Links! Ausgabe 01-02/2012

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»Ihr aber lernet, wie man sieht, statt stiert...«

Politik und Kultur für Sachsen, Europa und die Welt Januar-Februar 2012

Justin Sonder, einer der letzten Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz in Sachsen und trotz seines hohen Alters unermüdlicher Zeitzeuge, zitiert in der Schlusssequenz des in dieser Zeitung abgedruckten, sehr berührenden Interviews aus dem Epilog von Bertolt Brechts Stück „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“. Brecht schrieb dieses Stück bereits 1941 noch im finnischen Exil. Seine Uraufführung erlebte der „Arturo Ui“ allerdings erst 1958 in Stuttgart und 1959 im Berliner Ensemble. Viele Leser dieser Zeitung werden die legendäre Aufführung mit Ekkehard Schall gesehen haben oder sich an diesen Epilog erinnern. Andere werden ihn jetzt zum ersten Mal kennenlernen und vielleicht noch einmal selbst nachlesen wollen. Den von Justin Sonder zitierten Sätzen stellte Bertolt Brecht die Forderung voran: „Ihr aber lernet, wie man sieht, statt stiert …“ Ich glaube, das Sehenlernen und das Sehenlernen-Wollen wird in diesen Tagen und Wochen immer notwendiger. Und es darf nicht nur an solche Daten wie den 27. Januar oder den 13. Februar gebunden bleiben, obwohl Gedenktage hilfreich und wichtig sind, um Erinnerung und Gedenken wach zu halten und zu schärfen. In wenigen Tagen werden wir uns alle wieder mit der Tatsache auseinandersetzen müssen, dass Neonazigruppen die Erinnerung an den 13. Februar 1945 dazu benutzen wollen, ihre menschenfeindlichen Thesen und ihren Geschichtsrevisionismus auf den Straßen Dresdens öffentlich zu machen. Wohin diese Ideen führen, wissen wir, sofern wir es nicht schon lange wussten und ahnten, spätestens seit dem November des vergangenen

Jahres. Die jahrelange Mordserie einer rechtsextremistischen Terrorgruppe an Bürgern mit einem sogenannten Migrationshintergrund wurde öffentlich bekannt, auch für diejenigen, die vorherige Straftaten und deren Opfer nicht in diesem Kontext sehen wollten. Vor wenigen Tagen wurde der Bericht „Antisemitismus in Deutschland“ veröffentlicht, erarbeitet von einem unabhängigen Expertenkreis im Auftrag des Bundestages. In ihm wird unter anderem festgestellt, dass 20 Prozent aller Deutschen latent judenfeindlich eingestellt sind und dass latenter Antisemitismus in der Mitte unserer Gesellschaft verankert ist. In dieses Bild gehören auch die 620 antisemitischen Straftaten, die für die ersten drei Quartale des Jahres 2011 nach Angaben der Bundesregierung begangen wurden, darunter 15 Gewalttaten. Rassismus, Fremdenhass und Gewalt, aber auch Antisemitismus sind eben leider keine Seltenheit in unserem Alltag. Deshalb haben wir die Pflicht, hinzusehen und zu reagieren. Wir müssen das tun, auch wenn es unbequem ist und persönliche Schwierigkeiten bereitet, wie eben alljährlich in den Tagen um den 13. Februar in Dresden. In all den Jahren, als der Neonazimarsch in Dresden, meiner Heimatstadt, jährlich größer und bedrohlicher wurde, konnte man schon manchmal mutlos werden. Trotzdem gab es auch immer viele, die mit uns gemeinsam versuchten, etwas zu tun. Inzwischen hat diese Gegenbewegung eine enorme Stärke und Kraft erreicht, und sie besteht aus vielen Facetten. Sie alle sollten wir wertschätzen und deshalb alle Formen des gewaltfreien Protestes gegen Neonaziaufmärsche, braune Gewalt und menschenfeindliches Gedankengut unterstützen. Dr. Nora Goldenbogen Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Dresden


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