eine Wettinsäule oben auf dem Lilienstein in der Sächsischen Schweiz. 1889 feierte sich das sächsische Königshaus – 800 Jahre Wettiner! 1989, auch das ist vergessen, feierte man in Berlin nicht nur 40 Jahre DDR, sondern in Dresden gab es auch Veranstaltungen zum 900. Geburtstag der Wettiner. Mit den Wettinern stark verbandelt war auch die Familie von Golßenau – den Namen der Adligen kennt man heute kaum. Wichtiger ist ein Sprössling mit dem Künstlernamen Ludwig Renn. Die Mutter kam aus Moskau und der Vater hatte schottisches Blut in den Adern, war hochgebildet und Prinzenerzieher bei den Wettinern. Nach 1918 war der Kaiser im Exil, die Wettiner wurden enteignet und die Parks kostenlos fürs Volk geöffnet –

das versucht man gerade wieder rückgängig zu machen, wie im Schlosspark Pillnitz in Dresden. Ludwig Renn wäre nicht Ludwig Renn geworden ohne den Krieg. Den größten Krieg nach dem Dreißigjährigen Krieg, den Europa erlebte. Umso unverständlicher ist es, dass sein großes Erfolgsbuch „Krieg“, das in zehn Sprachen übersetzt und in Hunderttausender-Auflage gedruckt wurde, in diesem Land nicht mit einer Nachauflage gewürdigt wird – ob es wohl vorrätig ist in der Bibliothek der Heeresschule in Dresden? Vieth von Golßenau erlebte den „Krieg“ als Oberleutnant in Frankreich. Zehn Jahre älter als Remarque, der mit „Im Westen nichts Neues“ noch erfolgreicher war. Remarque kam erst 1916 zum Kriegseinsatz, während der Offizier Golßenau von Anfang an im Einsatz war. „Krieg“ beginnt mit der Abfahrt der Züge in Dresden im heißen Sommer 1914. Es lässt sich ruhig an, der Autor schreibt aus der Perspektive des Soldaten Ludwig Renn, der es im Laufe des Krieges noch bis zum Vizefeldwebel bringen wird. Der Krieg ist einfach notwendig, davon hat sich das Volk überzeugen lassen, einmal wieder in Deutschland – und so fährt man dahin, um die Franzosen zu dreschen, Paris einzunehmen, denn Weihnachten 1914 ist man daheim. Dachte man. Zuvor aber noch schnell durch Belgien, ge-

gen das man gar nichts hat. Belgien soll ja nur ein Transitland sein, und gegen die Belgier geht es gar nicht – dass man da ein neutrales Land überfällt, ist dem einfachen Landser gar nicht so klar. Man will sich damit nicht beschäftigen, sondern vorwärts nach Paris. Als umso unangenehmer empfindet man das Verhalten der belgischen Bevölkerung, man glaubt, extreme Feindschaft zu spüren, vermutet gar überall Heckenschützen. In der Tat kämpfen vereinzelt Belgier gegen die Übermacht. Ludwig Renn behandelt das Kapitel „Belgien“ zwar als wichtige Einführung in das Alltagsleben des Krieges, aber nur kurz – denn es passiert ja nichts. Doch so war es nicht. Das Gegenteil war der Fall: Belgien machte Vieth von Golßenau zu Ludwig Renn, machte den adligen Offizier auf längere Sicht zum Kommunisten. Renn beschreibt eine Szene, als in einem Haus, aus dem scheinbar auf die Deutschen geschossen wurde, ein Belgier mit Patronen entdeckt wird. Dieser soll dann einen verwundeten Deutschen von der Straße bergen, doch es geschieht ihm weiter nichts. Die Szene spielt in der belgischen Kleinstadt Dinant. In Wahrheit gab es dort – eben wegen jenes vermuteten Angriffes auf die Deutschen – ein Massaker. Wie heute in Syrien oder im Irak wurden Frauen und Kinder umgebracht. Insgesamt 674

Personen. Ein Deutscher General hat das Massaker befohlen. Die Offizierskameraden marschieren gleichgültig an den Leichenbergen vorbei, doch für den jungen Vieth von Golßenau ist es von dem Moment an mit der Kriegsbegeisterung vorbei – er fängt an, nachzudenken. Wolfgang Drommer schreibt dazu in der Ausgabe, die nach dem Anschluss im Verlag „Das neue Berlin“ erschienen ist, im Nachwort: „Renn geht in ,Krieg‘ weiter als jeder andere ehemalige deutsche Offizier, wenn er nach der Wahrheit zu suchen beginnt inmitten all des unbestimmten Hasses auf die Belgier, die von einer arroganten deutschen Heeresführung und deren Soldaten mit ihrer zwanghaften Vorstellung, in kurzer Zeit und ohne große Opfer siegreich in Paris einzumarschieren, als Verteidiger ihres eigenen Landes gar nicht akzeptiert werden. Ludwig Renn verteidigt die Wirklichkeit seines Gefreiten Renn gegen alle deutschen Rechtfertigungsversuche und schreibt sie unverfälscht auf. Das spricht für Renns Ehrgefühl und seine unbedingte Wahrheitsliebe“. Den Ort des Verbrechens besucht von Golßenau, der sich inzwischen zum Taktiklehrer qualifiziert hat, 1916 erneut. Er steigt auf die Burg, blickt aus zahlreichen Fenstern und erkennt nur ein Gewirr von Dächern – es war gar nicht möglich, von hier aus

auf deutsche Soldaten zu schießen. Doch dem General reichte es – wie später die vagen Bedrohungsvermutungen eines Bundeswehrobersts in Kunduz –, um ein Massaker zu befehlen. Die Dämonisierung des Feindes – seien es Belgier, Afghanen oder Russen – hat in Deutschland eine lange Tradition. Das erleichtert dem Landser das Abdrücken. Würde er im Gegenüber einen Menschen sehen, mit Vater, Mutter, Schwester und Bruder – warum sollte er seinen Bruder, der doch nur sein Land verteidigt, dann noch töten wollen? Am Ende des Krieges gärt es – der Krieg, in Frankreich 1918 oder in Afghanistan 2014, ist komplett sinnlos und man denkt an das Ende, den Frieden. Irgendwie. Denn der Krieg ist nicht zu gewinnen. Im Krieg verlieren alle – bis auf die, die die Waffen herstellen. Das begreifen 1918 die einfachen Soldaten. Manche, bei weitem nicht alle. Ludwig Renn schickte ein Buch mit einer Widmung Weihnachten 1928 an seine Mutter von Zwickau nach Dresden. In Zwickau weilte er übrigens auf Einladung seines Weltkriegskameraden Hildebrandt Gurlitt, hielt Vorträge über Kunstgeschichte im Zwickauer Museum. Hier trat Vieth von Golßenau, der sich fortan nach seinem Romanhelden Ludwig Renn nannte, in die KPD ein ... Ralf Richter


Kultur

Links! 07-08/2014

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Die „Mutter Courage“ des deutschen Chansons – Gisela May wurde 90 Ist es nicht traurig und beschämend zugleich, wenn der Name Gisela May im Gespräch vor allem im Zusammenhang mit der beliebten Krimigroteske „Adelheid und ihre Mörder“ – mit der langjährigen Loriot-Partnern Evelyn Hamann in der Hauptrolle – erwähnt wird, weil sie, allerdings sehr originell, die Rolle einer wunderlichen Mutter übernommen hatte? Das machte sie sehr gut und bewies auch ihr komödiantisches Talent. Doch geriet dadurch womöglich ihre tatsächliche Fähigkeit als ernstzunehmende Charakterdarstellung zu sehr in Vergessenheit. Wir sollten uns erinnern, dass die May diejenige war, die das deutschsprachige Chanson nicht nur in der DDR maßgeblich prägte. Sie expor-

tierte ihre gesangliche und darstellende Qualität in viele Länder unseres Kontinents, in die Vereinigten Staaten, bis nach Australien, und sie wagte sich an die kongenialen Interpretationen des Großmeisters Jacques Brel. Als Brechtinterpretin wurde sie weltberühmt. Gisela May ist am 31. Mai 1924 im hessischen Wetzlar als Tochter der Schauspielerin Käte May und des Schriftstellers Ferdinand May auf die Welt gekommen. Im linksorientierten Elternhaus wird Gisela sehr früh mit klassischer Musik und Chansons von Lotte Lenya konfrontiert, ihr Interesse für Theater wird geweckt. Bereits als Jugendliche entwickelt sie den Wunsch, Schauspielerin zu werden. Anfang der Vierziger geht

sie nach Leipzig, um dort zwei Jahre lang an der Schauspielschule zu lernen. Von 1942 bis 1944 folgen mehrere Engagements in Görlitz, Dresden und im damaligen Danzig, bis zum Kriegsende. Danach zog es sie wieder nach Leipzig, und sie

ans Deutsche Theater Berlin bringt. Auch die DEFA und der Deutsche Fernsehfunk zeigen Interesse an ihr, und sie bekommt mehrere Angebote in deren Produktionen. Parallel zu ihrer Schauspielkunst beginnt „die

übernahm mehrere Rollen im Staatstheater Schwerin und im Landestheater Halle. Anfang der Fünfziger wird sie von Wolfgang Langhoff entdeckt, der sie

May“, wie man sie nun liebevoll nannte, auch eine Karriere als Chansonette. Während eines Auftritts im Deutschen Theater will es der Zufall, dass kein geringerer als Hanns Eisler im Publikum sitzt und von der May begeistert wird. Es folgt eine enge künstlerische Zusammenarbeit. Ab 1957 konzentriert sie sich auf Bertolt Brecht und greift zu Kompositionen von Kurt Weill, Paul Dessau und natürlich auch Hanns Eisler. Es entstehen unter anderem Chansonprogramme mit Texten von Erich Kästner, dem anarchistisch geprägten Poeten Walther Mehring, dem „Bürgerschreck“ Frank Wedekind und dem Satiriker Kurt Tucholsky. Ab 1962 ist sie Mitglied im Berliner Ensemble, dem sie dreißig Jahre lang treu sein wird. Sie tritt auf als Frau Kopecka im Stück „Schwejk im 2. Weltkrieg“, oder als Frau Peachum in Brechts „Dreigroschenoper“. 1978 übernimmt sie die Rolle der „Mutter Courage“, die bis dahin von Helene Weigel dargestellt worden war. Dieses Stück läuft sehr erfolgreich dreizehn Jahre lang, bis 1992. Nebenher agiert sie ab 1969 als Dozentin für Bühnenpräsentation, Chan-

Gisela May bei der Probe für „Mutter Courage“, 1978. Bundesarchiv, Bild 183-T0927-019, Foto: Katja Rehfeld.

sonvortrag und Interpretation in der DDR, Italien, der Schweiz, Belgien und in den skandinavischen Ländern. Als Chansonsängerin tourt sie durch Europa, Amerika und Australien und produziert bis 1988 über zwanzig Langspielplatten. Ihre LP „Die sieben Todsünden der Kleinbürger“ (Amiga 820732) wird mit dem Grand Prix Du Disque, Paris 1968 und dem Großen Preis der italienischen Schallplattenkritik, Mailand, ebenfalls 1968, ausgezeichnet. Nach dem Zusammenbruch der DDR wird Gisela May 1992 aus dem Berliner Ensemble entlassen. Seitdem wirkt sie als freischaffende Sängerin und Schauspielerin. Erst seit dem Jahr 2000 ist sie wieder am BE präsent, mit „Gisela May singt und spricht Kurt Weill“. 2004 folgt ein Programm mit jungen Nachwuchskünstlern, das sich dem Schaffen Hanns Eislers widmet und das im Konzerthaus Berlin aufgeführt wird. Von Gisela May erschienen die Bücher „Mit meinen Augen“, Berlin 1982, und „Es wechseln die Zeiten“, Leipzig 2002. Auch mehrere CDs kamen auf den Markt. Bis 2007 spielt und verkörpert sie, wie eingangs erwähnt, die „Mutti“ in der ARD-Serie „Adelheid und ihre Mörder“. Im Januar 2013 hatte sie einen Auftritt zur „Kurt-Weill-Wache“ in der Komischen Oper, und am 12. Januar 2014 war sie gefeierter Gast zum Jahresauftakt der Europäischen Linken in der Berliner Volksbühne. Wir wünschen Gisela May alles erdenklich Gute, und: Dass Dein Herz noch lange auf dem linken Fleck schlagen möge. Jens-Paul Wollenberg P.S.: Ich habe noch nie „Mutti“ zu Dir gesagt, Mutter!

Ein unverhofftes Opernerlebnis Ich sprang aus der Badewanne, holte das Telefon und wählte, um Radio Figaro zu erreichen. Es ist frühmorgens, gerade hatten sie „Norma“ in der Chemnitzer Oper vorgestellt und Freikarten angeboten, eine Oper von Vinzento Bellini. Immer, wenn sie Veranstaltungen oder Bücher vorstellen, werden auch Freikarten bzw. Freiexemplare für Anrufer angeboten. Ich hatte es früher schon manches Mal versucht, aber nie Glück gehabt. Mein Teppich wurde nass, ich wählte zweimal vergeblich, beim dritten Mal war plötzlich eine nette Frauenstimme am anderen Ende. Ich fragte suggestiv, die Karten für „Norma“ seien wohl schon wie-

der weg. Die Frau sagte: Nein, die Karten sind noch nicht weg, sie möchte meine Personalien aufnehmen, damit ich in die Auslosung komme. Offenkundig wollte sie es spannend machen, denn nachdem sie meine Personalien hatte, sagte sie, sie könne mir mitteilen, dass ich zwei Freikarten gewonnen habe. Ich konnte es fast nicht glauben. Gegen Mittag googelte ich die Telefonnummer vom Kartenservice der Oper, um mich zu vergewissern. Nachdem ich weitergeleitet wurde und eine Rückrufnummer erhielt, hatte ich dann den zuständigen Mitarbeiter an der Strippe, der mir alles bestätigte – Karten an der Abendkas-

se abholen. Jetzt hatte ich als Single zwei Opernkarten. Das nächste Problem: Wen nehme ich mit, wer ist überhaupt so kurzfristig auf Oper heute Abend ansprechbar? Ich entschied mich für eine relativ neue Freundin, die Künstlerin ist. Es war die richtige Entscheidung, der Abend wurde schön. Die Oper gehört zu den sog. Belkanto-Opern, da wird richtig in Koloratur „geträllert“ - nicht jedermanns Sache. Die Handlung spielt im alten Gallien, Kelten gegen Römer, Liebesdrama vermischt mit den politischen Besatzungsgegebenheiten. Die Oberpriesterin der Kelten, Norma, hat ein heimliches Verhältnis mit dem Chef der Römer,

und zwei Kinder von ihm. Der aber guckt sich nun die junge Novizin des Keltentempels als neue Geliebte aus, die unter Norma dort die heiligen Handlungen lernt. Die Kelten wollen derweil den Aufstand gegen die Römer, aber Norma beschwichtigt sie immer wieder. Es gibt ein dramatisches Finale mit zwei Brandopfern, in dem die Liebe über den Hass siegt, keine Gemetzel. Die Oper wurde in Italienisch gesungen, es gab viel Beifall für die jeweiligen Soli. Die Texteinblendungen waren sehr hilfreich um die Handlung, vor allem aber auch, um jene Soli, die Selbstdialoge innerer Verzweiflung darstellten, verfolgen zu

können. Die Dramatik der Gesänge war sehr ergreifend. Ich kann mich nicht erinnern, durch eine Bühnenaufführung jemals so aufgewühlt worden zu sein. Denn in dem Thema lagen Probleme der (Zwischen-) Menschlichkeit, wie sie auch in jedem persönlichen Leben vorkommen. Nebenbei hatte ich den Gedanken, in Bellini einen Lehrer von Guiseppe Verdi kennen gelernt zu haben. Es war die letzte Vorstellung, eine gelungene Gemeinschaftsproduktion der Chemnitzer Oper mit der Opera North, Leeds aus Großbritannien. Man hofft, dass sie irgendwann wieder in den Spielplan kommt. Ralf Becker


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