Links! Ausgabe 09/2014

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„Der war doch nur ein Jude“

Politik und Kultur für Sachsen, Europa und die Welt September 2014

Rassismus ist alltäglich. Rassismus gibt es auch in der oft beschworenen „Mitte der Gesellschaft“. Für jene, die sich rassistisch äußern, ist ihr Denken oftmals dermaßen normal, dass ihnen ihr Rassismus gar nicht mehr auffällt. Der NSUProzess in München, der ja auch dazu dienen soll, den Opfern endlich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, liefert immer wieder Beispiele dafür. Da gibt es den Polizeibeamten, der äußert, ein Roma-Zeuge sei ein „typischer Vertreter seiner Ethnie“, bei der „die Lüge ein wesentlicher Bestandteil seiner Sozialisation darstelle“. Da steht in einer Operativen Fallanalyse des Landeskriminalamts BadenWürttemberg: „Vor dem Hintergrund, dass die Tötung von Menschen in unserem Kulturraum mit einem hohen Tabu belegt ist, ist abzuleiten, dass der Täter hinsichtlich seines Verhaltenssystems weit außerhalb des hiesigen Normen- und Wertesystems verortet ist.“ Deutsche töten eben einfach nicht. Schon gar nicht aus rassistischen Motiven. Wie lange liegt die NS-Zeit zurück? Diese Blindheit gegenüber den Fakten ist keine westdeutsche Besonderheit. Bundesweit gehen wir von rund 180 Todesopfern rechter Gewalt in Deutschland seit 1990 aus. Nur rund ein Drittel davon wird von den Behörden als ein solches Opfer anerkannt. Das ist in Sachsen nicht anders. Zwar sind erfreulicherweise nach einer erneuten Überprüfung der Fälle zwei weitere Opfer anerkannt worden. Nach langen Jahren. Und erst nach nachdrücklichen Forderungen der Linksfraktion im Sächsischen Landtag. Wir haben uns dieses Themas immer wieder angenommen. Wir werden es weiterhin tun. Für uns ist es nicht hinnehmbar, wenn das Gedankengut von Neonazis, das Obdachlose als lebensunwert ansieht, als irrelevant angesehen wird und die Gerichte – weil das einfacher ist – einfach von einer Tat unter Alkoholeinfluss und ohne Motiv ansehen. Auch dann, wenn einige der Täter als Neonazis bekannt sind. Kein

einziger der ermordeten Wohnungslosen in Sachsen ist bisher als Opfer rechter Gewalt von der Staatsregierung anerkannt worden. Dass Sozialdarwinismus zum Gedankengut der Neonazis gehört, hat sich bis in die Amtsstuben sächsischer Ministerien offenbar noch nicht herumgesprochen. Wir haben deshalb in der gerade abgelaufenen Legislaturperiode nachgehakt. Unter Benennung der einzelnen Fälle und der Tatabläufe. Das Resultat? Man kann es nicht einmal als „dürftig“ bezeichnen. Die Staatsregierung geht weiter davon aus, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Ein Beispiel gefällig? In einer Kleinen Anfrage habe ich die Staatsregierung gefragt, warum Gerhard Helmut B. bisher nicht als Opfer rechter Gewalt anerkannt worden ist. Kaum jemand erinnert sich noch an den Fall. Am 17. Dezember 1995 wurde Gerhard Helmut B. in Leipzig durch mehrere Personen so schwer misshandelt, dass er verstarb. Drei Angeklagte wurden später wegen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt. Nach offiziellen Angaben hatte einer der Täter gegenüber einer Zeugin geäußert: „Der war doch nur ein Jude.“ Für die Staatsregierung kein Grund, ein mögliches politisches Motiv bei der Tat zu sehen. Die lapidare Antwort auf meine Fragen: Wir prüfen noch. Die Staatsregierung verwies darauf, dass man nach einer Kleinen Anfrage von mir vom Januar 2014 das LKA angewiesen habe, alle darin genannten Tötungsdelikte auf eine mögliche politische Motivation zu überprüfen. Möglicherweise werde es eine darüber hinausgehende Überprüfung durch das Gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus geben. Diese Antwort stammt aus dem Juli 2014. Eine lange Zeit für die Überprüfung weniger Fälle. Vor allem aber war es die Antwort auf eine Frage, die ich gar nicht gestellt hatte. Ich wollte wissen und will es noch immer, aus welchen Gründen Gerhard Helmut B. eine Anerkennung als Todesopfer rechter Gewalt durch die Staatsregierung versagt bleibt, welche Gründe gegen die Annahme sprechen, eine politische Motivation sei zumindest ein Grund gewesen? Darauf gab es keine Antwort. Kein Wort. Also werden wir nachhaken müssen. Bis auch die Staatsregierung begriffen hat, dass Todesopfer rechter Gewalt Todesopfer rechter Gewalt sind. Auch in Sachsen.


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