Zu den Russischen Wahlen
Politik und Kultur für Sachsen, Europa und die Welt März 2012
Die Ergebnisse der Duma – Wahlen und die darauf folgenden Protestkundgebungen in Moskau und vielen anderen Städten haben ein ernstes Signal den Verantwortlichen im Kreml und in der Regierung gegeben, es wird Druck auf die Macht ausgeübt. Die PutinPartei „Einiges Russland“ hat zwar ihre Mehrheit in der Duma behalten, alle anderen Parteien sprechen aber von einer Wahlfälschung. In der Bevölkerung und Parteienlandschaft herrscht Übereinstimmung, dass längst Veränderungen im politischen System Russlands herangereift sind. Über Inhalt und Wege wird diametral gestritten. Die von Putin zentralistisch aufgebaute Vertikale der Machtstrukturen hat Russland vor dem drohenden weiteren Zerfall im ersten Dezennium des neuen Jahrhunderts gerettet, offenbart jedoch negative Erscheinungen solch einer Führungsstruktur. Russland steht vor großen innen- und außenpolitischen Herausforderungen. Die von USA ausgegangene weltweite Finanzkrise, amerikanische Hegemoniebestrebungen, geopolitischer Kampf um Zugang zu den Naturressourcen, Bildung neuer Machtzentren (China, Indien, Brasilien), ungelöste Konflikte im Nahen Osten, Bekämpfung des internationalen Terrorismus, Verdrängung russischen Einflusses in postsowjetischen Regionen – dies sind nur einige Herausforderungen an die russische Außen- und Sicherheitspolitik. Innenpolitisch steht Russland vor noch größeren Aufgaben. Modernisierung der Wirtschaft, der Wissenschaft und Technik, des politischen Systems, der Parteienlandschaft, Entfaltung der Zivilgesellschaft, Lösung von sozia-
len Fragen, Kampf gegen die Korruption auf allen Ebenen, gegen Armut, gegen Drogen, Alkoholismus… Nach dem Zerfall der Sowjetunion ist die sozialistische Idee bei vielen Menschen für lange Zeit diskreditiert; die Jelzin Ära hat den Demokratiegedanken in Misskredit gebracht, die kriminelle Privatisierung des Staatseigentums und die Bildung von Oligarchienstrukturen überschatten den Glauben an Gerechtigkeit und politischen Willen der Machthaber, es zu ändern. Die täglichen Debatten im staatlichen Fernsehen haben niemals solch einen offenen Ausmaß gehabt, wie jetzt zu den Präsidentschaftswahlen. Eine der zentralen Fragen ist die Auseinandersetzung zwischen der Macht und Opposition um die Verhinderung eines möglichen Wahlbetruges. Die Diskussionen werden sehr emotional geführt. Die Oppositionskandidaten diskutieren untereinander, Putin tritt nicht direkt auf, schickt zu den Debatten seine Vertreter. Über eine „Hofberichterstattung“ im Fernsehen sind Putin und Medwedew stets präsent. Beide verkünden geplante, notwendige Reformen und Maßnahmen, sie widerspiegeln teils die Ideen der Opposition. Viele glauben Putin, dass er es realisieren kann. Den Absichtserklärungen der Oppositionskandidaten wird weniger Glauben geschenkt, da sie noch nie an der Macht waren. Das Volk ist von den Nachwehen der Gorbatschow- und Jelzinpolitik müde. Will keine „farbige“ Revolution. „Keine Experimente“ (für ehemalige DDR-Bürger eine bekannte Losung), Stabilität ist gefordert. Dr. Wolfgang Schälike Vorstandsvorsitzender des Deutsch-Russischen Kulturinstituts e.V.
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»Linkes Netzwerken in Richtung Osten« Die Situation in Russland ist aus den öffentlichen Debatten unserer Tage nicht mehr wegzudenken. Auch Linke müssen Antworten auf die drängenden Probleme im größten Land der Erde finden. LINKS! sprach mit dem Leipziger Gregor Henker und Boris Krumnow über die Arbeit der Arbeitsgruppe (AG) Russland des Jugendbildungsnetzwerks der der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Die AG Russland beschreibt sich auf ihrer Homepage www.ag-russland.de als ein „offenes und sich ständig erweiterndes Netzwerk, das seit mehreren Jahren politische, kulturelle, künstlerische und soziale Projekte, vor allem in Nordwestrussland mit veranstaltet.“ Boris Krumnow: Nun, diese Beschreibung ist vielleicht schon etwas veraltet. Wir könnten uns heute als Teil eines internationalen linken Netzwerkes beschreiben, dass an verschiedenen Orten in Europa, Veranstaltungen auf dem Gebiet der politischen Bildung organisiert. Wir gehören zu einem politischen und grenzüberschreitenden Kommunikations- und Arbeitszusammenhang von linken AktivistInnen, KünstlerInnen und BildnerInnen aus mehreren europäischen Ländern. Gregor Henker: An unseren Veranstaltungen wie der linken Bildungsakademie «Vostok« im nordwestrussischen Apatity (seit 2007) oder der internationalen Projektwerkstatt »Platforma 11« 2011 in Leipzig haben bisher Menschen aus 14 Ländern Europas sowie aus Ägypten und Israel teilgenommen. Im Moment bereiten wir eine Werkstatt und eine Konferenz in Murmansk vor. An deren unmittelbarer Vorbereitung sind Bildungs- und Kunstaktivistinnen aus Russland, Serbien, Estland und Deutschland beteiligt. B.K.: Es muss erwähnt werden, dass wir eng mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin und in Moskau zusammenarbeiten, und dass das linXXnet und der Rote Baum e.V. Leipzig eine infrastrukturelle Basis für unsere Arbeit bilden. Die AG Russland gibt es in sieben Bundesländern in Ost und West, aber hier in Sachsen sind wir besonders gut vertreten und vernetzt.
Wie sieht die konkrete Arbeit aus? G. H.: Wir wollen keine so genannte Völkerverständigung unterstützen, sondern schaffen Räume, wo sich linke Menschen austauschen können, die aus verschiedenen Ländern kommen, die aber auch Vieles verbindet. Dies bedeutet auch die Diskussion über sehr unterschiedliche politische Erfahrungen in unseren Herkunftsländern. Beim letzten »Vostok« zum Beispiel standen die Themenfelder Krise, linkes Campaigning und Gender im Fokus. Es geht uns bei solchen Veranstaltungen darum, voneinander zu lernen und zum Teil auch eine gemeinsame Theorie und Praxis zu entwickeln. Ihr redet also viel miteinander. Ginge es nicht auch um gemeinsames politisches Handeln? B. K.: Wir haben auch schon gemeinsame Kampagnen organisiert. Einige von uns wollen die Linke als transnationales Projekt voranbringen. Aber es ist schon klar, das es mehrere Schritte auf diesem Weg zu tun gibt. Intensive, sich verbreiternde und vertiefende Kommunikation ist einer davon. Außerdem stimmt das Prinzip »Global denken, lokal (und regional)handeln« ja weiterhin. In Leipzig und Murmansk zum Beispiel sind mehrere regionale »Tochterprojekte« aus unseren Netzwerken hervorgegangen. Wir erforschen aber auch gemeinsam, wie gleichberechtigte Kommunikation zwischen Menschen aus verschiedenen Kontexten aussehen kann, in dem wir so genannte prozessorientierte Bildungs- und Konferenz-Formate entwickeln. G. H.: Wir haben über die Jahre viele nachhaltige Kontakte geknüpft und auch Anderen den Zugang dazu ermöglicht. In Russland sind wir neben unserer traditionellen Partnerin, der Humanistischen Jugendbewegung mit linken ÖkologInnen, BürgerrechtlerInnen, AntifaschistInnen, RadikalfeministInnen und linken Kunstaktiven verbunden. Zu unserer Netzwerktätigkeit gehört aber auch Informationsaustausch und verbunden damit auch die Aneignung von Fachwissen zu Entwicklungen im postsowjetischen Raum. Wie schätzt ihr die regierungskritische Bewegung in Russland ein?
G. H.: Wir sehen mit Erleichterung, dass es einen kleinen demokratischen Aufbruch in Russland gibt. Nach den Wahlen zur Duma am 4. Dezember 2011 war die Empörung in den großen und mittleren Städten groß. Für einen Teil der Bevölkerung war die Situation des Stimmenkaufs, der sich in der Regel ganz unverhohlen in ihrer unmittelbaren Umgebung vollzog, einfach nicht mehr zu ertragen. In Russland haben viele Menschen eine hohe Toleranz gegen den alltäglichen politischen Zynismus der Beamten und RegierungspolitikerInnen. Hier war aber wohl eine Grenze erreicht und die Regierung muss nun zurückrudern. Sie versucht es nun neben dem üblichen Spektrum an Repressionen auch mal mit einer Prise Toleranz und medialer Transparenz. B. K.: Diese zwischenzeitlich recht gut situierte neue Mittelschicht in Russland hat sich erst mit dem wirtschaftlichen Aufschwung und der Stabilisierung in den frühen Jahren der Putin-Präsidentschaft konsolidiert. Nun fordern die »Kinder der Putin-Epoche« auch angesichts der Wirtschaftskrise ihr Recht auf Mitwirkung und Teilhabe ein. Dabei hat sich die Medwedew-PutinRegierung keinen Gefallen getan, als sie repressiv gegen die ersten Proteste vorging. Polizeiknüppel erweisen sich wie schon so oft in der russischen Geschichte als hervorragende Politisierungsinstanz für künftige Oppositionelle. Wie bewerten eure Partner die Entwicklung? G. H.: Unsere Freunde in Russland fühlen sich ermutigt und
bestärkt, sehen die Perspektiven dieser Demokratiebewegung allerdings nur mit sehr vorsichtigem Optimismus. Möglicherweise hat eine grundlegende Verschiebung der gesamtgesellschaftlichen Stimmung stattgefunden. Während der Wahlsieg Putins im März 2012 doch sehr wahrscheinlich erscheint, wird es spannend zu beobachten, wie die herrschende staatskapitalistische Bürokratie nun ihre Politik entwickelt. Dabei haben ihre Vertreter ein kognitives Problem: Ihnen scheint jegliches Grundverständnis für den systemstabilisierenden Wert bürgerlicher Demokratie zu fehlen. Welche Rolle spielen die Kommunisten als größte Oppositionspartei gegenwärtig? B. K.: Die Kommunistische Partei (KPRF) und auch die ehemals Putin-treue sozial orientierte Partei »Gerechtes Russland« waren die großen Siegerinnen der DumaWahlen im Dezember 2011. Sie haben ihre Prozente und Sitze fast verdoppelt. Leider ist in beiden Parteien ein linkes Profil nur bedingt zu erkennen. Unter den Kommunisten dominiert neben sozialen Ideen sowjetnostalgischer Großmachtpatriotismus mit nationalistisch-christlich-orthodoxen Klecksen. In ihrem praktischen Verhältnis zu Fragen der inneren und gesellschaftlichen Demokratisierung sind die Unterschiede der KPRF zur Putinpartei »Einiges Russland« gar nicht groß. Gregor, ich und einige in unserem Netzwerk pflegen allerdings trotz der geäußerten Kritik das
Gespräch mit nichtnationalistischen und stalinkritischen VertreterInnen der KPRF und hoffen noch ein kleines bisschen auf den sich abzeichnenden Generations- und auch Perspektivenwechsel. Immerhin verbindet uns noch eine gemeinsame Vergangenheit. In letzter Zeit wird in Medien, aber auch in linken Kreisen viel über das Aufkommen von offen rassistischen und nazistischen Bewegungen in Russland gesprochen. G. H.: Ja, leider völlig zu Recht. Die heutigen russischen NaziStrukturen entstanden im letzten Jahrzehnt, also in der Putin-Medwedew-Zeit. Fakt ist, dass die russischen Nazis extrem gewalttätig sind und zahlreiche rassistische Morde begangen haben. Ganz gezielt gehen Nazis auch gegen Menschen wie den antirassistischen Anwalt S. Markelov und die Journalistin und autonome Aktivistin A. Baburova vor, die im Januar 2009 ermordet wurden. Zivilgesellschaftliche wie linke AntifaschistInnen sind dabei gegenwärtig dem doppelten Druck von Nazis und der Antiextremismuspolizei ausgesetzt. B. K.: Nachdem auch Vertreter der Staatsmacht ins Visier der Rechtsterroristen gelangt waren, gehen nun auch Polizei und FSB gegen die Nazis und ihre Strukturen vor. Wie auch anderswo ist aber auch in Russland der »gemäßigtere« populistische Rassismus der offiziellen Politik und Bürokratie ein Brutkasten für die menschenverachtenden Positionen des Nazismus. Die Fragen stellte A. Günther.
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»Sächsische Demokratie« immun gegen Rechtsterror-Schock Außer Fensterreden sind in Sachsen kaum greifbare Fortschritte im Kampf gegen Nazis zu bemerken Wolfgang Thierse hat den Begriff in einem Interview geprägt, gegeben während der Auseinandersetzungen des 19. Februar 2011 in Dresden: »Sächsische Demokratie«. Die Einheimischen hat er nicht wirklich überrascht. In mehr als 20 Jahren hat man sich hierzulande daran gewöhnt, dass das politische Sachsen noch ein bisschen feudalistischer, unaufgeklärter und hausbackener erschien als das biedere Bayern, das Mutterland der Stammtische. Was Thierse meinte, war der juristisch materiell korrekte und dennoch unbegreifliche Umstand, dass Demokraten, die sich gegen Feinde der Demokratie aktiv wehren, im Namen der Demokratie in Sachsen besonders eifrig verfolgt werden. Blockierer von Naziaufmärschen erhalten Strafbefehle, während die Polizei das Versammlungsrecht der braunen Ungeister durchsetzen muss. Mit der Entdeckung der JenaZwickauer Terrorzelle schienen auch die Staatsregierung und die Regierungsfraktionen von einem heilsamen Schock ergriffen. Freilich mit der für Sachsen typischen Langsamkeit. Ministerpräsident Stanis-
Mit diesem Wahlspruch hat mich meine Großmutter schon sehr früh traktiert - ein kluges Motto einer klugen Frau. Es ist die deutliche Warnung davor, im Konflikt eine möglicherweise endlose Kette von »Aug‘ um Aug‘, Zahn um Zahn«, zu eröffnen. Daran erinnert hat mich jüngst eine Zeitungsmeldung: »Die NATO beginnt ungeachtet des wilden Protests des Kremls mit dem Aufbau des Raketenabwehrschilds für Europa ... Der Kreml argumentiert, dieser Anti-Raketenschirm würde automatisch auch Russlands Vergeltungskapazität außer Kraft setzen« (Kronen-Zeitung, 07.02.12, S. 4). Es em-
law Tillich brauchte zehn Tage länger als seine Thüringer Kollegin Lieberknecht, bis sein Redenschreiber einige zum Ablesen vor der Landespressekonferenz geeignete Sätze fand. Aber wenn der Vorsitzende der Kontrollkommission für den Verfassungsschutz Günter Schneider (CDU) im Landtag von »Staatsversagen« und einem »Desaster« sprach, zeugte das schon von einiger Betroffenheit. Im Januar legte dann auch Tillich nach, sprach in Zwi-
ckau von »braunem Dreck«, den Sachsen loswerden müsse. Doch die Praxis ist das Kriterium der Wahrheit, lernten wir einst. Es sind nicht nur Linkspolitiker, die substanzielle Verbesserungen und greifbare Veränderungen bei der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus vermissen. SPDLandtagsfraktionschef Martin Dulig beispielsweise vermisst bei der Staatsregierung die Bereitschaft, konsequent an der Aufklärung des NSU-Ter-
rors und der Verstrickung der Geheimdienste mitzuwirken. Die Informationen im Innenausschuss flössen spärlich, Ministeriumsmitarbeiter bekämen kein Auskunftsrecht, eine Sonderkommission wie in Thüringen sei nicht in Sicht. »Innenminister Markus Ulbig zwingt uns geradezu, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen«, folgert Dulig. Den wird es wie in Thüringen und wie im Bundestag absehbar nun auch in Sachsen geben.
Dulig hat es bis heute nicht verkraftet, dass im Januarplenum des Landtages eine gemeinsame Erklärung zum 13. Februar in Dresden am Boykott von CDU und FDP scheiterte. In der Stadt ist man dank der Arbeitsgruppe 13. Februar inzwischen weiter. Auf Landesebene aber dominiert weiterhin altes Denken in konservativen Köpfen. Die per Videobotschaft wohlformulierte Äußerung von Innenminister Markus Ulbig, die Antwort auf Nazis sei nicht Antifaschismus, sondern Demokratie, hat ein heftigeres Echo ausgelöst, als er vermutete. Beim großen bunten Zug durch Dresden am 18. Februar lautete bezeichnenderweise der häufigste Slogan »Sächsische Verhältnisse kippen«! Damit sind vor allem die Repressionen gegen friedliche Gegendemonstranten der vergangenen Jahre gemeint. Hinsichtlich der Blockaden von Nazi-Aufmärschen pflege die sächsische Justiz weiterhin ein Rechtsverständnis, das in weiten Teilen der Bundesrepublik überholt sei, sagte Sprecher Paul Tschirmer vom NazifreiBündnis. Erwartete Urteile in zweiter Instanz bei den laufenden Verfahren wegen Verstößen gegen das Versammlungsgesetz würden das zeigen. Mark Spitz
pört sich ein Land, das Auge und Zahn durch das Andere gefährdet sieht, mit »wildem Protest« über die verhinderte Möglichkeit der abschreckenden Revanche. Dies wird wiederum als Ausfluss böser Absichten denunziert. Entsprechend die Überschrift über das Ganze, »Russland gegen Europa«, und die Empörung am Schluss: »Russlands Strategen haben also noch immer Europa im Visier!« Spätestens jetzt tönt mir das scheinheilig-perfide »Haltet den Dieb« des eigentlichen »Täters« im Ohr. Man möchte schon fragen, wer sich hier unverwundbar macht und warum? Die NATO streitet Feindseligkeit gegen Russland ab. Es gehe nur um die Verteidigung gegen iranische Gefahr. Die Russen wieder bleiben misstrauisch und wollen sich lieber die Option des »Wie Du mir, so ich Dir« erhalten. Unsereiner aber kommt ins Grübeln. Wäre nicht meine Großmutter
mit ihrer Weisheit die bessere Diplomatin? Wir lächeln. In den internationalen Beziehungen geht es eben anders zu als in der Welt meiner Oma. Schade! Die NATO macht sich z.B. mehr und mehr im Mittelmeerraum breit.
israelische Diplomaten sind zu verurteilen. Das stimmt ja auch! Anschläge auf iranische Atomphysiker oder auf Al Quaida-Führer in Pakistan sind zumindest hinzunehmen. Wer erklärt mir das plausibel? Irgendwie drängt sich doch der Eindruck auf, zwei machten da nicht nur das Gleiche, sondern auch das Selbe. Mitnichten, belehren uns Mächtige und ihre Medien. Worin besteht also der Unterschied? Die alten Römer hatten eine praktische Lösung, die lautete: »Quod licet Iovi, non licet bovi«, »was Jupiter erlaubt ist, ist dem Rindvieh nicht erlaubt«. Interessant! Sind die NATO und ihre Schützlinge geborene Götter und besteht der Rest der Welt deshalb nur aus Rindviechern? Sind Deutschland und Frankreich göttlicher Natur und siedeln in Griechenland, Portugal, Spanien nur Kühe, Ochsen und triebblinde Stiere? Das will man uns glau-
ben machen. Hier ist die alte Einsicht, »Hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott« verdreht worden zur Anmaßung »Hilf Dir selbst, dann bist Du Gott«. Göttern gleich wähnen sich manche Staatenlenker und -lenkerinnen und machen sich zu Klägern und Richtern zugleich. Lassen wir doch alle Sprichwörter sein und stellen wir fest: Es herrscht in der Welt am Ende doch nur das Recht des Stärkeren – trotz aller UNO, trotz Völkerrechts, trotz EU, trotz Arabischer Liga, trotz internationaler Gerichtshöfe, trotz aller angehäufter Weisheit der Völker. Den Haag für den Balkan und Afrika, Selbstjustiz für mich! »Ist erst die Henne mein, so gehören mir auch die Eier«. Und um die Eier geht es, nicht um Recht und Gerechtigkeit. Wie alt ist doch die Menschheit und wie wenig hat sich im Umgang miteinander geändert! Dabei könnten die Völker mit ihren Weisheiten die Welt nicht nur verschieden interpretieren, sondern auch verändern. Peter Porsch
»Was Du nicht willst, dass Dir man tu, das füg‘ auch keinem andern zu!« Die Russen, die das auch versuchten, werden verdrängt. Noch vergelten sie deshalb nicht Gleiches mit Gleichem. Von russischen Bombern über afrikanischen und arabischen Mittelmeeranrainern habe ich noch nicht gehört; von russischen Bomben und Granaten, die dort explodieren, allerdings schon. Anschläge auf
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Gott, segne die Ungarn! Mit diesen Worten beginnt die neue ungarische Verfassung, die in einem Staat mit vielen Bevölkerungen und 13 Minderheiten gelten soll. Das Ungarn des Viktor Orban ist seit dem 18. April 2011 keine Republik mehr und die Verfassung des neuen Ungarns europaweit in der Kritik. Sie wurde Thema im Europäischen Parlament mit der Frage, inwieweit sie mit den Grundsätzen des EU-Rechts vereinbar ist oder nicht. Nur wenn das nationale Recht gegen EU-Vertragsrecht Verstößt, kann seitens der EU, der Kommission, gehandelt werden. Die Ironie der Geschichte war es, dass zeitgleich zur Verfassungsannahme in Ungarn Viktor Orban turnusmäßig EU-Ratspräsident in Brüssel wurde, stolz getragen von einer 2/3 -Mehrheit seiner rechtskonservativen Fidesz-Partei. Ein Jahr später würde er sagen, dass er sich dem Angriff »der internationalen Linken« im Europaparlament von Angesicht zu Angesicht gestellt habe. Die »internationalen Linken« sind in seinen Augen alle Fraktionen links der EVP-Fraktion. Letztere hielt ihm brav die Stange, immerhin ist er ja bis heute auch Vizepräsident der Europäischen Volkspartei. Als er Anfang 2011 dem Europaparlament seine halbjährige Ratspräsidentschaft erklärte, kam es zu Protesten bei Grünen, Sozialisten / Sozialdemokraten sowie den Linken. Transparente wurden insbesondere gegen die Aufhebung der Medienfreiheit in Ungarn hochgehalten, und die Debatte ergoss sich im verbalen Schlagabtausch.
Viktor Orban ist ein eingefleischter Kommunistenhasser, obwohl er doch als Chef der ungarischen kommunistischen Jugendorganisation seine Karriere begann. 1988 forderte er öffentlich den Abzug der sowjetischen Soldaten und avancierte zum Helden des Westens, wofür man ihm noch heute die Hände küsst. Die Bekämpfung der Sozialisten, Sozialdemokraten und Liberalen ist sein Programm. Unter seiner Führung wurde die Fidesz-Partei zur wichtigsten rechtskonservativen Kraft in Ungarn. Am 11. April 2010 errang sie 52,7 Prozent der Wählerstimmen, nachdem die sozialistische Vorgängerregierung gravierende Fehler gemacht und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger restlos verspielt hatte. Als die Europaabgeordneten unterstützt von der demokratischen Opposition in Ungarn die ungarische Verfassung der Kritik unterzogen und die Kommission zum Handeln aufforderte, rief Orban zur »Verteidigung Ungarns« auf und zog eine Parallele zwischen Nationalsozialismus und dem »internationalen Sozialismus«. Was hat es mit der Verfassung auf sich? Sie macht die Ideologie der herrschenden Partei verbindlich für alle und erhebt die Nation zum höchsten Wert. Die ungarische »Ethnonation« blendet außerhalb der ungarischen andere Ethnien aus, auch wenn diese formal gleichgestellt sind. Grundrechte können »im Interesse der (ungarischen) Nation« sogar eingeschränkt werden. Insgesamt wird der Grund-
rechtsschutz ausgehöhlt, auch durch die Abschaffung des Popularrechtes. Auch hat das Verfassungsgericht künftig nur noch beschränkte Kontrollkompetenzen, nicht mehr in Bezug auf Gesetze zu Haushalt oder Finanzen. Darüber
ten der Nationalbank und dem Rechnungshofpräsidenten, allesamt Fidesz-Leute, deren Amtszeit weit über herkömmliche Legislaturperioden hinausreicht. Der Präsident des Rechnungshofes wurde für 12 Jahre ge-
hinaus wurde die Unabhängigkeit der Richter weitgehend eingeschränkt, unliebsame »Linke« aus der Sozialismusära wurden per Gesetz in die Rente geschickt und durch Fidesz-Leute ersetzt. Es folgte die verfassungsrechtlich garantierte Gleichschaltung in allen Machtbereichen. Das ungarische Parlament hat keine Budgetfreiheit mehr. Es kann nur das Budget erlassen, wenn der neu geschaffene Haushaltsausschuss zugestimmt hat. Dieser setzt sich zusammen aus einem vom Staatspräsidenten ernannten Vorsitzenden, dem Präsiden-
wählt, ein Fidesz-Mann wurde Leiter der staatlichen Medien- und Kommunikationsbehörde und für neun Jahre gewählt. Die Zentralbank wurde unter die Fuchtel der Fidesz gebracht und die Unabhängigkeit der Datenschutzbehörde aufgehoben. Der Oberstaatsanwalt, ein strammer Fidesz-Mann, auch für neun Jahre, alle Verfassungsrichter sind Fidesz-Leute. Zugleich gibt es eine enge Verflechtung zwischen Staat und Wirtschaft. 20-30 Prozent der großen staatlichen Investitionen wandern zurück in die Parteikasse. Das war al-
lerdings auch schon zu Zeiten der Sozialisten so. Noch nicht erwähnt wurde die neue Familienpolitik, die eine Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Paare erleichtert, was gegen die Grundrechtecharta verstößt. Die Liste könnte noch weitergeführt werden. Die Schlüsselfrage, welche sich Parlament und Kommission im Januar 2012 zu stellen hatten war, wie diesen offenkundigen Verletzungen des EU-Rechts begegnet werden soll. Die Kommission hat nunmehr drei Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn eingeleitet, wo sie die Verletzung des Gemeinschaftsrechtes durch Ungarn sieht. Die ungarische Regierung hat einen Monat Zeit, um auf die Kritik der Kommission zu antworten. Vertragsverletzungen können bis zur Anrufung des Europäischen Gerichtshofes führen, um europäisches geltendes Recht einzuklagen. Im weitest gehenden Fall, für den sowohl die Grünen als auch wir Linken plädiert haben, kann Ungarn sogar das Stimmrecht zeitweilig entzogen werden, solange keine Änderungen in der Rechtslage vorgenommen werden. Gegenwärtig schauen Ungarns Demokratinnen und Demokraten auf die Kommission und hoffen darauf, dass sie eine deutliche Sprache spricht und sich nicht abspeisen lässt. Kosmetische Veränderungen reichen hier nicht aus. Deshalb braucht es auch weiterhin den Druck der Europaabgeordneten. Schon im nächsten Monat muss die Kommission dem Parlament berichten. Cornelia Ernst
Dem ist mitnichten so. Durch das Vorziehen von Investitionen kann der Staat durch kluge Infrastrukturentscheidungen sogar einen wichtigen Beitrag zum Wirtschaftswachstum erbringen. Wichtig dabei ist allerdings, dass die daraus folgenden Belastungen auch finanziell getragen werden können. Damit gehört es aber auch zur Wahrheit dazu, dass einige Länder schon länger nicht mehr in der Lage sind, mit ihrem Schuldenberg und den daraus erwachsenen Verpflichtungen umzugehen. Hier hat Politik teilweise versagt. Haushaltsnotlage wird das heute genannt. Ab dem Jahr 2020 wird es dem Bund und den Ländern nur noch in sehr begrenzten Umfang möglich sein, sich über Kredite zu finanzieren. Damit
entfällt auch die Möglichkeit, sinnvolle und nutzbringende Investitionen in die öffentliche Infrastruktur in Zukunft aus Krediten vorzufinanzieren. Dadurch wird die »Schuldenbremse« zur Investitionsbremse und es besteht die reale Gefahr, dass notwendige Investitionen zum Wohle künftiger Generationen auf der Strecke bleiben. Fakt bleibt also - die »Schuldenbremse« entfaltet ihre Wirkung. Der Stabilitätsrat ist eingerichtet und arbeitet. Er hat Kriterien und Vereinbarungen mit notleidenden Ländern abgeschlossen und überwacht deren Einhaltung. Es ist einem breiten linken Bündnis leider nicht gelungen, diesen weiteren Angriff auf den Staat abzuwehren. Sebastian Scheel
Ein Wort zur „Schuldenbremse“ Sie sind angetreten, Großes zu vollbringen. Ordnung sollte gebracht werden in ein System, das offensichtlich nicht mehr in Ordnung ist. Am Beginn der Förderalismusreform II stand unter anderem die Aufgabe, eine grundlegende Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund, Ländern und Kommunen zu erreichen. Wie so viele Anläufe zuvor scheiterte auch diese Kommission an der Aufgabe. Um allerdings nicht ganz mit leeren Händen dazustehen, präsentierten die Beteiligten eine Neuerung, die darüber hinwegtäuschen sollte, dass der eigentliche Auftrag nicht erfüllt wurde. Die »Schuldenbremse« war geboren. Unter dem Deckmantel einer vorgetäuschten Generationengerechtigkeit soll dem Staat,
aber vor allem der Politik und damit den Politkern, der Kredit als Finanzierungsform genommen werden. Viele Politiker waren sich nicht zu schade, ein Bild zu bedienen, das sie selbst als stark Abhängige darstellte, denen endlich ihre Droge genommen werden musste. Damit verbunden ist die Behauptung, dass die Politik dazu neigt, gern immer mehr und sinnlos ausgeben zu wollen. Insbesondere Lobbyinstitutionen wie die »Stiftung Neue Soziale Marktwirtschaft« sind immer gern dabei, der Politik einen aufgeblähten Staatsapparat vorzuwerfen. Dahinter steckt ein Geist der Marktfixierung, der den Staat mehr und mehr in eine Beobachterrolle drängen will. Ziel der Angriffe und Diskreditierung des Staates und seiner Aufga-
ben war es, Umverteilungen zu rechtfertigen und vor allem soziale Leistungen auf den Einzelnen zu verlagern. Vor diesem Hintergrund sind auch die großen Steuersenkungsprogramme für Unternehmen und Vermögende zu verstehen. Die Frage eines Verbotes von Krediten ist ein weiterer Versuch, die öffentliche Hand in ihren Handlungsmöglichkeiten einzuschränken. Mit der Schuldenkrise verschiedener europäischer Staaten haben die Befürworter einer sogenannten »Schuldenbremse« scheinbar nachträglich Recht bekommen. Was steckt nun aber hinter dieser geradezu hysterisch geführten Debatte? Sind denn Kredite an sich Teufelszeug? Und ist die Politik allgemein unfähig, mit Geld umzugehen?
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Sachsens Linke
Axel Troost zeigt auf seite 3, was ist eigentlich los in Griechenland und was hat das mit uns zu tun. Gerhard Besier warnt davor, dass die schlechte Bezahlung vor allem des wissenschaftlichen Mittelbaus an den universitäten verheerende Folgen haben wird. Auf Seite 3.
Von engagierten Debatten im Landesvorstand der sächsischen LINKEN über ein sächsisches Vergabegesetz berichten Antje Feiks und Stefan Hartmann. Auf Seite 4.
Auf Seite 5 informiert Tillmann Loos über die Vorhaben des Jugendverbandes linksjugend [´solid] in diesem Jahr.
Dresden nazifrei! Voller Erfolg am 13. und
18. Februar!
Danke Dresden!
Voller Erfolg! Naziaufmarsch am 13.2. blockiert! Für die Abschaffung »Sächsischer Verhältnisse« am 18. Februar demonstriert!
Auch wenn es in der medialen Berichterstattung etwas widersprüchlich ist: Wir haben den Naziaufmarsch am 13. Februar erfolgreich blockiert! Die 1600 Nazis konnten vielleicht 1200 Meter laufen und mussten frustriert abreisen, noch bevor die von ihnen geplante Gedenkminute um 21:32 (Uhrzeit des Beginns der Bombardements) zelebriert werden konnte. Der Tag begann 13 Uhr am Comeniusplatz mit dem »Mahngang Täterspuren«. An Hand von elf innerstädtischen Punkten wurde deutlich gemacht, dass Dresden nicht die Opferstadt war, als die sie immer noch romantisiert wird, sondern dass es in Dresden nicht wenige Täter_innen, Mitläufer_ innen und Wegschauer_innen gab. Über 2.000 Menschen nahmen an diesem Mahngang teil. Unter anderem wurde die Mutschman-Villa (Mutsch-
mann war Ministerpräsident, Partei-Gauleiter und Reichstatthalter), der Standort der ehemaligen Gefangenenanstalt Mathildenstraße, die Synagoge, das Polizeipräsidium und der ehemalige Sitz der Gestapo aufgesucht. Damit ist auch die Intervention in den Diskurs um die angeblich unschuldige Kulturstadt Dresdens erfolgreich gewesen. DIE LINKE war beim »Täterorte Rundgang« und den späteren Blockaden nicht zu übersehen. Anschließend fand die Menschenkette und Blockaden gegen die Naziaufmärsche statt. Im Nachhinein verschwamm in diversen Presse-Berichten die von der AG 13. Februar der Stadt Dresden initiierte Menschenkette und die Blockaden zu einer Gedenkveranstaltung »gegen Rechtsextremismus«, die den Naziaufmarsch stoppen konnte. Für die Kommunikation der Sache spielt das jedoch kaum eine Rolle. Der Widerstand gegen den Naziaufmarsch und die Kritik am entkontextualisierten Gedenken haben ihren Einzug in den öffentlichen Diskurs gefunden. Die Dresdner schauen nicht mehr weg, wenn Nazis am 13. Februar durch ihre Stadt ziehen, weil sie nur das stille Ge-
denken an die Bombenopfer interessiert, oder verteidigen mit der Menschenkette die historische Altstadt Dresdens »gegen die zugereisten Extremisten von links und rechts, die das Gedenken missbrauchen«. Inzwischen verbinden sie das Gedenken mit der Absage an die Nazis. Daneben haben sich tausende Dresdnerinnen und Dresdner an unseren Blockaden beteiligt, weil ihnen Händchen halten nicht genug war. Für den 18. Feburar 2012 war lange Zeit unklar, ob Nazis nach Dresden kommen werden oder nicht. Das Bündnis »Dresden Nazifrei« war für alle Situation umfassend vorbereitet. Da keine Nazis ihr geschichtsrevisionistischen Bild auf die Straße tragen wollten, fand eine große antifaschistische Demonstration mit mehr als 10.000 Teilnehmer_innen statt. Ein absoluter Erfolg. Mit dem Protestzug gegen »sächsische Verhältnisse« wurde die Stadt Dresden am 18. Februar 2012 Zeugin der größten, in der BRD stattfindenden, antifaschistischen Demonstration seit mehr als zehn Jahren. Auch für DIE LINKE war die Mobilisierung nach Dresden ein absoluter Höhepunkt. In vielen Städten organisierten unsere Genossinnen und Genos-
sen Busse, oder beteiligten sich an der Organisation. Aus der ganzen Republik reisten LINKE in die sächsische Hauptstadt und zeigten, dass weder Funkzellenabfragen, noch Strafverfahren und Immunitätsaufhebungen sie einschüchtern können. Neben den vielen Mitgliedern, waren mehr als ein Dutzend Bundestagsabgeordnete und ganze Landtagsfraktionen der LINKEN auf der Demonstration präsent. Nachdem die Neonazis nun drei Niederlagen in drei aufeinander folgenden Jahren hinnehmen mussten, können wir davon ausgehen, dass der rechte Großaufmarsch in Dresden vorerst Geschichte ist. Der konsequente Widerstand eines breiten Bündnisses aus Antifa-Gruppen, Gewerkschaften, zivilgesellschaftlichen Organisationen und Parteien wie DIE LINKE, hat es geschafft, das wichtigste Ereignis im Terminkalender der deutschen Neonazi-Szene zu einem Fest der antifaschistischen Bewegung zu machen. Wir möchten allen Beteiligten für ihr Engagement danken. Nur gemeinsam konnten wir so erfolgreich sein! Björn Resener und Jens Thöricht
Nein, nicht wegen dem 13. und 18. Februar 2012, obwohl die Proteste an diesen beiden Tagen aus Sicht der LINKEN ein großartiger Erfolg waren. Ich meine den 29. Januar 2012. Hier haben die Dresdnerinnen und Dresdner tatsächlich es geschafft, das Haus zu verlassen und sich am Bürgerentscheid, zum Erhalt der Krankenhäuser in städtischer Hand, zu beteiligen. Das Ergebnis ist für viele überraschend: 135.000 Ja-Stimmen. Zum Vergleich: die aktuelle Oberbürgermeisterin in Dresden wurde im 2. Wahlgang 2008 mit gerade mal 90.000 Stimmen gewählt. Ich finde, ein großartiger Erfolg für die Stadt Dresden. Jedoch ist es auch ein großartiger Erfolg für den Stadtverband und die Stadtfraktion in Dresden, weil unter anderem die Initiatoren des Bürgerentscheides drei Stadträte der LINKEN waren. Jetzt ist hoffentlich allen klar: DIE LINKE in Dresden hat die richtigen Schlussfolgerungen und Lehren aus dem Totalverkauf der Dresdner Wohnungsbaugesellschaft gezogen. Der damals schon fast nicht mehr zu ertragende Prozess der Spaltung der Stadtfraktion war notwendig. Die Stimmenverluste bei den darauffolgenden Wahlen folgerichtig. Nun sollte unseren Wählerinnen und Wählern in Dresden und darüber hinaus klar geworden sein, für was wir stehen: Für Kommunaleigentum! Und uns muss klar sein, dass Glaubwürdigkeit in der Politik ein hohes Gut ist, was man nicht leichtfertig aufs Spiel setzen darf. Deswegen: Danke Dresden. Wir hatten als LINKE wegen euch einen guten Start in das Jahr 2012.
Sachsens Linke! 3/2012
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Meinungen Leserbrief von Klaus Müller zu »Wer denkt, es kann sich nicht wiederholen, der irrt« in LINKS, JanuarFebruar 2012 Heinz Lippmann – eine widersprüchliche Persönlichkeit Zweifellos gehörte Heinz Lippmann als Krankenpfleger in Auschwitz III (Monowitz) zum Widerstandskomitee. Gemeinsam mit dem Doktor Grossmann aus Berlin hat er Justin Sonder vor dem Vergasungstod gerettet. Sicher war das nicht die einzige positive Tat. Außerdem hat er Justin – gewiss auch andere – für den Widerstand gewonnen. So weit so gut. Eure Anmerkung zu Lippmann am Ende des schönen großen Gesprächs ist jedoch nicht ganz korrekt. Dieser ist 1953 nicht einfach mit 300.000 Westmark in die BRD übergesiedelt. Das klingt nach legalem Umzug. Das Geld war natürlich für das Wirken des FDJ-Zentralrates vorgesehen, wo Lippmann die Westabteilung leitete. Im September 1953 ließ er sich die 300.000 DM von einem zuständigen Mitarbeiter oder Abteilungsleiter (Finanzen) des Zentralrates übergeben, um angeblich noch eine Aufgabe im Sinne der FDJ zu erledigen, bevor er »in den Urlaub gehen wollte«, wie er sagte. Nachdem er die Summe erhalten hatte, setzte er sich mit der S-Bahn nach Westberlin und dann in die BRD ab. Die DM betrachtete er als eigenes Startkapital für den Westen. Seine Gründe für die Flucht sind nicht ganz geklärt. Lippmanns Enkelin hat eine Fernsehdokumentation über ihren Großvater gefertigt, die im vergangenen Jahr gesendet wurde (MDR oder ZDF). Daraus soll man entnehmen, dass es Konflikte mit Erich Honecker, damals Vorsitzender des FDJ-Zentralrates, gab. Fest steht, dass beide dominante Persönlichkeiten waren. Kurt Goldstein schildert in der Dokumentation Lippmann als einen Menschen, der für seine Arbeit und seine Entscheidungen viel Freiraum brauch-
Impressum Sachsens Linke! Die Zeitung der Linken in Sachsen Herausgeber: DIE LINKE. Sachsen Verleger: Verein Linke Kultur und Bildung in Sachsen e.V., Großenhainer Str. 101, 01127 Dresden
te. Auf jeden Fall bestätigt der Fernsehbeitrag die widersprüchliche Entwicklung Lippmanns. In dem Buch »Unser Zeichen war die Sonne«, herausgegeben von Hans Modrow (Verlag Neues Leben GmbH Berlin 1996, Seiten 74/75), bezeichnet Jupp Angenfort, Vorsitzender der FDJ in der BRD, Lippmann als eine zwielichtige Person. Dieser sei in Prozessen gegen Mitglieder der FDJ in Westdeutschland aufgetreten und habe mit dem Verfassungsschutz zusammengearbeitet. Hubert Gintschel aus Chemnitz In Memoriam Hans-Jochen Vogel Vor 6 Jahren am 27. Dezember 2005 starb nach schwerer Krankheit Hans-Jochen Vogel. Der Christ protestantischer Konfession, der Gemeindepfarrer, der evangelische Studentenpfarrer in Karl-MarxStadt und Chemnitz, der Antifaschist, Friedenskämpfer, vor allem aber der unbeirrbare, kluge, kritische Geist und sozial engagierte, tätige Mensch. Wie viele in unserer Partei hatte ich Hans-Jochen Vogel nach 1989 kennen gelernt. Unser erstes Zusammentreffen fand auf Einladung der christlichen Friedensinitiative im Umweltzentrum zur Organisierung der Proteste gegen den 1. Golfkrieg statt. Sehr schnell merkten wir, dass die Gräben, die uns früher trennten, eigentlich keine waren und wir im Grunde das Gleiche wollten: eine Welt ohne Kriege, ohne Armut, Hunger und soziale Ängste, ohne Glaubens- und Rassenhass, eben eine menschliche Welt. Aus dieser Gemeinsamkeit erwuchs eine 15-jährige aktive, vertrauensvolle und solidarische Zusammenarbeit. Als die NATO angetrieben von der Bundesregierung von SPD und Bündnis90/Grüne den Jugoslawienkrieg vom Zaune brach, zerrte die bundesdeutsche Justiz Hans-Jochen vor Gericht. Wegen seines Aufrufes an die Soldaten, sich nicht
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am Krieg zu beteiligen und zu desertieren, sollte er verurteilt werden. Als ausgewiesenem Verfechter der Aktion »Schwerter zu Pflugscharen« ist ihm das in der DDR nicht passiert. Hans-Jochen musste freigesprochen werden. Eine von der damaligen PDS initiierte breite, öffentliche Solidaritätsbewegung zusammen mit der Verteidigung durch RA Klaus Bartl (MdL/PDS) hat maßgeblich dazu beigetragen. Als der Hamburger Neofaschist Worch in Chemnitz einen rechten Aufmarsch gegen die Ausstellung »Die verbrechen der Wehrmacht« organisierte, stand Hans-Jochen mit an der Spitze der 8.000 Gegendemonstranten, deren erklärtes Ziel es war, den Aufmarsch der Nazis zu verhindern, zumindest aber empfindlich zu stören. Kennzeichnend für Hans-Jochen war immer, Friedensarbeit und Antifaschismus dürfen sich nicht in Symbolik erschöpfen, die muss sein, aber sie verändert noch nichts. Vom Gebet zur Tat, dass war sein christliches Credo. Ganz im Sinne von Goethes Dr. Faustus: Im Anfang war die Tat. Widerstand zu leisten gegen Neofaschismus, Rechtsradikalismus, Rassen- und Religionshass, Fremdenfeindlichkeit und Kriegstreiberei gehörte für ihn zu den Rechten eines wehrhaften Demokraten. Dabei alle Kräfte zu einen, war für ihn ein grundsätzliches Gebot. Einer Trennung zwischen so genannter bürgerlicher Mitte und alternativen, auch linken Kräften hat HansJochen nie das Wort geredet. Wenn wir alle gemeinsam so herangehen, dann werden wir in der Erinnerung an Hans-Jochen Vogel seinem Wirken gerecht und, um es noch einmal mit Goethe zu sagen, wird die Spur von seinen Erdentagen nicht in Äonen untergehen. Uwe Schnabel aus Coswig zu »Überparteilicher Aufbruch in Richtung Gleichstellung« (Sachsens Linke! 1-2/2012, S. 9) Es ist schön, wenn die Gleichberechtigung durchgesetzt wird. Dazu gehört natürlich auch, dass Frauen in Führungspositionen entspre-
Auflage von 18000 Exp. gedruckt. Der Redaktion gehören an: Ute Gelfert, Jayne-Ann Igel, Tom Schumer, Rico Schubert, Antje Feiks (V.i.S.d.P.), Jörg Teichmann, Ralf Richter, Stathis Soudias Bildnachweise: Archiv, iStockphoto, pixelio
chend ihres Bevölkerungsanteils vertreten sind. Die meisten Frauen haben aber nichts davon, wenn mehr Frauen in die Aufsichtsräte kommen. Das betrifft nur eine kleine Minderheit. Und Frauen in Führungspositionen (z.B. Margaret Thatcher, Angela Merkel, (Zens)Ursula von der Leyen, Friede Springer) setzen sich auch häufig nicht für soziale Gerechtigkeit im Allgemeinen und speziell für Frauen ein. Somit sind die Beseitigung der Einkommensunterschiede sowohl im als auch nach dem Berufsleben wie auch bei Erwerbsarbeitslosigkeit, eine gerechtere Verteilung der Tätigkeiten, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf unabhängig vom Geldbeutel und die Bekämpfung sexistischer Vorurteile viel wichtiger. Die Berliner Erklärung kann somit selbst bei Erfolg bestenfalls ein erster Schritt sein. Eine spürbare Besserstellung der Frauen und effektive Maßnahmen zur Umsetzung der Gleichberechtigung werden dadurch nicht erreicht.
Dresden-Pillnitz: Freier Park für freie Bürger – mit Online-Petition Eintrittsgeld verhindern Dresdner Bürger wollen sich nicht alles bieten lassen. Keine privatisierten Krankenhäuser und keine privatisierten Parks. Die Initiative «Freier Park für freie Bürger” fordert alle Bürgerinnen und Bürger auf, sich gegen die Erhebung der Parkgebühren per Online-Petition zu wenden. Von den bislang zehn freien Zugängen sollen ab April diesen Jahres fünf komplett geschlossen werden. Drei sollen nur noch als Ausgang genutzt werden dürfen und nur zwei Eingänge bleiben übrig. Dies ist nicht hinnehmbar. Jede und jeder der online unterschreibt kann die Aufforderung zur Unterschrift an Freunde und Bekannte weiterleiten. Zudem kann man den Link verschicken: http://openpetition.de/petition/online/freierpark-fuer-freie-buerger
Internet unter www.sachsenslinke.de Kontakt: kontakt@dielinkesachsen.de Tel. 0351-8532725 Fax. 0351-8532720 Redaktionsschluss 21.2.2012 Die nächste Ausgabe erscheint am 29.3. 2012.
So gesehen
Wie die Perlen einer Schnur Von Stathis Soudias Die Aufregung war groß, als bekannt wurde, dass sehr viele Mitglieder der LINKEN vom Verfassungsschutz observiert werden. Fernsehsender und Zeitschriften kritisierten die Bundesregierung, Kabarettisten nahmen den Dienst auf die Schippe, Politiker meldeten sich kritisch zu Wort. Warum denn? Es ist doch nur gerechtfertigt die Partei und ihre Mitglieder zu observieren, die als einzige im Deutschen Bundestag das Grundgesetz ernst nimmt und seine Durchsetzung, seine Geltung verteidigen. DIE LINKE ist die einzige Partei, die das Gebot des Artikels 1 ernst nimmt. Sie verteidigt die Würde des Menschen und sagt deshalb von Anfang an: »Hartz VI ist Armut per Gesetz«. DIE LINKE ist die einzige Partei, die das Grundgesetz ernst nimmt und gegen den Einsatz der Bundeswehr in kriegerischen Auseinandersetzungen ist. DIE LINKE ist die einzige Partei, die das Gebot des Grundgesetzes »Eigentum verpflichtet« durchsetzen will und somit gegen die Rettung der Finanzspekulanten auf dem Rücken der Bürgerinnen und Bürger ist. DIE LINKE ist die einzige Partei, die das Grundgesetz ernst nimmt und die Gleichstellung der Geschlechter fordert und fördert. Die 50 Prozent-Quote wird nur von der LINKEN konsequent eingehalten. Selbstverständlich macht das diese Partei verdächtig. Selbstverständlich ist diese Partei gefährlich, weil sie die anderen bloß stellt. Und, eine sächsische Besonderheit, sie widerspricht mit Wort und Tat der Extremismus Theorie des Chemnitzer Professors, die unreflektiert von der Landesregierung blind durchgesetzt wird. So gesehen ist auch nur konsequent, dass DIE LINKE nicht teilnehmen darf bei der Suche eines geeigneten Kandidaten für das Amt des/der Bundespräsidentin. Und diejenigen, die das Grundgesetz missachten, haben sich auf jemanden verständigt, sie repräsentiert. Herr Gauck redet zwar von Freiheit, was übrigens das Motto der Kanzlerin ist, vergisst aber total die soziale Gerechtigkeit. Das wiederum macht ihn zu einem guten Christen. Wie die Perlen einer Schnur eben.
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Kein Ende in Sicht Griechenland, Eurokrise und kein Ende in Sicht! Was ist los in Griechenland und was hat das mit uns zu tun? Griechenland ist pleite, Griechenland hat über seine Verhältnisse gelebt, Griechenland muss sparen, Griechenland muss endlich ordentlich wirtschaften! Dies sind die üblichen Schlagzeilen und Schlagworte, wie wir sie seit nun schon über einem Jahr täglich in der Zeitung lesen und in der Tagesschau hören. Zunächst die offizielle Geschichte, die auch nicht falsch ist: Ende 2009 erklärt die damals neue griechische Regierung unter Giorgos Papandreou, dass die Statistiken zu Haushaltslöchern und Staatsschulden in Griechenland viele Jahre manipuliert worden waren und die Schulden nun viel höher seien als angenommen. Zu diesem Zeitpunkt schrumpfte die griechische Wirtschaft bereits im zweiten Jahr und das Vertrauen der Kapitalanleger in die griechischen Unternehmen und Banken war bereits stark geschwunden. Nach dieser Offenbarung war auch der Rest an Vertrauen verloren. Alles
weitere ist bekannt. Nun der Teil der Geschichte, den man seltener hört: 1999 wurde in der Europäischen Union eine Währungsunion gegründet und 2001 der Euro als Gemeinschaftswährung eingeführt. Eine Währungsunion ist ein sehr enges Korsett: Ein Land kann seine Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr über Wechselkurse anpassen und über seine Zentralbank auch nicht mehr das Zinsniveau steuern, eine weitere wichtige wirtschaftliche Stellschraube. Im Gegenzug sind Unternehmen in einer Währungsunion von Wechselkursrisiken befreit und Umtauschgebühren fallen weg. In einer Währungsunion ist aufgrund der aufgegebenen nationalen Steuerungsmechanismen eine eng koordinierte Wirtschaftspolitik notwendig. Darum hat sich aber keiner der Eurostaaten ernsthaft gekümmert. Die Folge: die wirtschaftliche Entwicklung läuft auseinander. Eine wesentliche Ursache ist dafür die Lohnpolitik, insbesondere das deutsche Lohndumping. Staaten wie Griechenland, aber auch Frankreich mit einer moderaten Lohnpolitik, haben seit ihrem Beitritt zur Europäischen Währungsunion immer mehr an Wettbewerbsfähigkeit verloren. Dies ging mit steigenden Schulden gegenüber Volkswirtschaften wie Deutschland einher. Wegen
der lahmenden Binnennachfrage suchte deutsches Kapital nach Anlagemöglichkeiten und fand sie im Ausland. Griechenland hing nun jedoch immer mehr vom Wohlwollen seiner ausländischen Gläubiger ab. Diese drehten dem Land schließlich den Geldhahn ab. Die Regierungen der Euro-Zone haben daraufhin zwei Entscheidungen getroffen. Die erste und richtige Entscheidung war, Griechenland »vom Markt zu nehmen« und die (Re-) Finanzierung des griechischen Staates über staatliche Kredite abzudecken. Die zweite und verheerend falsche Entscheidung war, diese Kredite mit extrem brutalen Sparauflagen zu verbinden. Weil Löhne und Renten auch die Konjunktur in Schwung halten, würgten die Kürzungsorgien die griechische Wirtschaft ab. In der Folge brachen auch die Steuereinnahmen ein und der Staat erreichte seine Haushaltsziele nicht. Weil man sich zu Recht fragen muss, warum Deutschland nun Solidarität mit den Griechen und nicht mit den noch ärmeren Staaten Europas oder der Welt üben soll, kommt DIE LINKE auch nicht um neue Spielregeln für die europäische Wirtschaftsordnung herum. Dafür reicht es nicht aus, gemäß der Bundesregierung nur auf andere Staaten einzudreschen. Der deutsche Überschuss in
der Leistungsbilanz ist nicht nachhaltig. Durch höhere Löhne und öffentliche Investitionen hat Deutschland seine Importe deutlich zu steigern und Produktivitätsfortschritte endlich zuhause zu verfrühstücken. Sonst konkurrieren sich die Euro-Staaten weiter in die Pleite. Siehe genauer: Troost/Hersel, Solidarisches Miteinander statt ruinöser Wettbewerb -
Europäische Ausgleichsunion. Aus SOZIALISMUS 12/2011 h t t p ://w w w. a xe l - t r o o s t . de/ar ticle/5774.solidari sches-miteinander-statt-ruinoe-ser-wettbewerb-europaeische -ausgleichsunion. html?sstr=Ausgleichsunion Und allgemein zum Thema: http://www.axel-troo s t . d e/t o p i c/3 . t h e m e n . html?tag=Finanzmarktkrise Axel Troost
»Billigprofessoren«, ihre »Knechte« und die Studierenden Die Situation an den deutschen Hochschulen eignet sich kaum für den tagesaktuellen Parteienstreit. Wir sind jetzt vielmehr an einem Punkt angelangt, wo gemeinsam couragierte kultur- bzw. gesellschaftspolitische Weichenstellungen für die kommenden Jahrzehnte vorgenommen werden müssen. Seit der Reform der Professorengehälter durch die Bundesbildungsministerin Bulmahn (SPD) erhalten viele Hochschullehrer nur noch ein vergleichsweise geringes Grundgehalt, das durch Leistungszuschläge aufgebessert werden kann. Doch die Universitäten haben nicht genug Mittel, um diese Zulagen auch an alle Leistungsträger zahlen zu können. Daher gehen nicht wenige leer aus. Wegen der zu geringen Grundfi-
nanzierung der Universitäten scheitert oft auch die Anwerbung von Spitzenforschern. Seit 2006 gibt es keine bundeseinheitliche Besoldungsordnung mehr, sodass exzellente Wissenschaftler gerne einem Ruf in die reichen Bundesländer (Baden-Württemberg, Bayern, Hessen) folgen, wo sie sehr viel mehr verdienen als in Sachsen, Thüringen oder Brandenburg. Wenn dieser Trend sich fortsetzt, werden nur jene Hochschullehrer im östlichen Deutschland verharren, die keine bessere Anstellung im Westen gefunden haben. Im internationalen Vergleich liegt das Einkommen akademischer Lehrkräfte in Deutschland auf Platz 10 – nach Südafrika, Kanada, Saudi-Arabien, Italien, Australien, Großbritannien, Indien, den USA und den Niederlanden.
Das ist ein deprimierendes Ergebnis für die selbsternannte »Bildungsrepublik«. Anders als in den meisten dieser Länder verfügen die deutschen Professoren der höchsten Kategorie aber über eine schlecht bezahlte Schreibkraft und über Hilfskräfte. Letztere werden über meist kurzfristig laufende Verträge als wissenschaftliche Mitarbeiter, geprüfte wissenschaftliche Hilfskräfte und studentische Hilfskräfte bezahlt. Nicht zuletzt aufgrund ihrer elenden Position fehlt es diesen jungen Menschen oft an Einsatzfreude. Durch die Exzellenzinitiativen vergrößert sich das Heer dieser Hilfskräfte ohne Perspektive von Jahr zu Jahr. In den nordischen Ländern, in Kanada, Großbritannien, den USA und anderen Ländern müssen sich die Professoren
selbst um das Alltagsgeschäft ihres Lehr- und Forschungsbetriebs kümmern. Diese Mühen haben der Qualität ihrer Arbeit offenbar nicht geschadet. Anders als in Deutschland forschen die jungen Nachwuchswissenschaftler in den genannten Ländern frei und müssen keine Zuarbeit für »ihre« Professoren leisten. Sie verdienen genug, um anständig leben zu können, erhalten meist mehrjährige Verträge und können mit klar definierten Aufstiegschancen rechnen. Sie werden auch nicht, wie in Deutschland, für weitreichende Lehraufgaben an den überfüllten Universitäten herangezogen. Vor dem geschilderten Hintergrund sollte sich die Begeisterung über die wachsende Zahl von Studienanfängern an sächsischen Hochschulen,
die ihre Hochschulzugangsberechtigung in anderen Bundesländern erworben haben, in engen Grenzen halten. Was unbesehen als Indikator für Qualität gewertet wird, könnte auch als ein Ergebnis von Zulassungsbeschränkungen und noch hoffnungsloserer Überfüllung in anderen Bundesländern interpretiert werden. In der Regel werden informierte und leistungsbewusste Studierende sich um Studienplätze an jenen Universitäten bemühen, an denen hervorragende Hochschullehrer unterrichten. Gegenwärtig kommen nicht alle dort unter. Aber spätestens nach dem Examen werden die Zugezogenen in ihre Heimatländer zurückkehren – wenn dort besser bezahlte Jobs auf sie warten. Gerhard Besier
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8,50 Euro sind Zwischenschritt Bericht aus der Landesvorstandssitzung am 10. Februar 2012 Die Februar-Beratung des Landesvorstandes war durch einige spannende, zum Teil auch kontroverse Diskussionen geprägt. Die politisch interessanteste Debatte entwickelte sich an Hand der Vorlage »Beschluss zur Initiative der LINKEN und der SPD im Sächsischen Landtag zum Thema: Gesetz zur Sicherung von Tariftreue, Sozialstandards und fairem Wettbewerb bei öffentlicher Auftragsvergabe im Freistaat Sachsen« (B 3–042). Dieses gemeinsame Vorhaben der LINKEN und der SPD wird durch den DGB nicht nur mitgetragen, sondern soll in den nächsten Wochen und Mona-
ten durch gemeinsame öffentliche Aktivitäten der Gewerkschaft und beider Parteien Einfluss auf die gesellschaftliche Debatte in Sachsen nehmen. Damit erfüllt DIE LINKE eine ihrer wichtigen politischen Aufgaben, die im Erfurter Programm beschrieben sind: »DIE LINKE steht an der Seite der Gewerkschaften, die für bessere Arbeitsbedingungen und eine gute soziale Absicherung der Beschäftigten« streiten und handelt damit auch in Sachsen entsprechend der Programmformulierung: »Für die Durchsetzung eines politischen Richtungswechsels und einer solidarischen Umgestaltung brauchen wir starke, aktive, kämpferische und politisch eigenständig handelnde Gewerkschaften.«
Antifaschistische (Bildungs-)Arbeit Auf dem Landesparteitag in Bautzen wurde beschlossen, in Sachsen eine »Parteikonferenz zu inhaltlichen Fragen von Rassismus und Ideologie der Ungleichwertigkeit sowie zu Handlungsoptionen der LINKEN in der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Spielarten dieses politischen Spektrums« durchzuführen. Diese wird am 5. Mai 2012 stattfinden. Zur Vorbereitung hat der Landesvorstand am 10. Februar die Bildung einer Arbeitsgemeinschaft beschlossen. Ihr gehören neben MdL Freya-Maria Klinger und Jens Thöricht auch die Landesgeschäftsführerin Antje Feiks und Stefan Hartmann an.
Um der Maßgabe einer Parteikonferenz und der Einbeziehung der Mitgliedschaft Rechnung zu tragen, bittet der Landesvorstand alle Genoss_ innen und Sympathisant_innen bis zum 10.März 2012 mögliche Schwerpunkte, Fragestellungen und Anregungen für die Veranstaltung an die Landesgeschäftsstelle zuzuarbeiten. Welche Probleme und Bedarfe habt ihr vor Ort? Aus den Vorschlägen wird die Arbeitsgemeinschaft bis zur Landesvorstandssitzung am 16.März 2012 eine Konzeption für die Parteikonferenz zum Beschluss vorlegen. Wir freuen uns auf Eure Ideen! Freya-Maria Klinger, Jens Thöricht
Vielfältige Proteste DIE LINKE. Sachsen unterstützt vielfältige Proteste gegen Naziaufmarsch am 5.März in Chemnitz Am 5.März wollen erneut mehrere hundert Nazis vom Bahnhof aus durch Chemnitz marschieren. Anlass ist die Bombardierung der Stadt im Frühjahr 1945 durch alliierte Luftstreitkräfte. Sie planen deshalb einen Trauermarsch, leugnen deutsche Kriegsschuld und relativieren die Geschichte. Das werden wir nicht zulassen. Wie in Dresden geht es der LINKEN dabei auch um die Auseinandersetzung mit dem inhaltlichen Hintergrund des Aufmarsches – auch in Chemnitz nehmen die Nazis die Bombardierung der Stadt durch die Alliierten zum An-
lass, um Geschichte zu verdrehen. Diesem Versuch, den Nationalsozialismus zu relativieren, erteilen wir ebenso wie einer in der offiziellen Erinnerungspolitik verbreiteten Schlussstrichmentalität in Bezug auf den Nationalsozialismus eine klare Absage. »Dass in Chemnitz antifaschistischer Protest, nicht nur gegen den Naziaufmarsch, notwendig ist, zeigt die Eröffnung eines Schulungszentrums der extremen Rechten im November des letzten Jahres. Daher sind alle demokratischen Kräfte aufgerufen, ähnlich wie in Dresden, den Nazis entgegenzutreten und deutlichen Protest zu üben«, so das Mitglied des Landesvorstands der Partei DIE LINKE. Sachsen Jens Thöricht.
Die kontroverse Debatte von Landesvorstand und den zu diesem Thema eingeladenen Gästen, MdL Karl-Friedrich Zais und Mathias von der Recke (parlamentarischer Mitarbeiter der Fraktion DIE LINKE im Sächsischen Landtag), entfaltete sich natürlich nicht am, bei diesen Thema selbstverständlichen, Bündnis mit dem DGB. Vielmehr wurde auf das Problem verwiesen, dass durch die Zusammenarbeit mit dem DGB dessen Mindestlohnforderung (derzeit 8,50 Euro) die Grundlage des Gesetzentwurfs bildet und keine Annäherung an unsere eigene Forderung sichtbar ist. Im Ergebnis war es den Mitgliedern des Landesvorstandes wichtig, in den Beschluss folgende Formulierung auf-
zunehmen: »Der derzeitig im Gesetzestext enthaltene und vom DGB Sachsen geforderte Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro stellt einen Zwischenschritt in der konkreten Umsetzung und Ausgestaltung des Weges zum im Parteiprogramm geforderten Mindestlohn von 60 Prozent des nationalen Durchschnittslohnes dar. (...). Die programmatisch fixierte Forderung der LINKEN nach einem Mindestlohn in Höhe von mindestens 60 Prozent des nationalen Durchschnittslohns bleibt von dieser gemeinsamen Gesetzesinitiative selbstverständlich unberührt.« Die mit diesem Thema befassten Mitglieder und MitarbeiterInnen der Fraktion wurden gebeten, insbesondere dazu die Diskussi-
on in der Partei zu suchen. Für die politische Ausgestaltung der Arbeit in den Ortsund Kreisverbänden ist der Beschluss B 3–043 interessant, in dem die Zeitleiste für die bis 2014 zu erarbeitenden inhaltlichen Grundlagen unseres Landesverbandes festgelegt wurde. Mitglieder des Landesvorstandes, der Grundsatzkommission bzw. mit der Erarbeitung einzelner Papier beauftragte GenossInnen stehen in bewährter Art und Weise zur Verfügung, vor Ort zu diskutieren und damit Ideen, Anregungen und Kritiken aufzunehmen. Die konkreten Anfragen dazu können an die Landesgeschäftsstelle bzw. an die Grundsatzkommission gerichtet werden. Stefan Hartmann, Antje Feiks
*Let´s kick* Unter dem Motto *Let´s kick* organisierte die Initiative Pro De To am 4. Februar 2012 ein Fußballturnier für Freizeitmannschaften aus dem Erzgebirgskreis in der Stollberger »Drei Felder Halle«. Das war nicht irgendein Turnier, es bot die Möglichkeit, sich mit sächsischen Landtagsabgeordneten zu »duellieren«. Es war ein Match auf Augenhöhe für Demokratie und Toleranz. Neben dem FC Landtag hatten sich weitere zwölf Mannschaften aus verschiedenen Jugend- und Freizeiteinrichtungen des Erzgebirgskreises angemeldet. Gespielt wurde in zwei Gruppen. Erst gegen 17:15 Uhr stand der Sieger fest. Am Rande des Turniers gab es zahlreiche Gespräche zwischen den Landtagsabgeordneten, Turnierteilnehmern
und MitarbeiterInnen der Jugend- und Freizeiteinrichtungen. Die Organisatoren wollten mit diesem Turnier ein Zeichen für Demokratie und Toleranz setzten. Es ging um einen fairen Umgang miteinander, ganz gleich, wo man her kommt und wer man ist. Hallensprecher Andreas Bernhardt konnte sich voll auf die Spiele konzentrieren, dass es fair zuging und es keine gelben oder roten Karten gab. Turniersieger wurde der »FC Urinstinkt« vor den »Ampelmännchen« (die mit mehr Ampelmädchen besetzt war) und dem Fanprojekt von Wismut Aue. Der FC Landtag mit Torwart Klaus Tischendorf belegte den 5. Platz. Für das leibliche Wohl sorgten die Schülerinnen und Schüler der 12. Klassen des »von Bach
Gymnasium« Stollberg. Die Organisatoren bedanken sich bei allen Helferinnen und Helfern sowie bei der Fraktion der LINKEN im Kreistag Erzgebirge für die technische Unterstützung. Die Initiative Pro De(mokratie) und To(leranz) gibt es seit 2008 in der Region Stollberg. In ihr engagieren sich Bürgerinnen und Bürger sowie Vereine und Institutionen. Der LINKE-Landtagsabgeordnete Klaus Tischendorf gehört zu den Mitbegründern der Initiative und unterstützt diese gemeinsam mit seinem Bürgerbüro. Bisher wurden von der Initiative unter anderem Podiumsdiskussionen und Veranstaltungen zum Thema Rechtsextremismus und eine Ausstellung zum Thema »Gesicht zeigen ...! für Demokratie und Toleranz« organsiert. Angela Hähnel
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Fraktion DIE LINKE im Sächsischen Landtag
ParlamentsReport nungskonzepts“ im Jahr 2011 den Nazis die halbe Stadt freigeräumt werden sollte – die Gewerkschafter durften vor ihrem eigenen Haus keine Mahnwache abhalten, und die Nazigegner wurden genötigt, an der Autobahn ihre Busse zu verlassen und kilometerlange Fußmärsche in die Stadt zurückzulegen.
Liebe Leserinnen und Leser!
Umso unverständlicher ist der Umgang von Polizeibeamten mit dem 76-jährigen Vorsitzenden der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN – BdA), Heinrich Fink, der zwecks zwangsweiser Personalienfeststellung angehalten wurde, da man ihn des Verdachts des Landfriedensbruchs am 19. Februar 2011 in Dresden bezichtigte. Dass das vorgelegte Vergleichsfoto keinerlei Ähnlichkeit mit Fink hat und er selbst damals gar nicht in Dresden war, focht die Beamten nicht an. Hier verlange ich Aufklärung vom sächsischen Innenminister. Zu Recht haben Dresden und viele Gäste am 18. Februar die Absage der ursprünglich für diesen Tag geplanten Nazi-Großdemonstration gefeiert, die damit zum dritten Mal in Folge nicht zustande gekommen ist. Ein gutes Omen für einen Zuwachs an Zivil courage in Sachsen beim Kampf gegen Nazis – und (hoffentlich) Vorbild den Regierenden, die zu lange auf dem rechten Auge blind waren.
Dr. André Hahn Fraktionsvorsitzender
Pirouetten um „Blockaden“ Von Rico Gebhardt, innenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE Der „Trauermarsch“ der Nazis am 13. Februar 2012 in Dresden wurde zur Lachnummer, war in Medien zu lesen. Dank massiver Proteste vieler tausend Menschen rund um das World Trade Center in Dresden blieb von der Marschroute der Braunen so wenig übrig, dass sie ihrem Frust freien Lauf ließen und sich untereinander zerstritten. Nachdem der für den 18. Februar erwartete Nazi-Marsch bereits abgesagt war, ist dies ein großer zivilgesellschaftlicher Erfolg gewesen, den Antifaschistinnen und Antifaschisten, Wertkonservative, Christinnen und Christen, Unkonventionelle und „Bürgerliche“, Linke, Grüne, „Mittige“, Einheimische und Gäste gemeinsam erreicht haben. Bereits am 13. Februar 2010 und 19. Februar 2011 kamen die Nazis aufgrund Zivilcourage, besonders durch das Bündnis „Dresden Nazifrei“ nicht zum Zuge. Für die CDU-Fraktion im Sächsischen Landtag erklärte ihr Abgeordneter Christian Hartmann: „Der Protest gegen den Aufmarsch der Neonazis war nicht nur erfolgreich, sondern auch friedlich, rechtsstaatlich und gesetzeskonform …“ Bei allem Respekt für CDU-Politiker, die wie Hartmann – angefangen bei seinem Landtags-Plädoyer für Protest in Sicht- und Hörweite – einen beachtlichen Lernprozess beim Umgang mit Nazi-Demos hinter sich gebracht haben: Es hätte sich gehört, dieses Lob ausdrücklich auch all denen gegenüber auszusprechen, die wie das Bündnis „Dresden Nazifrei“ noch vor kurzem in den Ruch einer „kriminellen Vereinigung“ gebracht worden sind. Nazi-Aufmärsche muss es nicht geben – die „Wunsiedel-Entschei-
dung“ des Bundesverfassungsgerichts vom 4. November 2009 spricht eine klare Sprache. Dass sich die sächsische Landeshauptstadt über viele Jahre hinweg zum Schauplatz der europaweit größten Zusammenrottung von Nazis auf Straßen und Plätzen entwickelte, ist Folge des Versagens von Verantwortlichen in Politik, Verwaltung und Justiz. Dass es auch ganz anders geht, haben Berlin, Leipzig, Jena und viele andere Städte gezeigt. Zur ganzen Wahrheit rund um den 13. Februar in Dresden gehört: Die Stigmatisierung und Kriminalisierung von Nazigegnern hat die Verdrängung der Nazis von den Straßen Dresdens lange blockiert. Wir werden so schnell nicht vergessen, dass 2009 Tausende von Demonstranten der Aktion „Geh Denken“ auf der Carolabrücke so lange bei Eiseskälte von der Polizei angehalten wurden, bis die Nazis in der Innenstadt ungestört ihres Weges gezogen waren. Wir werden auch nicht vergessen, dass als Folge des „Tren-
MdL Rico Gebhardt
Wenn nun 2012 derselbe Oberstaatsanwalt, der 2010 die Beschlagnahme von Plakaten mit einem sogenannten „BlockadeAufruf“ öffentlich mit martialischen Worten gerechtfertigt hat, dem „Trauermarsch“ der Braunen lautstark „Nazis raus“ zuruft, als Teilnehmer einer Gegendemonstration, die aus einer gemeinschaftlichen Platznahme entstanden ist, die 2011 noch als verbotene Blockade von der Polizei erbittert bekämpft worden wäre, ist das schön. Und beweist: Die Polizei ist nicht das Problem, sondern die Politik und die Justiz, die mit ihr umgehen. Wir bekräftigen unsere Forderung: Alle Verfahren, die nicht wegen Sachbeschädigung oder Körperverletzung, sondern wegen Behinderung eines Nazi-Marsches geführt werden, sind endlich einzustellen! Sonst müssen wir darüber nochmal im Landtag sprechen – garantiert harmoniefrei.
Fotos: © cam
Verglichen mit 2010 und 2011 ist das „Nachspiel“ der Ereignisse rund um den 13. Februar in diesem Jahr überschaubar. Während im Zusammenhang mit dem am zivilgesellschaftlichen Widerstand gescheiterten Nazi-Aufmarsch 2010 möglicherweise bald vier Landtags-Fraktionsvorsitzende der LINKEN in Sachsen vor Gericht gestellt werden sollen und wegen der Proteste von Nazigegnern 2011 Hunderte Strafbefehle verschickt worden sind, herrscht in diesem Jahr zwischen allen demokratischen Parteien eine annähernde Übereinstimmung in der Würdigung erfolgreicher Anti-Nazi-Proteste.
Heinrich Fink (li.) und MdL Marion Junge
PARLAMENTSREPORT
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Februar 2012
Mahngang „Täterspuren“: Statt 300 kamen 2.000 Der Landtagsabgeordnete der LINKEN Falk Neubert hat den Mahngang „Täterspuren“ angemeldet.
Dass sich zweitausend Menschen bei frostigen Temperaturen stundenlang an einem Stadtrundgang zu historischen Orten der Nazi-Täter und ihrer Verbrechen beteiligen, dürfte deutschlandweit einmalig sein. Wie ist es zu einer solchen Veranstaltung gekommen, und was hat Sie dazu bewogen, sie nun schon zum wiederholten Mal anzumelden? Es war ein Riesenerfolg. Wir selbst hatten zu Beginn in die Anmeldung 300 Personen geschrieben. In Dresden stand am 13. Februar immer in erster Linie das Gedenken an die Opfer der Bombardierung. Inzwischen ist es glücklicherweise Konsens, dass deutlicher Protest gegen Naziaufmärsche dringend nötig ist. Dem Bündnis „Dresden Nazifrei“ ist es zudem wichtig, auf Menschen und Institutionen in dieser Stadt zu verweisen, die einen aktiven Beitrag zu den Verbrechen der Nazizeit geleistet haben. Dresden war keine unschuldige Stadt. Vor diesem Hintergrund stand für mich außer Frage, auf Wunsch von „Dresden Nazifrei“ auch dieses Jahr die Anmeldung vorzunehmen.
Im letzten Jahr wurde der Mahngang von der Stadt Dresden schlicht verboten. Eine der Begründungen war, der Mahngang sei lediglich vorgeschoben, um Menschen für die Blockaden zu sammeln. Vor dem Hintergrund, dass sich viele Künstlerinnen und Künstler in die inhaltliche Vorbereitung eingebracht haben, war das mehr als ein Affront. Gegen dieses Vorgehen der Stadt habe ich inzwischen in Absprache mit „Dresden Nazifrei“ Klage eingereicht. In diesem Jahr waren sowohl die Vertreterin des Ordnungsamtes als auch der Polizeiführer vor Ort ausgesprochen kooperativ. Man hat gespürt, dass der äußere politische Druck extrem groß war, dass es nicht zur Eskalation kommen darf. Das ist mit Sicherheit Folge der bekanntgewordenen Morde des Zwickauer Nazitrios, aber
wahrscheinlich auch Ergebnis der Arbeit der AG 13. Februar in Dresden, die bestrebt war, dass unterschiedliche Protestformen gegen Nazis nicht wie bisher gegeneinander ausgespielt werden, wodurch in den Vorjahren zivilgesellschaftlicher Protest delegitimiert und kriminalisiert wurde. Soll der Mahngang am 13. Februar zu einer festen Institution in Dresden werden?
Diese Frage wird „Dresden Nazifrei“ in der nächsten Zeit beantworten müssen. Ich persönlich denke, dass auch in Zukunft eine solche andere Perspektive auf den 13. Februar dringend geboten ist. Und ich finde es wichtig, dass sich – wie bereits in diesem Jahr – prominente Politiker/innen in diesen Mahngang einreihen. Die organisatorische und inhaltliche Verantwortung sehe ich bei „Dresden Nazifrei“ sehr gut aufgehoben.
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MdL Falk Neubert
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Im vergangenen Jahr war der Mahngang behördlichen Repressionen ausgesetzt und nach seinem Beginn schon wieder zu Ende. Bestätigt der Umstand, dass er diesmal ungehindert stattfinden konnte, die Gesamtwahrnehmung, dass die Stadt Dresden im Zusammenhang mit dem 13. Februar dazu gelernt hat?
Gedenkkultur – der Spagat um den 13. Februar Dresden, das während des zweiten Erinnerung durch die geistigen Erben Weltkrieges wie zahlreiche andere des NS-Regimes im Umfeld der NPD deutsche Großstädte – Hamburg, Flagge zu zeigen. Magdeburg, Nürnberg, Chemnitz, um nur einige zu nennen Es ist ein politischer Spa– von den Alliierten bomgat, der von der Stadtbardiert wurde, ist mit dem verwaltung, den demojährlichen Gedenktag am kratischen Parteien und 13. Februar im letzten der Dresdner BevölkeJahrzehnt bundesweit in rung als Zivilgesellschaft die Schlagzeilen gekomselbst gefordert ist. men. Die Bombardierung Während die einen Dresdens darf nicht vor allem der Opfer ohne die Erinnerung der Bombardie daran, dass Dresrung gedenken wolden in den vierziger len, sehen andere den MdL Annekatrin Klepsch Jahren Nazi-Hochburg 13. Februar und sein und ein wesentliches Umfeld auch als Anlass, an die Ver- Eisenbahnkreuz für den Rüstungsnichtungsmaschinerie der National- transport war, thematisiert werden. sozialisten zu erinnern und gegen Allein im Dresdner Landgericht am die ideologische Umdeutung der Münchner Platz wurden ca. 1.300
Menschen aus politischen Gründen während der Nazi-Herrschaft hingerichtet. Ein erster negativer Höhepunkt in der Dresdner Gedenktradition war der Aufmarsch von mehr als 6.000 Neonazis im Februar 2005 in der Altstadt. Die Auseinandersetzung um das „richtige Gedenken“ ist 2011 eskaliert, nachdem die CDUgeführte Stadtspitze jahrelang der Meinung war, ein stilles Gedenken sei ausreichend und angemessen, während bereits 2010 und 2011 ein Neonazi-Marsch nur durch Kundgebungen und Blockaden tausender Gegendemonstranten verhindert werden konnte. Mit dem Februar 2012 scheint ein neuer Umgang mit dem 13. Februar
möglich zu sein. Erstmals war es auch seitens der Polizei und des CDU-Bürgermeisters für Ordnung und Sicherheit gebilligt, in Hör- und Sichtweite der Nazi-Kundgebung dagegen zu demonstrieren. Dem voran gegangen waren heftig geführte Auseinandersetzungen um den 13. und 19. Februar 2011, die Strafverfolgung fried licher Blockadeteilnehmer/innen, ein beispielloses Ausmaß an Mobilfunküberwachung und das Auffliegen der NSU-Terrorzelle. Ihren für den 18. Februar angemeldeten Marsch sagten die Neonazis ab, doch an diesem Tag beteiligten sich mehr als 10.000 Menschen an einem Aufzug des Bündnisses „Dresden Nazifrei“. Zivilcourage tut not, in Dresden und anderswo, solange Geschichte verdreht und missbraucht zu werden droht.
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PARLAMENTSREPORT
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„Sächsische Demokratie“ und Protest gegen Naziaufmarsch Impressionen
Zehntausend Menschen demonstrierten am 18. Februar in Dresden gegen Nazis und Grundrechte-Abbau in Sachsen.
Wer im vergangenen Jahr an den Protestaktionen gegen den Naziaufmarsch teilgenommen hat, aber nicht nur der, konnte in die massenhafte Datenauswertung von Staatsanwaltschaft und Polizei geraten: Unverhältnismäßig angesichts der vielen berührten Grundrechte (Versammlungsfreiheit, Assoziationsfreiheit, Privatheit der Telekommunikation usw.), wie der Datenschutzbeauftragte ausführte. Es entstand der Eindruck: Sächsische Behörden gehen immer einen Schritt weiter, als eigentlich rechtlich gedeckt wäre. Ebenso erweckte die Forderung nach Unterzeichnung einer Demokratieerklärung für Bildungsvereine Empörung, da sie deren inhaltliche Arbeit direkt an die Ministerien und deren Politik der „Extremismusdoktrin“ anbindet. Eine solche Forderung sei aus der Perspektive des Grundgesetzes fragwürdig. Mit einem neuen Versammlungsgesetz soll eine bestimmte Art der Erinnerungspolitik im Bereich des Ver-
sammlungsrechts konserviert werden – eine Herangehensweise, die vorm sächsischen Verfassungsgerichtshof auf den Prüfstand kommt. Die Proteste gegen den Naziaufmarsch vom Februar 2012 beinhalteten immer auch eine deutliche Aussage in Richtung der Behörden und amtlichen Vertreter der „sächsischen Demokratie“: Unrechtmäßige Datenverarbeitung wurde beim Namen genannt und auf die Unverhältnismäßigkeit im Vorgehen gegenüber Gegendemonstranten in den Jahren 2009–2011 hingewiesen. So fasste ein Protestspaziergang Einschätzungen bundesweiter Ko m m e n t a t o r e n von Tagesschau bis
„Neues aus der Anstalt“ zur Dresdner Geschichtspolitik und sächsischen Demokratie zusammen, um deutlich zu machen, wie isoliert die Regierung über die Landesgrenzen hinaus mit ihrer Haltung ist, und dass sie im eigenen Land aufmerksam und kritisch hinterfragt wird. Denn gerade nach der Extremismusklausel für Bildungsvereine und der Funkzellenauswertung nach dem Februar 2011 ist es wichtig, dass die handelnden Bürgerinnen und Bürger sich nicht durch Einschüchterung ihrer Grundrechte berauben lassen: Wir demonstrieren weiter, es werden weiter Diskussionsveranstaltungen organisiert, die Kritik an diesem Vorgehen der Regierung reißt nicht ab. Das entschlossene Vorgehen von Bür gerinnen und Bürgern hat dem MassenEvent der Nazimobilisierung in Dresden erneut einen Strich durch die Rechnung gemacht.
13. Februar 2012, 16 Uhr: Warm gekleidet, eine Thermosflasche Tee im Rucksack geht es Richtung Postplatz. Die Vorbeieilenden nicken sich fröhlich zu, alle haben ein Ziel. Dort angekommen herrscht buntes Treiben. Bekannte Gewerkschafterinnen treffe ich, eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern tanzt sich warm, am Jugendbus der LINKEN mit Transparenten von „Dresden Nazifrei“ gibt es Warmes und weitere Informationen. Weiter in Richtung Theaterplatz verteilt Ulli Reinsch mit einigen Genossinnen des Dresdner Stadtverbandes Luftballons und Karten, die auffordern, nach der Menschenkette zu den Blockaden in Richtung Bahnhof zu kommen. 18 Uhr ist die Menschenkette geschlossen. Wir stehen gegenüber der Semperoper in Zweier- und Dreierreihen. Mit der Auf lösung gehen viele zum Postplatz zurück und weiter zum WTC und Sternplatz. Es wird noch ein fröhlicher Abend. MdL Heiderose Gläß Der 13. Februar 2012 – eine Kreuzung, heißer Tee und Musik Gegen 16.10 Uhr meldet eine SMS, dass am World Trade Center Unterstützer gebraucht werden. Uns stehen 2 Wasserwerfer gegenüber, die Hubschrauber kreisen und die Bahngleise werden durch die Bundespolizei bewacht. Auf der bunt besetzten Kreuzung läuft Musik, wird Tee und Suppe ausgeschenkt. Die Stimmung ist entspannt, das scheint auch auf die Polizei auszustrahlen. Auch an dieser Stelle kommen die Nazis nicht durch, und als sie nach 20.00 Uhr wieder in ihren Zügen sitzen, feiert die bunte Gemeinschaft einfach weiter.
Fotos: © cam
MdL Verena Meiwald
MdL Julia Bonk Sprecherin für Datenschutz, Verbraucherschutz und neue Medien
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PARLAMENTSREPORT
Februar 2012
Protest par excellence 13. Februar in Dresden gegen 17 Uhr. Der Sternplatz füllt sich nur langsam, da die Polizei alle größeren Zufahrtswege versperrt. Auch sächsische Abgeordnete wie Rico Gebhardt, Andrea Roth oder Karl-Friedrich Zais unterstützen den zivilen Protest bei eisigen Temperaturen. Doch am heutigen Tag lässt die große Motivation des zivilen Protestes jede Diskussion über das Wetter verstummen. Als eine Reiterstaffel um 19 Uhr ungefähr tausend Nazigegner passieren lässt und das gesamte Areal jubelnd applaudiert, begreifen alle, worum es wirklich geht. Während sich ein bescheidener Wolfgang Thierse unters Demonstran-
tenvolk gemischt hat, klammert sich nun Claudia Roth jedes griffbereite Megaphon, um die neuesten Infos der Blockade zu vermitteln. Einige Menschen fragen sich: „Warum gerade sie?“, die meisten haben das Prinzip der Selbstinszenierung begriffen und nehmen es hin. Alles verläuft friedlich und ruhig. Dann erscheint der „Trauermarsch“ der Nazis in Sichtweite und die Stimmung kippt. Doch keineswegs zur Gewalttätigkeit hin, die protestierenden Massen begrüßen die Neonazis mit einem beachtlichen Lautstärkepegel in Form von Verabschiedungsgesängen. Die demokratisch-not-
wendige Forderung der Sprechchöre wird postwendend umgesetzt und die Nazis sitzen schnell wieder in ihren Zügen Richtung Heimat. Am Ende fliegt der erste Stein auf ein Polizeifahrzeug, doch bleibt dieser ohne Nachwirkungen. Viele tausend Gegendemonstranten verkürzten den OpfermythosSpuk auf eine Stunde Frischluft schnappen. Insgesamt ein Erfolg auf ganzer Linie. Denn die Ausschreitungen des Vorjahres konnten, aufgrund des friedlichen Protestverhaltens und der Deeskalationstaktik der Polizei, vermieden werden. Als alles vorbei schien und der Sternplatz sich rasch leerte, nimmt die Polizei überraschend die Personalien des 76-jährigen Heinrich Fink (Vorsitzender vom Bund der Antifaschist/-innen) auf. Der absurde Vorwurf lautet: Verdacht des Landfriedensbruchs am 19. Februar 2011 in Dresden, obwohl Fink damals gar nicht in Sachsen war. Das Einschreiten André Hahns
und einiger Bürger konnte nicht verhindern, dass sächsische Beamte ihrem Ruf doch noch gerecht werden und eine gelungene Demonstration merkwürdig beenden. Dave Schmidtke (re. im Bild)
Der 13. Februar 2012 in Dresden Am Tag zuvor habe ich im Internet ein paar Seiten besucht. Unter anderem „Dresden Nazifrei“. Aber auch ein Video des schwarzen Blocks mit dem Aufruf zu Gewalt gegen Nazis sah ich. Deshalb näherte ich mich mit gemischten Gefühlen Dresden. Wir waren zu spät für den Gedächtnismarsch, deshalb gingen wir gegen 16.00 Uhr direkt zum World Trade Center. Eine SMS hatte uns dorthin gebeten. Etwa fünfhundert Demonstranten waren schon dort versammelt. Es herrschte eine fröhliche Stimmung. Musik ertönte, Tee wurde ausgeschenkt, rosa Luftballons schwebten über der Menge, Fahnen wurden geschwenkt, Transparente entrollt und wegen der Kälte tanzten viele im Rhythmus der Musik.
reren hundert (oder waren es tausende?) Demonstranten. Sie alle bewegten sich Richtung Sternplatz. Ungehindert passierten wir mehrere Polizeiautos und eine Pferdestaffel. Noch immer knatterten die Hubschrauber über uns. Gegen 19.45 Uhr setzten plötzlich Sprechchöre ein. Aus tausenden Kehlen erklang der Ruf „Nazis raus“. Eine Gruppe sang: „Ihr habt den Krieg verloren...“ Auch ich brüllte mich heiser. Meine Oma hatte mir viel darüber erzählt, wie mein Großvater in den KZ Reichenbach und Colditz gefoltert wurde. Auch an den Journalisten und Schriftsteller Roman Frister musste ich denken, der seine Jugend im KZ durchlitten hat und
das in seinem Buch „ Die Mütze oder der Preis des Lebens“ so eindrucksvoll beschreibt. Menschen dieses braunen Geistes marschierten keine 50 m vor mir vorüber. Ich reckte mich, um etwas zu sehen. Im Gegenlicht der Scheinwerfer war es aus der zehnten Reihe unmöglich, etwas zu erkennen. War das Flackern von Fackeln? Angst hatte in dieser Menschenmenge niemand. Man füllte sich in der Masse vollständig sicher. Ein Blick zur Uhr erinnerte mich daran, dass mein letzter Zug nach Hause um 21.05 Uhr fuhr. Ich machte mich sofort auf den Weg zum Hauptbahnhof. Diesmal allein. Auf der Prager Straße nur einzelne Passanten. Vor dem Hauptbahnhof
Eine Straße war durch Metallgitter versperrt. Polizisten in voller Kampfausrüstung standen neben Wasserwerfern, über uns kreisten zwei Hubschrauber. Was wird dieser Tag noch bringen?
An jedem Bahnhof unterwegs Polizeifahrzeuge. Erst am nächsten Tag las ich auf „Dresden Nazifrei“: „Montag, 21.19 Uhr, Dresden Hbf. Die Nazis haben noch nicht genug. Kleinstgruppen liefern sich vorm Hbf. Scharmützel mit der Polizei. Passt weiter auf euch auf!“ Jörg Frister (re. im Bild)
Impressum Fraktion DIE LINKE im Sächsischen Landtag Bernhard-von-Lindenau-Platz 1 01067 Dresden Telefon 0351/493-5800 Fax 0351/493-5460 E-Mail: linksfraktion@slt.sachsen.de www.linksfraktion-sachsen.de V.i.S.d.P.: Marcel Braumann
Fotos: © cam
Über SMS kam die Meldung, am Sternplatz werden noch Menschen gebraucht. Also machte sich unsere Gruppe auf den Weg dorthin. Ein junger Polizist versperrte uns den Weg zum Sternplatz. Sehr freundlich aber bestimmt erklärte er uns, dass er uns noch max. 100 m bis zur zweiten Barrikade gehen lassen kann, aber dort ist dann endgültig Schluss. Weiter ging es bis zum Postplatz. Dort begegneten wir einem Zug von meh-
Polizeiabsperrung, Wasserwerfer. Komme ich durch? Ungehindert erreichte ich meinen Bahnsteig. Nun sah ich von oben die Polizisten in voller Kampfmontur mit dem Rücken zu mir. Der Zug kommt, nur wenige steigen ein. Ab nach Hause.
Kommunal-Info 2-2012 22. Februar 2012 Online-Ausgabe unter www.kommunalforum-sachsen.de
KFS
Kommunalpolitisches Forum Sachsen e.V. Rechtsextremismus Ein Beschluss des Deutschen Städtetags vom 08.02.2012 Seite 2
Großwohnsiedlung Whitepaper über die Zukunft von Großwohnsiedlungen Seite 3
Wohnungsprognose Neues IÖR-InternetRechenprogramm
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Schwellenwerte Neue EU-Schwellenwerte veröffentlicht
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Sanierung und Ausgleichsbeträge Nachdem Anschlussbeiträge und Straßenbaubeiträge in den zurückliegenden Jahren für heftige Debatten in den sächsischen Städten und Gemeinden sorgten, scheint jetzt in einigen Städten ein neues Thema aufzuflammen: Ausgleichsbeträge nach städtebaulichen Sanierungsverfahren. Das Baugesetzbuch (BauGB) schreibt hierzu in § 154 Abs. 1 vor: „Der Eigentümer eines im förmlich festgelegten Sanierungsgebiet gelegenen Grundstücks hat zur Finanzierung der Sanierung an die Gemeinde einen Ausgleichsbetrag in Geld zu entrichten, der der durch die Sanierung bedingten Erhöhung des Bodenwerts seines Grundstücks entspricht.“ Frühzeitige Information In Sachsen laufen mehr als 200 städtebauliche Sanierungsverfahren (Sanierungsgebiete), die in den nächsten Jahren abgeschlossen werden sollen. Spätestens zum Ende der Sanierungsmaßnahme stehen die Gemeinden vor der Aufgabe, die Ausgleichsbeträge zu erheben und von den betroffenen Eigentümern per Bescheid einzuziehen. Für die Gemeinden besteht von Gesetz her die grundsätzliche Pflicht zur Erhebung der Ausgleichsbeträge. Dass bei den betroffenen Eigentümern darüber keine Freude aufkommt, liegt naturgemäß auf der Hand. Schwierig den Eigentümern zu vermitteln wird es vor allem dann sein, wenn mit einem erheblichen Teil der Sanierungsverfahren schon vor längerer Zeit begonnen wurde und möglicherweise die Gemeinden in der Vergangenheit wenig öffentlichkeitswirksam mit dem Thema
Ausgleichsbeträge umgegangen sind. Nach § 137 BauGB sind die Betroffenen rechtzeitig einzubeziehen: „Die Sanierung soll mit den Eigentümern, Mietern, Pächtern und sonstigen Betroffenen möglichst frühzeitig erörtert werden. Die Betroffenen sollen zur Mitwirkung bei der Sanierung und zur Durchführung der erforderlichen baulichen Maßnahmen angeregt und hierbei im Rahmen des Möglichen beraten werden.“ Außerdem verpflichtet § 11 der Sächsischen Gemeindeordnung (SächsGemO) dazu, über Planungen und Vorhaben der Gemeinde frühzeitig und umfassend zu informieren, die für ihre Entwicklung bedeutsam sind oder die sozialen, kulturellen, ökologischen oder wirtschaftlichen Belange der Einwohner berühren.1 Warum Sanierung? Ziel städtebaulicher Sanierungsmaßnahmen ist es nach § 136 BauGB, städtebauliche Missstände zu beheben und damit in einem Gebiet den Gesamtzustand wesentlich zu verbessern und umzugestalten. Städtebauliche Missstände liegen vor, wenn (1) das Gebiet nach seiner vorhandenen Bebauung oder nach seiner sonstigen Beschaffenheit den allgemeinen Anforderungen an gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse oder an die Sicherheit der in ihm wohnenden oder arbeitenden Menschen nicht entspricht oder (2) das Gebiet in der Erfüllung der Aufgaben erheblich beeinträchtigt ist, die ihm nach seiner Lage und Funktion obliegen. In der Beurteilung, ob städtebauliche Missstände vorliegen, sind insbesondere Substanzmängel bei folgenden Dingen zu beachten: bei Belichtung, Besonnung und Be-
lüftung der Wohnungen und Arbeitsstätten, bei der baulichen Beschaffenheit von Gebäuden, Wohnungen und Arbeitsstätten, hinsichtlich der Zugänglichkeit der Grundstücke, bei Auswirkungen einer vorhandenen Mischung von Wohn- und Arbeitsstätten, bei der Nutzung von bebauten und unbebauten Flächen nach Art, Maß und Zustand, bei Einwirkungen, die von Grundstücken, Betrieben, Einrichtungen oder Verkehrsanlagen ausgehen, insbesondere durch Lärm, Verunreinigungen und Erschütterungen, bei der vorhandenen Erschließung. Weiterhin sind Mängel zu beachten, die die Funktionsfähigkeit des Gebiets in folgender Hinsicht beeinträchtigen können: beim fließenden und ruhenden Verkehr, in der wirtschaftlichen Situation und Entwicklungsfähigkeit des Gebiets unter Berücksichtigung seiner Versorgungsfunktion im Verflechtungsbereich, in der infrastrukturelle Erschließung des Gebiets, seiner Ausstattung mit Grünflächen, Spiel- und Sportplätzen und mit Anlagen des Gemeinbedarfs, insbesondere unter Berücksichtigung der sozialen und kulturellen Aufgaben dieses Gebiets im Verflechtungsbereich.
Vorbereitungen
Bevor für ein betreffendes Gebiet die Sanierung durch Satzung beschlossen wird, hat die Gemeinde nach § 141 BauGB vorbereitende Untersuchungen für das betreffende Gebiet durchzufüh-
ren oder zu veranlassen, um erforderliche Beurteilungsgrundlagen über die Notwendigkeit der Sanierung, die sozialen, strukturellen und städtebaulichen Verhältnisse und Zusammenhänge sowie die anzustrebenden allgemeinen Ziele und die Durchführbarkeit der Sanierung im Allgemeinen zu gewinnen. Solche Untersuchungen sollen auch die voraussichtlichen nachteiligen Auswirkungen für die unmittelbar Betroffenen ermitteln. Sie können auch während der Durchführung der Sanierung ergänzend erfolgen. Aus den vorbereitenden Untersuchungen soll die von der Gemeinde zunächst angenommene Sanierungsbedürftigkeit bestätigt oder ggf. korrigiert werden. Es soll daraus abgeleitet werden können, ob ein vereinfachtes Verfahren der Sanierung ausreicht und die Betroffenen zur Mitwirkung bereit sind. Daher soll die Gemeinde auch die Sanierungsabsicht frühzeitig mit den Betroffenen erörtern. Damit werden die allgemeinen Ziele und Zwecke (Sanierungskonzept) der Sanierungsmaßnahmen für das Gebiet konkretisiert. Die Ergebnisse der vorbereitenden Untersuchungen sollen zweckmäßigerweise in einem Untersuchungsbericht zusammengefasst werden, auch wenn das gesetzlich nicht gefordert wird. Der Untersuchungsbericht sollte folgende Elemente beinhalten: welche städtebaulichen Missstände in dem Gebiet vorliegen, die Durchführbarkeit der Sanierung, die allgemeinen Ziele der Sanierung, die Mitwirkungsbereitschaft der Betroffenen, die Stellungnahmen der Behörden Fortsetzung folgende Seite
Kommunal-Info 2/2012
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Aktivitäten gegen Rechtsextremismus Beschluss des Präsidiums des Deutschen Städtetages vom 8.2.2012 1. Das Präsidium schließt sich der Forderung der Ministerpräsidentenkonferenz vom 15.12.2011 an, ein NPDVerbot sowie ein Verbot von Tarnorganisationen anzustreben. 2. Der Deutsche Städtetag und seine Mitgliedstädte engagieren sich seit langem und auf vielfältige Weise gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Die aktuellen Vorgänge um die Terror-Organisation „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) machen erneut deutlich, dass der Kampf gegen Rechtsextremismus bzw. rechtsextremistische Tendenzen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe darstellt und auf allen Ebenen von Staat und Gesellschaft kontinuierlich geführt werden muss. 3. Für eine wirksame Bekämpfung des Rechtsextremismus erscheint eine Vernetzung der vorhandenen Akteure insbesondere auf der lokalen und regionalen Ebene wichtig. Städte und Gemeinden sollten sich gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Akteuren aktiv an „Bündnissen gegen Rechts“ beteiligen oder solche selbst initiieren. Auch die Einrichtung von „Fachstellen gegen Rechtsextremismus“ in den Kommunen stellt ein wirksames Instrument Fortsetzung von Seite 1
... Ausgleichbeträge und sonstigen Träger öffentlicher Belange,
die Möglichkeit der Durchführung eines vereinfachten Verfahrens sowie ggf. Gründe für das Absehen von vorbereitenden Untersuchungen.2 Der Beginn der vorbereitenden Untersuchungen muss nach § 141 BauGB von der Gemeinde beschlossen werden. Der Beschluss ist ortsüblich bekannt zu machen. Vereinfachtes Verfahren Seit der Einführung des Städtebauförderungsrechts ins BauGB sind sehr viele Sanierungen im vereinfachten Verfahren nach § 142 Abs. 4 durchgeführt worden. Hierbei werden keine Ausgleichsbeträge erhoben, weil keine erheblichen Bodenwerterhöhungen im Gefolge Sanierung eintreten. Jedoch können stattdessen Erschließungs- und Ausbaubeiträge zu zahlen sein, sofern entsprechende Maßnahmen durchgeführt werden. Im Unterschied werden beim gewöhnlichen Sanierungsverfahren nach den besonderen sanierungsrechtlichen Vorschriften der §§ 152 bis 156 BauGB Ausgleichsbeträge zur Finanzierung der Sanierungskosten erhoben, die den sanierungsbedingten Bodenwertsteigerungen entsprechen und sonst von der Allgemeinheit zu tragen wären. Ausgleichsbeträge werden von den Eigentümern erhoben, die von der Sanierung begünstigt worden sind. Zur Erhebung dieser Ausgleichsbeträge sind die Gemeinden verpflich-
zur Bündelung der Aktivitäten dar. Damit bereits bestehende kommunale Netzwerke und Maßnahmen gegen Rechtsextremismus nachhaltig wirken können, fordert der Deutsche Städtetag die Bundesregierung auf, Bundesprogramme zu intensivieren und weiterzuentwickeln, die die stetige Vernetzung von Akteuren sowie die Entwicklung und Umsetzung lokaler Handlungsstrategien und Maßnahmen gegen Rechtsextremismus nachhaltig fördern. 4. Kommunalverwaltungen widmen sich im Rahmen der ihnen eigenen Möglichkeiten dem Kampf gegen Rechtsextremismus, beispielsweise:
tet. Werden im Rahmen des gewöhnlichen Sanierungsverfahrens Erschließungs- und Ausbaumaßnahmen getätigt, werden dann dafür keine gesonderten Beiträge erhoben. Welches Verfahren die Gemeinde wählt, entscheidet sie im konkreten Einzelfall und legt das in der Sanierungssatzung fest. Auch ein späterer Wechsel vom gewöhnlichen zum vereinfachten Sanierungsverfahren ist gesetzlich nicht ausgeschlossen.3 Sanierungssatzung Werden im Ergebnis vorbereitender Untersuchungen städtebauliche Sanierungsmaßnahmen in einem Gebiet für erforderlich gehalten, kann die Gemeinde nach § 142 BauGB nach erfolgter Abwägung das Gebiet durch Beschluss förmlich als Sanierungsgebiet festlegen („förmlich festgelegtes Sanierungsgebiet“). Der Beschluss des Gemeinderats hat in Gestalt einer Satzung nach § 4 der SächsGemO zu erfolgen. In der Satzung ist das Sanierungsgebiet zu bezeichnen. Es ist so zu begrenzen, dass sich die Sanierung zweckmäßig durchführen lässt. Einzelne Grundstücke, die von der Sanierung nicht betroffen werden, können aus dem Gebiet ganz oder teilweise ausgenommen werden. Sobald diese Grundstücke durch die Sanierung jedoch wertmäßig steigen, werden sie in das umfassende Sanierungsverfahren einbezogen. Die Entscheidung liegt hierbei im Ermessen der Gemeinde. Einbezogen werden können aber auch Grundstücke, auf denen selbst keine Sanierungsmaßnahmen durchgeführt werden sollen,
indem sie sich an der Aufklärung der Bürger/innen beteiligen (Podiumsdiskussionen anregen, Flugblätter erstellen, Informationsfluss gewährleisten). indem sie über ihre eigenen Verteiler schnell und mit inhaltlichen Argumenten reagieren, wenn an Schulen oder in Kindergärten rechtsextreme Flugblätter auftauchen. indem sich kommunale Ordnungsämter bundesweit vernetzen und darüber austauschen, wie man gegen rechtsextreme Demonstrationen vorgehen kann (von Verboten bis zu Auflagenbescheiden). 1. Der Deutsche Städtetag prüft die
insbesondere wenn eine Sanierung zur Verbesserung der Funktionsfähigkeit des Gebiets erfolgt. Die Satzung hat keinen planerischen Inhalt, sie legt nur das Sanierungsgebiet und das Sanierungsverfahren fest. Beim Beschluss über die Sanierungssatzung ist zugleich durch Beschluss die Frist festzulegen, in der die Sanierung durchgeführt werden soll. Die Frist soll 15 Jahre nicht überschreiten. Kann die Sanierung nicht innerhalb der beschlossenen Frist durchgeführt werden, kann durch Beschluss eine Fristverlängerung vorgenommen werden. Ausgleichsbetrag Der zu entrichtende Ausgleichsbetrag wird nach § 154 Abs. 2 BauGB ermittelt aus dem Unterschied zwischen dem Bodenwert, der sich für das Grundstück ergeben würde, wenn eine Sanierung weder beabsichtigt noch durchgeführt worden wäre (Anfangswert), und dem Bodenwert, der sich für das Grundstück durch die rechtliche und tatsächliche Neuordnung des förmlich festgelegten Sanierungsgebiets nach erfolgter Sanierung ergibt (Endwert). Auf Antrag des Eigentümers hat die Gemeinde nach § 154 Abs. 5 den Ausgleichsbetrag in ein Tilgungsdarlehen umzuwandeln, sofern ihm nicht zugemutet werden kann, die Verpflichtung bei Fälligkeit mit eigenen oder fremden Mitteln zu erfüllen. Nach § 155 Abs. 3 kann die Gemeinde für das förmlich festgelegte Sanierungsgebiet oder für zu bezeichnende Teile des Sanierungsgebiets von der Festsetzung des Ausgleichsbetrags
Einrichtung einer Arbeitsgruppe der Kommunen gegen Rechtsextremismus sowie die Wiederaufnahme einer seinerzeit eingerichteten Datenbank im Mitgliederservice des Deutschen Städtetages zu kommunalen Initiativen und Maßnahmen gegen den Rechtsextremismus im Sinne des Erfahrungsaustausches. 2. Die Hauptgeschäftsstelle wird gebeten, einen Erfahrungsaustausch über den Umgang mit rechtsextremen Mandatsträgern und über kommunale Handlungsstrategien durchzuführen. (www.staedtetag.de)
absehen, wenn
eine geringfügige Bodenwerterhöhung gutachtlich ermittelt worden ist und der Verwaltungsaufwand für die Erhebung des Ausgleichsbetrags in keinem Verhältnis zu den möglichen Einnahmen steht. Im Einzelfall kann die Gemeinde von der Erhebung des Ausgleichsbetrags ganz oder teilweise absehen, wenn dies im öffentlichen Interesse ist oder zur Vermeidung unbilliger Härten geboten ist. Die Freistellung kann auch vor Abschluss der Sanierung erfolgen. AG ____ Siehe hierzu: Kommunalinfo Nr. 5/2011. 2 Vgl. Koppitz, Das öffentliche Baurecht in der kommunalen Praxis, E. Schmidt Verlag 2007, S. 369. 3 Vgl. ebenda, S. 373. 1
Impressum Kommunalpolitisches Forum Sachsen e.V. Großenhainer Straße 99 01127 Dresden Tel.: 0351-4827944 oder 4827945 Fax: 0351-7952453 info@kommunalforum-sachsen.de www.kommunalforum-sachsen.de V.i.S.d.P.: A. Grunke Die Kommunal-Info dient der kommunalpolitischen Bildung und Information und wird aus finanziellen Zuwendungen des Sächsischen Staatsministeriums des Innern gefödert.
Kommunal-Info 2/2012
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Zukunftschancen ostdeutscher Großwohnsiedlungen Die wohnungspolitischen Fachtagung 2012 des Kommunalpolitischen Forums Sachsen e.V. fand am 10. Februar 2012 in Leipzig statt.1 Nach den Vorträgen von Herrn Siegfried Schneider, dem Direktor des Verbands der Wohnungswirtschaft Sachsens und Herrn Rainer Löhnert, Vorstand der Wohnungsbaugenossenschaft Kontakt e.G. Leipzig hatte Frau Prof. Sigrun Kabisch vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung das White Paper „Zukunftschancen ostdeutscher Großwohnsiedlungen. Vorrangiger Forschungsbedarf“ vorgestellt. Es war bereits im Ergebnis der Tagung „Zukunftschancen ostdeutscher Großwohnsiedlungen“ entstanden, die am 04.03.2011 auf Einladung der Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung GmbH - UFZ und des Leibniz-Instituts für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) stattgefunden hatte. Nachfolgend dokumentieren wir wesentliche Teile dieses White Papers. … Mit rund einer Million Wohnungen machen Großwohnsiedlungen derzeit in Ostdeutschland etwa ein Sechstel des gesamten Wohnungsbestandes aus. Die soziale Konzeption und städtebauliche Struktur der Großwohnsiedlungen der 1950er bis 1980er Jahre stehen in der Tradition des Siedlungsbaus der 1920er Jahre in Deutschland. In den vergangenen Jahren haben die Großwohnsiedlungen in Ostdeutschland starke Umbrüche erfahren, die in ihrer Dynamik und Reichweite beispiellos sind… Das White Paper hebt Herausforderungen hervor, die über die aktuell oft einseitige Debatte zum Stadtumbau in Großwohnsiedlungen mit ihrem Schwerpunkt auf den Abriss von Wohnungen hinausgehen. Es fordert eine sachliche Bestandsaufnahme, um die langfristig nachhaltige Entwicklung der Städte mit ihrem unterschiedlichen Wohnungsbaubestand zu unterstützen. In den radikalen Veränderungen der letzen beiden Jahrzehnte überlagerten sich städtebauliche und soziale mit infrastrukturellen und wohnungswirtschaftlichen Problemlagen. Die daraus folgenden, komplexen Wirkungen sind bisher kaum erforscht. Schlagworte wie Alterung, Abriss, Unterauslastung bzw. Schließung von Schulen, Verkauf kommunaler Wohnungsbestände oder drohender sozialer Statusverlust markieren zusammenhangslos punktuelle Probleme. Entgegen aller stigmatisierenden Stimmen weisen viele dieser Quartiere eine hohe Ortsverbundenheit der dort lebenden Menschen auf, sie erfahren private und öffentliche Investitionen, und auch Klimaschutzbestrebungen formulieren hohe Erwartungen an das CO2-Einsparpotenzial in genau diesem Quartierstyp. Daraus resultieren Fragestellungen, für die es noch keinerlei überzeugende Antworten gibt. Doch gerade jetzt ist die politische und wissenschaftliche Aufmerksamkeit für Großwohnsiedlungen rückläufig. Um jedoch auf der Grundlage wissenschaftlicher Analysen sach-
liche Stabilisierungs- und Entwicklungspotentiale erkennen und gezielt nutzen zu können, brauchen sie diese Beachtung… Folgende Themenfelder werden von uns als vorrangiger Forschungsbedarf angesehen:
akzeptabler Wohnbedingungen entwickelt werden, die sowohl den notwendigen Substanzerhalt sichern als auch langfristige Fehlinvestitionen vermeiden.
1. Differenzierung und Typisierung
Eine angemessene Infrastruktur
3. Quantitative und qualitative Infrastrukturanpassung
zu einer Neuausrichtung von Nachbarschaften bei. Die in Entstehung begriffenen Segregations- und Konfliktmuster gilt es aufzudecken, um einer extremen Ausprägung gezielt entgegenwirken zu können. Dafür sind neue Formen und Instrumente der Beeinflussung sozialräumlicher Entmischung zu entwickeln und bestehende zu qualifizieren. 5. Politische und planerische Steuerung in Großwohnsiedlungen (Governance)
Frau Prof. Dr. Sigrun Kabisch im Bild rechts
von Großwohnsiedlungen, insbesondere im Zusammenhang zur Gesamtstadt
Die Entwicklung von Großwohnsiedlungen ist differenzierter als es die öffentliche oder mediale Wahrnehmung suggeriert. Eine Generalisierung von Entwicklungschancen allein aus der Binnensicht eines Quartiers oder über den Baustrukturtyp ist nicht zielführend. Die Entwicklungspfade hängen vielmehr von der Einbettung der Siedlungen in den gesamtstädtischen Zusammenhang, der Entwicklung im Vergleich zu vorhandenen anderen Wohnungsmarktsegmenten sowie der Entwicklungsdynamik der Gesamtstadt ab. Anhand dieser Kriterien sind Typen von Großwohnsiedlungen zu bestimmen, die über ein unterschiedliches Maß an zukunftsfähigem Entwicklungspotenzial verfügen. Auf dieser Basis können Investitionsschwerpunkte abgeleitet werden. 2. Rückgang der Einwohnerzahl und „Quartiere auf Zeit“
Trotz aller bisher getätigten Aufwertungsmaßnahmen wird die Einwohnerzahl in einem großen Teil der Siedlungen weiter zurückgehen. Die Ursachen von Schrumpfungsprozessen sind mittlerweile gut untersucht, jedoch besteht über die weiteren Verläufe und deren Konsequenzen Unkenntnis. Zudem vollziehen sich die Bevölkerungsverluste sozial und demographisch selektiv und nicht linear. Auf länger anhaltende stabile Phasen können Entwicklungssprünge in Richtung weiterer Aufwertung oder Verfall folgen. Als neues Phänomen sind „Quartiere auf Zeit“ zu verzeichnen, für deren begrenzte Existenz eine akzeptable Lebensqualität und Daseinsvorsorge zu sichern sind. Dazu müssen nachhaltige Instrumente und Strategien für die Absicherung
muss für eine sich verringernde Einwohnerzahl und zunehmend ältere Bewohnerschaft vorgehalten werden. Die zu erwartende Altersarmut in ostdeutschen Kommunen wird die Problemlagen noch verschärfen, zumal in Regionen, die stark von Arbeitsplatzmigration der Kindergeneration und demzufolge dem Wegfall von Versorgungs- und Betreuungsleistungen betroffen sind. Der Infrastrukturbedarf ändert sich somit auch qualitativ. Ältere brauchen andere Einrichtungen und Dienstleistungen als die einst für vornehmlich junge Familien geschaffenen. Wie die erforderliche Infrastruktur bereitgestellt werden kann, ist bisher unklar, denn schrumpfende Kommunen mit angespannter Haushaltslage setzen zur Kostenersparnis eher auf eine Reduzierung von Infrastruktur als auf einen qualitativen Ausbau für bestimmte Bewohnergruppen. 4. Verschärfung kleinteiliger Segregationsprozesse
Die vergleichsweise günstigen Mieten und die kleinen Wohnungsgrößen haben in vielen Großwohnsiedlungen zu verstärkten Zuzügen sozial schwacher Haushalte geführt, auch wenn die lokal-regionalen Unterschiede groß sind. Hierdurch gerät die bis heute noch tendenziell stabile soziale Mischung unter Druck. Das Ineinandergreifen von sozial-, altersund milieuspezifischen Wohnstandortentscheidungen auf weiter segmentierten Wohnungsmärkten führt zu kleinteiligen Segregationsprozessen bis auf Gebäudeebene. In zunehmendem Maße werden Konflikte zwischen etablierten Alteingesessenen und zuziehenden „Problemhaushalten“ sowie Generationenkonflikte beobachtet. Darüber hinaus trägt eine Internationalisierung der Bewohnerschaft durch MigrantInnen
Die Heterogenität der Eigentümer in Folge fortgesetzter Verkäufe kommunaler und genossenschaftlicher Bestände hat sich stetig vergrößert. Hierdurch kommt es zu einem Nebeneinander sehr verschiedener Immobilienverwertungsstrategien auf engstem Raum. Außerdem sind staatliche Fördermittel, die zur Stabilisierung der Wohngebiete in der Vergangenheit in Anspruch genommen werden konnten, deutlich zurückgegangen und stehen auch weiterhin unter starkem Kürzungsdruck. Die Wechselwirkungen zwischen den kommunalen und den Landesstrategien, den Rahmensetzungen des Bundes und den Interessen der unterschiedlichen wohnungswirtschaftlichen Akteure sind lokal sehr verschieden. Dies ist stärker zu beleuchten, um Erfolgsbedingungen für die Herausbildung tragfähiger Akteursstrukturen zu bestimmen. Gleichzeitig ist die Steuerbarkeit mit den vorhandenen Planungsinstrumenten kritisch zu beleuchten und es sind Vorschläge zur Weiterentwicklung zu erarbeiten. 6. Erkennen von Mobilitätsmustern und deren gezielte Beeinflussung
Mobilitätsmuster in Großwohnsiedlungen sind vielfältig. Eine Reduzierung auf Bleiben oder Gehen greift zu kurz. Neben dem Wegzug sind auch vielfache Umzüge innerhalb der Siedlungen, Zuzüge von außerhalb und Rückzüge ehemaliger Bewohner festzustellen. Zur Stabilisierung der Siedlungen werden detaillierte Kenntnisse zu einzelnen Motiven für gruppenspezifische Wohnstandortentscheidungen ebenso benötigt wie Wissen über das Zusammenspiel von Entscheidungskriterien. Anreize zum Zuzug und zum Bleiben in der Großwohnsiedlung brauchen eine gezielte Ausrichtung. Auch für die Prognose der zukünftigen Wohnraumnachfrage, der Infrastrukturentwicklung oder der politischen Steuerung sind Detailkenntnisse jenseits der Wanderungsstatistiken erforderlich.
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Kommunal-Info 2/2012
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Wohnungsnachfrageprognose Kommunale Wohnungsnachfrageprognose - verbesserte Nutzerfunktionen im neuen IÖR-Internet-Rechenprogramm Bevölkerungsschrumpfung und Alterung führen zu deutlichen Veränderungen der Stadt-, Regional- und Wohnungsmarktentwicklung. Diese können sehr vielfältig sein und lassen sich nur schwer ermitteln. Kostenfreie Unterstützung für öffentliche und private Nutzer bietet das Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung e. V. (IÖR). Ein Rechenprogramm, das hilft, zukünftige Bevölkerungs-, Haushalts- und Wohnungsnachfrageentwicklungen abzuschätzen, wurde nun überarbeitet und nutzerfreundlich gestaltet. Es ist auf der Internetseite des IÖR frei zugänglich. Für viele klein- und mittelstädtische Kommunen sowie Planungsbüros ist das IÖR-Internet-Rechenprogramm zu einer unverzichtbaren wissenschaftlichen Dienstleistung geworden. Spitzenreiter bei der Programmnutzung sind bislang noch die sächsischen Kommunen, aber auch Kommunen in Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen, Hessen und Niedersachsen gehören zu den häufigen Nutzern. Mit dem IÖR-Internet-Rechenprogramm können nicht nur einfache Trendprognosen, sondern auch Szenarien erarbeitet werden, welche sich bei der Erstellung von Stadtumbaukonzepten als Planungsgrundlage bewährt haben. Dies belegen auch die über 50 000 Programmzugriffe und die mehr als 1700 erstellten Szenarien der Programmnutzer. Die Neugestaltung des Programms mit gleichzeitig erweiterten Bedienfunktionen ist über www.ioer.de/wohnungsprognose erreichbar und lädt Fortsetzung von Seite 3
... Großwohnsiedlungen 7. Umweltgerechte Gebietsentwicklung, insbesondere energetische Sanierung der Gebäude
Aus ökologischer Perspektive weisen Großwohnsiedlungen deutliche Potenziale auf, die im Sinne nachhaltiger, insbesondere umweltgerechter Stadtentwicklungsstrategien zu nutzen sind: Sie weisen eine dichte Bauform mit einem geringen Anteil versiegelter Fläche auf, sie sind oft sehr gut durch ÖPNV und Radwegenetze erschlossen, die Luftqualität an Stadtrandlagen ist günstig und die Grünraumqualitäten sind hoch. Die Klimaschutzbemühungen der Bundesregierung identifizieren im baulichen Bestand hohes Potenzial zur Emissionsreduzierung infolge energetischer Sanierung, da die technischen Bedingungen günstig sind und keine Denkmalschutzrestriktionen vorliegen. Diese Qualitäten sind im Sinne umweltgerechter Gebietsentwicklung zu nutzen und weiter zu stärken. 8. Bedeutung der Wohnsiedlungen für die Struktur des deutschen Wohnungsmarktes
Die Bedeutung des sozial orientier-
Kommunal- und Regionalplaner zum Experimentieren ein. In einer zweiten wissenschaftlichen Dienstleistung des IÖR, dem Monitor der Siedlungsund Freiraumentwicklung (www.ioer-monitor.de), können darüber hinaus deutschlandweit wichtige kleinräumige Informationen über die Flächennutzungsentwicklung in den Städten und Gemeinden abgerufen werden.
Neue EU-Schwellenwerte Neue EU-Schwellenwerte für 2012 veröffentlicht Die EU-Kommission hat mit Verordnung Nr. 1251/2011 vom 30. November 2011 (Amtsblatt der Europäischen
ten Wohnungsbaus bereits seit den 1920er Jahren für die soziale Wohnraumversorgung sowie die geringe Krisenanfälligkeit des deutschen Wohnungsmarktes hat sich aktuell in der internationalen Immobilienkrise gezeigt: während unsymmetrische, nahezu ausschließlich auf privates Einzeleigentum setzende Marktstrukturen in den USA und anderen Ländern zum Auslöser der Krise wurden, hat sich die ausbalancierte Marktstruktur in Deutschland mit ihren unterschiedlichen Marktsegmenten als volkswirtschaftlicher und sozialer Stabilisator erwiesen. Von Bedeutung ist daher die Frage, welche strategische sozialpolitische wie volkswirtschaftliche Langzeitwirkung unterschiedliche Wohnungsmarktstrukturen haben und welche Rolle dabei den großen Wohnsiedlungen des Mietwohnungsbaus zukommt. 9. Zusammenspiel von ökologischer Aufwertung, städtebaulicher Weiterentwicklung und sozialräumlicher Differenzierung durch neue methodische Zugänge beleuchten
Die Zukunft der Großwohnsiedlungen entscheidet sich letztendlich im Zusammenspiel der oben genannten Faktoren. Ob z.B. die ökologischen Qualitäten genutzt werden können,
Union L 319 vom 02.12.2011, S. 43) zur Änderung der EU-Vergaberichtlinien (2004/17/EG, 2004/18/EG und 2009/81/EG) neue EU-Schwellenwerte für Auftragsvergaben ab dem 01. Januar 2012 eingeführt. Da die Schwellenwerte im WTOVergabeabkommen (GPA) in Sonderziehungsrechten ausgedrückt sind, unterliegen sie den Fluktuationen des Devisenmarktes. Dem tragen die EUVergaberichtlinien Rechnung, indem sie regelmäßig alle zwei Jahre eine An-
passung der auf Euro lautenden Richtlinien-Schwellenwerte vorsehen. Aus kommunaler Sicht ist hervorhebenswert, dass die Neuberechnung der EUSchwellenwerte erstmals zu einer Anhebung der Schwellenwerte führen wird. Insoweit wird in Deutschland der jeweils 1. Abschnitt von VOB/A und VOL/A an Bedeutung zunehmen.
hängt von sozioökonomischen Rahmenbedingungen ab. Diese komplexen Prozesse bedürfen der Beachtung von Wechselwirkungen, Überlagerungen und Gegenläufigkeiten. Dazu sind neue und weiterentwickelte methodische Zugänge erforderlich, die explizit inter- und transdisziplinär ausgerichtet sind. Es werden Wissensvorräte sowohl aus Langzeitstudien als auch aus Modellierungen, Simulationen oder Szenariotechniken, die auf die Zukunft gerichtet sind, gebraucht. Dadurch kann die Entscheidungsunterstützung in der Praxis erheblich verbessert werden. 10. Ostdeutsche Großwohnsiedlungen im europäischen und im historischen Kontext betrachten Um festgefahrene Sichtweisen in der (ost)deutschen Diskussion aufzubrechen, empfiehlt sich eine Internationalisierung der Beschäftigung mit Großwohnsiedlungen. Von besonderem Interesse ist dabei Osteuropa, da hier Großwohnsiedlungen ein wesentlich größeres Wohnungsmarktsegment als in Westeuropa bilden und Parallelen in der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte zu Ostdeutschland aufweisen. Zudem müssen die Großwohnsiedlungen in einen größeren historischen Kontext eingebettet werden, der Verbindungen herstellt zum Sied-
Die von der Kommission vorgesehenen Änderungen sind nachstehend aufgeführt: 1. Für Liefer- und Dienstleistungsaufträge der Obersten oder Oberen Bundesbehörden sowie vergleichbarer Bundeseinrichtungen: 130 000 Euro (bisher: 125 000 Euro). 2. Für alle anderen Liefer- und Dienstleistungsaufträge: 200 000 Euro (bisher: 193 000 Euro). 3. Für Bauaufträge: 5 Millionen Euro (bisher: 4,845 Millionen Euro) 4. Sektorenverordnung (SektVO): - Bauaufträge: 5 Millionen Euro - Liefer- und Dienstleistungsaufträge: 400 000 Euro (bisher: 387 000 Euro) Wichtiger Hinweis: Unabhängig von den Änderungen der Schwellenwerte zum 01. Januar 2012 ist in Deutschland zunächst die Anpassung der Vergabeverordnung (VgV) abzuwarten. Grund ist, dass die aktuellen EUSchwellenwerte in der Vergabeverordnung die „strengeren“ Regelungen darstellen. Mit Blick auf die kommunale Vergabepraxis bedeutet dies, dass bei Vergabeverfahren bis zum Inkrafttreten der geänderten Vergabeverordnung die aktuell gültigen Schwellenwerte (vgl. oben die Zahlen in Klammern) zugrunde zu legen sind. Das BMWi hat mitgeteilt, dass die geänderte Vergabeverordnung voraussichtlich im März 2012 in Kraft treten wird. Für den Bereich der Sektorenverordnung (SektVO) werden hingegen die aktualisierten EU-Schwellenwerte bereits zum 01. Januar 2012 wirksam werden. Grund ist, dass die Sektorenverordnung – anders als die Vergabeverordnung – eine dynamische Verweisung auf die jeweils geltende EU-Rechtslage beinhaltet (s. § 1 Abs. 2 SektVO). Dies bedeutet, dass es keiner weiteren Änderung der SektVO bedarf. (Quelle: www.dstgb-vis.de)
lungsbau der 1920er Jahre. Genauer zu untersuchen ist dabei die Frage danach, welche besonderen Merkmale des Siedlungsbaus auch weiterhin zukunftsfähig sind. Fazit Zusammengefasst muss festgestellt werden, dass die Entwicklung in Großwohnsiedlungen heute differenzierter denn je verläuft. Neben ernstzunehmenden Problemen verfügen sie über nicht zu vernachlässigende Potenziale, die für eine klimagerechte und nachhaltige Stadtentwicklung genutzt werden sollten. Diese Differenziertheit von Entwicklungschancen ist in der aktuellen Diskussion jedoch kaum zu erkennen. Es ist daher notwendig, die aktuelle Lage der ostdeutschen Großwohnsiedlungen genau in den Blick zu nehmen, deren Herausforderungen zu verstehen und die Weichen für die weitere Entwicklung dieser Siedlungen richtig zu stellen. Für eine zukunftsfähige Weiterentwicklung dieses Quartierstyps braucht es das nötige Wissen, um komplexer werdende Problemlagen zu bewältigen. 1
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Eine Dokumentation mit allen Vorträgen wird demnächst als Broschüre erscheinen.
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3/2012 Sachsens Linke!
Soziales
Zukunft gestalten Fünftes Bautzner Sozialforum präsentiert »Lausitzer« und ringt um Bürgerzentrum Klirrende Kälte konnte am Sonnabend die sozial Engagierten nicht schrecken: Zum fünften Mal traf man sich in Bautzen zum Regionalen Sozialforum. Die Sozialforumsbewegung entstand als Reaktion auf die Treffen der internationalen Regierungs- und Weltwirtschaftsbosse. Während die deutsche Sozialforumsbewegung in der Krise steckt – das vierte in Freiburg im Breisgau 2011 geplante Treffen kam nicht zustande, stattdessen gab es ein Krisentreffen in Hannover – bleiben die Turmstädter unermüdlich am Ball. In Bautzen kamen wie in den Vorjahren ca. 40 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zusammen. Den Einführungsvortrag hielt Dr. Elka Tschernokoshewa vom Sorbischen Institut zum Thema »Zukunft mitgestalten«. Anschließend formierten sich vier Gesprächskreise: Es ging um Patenschaften, Regionalgeld – den im September des letzten Jahres eingeführten »Lausitzer«, um die so genannten »Tauschringe« und ein Regionales Bürgerzentrum für Bautzen und Umland. Wie ein roter Faden zieht sich durch die Sozialforumsbewegung die Bestrebung, ein bedingungsloses Grundeinkommen einzuführen, dass Hartz IV ablösen soll. Diese Idee hat inzwischen Anhänger quer durch verschiedenen Partei-
en und soziale Schichten, so hatte kürzlich in der Dresdner Frauenkirche der Unternehmer und ehemalige Karlsruher Professor, Gründer der dm-Drogeriekette Götz Werner sein Grundeinkommenskonzept vorgestellt und verteidigt. Auch der ehemalige thüringische Ministerpräsident Althaus setzt sich für ein Grundeinkommen ein, desgleichen verfechten jeweils eigene Konzepte Gruppen der Grünen und LINKEN. Unverhoffte Verstärkung bekam die Grundeinkommens-Bewegung nach dem Erdrutschsieg durch die Piraten bei den Berliner Kommunalwahlen. Schneller als alle anderen Parteien konnten sich im Vorjahr die Piraten sofort als Parteiziel bei ihrem ersten Parteitag in Offenbach am Main auf die Einführung eines Grundeinkommens einigen, woraufhin es umgehend zum Gespräch zwischen Dresdner Piraten und Bautzner Anhängern der Sozialforumsbewegung kam.
Im März, so wurde jetzt auf dem Bautzner Sozialforum verkündet, werden in Bautzen die Piraten einen Kreisverband gründen. Am 25. März soll es so weit sein. Das Thema Ankurbelung der Regionalwirtschaft bei gleichzeitigem Vertrauensverlust in den Euro spielt bei der aktuell laufen Einführung Regionalgeld eine Rolle. Seit September ist »der Lausitzer« als Zahlungsgeld erprobt worden und es werden weitere Kunden und Unternehmer gesucht, die die Regionalwirtschaft unterstützen möchten, in dem sie regionale Produkte nicht nur mit Euro sondern auch mit der Regionalwährung Lausitzer kaufen bzw. verkaufen, die ausschließlich als Zahlungsmittel von ausgewählten Geschäften innerhalb der Lausitz zugelassen ist. Zum Anfassen wurden drei Scheine herum gereicht. Heftig gerungen wurde am Sonnabend verbal um die Entstehung eines Bürger-
zentrums – schon bei grundsätzlichen Fragen herrschte immenser Klärungsbedarf: Soll es sich bei dem Zentrum um ein »echtes« Gebäude für Bautzner Bürgerinitiativen handeln oder reichen gemietete bzw. gelegentlich zur Nutzung überlassene Räumlichkeiten? Wer darf mitmachen und wie will man »die Rechten« draußen halten? Oder sollen die etwa auch dabei sein können – wenn es »für alle« ist? Wie soll die Finanzierung gewährleistet werden – als Bürgerstiftung oder Genossenschaft? Man wurde sich immerhin darüber einig, dass man noch in der Ideen-Sammlungs-Phase steckt. Bautznerinnen und Bautzner mit Ideen zum Bürgerzentrum können dies dem Bautzener Sozialforum mitteilen. Stammtischtreffen ist im »Grünen Laden« jeden ersten Mittwoch im Monat. Im Internet finden Interessierte das Sozialforum unter www.sozialforum-bautzen.de Ralf Richter
Landesjugendtag zeitlich eingetaktet, sondern auch alle Sitzungen des Beauftragtenrates und andere »kleine« Termine. Darüber hinaus soll in diesem Jahr die Aktivierung von Mitgliedern, Sympathisierenden und Basisgruppen im ländlichen Raum eine größere Rolle im Landesverband einnehmen. Dazu sollen nach Möglichkeit mehrere »KickOff«-Veranstaltungen stattfinden, die den Startschuss für die (Neu-)Initiierung der Ortsgruppen sein soll. Die erste Veranstaltung dieser Art soll als Testballon am 7. April im Raum Döbeln steigen. Wer Interesse an all den Aktivitäten und Terminen der linksjugend [`solid] Sachsen hat, hängt sich am besten den
neuen Kalender an die Wand, schaut auf unserer stets aktuellen Website vorbei oder abonniert den öffentlichen digitalen Kalender einfach via Kalenderprogramm oder Handy-App und bekommt die langfristigen und aktuellen Termi-
ne dann ohne weiteres Zutun frisch »geliefert«. Lecker! Alle Infos zum Kalender, Termine und die Aktivitäten des Jugendverbandes auf www. linksjugend-sachsen.de Tilman Loos, Jugendpolitischer Sprecher DIE LINKE. Sachsen
Volles Jahr Wie voll das Jahr ist, wird erkenntlich, wenn der neues Jahreskalender der linksjugend [`solid] Sachsen in euren Abgeordnetenbüros und Wohnungen eintrifft. Unter dem Titel »Wir ticken anders...« hat der Jugendverband in Sachsen einen eigenen Kalender produziert – und zwar von März 2012 bis März 2013. Das ist möglich, weil die Terminplanung inklusive der spät im Jahr stattfindenden Events dieses Jahr vom neuen Beauftragtenrat zeitig in Sack und Tüten verpackt worden war. Auf der Klausurtagung des Beauftragtenrates wurden nicht nur die jährlichen Großveranstaltungen wie das Pfingstcamp, die Herbstakademie, die Provinzparade und der
Sehr geehrte Frau Kestner, ich habe zwei Kinder und beziehe Arbeitslosenhilfe. Bei der Berechnung des Bedarfs meiner Familie wird das Kindergeld als Einkommen meiner Kinder in die Berechnung einbezogen. Soweit verstehe ich das ja. Allerdings habe ich folgendes Problem: Für mein jüngeres Kind besteht eine Unfallversicherung. Mir wurde hierzu geraten, weil es an ADS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) leidet. Ich habe gehört, dass für solche Versicherungen Pauschalen bei der Berechnung berücksichtigt werden. Wie ist da die Rechtslage? Viele Grüße, Mandy P. (Leipzig) Sehr geehrte Frau P., diese Frage war bisher für sogenannte private Versicherungen (Ausbildungsversicherungen, Unfallversicherungen usw.) noch nicht hinreichend geklärt, sofern es die tatsächlich abgeschlossenen Versicherungen betrifft. Manche Jobcenter haben deshalb Versicherungen für Kinder als notwendig anerkannt und eine Versicherungspauschale in Höhe von EUR 30,00 als Freibetrag vom Einkommen des Kindes abgezogen. Das Bundessozialgericht (BSG) hat nunmehr in einem aktuellen Urteil zum Ausdruck gebracht, dass in der Regel auch dann keine Versicherungspauschale abgesetzt werden kann, wenn Versicherungskosten für Kinder tatsächlich nachgewiesen werden können (BSG – B 4 AS 89/11 R). Der Grund: Das Einkommen des Kindes (z.B. Kindegeld) sei vorrangig zur Existenzsicherung einzusetzen. Etwas anderes kann natürlich aus dem Umstand folgen, dass eine Versicherung sich aufgrund der besonderen Situation eines Kindes geradezu aufdrängt. Allerdings muss dies u.U. sehr konkret nachgewiesen werden. Und es ist - nach der jüngsten Äußerung des BSG - damit zu rechnen, dass die Jobcenter zukünftig besonders hohe Maßstäbe anlegen werden. Der Hinweis auf ADS allein wird also möglicherweise noch nicht genügen. Ihre Marlen Kestner
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Frauen
fitieren –, dass insbesondere Alleinerziehende von Armut bedroht sind und dass Frauen wissen, dass sie im Alter ganz geringe Renten erhalten werden. Viele Menschen sagen aber auch, dass wir in der Wirtschaft etwas tun müssen. So, wie von unten etwas getan werden muss, muss auch von
oben gedrückt werden, damit sich etwas verändert. Es ist inzwischen unstrittig, dass unter betriebswirtschaftlichen Aspekten die Unternehmen am besten funktionieren, die eine geschlechtergemischte Führung haben, die also weder reine Frauenführungen noch reine Männerführungen,
Eine echte Schwester Lysistratas Jedes Jahr sucht anlässlich des Internationalen Frauentages die Frauenarbeitsgemeinschaft LISA Sachsen Vorschläge zur Auszeichnung mit dem Lysistrata-Frauen-Friedenspreis, der dann im September verliehen wird. Im vergangen Jahr war Prof. Peter Porsch, langjähriger Fraktionsvorsitzender der Linksfraktion im Sächsischen Landtag, Laudator bei der Auszeichnung von Tanja Grobitzsch, einer jungen Frau aus Leipzig, angestellt bei der Handwerkskammer, die zum aktiven Kern des »Friedenszentrum Leipzig e.V.« gehört und vor drei Jahren dort Verantwortung als stellvertretende Vorsitzende übernahm. Hier einige Auszüge aus der bemerkenswerten Rede von Peter Porsch: »‘Stellt Euch vor, es ist Krieg und keiner geht hin!‘. Ein frommer Wunsch, wohl immer öfter geäußert, aber doch noch weit entfernt von seiner Verwirklichung - so weit entfernt von seiner Realisierung wie die Spiegelung dieses Wunsches in dem Satz: ‚Stellt Euch vor, es wird gegen den Krieg protestiert und alle gehen hin.‘ Es wird wohl so sein, dass der zweite Satz zuerst Wirklichkeit werden muss, bevor der im ersten Satz geäußerte Wunsch zur
Tatsache wird. Zu viele gehen noch hin, wenn Krieg ist. Und sie wissen oft nicht wirklich, was sie tun. Deshalb wollen wir, dass immer mehr kommen, wenn gegen Kriege protestiert wird und mit dem Protest auch über ihre Ursachen und ihre Verhinderung aufgeklärt wird.«… «Tanja Grobitzsch vermittelt ihre Überzeugungen, ihr Wissen, ihren Standpunkt in sachlich-hartnäckiger Gelassenheit. Das verschafft ihr Gehör im persönlichen Gespräch mit Bürgerinnen und Bürgern, vermittelt ihr Bedenken. Toleranz verwechselt sie nicht mit Beliebigkeit, um vielleicht gar Auseinandersetzungen auszuweichen. Sie durchschaut für ihr friedenspolitisches Aktionsfeld souverän die nationale wie globale imperialistische Politik, die sich Ökonomie, Rüstungsindustrie, Kultur, Medien und Bildung für ihre Ziele unterwirft.«… »Man sagt, ‚Handwerk hat goldenen Boden‘. Das kann stimmen. Das Kriegshandwerk hat diesen mit Gewissheit nicht jedenfalls nicht für die meisten, die es ausführen und nicht für die, die davon betroffen, sondern höchstens für die, die es anordnen. Nein, das Kriegshandwerk gedeiht nur
auf vergiftetem, verpestetem Boden. Es ist der Boden der Gewaltverherrlichung, der Fremdenfeindlichkeit, des Rassismus, des Faschismus. Tanja Grobitzsch weiß auch das und deshalb gibt es eine zweite Komponente ihrer politischen Arbeit: Protest und Widerstand gegen Nazis und ihre Aufmärsche, besonders in Leipzig, und antifaschistische Gedenkarbeit.« …. »Folgen wir ihr auf einem Weg, an dessen Ende Schluss ist mit dem ‚Krieg als Vater aller Dinge‘ und ‚Frieden zur Mutter aller Dinge‘ wird.« Heiderose Gläß
sondern in etwa gleich viele Frauen und Männer in Führungspositionen haben. Dafür gibt es verschiedene Ursachen: Es gibt unterschiedliche Strategien zur Konfliktlösung. Es gibt unterschiedliche Blicke auf das, was für ein Unternehmen wichtig ist. Ich formuliere es einmal ein
bisschen drastisch: Vor etwa einem Jahr stand in der »Bild« ganz groß: Extra-Vergütung der Mitarbeiter einer deutschen Versicherung in Ungarn in Form eines Sexurlaubs. Man stelle sich vor, auch in diesem Unternehmen wären auf allen Ebenen Positionen mit Männern und Frauen gleichermaßen besetzt gewesen. Hätten die Frauen es als Auszeichnung empfunden, dass sie in ein Bordell gehen sollen? Hätten die Frauen im Vorstand einer solchen Art und Weise der Vergütung zugestimmt? Niemals! Ich habe nachgeschaut: Auch in diesem Unternehmen sind nur drei Frauen im Aufsichtsrat, von 20 Mitgliedern; eine Frau ist im Vorstand, eine einzige. Aber eine Frau alleine ist nicht in der Lage, die Verhältnisse zu ändern. Bei solchen Verhältnissen wird eher diese Frau verändert. Viele Frauen zusammen können aber die Verhältnisse ändern. Deshalb brauchen wir die Quote. Dr. Barbara Höll, MdB
8. März 2012: Feiern oder kämpfen?
Kürzlich wurde mir die Frage gestellt, ob der Internationale Frauentag in Deutschland mehr Kampf- oder Feiertag ist. Wenn ich mir so anschaue, was in Landes- und Kreisverbänden der LINKEN so am Frauentag geplant ist, könnte man feststellen, dass Deutschland zweigteilt ist. Der Westen kämpft und der Osten feiert. Doch Spaß beiseite, auch wenn viele unserer älteren Genossinnen sich recht gern, manchmal auch mit einem Augenzwinkern, noch an die Frauentagsfeiern zu DDR-Zeiten erinnern, so haben unsere
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Frauen sind nicht gleichgestellt. Dies muss sich ändern. Gesetzliche Regelungen, die Frauen nicht nur in Führungspositionen gleichstellen, sind nun eine Pflicht, die der Gesetzgeber umsetzen muss, dazu verpflichtet uns nicht nur das Grundgesetz. Gestern Abend fragte ich den Taxifahrer, der mich nach Hause fuhr, ob er etwas von der Diskussion über eine Quote für Frauen in Führungsetagen gehört hätte. Er sagte: »Nein.« - Ich fragte ihn, was er davon hält. Er sagte: »Klar können die Frauen das machen, die können es doch.« - Ich: »Was denken Sie denn, woran es liegt?« - Er: »Die Kerle sind einfach zu verbohrt.« Drei klare Antworten! Ich glaube, der Mann hat Recht. Viele Menschen in unserem Land bewegt die Lage der Frauen. Sie bewegt der Umstand, dass Frauen in Minijobs weggedrückt werden, dass Frauen wenig verdienen – sie würden am meisten von einer Mindestlohnregelung pro-
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Frauen müssen gleichberechtigt sein – nicht nur in Aufsichtsräten
Veranstaltungen auch in Sachsen einen anderen Charakter bekommen. In Redebeiträgen, Diskussionen oder auch in Kulturprogrammen wird darauf eingegangen, dass sich in den letzten 20 Jahren die Lage der Frauen im Osten, also auch hier in Sachsen, verschlechtert hat. Besonders was die finanzielle Unabhängigkeit und die eigene Berufstätigkeit anbelangt. Prekäre Beschäftigung, Minijobs, Teilzeit, ABM und Ehrenamt sind weibliche Berufs- und Arbeitszeitmodelle geworden. Auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, durch ein dichtes Netz bezahlbarer Kinderbetreuungseinrichtungen, aber auch Pflegemöglichkeiten für Eltern oder Verwandte, ist schwerer geworden. Das zwingt viele Frauen, auf eine Vollzeitberufstätigkeit, selbst wenn sie möglich wäre, zu verzichten. Das aber wiederum wird sich auch später bei den Rentenansprüchen zeigen – »Teilzeitarbeit führt zu Teilzeitrenten« ist ein vielfach verwendetes geflügeltes Wort. Also heißt es für uns Frauen: Feiern und kämpfen – oftmals schon gewonnen glaubte Kämpfe wiederholen sich dabei. Heiderose Gläß
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DIE LINKE im Europäischen Parlament
3/2012 Sachsens Linke!
Die Zukunft der Fördermittel »Auch zukünftig brauchen wir in Sachsen Fördermittel europäischer Strukturfonds, bisher Erreichtes darf nicht verloren gehen. Europa muss nicht weniger, sondern mehr zur Überwindung der ökonomischen und sozialen Entwicklungsunterschiede leisten.« So lautet das Fazit der Dialogtour »Zur Zukunft der Fördermittelpolitik«. Gemeinsam mit der Landtagsfraktion der sächsischen LINKEN tourte die Europaabgeordnete Dr. Cornelia Ernst durch die Landesdirektionsgebiete Sachsens. Beginnend in Chemnitz besuchten die Abgeordneten verschiedene Projekte, die Fördermittel aus Europäischen Strukturfonds erhalten. Die Delegation traf sich unter anderem mit den Vertreterinnen des ILE Gebiets Silbernes Erzgebirge und den Koordinatoren des Projekts »Stärken vor Ort« und diskutierte über Perspektiven für ländliche Räume im Zusammenhang mit den demografischen Entwicklungen: »Wir setzen uns für die Einführung von Zwischenkategorien in der neue Förderperiode ein. Die Regionen müssen weiter in der Lage sein die Attraktivität ländlicher Räume zu stärken. Dazu gehört auch, dass die Förderung kleiner und mittelständischer Unternehmen ausgebaut werden muss« so Ernst, die im Europaparlament auch Mitglied im
Ausschuss für regionale Entwicklung ist. Die zweite Station der Dialogtour führte die Abgeordneten in die Leipziger Region. Beim Besuch der Osterland Agrar GmbH mit Vertretern der Landkreisverwaltung, des ILERegionalmanagements, des Landesbauernverbandes und Landwirten stellte sich schnell heraus, dass viele Reformvorhaben der Europäischen Union an der Lebenswirklichkeit vorbei gehen. So sollen Bauern deren außerlandwirtschaftliches Einkommen das Zwanzigfache der durch die EU zugewiesenen Direktzahlung übersteigt, von der Förderung ausgeschlossen werden. Dies trifft vor allem die ostdeutschen Großbetriebe deren Gesellschafter meist nur wenige Anteile halten und die Landwirtschaft lediglich »nebenbei« betreiben. Der geforderte Abbau der Bürokratie ist da eher ein frommer Wunsch, denn Fakt ist, dass diese an vielen Stellen eher verstärkt wurde. Das wurde auch in der Jugendstrafanstalt in Regis-Breitingen deutlich, die in den angebotenen modularen Ausbildungsangeboten Fördermittel des europäischen Sozialfonds erhält. »Sowohl auf europäischer Ebene, als auch in der Umsetzung in den Bundesländern müssen die Richtlinien und Durchführungsbestimmungen aufeinander abgestimmt
werden und die Kompatibilität zwischen den Förderprogrammen hergestellt werden. Der bereits hohe Bürokratieaufwand darf nicht noch größer werden und damit sich zur unüberwindbaren Hürde für die Inanspruchnahme von europäischen Fördermitteln steigern« kommentiert Ernst. In der Region Dresden besuchte die Delegation dann die Produktionsschule Moritzburg. Dort hatte man die Gelegenheit sowohl mit dem Leiter, den Sozialarbeitern, als auch mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen. Hier wurde deutlich, welche persönliche Bedeutung die ge-
förderten Projekte für die Teilnehmenden haben. »Es sind eben nicht nur Zahlen und Beträge, über die wir hier reden, sondern es geht auch um Menschen, die aufgrund ihrer nicht geradlinig verlaufenen Biografien eine Chance bekommen an der Gesellschaft teilzuhaben.« Hintergrund der Dialogtour sind die bereits angelaufenen Verhandlungen zur Ausgestaltung der neuen Fördermittelperiode ab 2014. Dabei ist es noch fraglich, wie die Struktur der europäischen Fördermittelfonds aufgebaut sein wird und wie hoch die zur Verfügung stehenden Mittel sein
werden, was nicht zuletzt an den Mitgliedstaaten liegt und wie viel sie bereit sind, einzuzahlen. Diese Dialogtour war eine wichtige Etappe, um mit den Akteuren, den Projektverantwortlichen und den Multiplikatoren gemeinsam zu diskutieren und die Problemlagen vor Ort kennenzulernen und aufzunehmen. Diese neu gewonnen Erfahrungen gilt es nun in die Verhandlungen auf europäischer Ebene um die zukünftige Gestaltung der Fördermittelfonds einzubringen. Ein noch harter Weg, der vor uns liegt. Cornelia Ernst
präsidentschaft steht unter dem Allerweltsthema »Europa bei der Arbeit«. Die selbst gewählten 4 Schwerpunkte »Ein verantwortungsvolles, dynamisches, grünes und sicheres Europa« lassen vermuten, dass die Finanzpolitik im Vordergrund stehen wird. Es ginge um Haushaltsdisziplin, so die Ministerpräsidentin, soziale Strangulierung der Menschen in der EU wäre ein ehrlicherer Ausdruck dafür gewesen. Es war Søren, der es präzise auf den Punkt brachte, dass das Arbeitsprogramm der Dänen aussehe, als ob es von Merkozy verfasst worden wäre. Er erinnerte die Ministerpräsidentin daran, dass sie mit ihrem Versprechen gewählt wurde, den Weg aus der Krise nicht durch mehr Sparen, sondern durch mehr Investieren zu gehen. Das ganze Gegenteil präsentierte sie in ihrer Rede, die sich im Schwur um gemeinsame Haushaltsdisziplin erging, so als hätte sie ihre Wahlversprechen ver-
gessen. Für die Dänen ist dieser Wortbruch insofern problematisch, weil einige Monate vorher die konservative Regierung abgelöst wurde, die sich durch Wiedereinführung von Grenzkontrollen unbeliebt gemacht hatte und dem Spardiktat des Rates alternativlos gefolgt war. Mit der Wahl von Thorning-Schmidt sollte eine neue Politikära beginnen. Was daraus wird, hängt auch wesentlich vom Agieren der Ministerpräsidentin während der Ratspräsidentschaft ab.
Ein Programm wie von Merkozy Søren Søndergard zur dänischen Ratspräsidentschaft Søren Søndergard ist gelernter Schiffsbauer, nicht ganz ungewöhnlich in Dänemark. Er ist Mitglied der Volksbewegung gegen die EU, die sich 1972 im Vorfeld der Volksabstimmung über den EG-Beitritt Dänemarks gründete. Diese Volksbewegung forderte im Zusammenhang mit dem Lissabonvertrag eine Abstimmung der Bevölkerung über diesen Vertrag, die aber nicht zustande kam. 2005 gründete sich nach dänischem Recht eine europäische Partei, die EUDemokraten - Allianz für ein Europa der Demokratien (EUD), die 2009 alle Sitze im Europaparlament verlor. Durch den Beitritt Søren Søndergards in die EUD, deren Mitglieder aus den verschiedensten europäischen Län-
dern kommen, ist diese Partei dennoch im Europaparlament vertreten. Die EUD fordert mehr Transparenz auf europäischer Ebene, Bürgernähe und Demokratie. Ihre Mitglieder lehnen die Zentralisierung von Machtbefugnissen durch EUInstitutionen ab und stehen für eine demokratische Kontrolle, die sie auf nationaler oder regionaler Ebene besser realisiert wissen wollen. Ähnlich wie DIE LINKE hat auch die EUD den Lissabonvertrag abgelehnt. Søren gehört inner-
halb der GUENGL den Nordisch-Grünen Linken (NGL) an. Dies ist eine Struktur, welche Abgeordnete umfasst, die sich in der konföderalen GUENGL untereinander abstimmen und in besonderer Weise zusammenarbeiten. Neben unserem dänischen Kollegen gehören dieser Struktur zwei Kolleg/innen aus den Niederlanden und ein schwedischer Linker an, welcher als bekennender Feminist gleichzeitig der Vorsitzende des Frauenausschusses im Europaparlament ist. Während die Nordisch-Grünen Linken seit Jahren gemeinsame Politikziele verfolgen, wie zum Beispiel für den Erhalt der Arktis, kocht die dänische Regierung auf Sparflamme. Als am 18. Januar in Strassburg Helle ThorningSchmidt ihr Arbeitsprogramm für die 6-monatige dänische Ratspräsidentschaft (1. Halbjahr 2012) vorstellte, machte sich Langeweile breit. Die mittlerweile 4. dänische Rats-
Cornelia Ernst und Søren Søndergard
Sachsens Linke! 3/2012
DIE LINKE im Bundestag
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»Wir sind alle gefordert zu handeln – überall dort, wo Rechtsextremisten versuchen, gesellschaftlichen Boden zu gewinnen.« So steht es in dem gemeinsamen Antrag, den alle Fraktionen des Deutschen Bundestages unter dem Eindruck der Naziterror-Mordserie am 22. November 2011 formuliert und beschlossen haben. Alle Fraktionen, das muss man hier betonen, heißt: auch CDU/CSU, FDP und SPD. Nicht mal drei Monate später hat der Immunitätsausschuss des Bundestages mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP und SPD entschieden, keine Immunität für meine Kollegin Caren Lay und mich herzustellen, weil wir jenen Satz wörtlich genommen hatten: Wir hatten gehandelt, uns den Nazis in den Weg gestellt und uns am 19. Februar 2011 an Blockaden beteiligt, als die Faschisten in Dresden ganz konkret versuchten, gesellschaftlichen Boden zu gewinnen. Nun können wir deswegen von der Staatsanwaltschaft strafrechtlich verfolgt werden. Die Bedeutung der Entschei-
dung des Immunitätsausschusses geht weit über die rechtlichen Konsequenzen für Caren und mich hinaus. Die Entscheidung zeigt, dass den großen Worten der politisch Verantwortlichen keine Taten folgen. Sie kriminalisiert antifaschistisches Engagement und signalisiert allen, die sich den Nazis entgegen stellen, dass sie mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen müssen. Damit stellt sie zugleich eine Ermutigung für die Nazis dar, ihre Aufmärsche gegen friedlichen Protest durchzusetzen. Darüber hinaus legitimiert der Ausschuss die politische Einseitigkeit der Ermittlungen in Sachsen, die sich bevorzugt gegen Abgeordnete der LINKEN richten. Besonders enttäuscht hat mich das Abstimmungsverhalten der SPD. Als einzige Oppositionsfraktion hat sie sich dem Votum der Regierungsfraktionen angeschlossen, obwohl deren Stimmen alleine schon ausgereicht hätten. Dabei ist der Spielraum des Immunitätsausschusses ein anderer als der einer Staatsanwaltschaft. Es ist ja ausdrücklich dessen Aufgabe, neben rechtlichen
auch politische Aspekte zu berücksichtigen. Die Zustimmung der SPD-Mitglieder im Ausschuss, uns keinen Schutz zu gewähren, ist nicht nur geschichtsvergessen, sondern fällt auch den Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in den Rücken, die gemeinsam mit uns und vielen anderen in Dresden gegen die Nazis protestiert haben. Wenn es in diesem Jahr erst-
mals gelungen ist, den ehemals größten Nazi-Aufmarsch Europas bereits im Vorfeld zu verhindern, ist dies nicht wegen, sondern trotz der Haltung der Mehrheit des Bundestages gelungen. Es ist ermutigend, dass am 18. Februar zehntausend Menschen daran mitgewirkt haben, das Motto des Bündnisses Wirklichkeit werden zu lassen: Dresden nazifrei! Auf ein entschlossenes
Rettungsdienste retten chen Daseinsvorsorge sowie für geringere soziale Standards und Entlohnung. Gerade bei Rettungsdiensten darf nicht nur der Preis ausschlaggebend sein, sondern hier geht es auch um die Qualität der Leistung. Rettungsdienste sind Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge und keine Dienstleistungen, deren Vergabe und Angebot nach Marktkriterien zu organisieren sind. Ein Vergabeverfahren darf auch nicht auf Kosten der Beschäftigten gehen. Diese sind gerade im Bereich des Rettungswesen hohen körperlichen und psychischen Belastungen ausgesetzt. Hohe soziale Standards sind daher dringend geboten. Eine Ausschreibung darf auch nicht zu Lohndumping führen. Ein effektives Mittel dagegen wäre die Verankerung von Mindest- und Tariflöhnen im sächsischen Vergaberecht. Notwendig ist zudem eine Novellierung des sächsischen Rettungsdienstegesetz. Das Mindeste wäre eine Regelung,
dass die Absicherung von Großschadensereignissen gewährleistet sein muss. Denn das können die Privaten nicht garantieren. Außerdem sollte der Landtag den betroffenen Kommunen durch die Novelle die Möglichkeit eröffnen, die Rettungsdienste zu rekommunalisieren. Denn das wäre die sicherste Lösung zur Sicherung der vorhandenen Arbeitsplätze mit entsprechend
Sagt mal, SPD und Grüne, …
guter Bezahlung. Das Land Sachsen täte gut daran, die Rekommunalisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge voran zu bringen. Schleswig-Holstein, Hessen und Niedersachsen haben bereits vorgemacht, das dies sogar bei den Rettungsdiensten möglich ist. Caren Lay (MdB, Bundesgeschäftsführerin der LINKEN)
… findet ihr auch, dass Sarrazins Buch »mutig«, der Krieg in Afghanistan »erträglich« und antikapitalistische Proteste »unsäglich albern« sind? Seid ihr auch für die Rente mit 67 und fürchtet, dass Solidarität die Menschen »erschlaffen« lasse? Nein? Dann frage ich mich, warum ihr Joachim Gauck unbedingt als Bundespräsident wollt? Entweder geht es Euch überhaupt nicht um politische Inhalte, sondern nur um machttaktische Spielchen. Oder ihr erkennt Euch in seinen Positionen doch wieder. So oder so: Erzählt bloß nicht hinterher, ihr hättet es nicht gewusst! Michael Leutert, MdB
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Im Landkreis Bautzen sind mehr als 250 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Rettungsdienste von Kündigung oder schlechterer Bezahlung bedroht. Denn nach einem Gerichtsurteil vom August 2011 muss der Landkreis die Rettungsdienste neu ausschreiben. Ein privater Anbieter sah sich von der bisherigen Vergabepraxis benachteiligt und hatte geklagt. Ab 1. Juli 2012 ist nun die europaweite Ausschreibung fällig, dann gleich für mehrere Jahre. Wie schon in Dresden drängen nun auch im Landkreis Bautzen private Mitbewerber auf den Markt und treten in Konkurrenz zu den bisherigen Trägern der Rettungsdienste ASB und DRK. Auch in anderen Landkreisen zeichnet sich eine solche Entwicklung ab. Hintergrund für die anstehenden Ausschreibungen ist die EU-Dienstleistungsrichtlinie, gegen die DIE LINKE bereits bei deren Erlass protestiert hatte. Denn sie öffnete die Tür für die weitere Privatisierung von Leistungen der öffentli-
Handeln politischer Entscheidungsträger gegen Rechts können wir nicht verzichten. Zu viel hängt davon ab. Doch wenn sie versagen, wächst die Bedeutung des gesellschaftlichen Engagements. Um die Nazis zu stoppen und um Druck aufzubauen, damit großen Worten doch noch einmal Taten folgen. Michael Leutert, Sprecher der Landesgruppe Sachsen
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Worte und Taten – Zur Aufhebung meiner Immunität
Geschichte
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Der erste Eindruck ... ist der des Gespenstischen
1952 bot Moskau die deutsche Einheit an
Paul Sethe, konservativer Herausgeber der FAZ, schrieb am 12. März 1952: »Der erste Eindruck bei der Lektüre der sowjetischen Dokumente... ist der des Gespenstischen. Dies also ist möglich? Ist es wirklich noch nicht acht Jahre her, dass das Reich völlig zu Boden geworfen wurde ...? [...] Die Welt hat in den letzten Jahrzehnten mehr als eine plötzliche Wendung der sowjetischen Politik kennengelernt; keine doch war so jäh wie diese«. In der Tat hatte Moskau zwei Tage zuvor die Initiative ergriffen und in Noten an die Westalliierten Verhandlungen zu einem Friedensvertrag in Aussicht gestellt. Deutschland sollte »als (ein) einheitliche(r), unabhängige(r), demokratische(r) und friedliebende(r) Staat in Übereinstimmung mit den Potsdamer Beschlüssen« wieder-
erstehen, ohne Militarismus und Aggression. Der Abzug der Besatzer, demokratische Verhältnisse, Entwicklung der Wirtschaft und eine deutsche Verteidigungsarmee wurden angeboten. Springender Punkt war jedoch die Verpflichtung zur Neutralität. Die sowjetische Wendung hatte einen konkreten Anlass. Die BRD und speziell Adenauer wollten mit den USA endlich das halbe Deutschland fest im Kalten Krieg positionieren. Für den Kanzler war ein Wehrbeitrag der Preis für die Souveränität und auch ein Integrationsprogramm für alte Nazi-Militärs. Endlich überzeugten die USA auch Frankreich, sich diesen Gegebenheiten zu stellen. Im Frühjahr war ein Vertragswerk für eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) spruchreif, aus Moskaus Sicht eine allein gegen sie gerichtete Militärkoalition. Dagegen waren alle Mittel recht, auch die Rückerinnerung an den Rapallo-Vertrag.
Warum sollten nicht auch konservative Politiker, Sozialdemokraten, Liberale sowieso, bereit sein, für die Einheit ihres Vaterlandes solchem Kriegsgeschrei zu widerstehen? Deutsche Kommunisten mussten erfahren, dass für die UdSSR einmal mehr nicht Weltrevolution, sondern eigenes Sicherheitsinteresse dominierte. SED und KPD, letztere bereits vom Verbot bedroht, hätten Federn lassen müssen, auch wenn Moskau sicher von einer eher freundlicheren politischen Lösung im gesamtdeutschen Parlament ausging (In Österreich funktionierte das dann ab 1955). Bis heute streiten Historiker, ob Stalin es ernst meinte, oder ob das Angebot nur Störmanöver oder Bluff war. 1952 wollten ihn manche westliche Diplomaten beim Wort nehmen, auch nicht wenige BRD-Publizisten. Aber so leicht ließen sich Adenauer und die USA ihre Chance für die Westeinbindung
nicht nehmen. Adenauer sah in der Stalin-Note den Beweis für den Erfolg einer Politik der Stärke, und er erklärte am 16. März 1952 vor dem Evangelischen Arbeitskreis der CDU in Siegen: »Seien wir uns darüber klar, dass dort (im Osten) der Feind des Christentums sitzt. Hier handelt es sich nicht nur um politische, sondern auch um geistige Gefahren ... Es gibt drei Möglichkeiten für Deutschland. den Anschluss an den Westen, Anschluss an den Osten und Neutralisierung ... Ein Zusammenschluss mit dem Osten aber kommt für uns wegen der völligen Verschiedenheit der Weltanschauungen nicht in Frage.« Wenig verklausuliert lehnten die Adressaten am 25. März die Vorschläge ab. Es gab weitere Noten, der Ton wurde schärfer, die DDR rief zum »Volkswiderstand« der Westdeutschen gegen das nun als »Generalkriegsvertrag« gebrandmarkte Abkommen der BRD mit den Drei Mächten auf, aber weder Demos noch Noten hielten diesen Vertrag und
das EVG-Abkommen auf (das scheiterte erst an der Pariser Nationalversammlung). Die Zeichen standen nun auf Konfrontation. In der BRD sorgten Koreakrieg, latenter Antikommunismus und vermeintlich wie wirkliche Erfahrungen mit der DDR dafür, dass Adenauers Kurs trug. Für die Sowjetunion und ihre Verbündeten war mit der EVG die Kriegsgefahr in Europa angekommen. Sie alle, nicht zuletzt die DDR, erhielten klare Vorgaben für die Aufrüstung, die Sicherheit an der Westgrenze wurde radikal verschärft. Immerhin, für die SED-Führung um Walter Ulbricht war dies auch der Moment, den alten Traum des Sozialismus auf deutschem Boden umzusetzen, damit Moskau nicht so schnell wieder auf die Idee kam, seine Genossen preiszugeben. Die 2. Parteikonferenz beschloss im Juli den Aufbau der Grundlagen des Sozialismus in der DDR. Stefan Bollinger
werden sollte, erklärt Bahr bis heute, mussten beide Seiten aufeinander zugehen. »Wir mussten uns zunächst einmal dem Osten zuwenden und ihn als vorhanden akzeptieren«. Auch im hohen Alter mischt sich das SPD-Urgestein ein. So solle die SPD bei der nächsten Bundestagswahl keinesfalls auf eine große Koalition setzen, da »die Stabilität unseres Staates davon abhängt, dass die beiden gro-
ßen Parteien sich in der Regierung abwechseln«. Eine Koalition mit der LINKEN sei laut Bahr solange nicht denkbar, »wie diese Partei nicht die internationalen Verpflichtungen Deutschlands, also die UN, EU und NATO akzeptiert. So lange ist sie nicht regierungsfähig«. Einiges Aufsehen erregte auch seine Forderung, die Stasi-Unterlagenbehörde zu schließen, da sie ihr Mögliches zur Aufklärung bereits geleistet habe.
Überhaupt sei die Einrichtung dieser Institution, so Bahr im Interview mit der Berliner Zeitung, ein Fehler gewesen – denn sie stehe der inneren Einheit Deutschlands im Weg. »Solange die ,Aufarbeitung‘ praktisch nur für die ehemalige DDR betrieben wird, vertieft die Behörde die mentale Spaltung unseres Volkes«. Am 18. März feiert der »Architekt der Ostpolitik« seinen 90. Geburtstag. Paul Kühn
Die Ostpolitik der BRD war bis zum Ende der 1960er Jahre konsequent hart. Unter den CDU-Kanzlern Adenauer, Erhard und Kiesinger verhinderten der Alleinvertretungsanspruch der BRD und die darauf aufbauende Hallstein-Doktrin, die andere Staaten von der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur DDR abhalten sollte, jegliches politisches Tauwetter zwischen beiden deutschen Staaten. Die Bundesrepublik strebte danach, die DDR international zu isolieren, und erkannte sie nicht als Staat an. Das änderte sich erst mit dem Machtantritt der sozialliberalen Koalition im Jahre 1969. Fortan setzte man nicht mehr auf Abgrenzung und Verdammung des östlichen Nachbarstaates, sondern auf Verständigung, auf Verhandlungen zur Verbesserung des OstWest-Verhältnisses, was in einer Zeit ständiger Kriegsgefahr auch dringend geboten schien. Der Alleinvertretungsanspruch wurde aufgegeben und die DDR staatsrechtlich (nicht völkerrechtlich) anerkannt. Diese »Neue Ostpolitik« ist untrennbar mit einem großen Namen der SPD verbunden: Egon Bahr. Er formulierte das
Prinzip »Wandel durch Annäherung« und bereitete so den Boden für diplomatische Beziehungen zur DDR. 1922 in Treffurt geboren und seit 1956 SPD-Mitglied, war Bahr einer der wichtigsten außenpolitischen Berater Willy Brandts. Seit 1969 war er Staatssekretär im Bundeskanzleramt und Bevollmächtigter der Bundesregierung in Berlin, somit maßgeblich am Zustandekommen wichtiger Verträge beteiligt. Dazu zählen vor allem der Moskauer Vertrag (1970), der Warschauer Vertrag (1970), das Transitabkommen von 1971 sowie der Grundlagenvertrag zwischen BRD und DDR von 1972/1973. Nicht unerwähnt bleiben darf auch der Prager Vertrag von 1973, der das Münchner Abkommen von 1938 für nichtig erklärte. 1973 traten beide deutsche Staaten den Vereinten Nationen bei. Diese auf Verständigung orientierte Ostpolitik stieß in der BRD auf erbitterten Widerstand der CDU/CSU-Opposition, die um die Westintegration der Bundesrepublik fürchtete und weiterhin eine Politik der starken Hand gegenüber der »Ost-« oder »Sowjetzone« forderte. Wenn das Ziel Wiedervereinigung jedoch erreicht
Foto Bundesarchiv_Bild_183-K1211-0014,_Berlin
Architekt und Urgestein
11. Dezember 1971: Bahr (BRD) und Kohl (DDR) unterzeichnen das Transitabkommen
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Rosa-Luxemburg-Stiftung
Termine Dresden, 7. März, 19 Uhr Vortrag und Diskussion Der neue Elitenrassismus – Wie funktioniert die Methode Sarrazin Mit Jana Werner, Wissenschaftspreisträgerin der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen 2012, Leipzig WIR-AG, Martin-Luther-Straße 21, 01099 Dresden Jana Werner hat untersucht welcher sprachlichen Mittel sich Sarrazin bedient und warum seine umstrittenen Äußerungen eindeutig als rassistisch zu betrachten sind. Zittau, 9. März, 16.30 Uhr Vortrag und Diskussion Die internationalen Beziehungen der Partei DIE LINKE unter besonderer Berücksichtigung des Dreiländerecks Mit Oliver Schröder, Leiter des Bereichs Internationale Politik der Partei DIE LINKE Begegnungsstätte, Äußere Weberstraße 2, 02763 Zittau nochmal in Bautzen, 10. März, 10 Uhr Restaurant »Zum Echten«, Lauengraben 16, 02625 Bautzen Leipzig, 13. März, 19 Uhr Speakerstour Der arabische Frühling - Die Welt im Umbruch? Mit Elham Eidarous Al Kassir, Ägypten, Menschrechtsaktivistin und Massoud Romdhani, Tunesien, Vizepräsident der tunesischen Liga für Menschenrechte Geisteswissenschaftliches Zentrum, Beethovenstraße 15, 04107 Leipzig Sprache: Englisch Dresden, 14. März, 19 Uhr Vortrag und Diskussion Wohin steuert Russland? Was aus dem sowjetischen Staatssozialismus wurde und wird Mit Prof. Dr. habil. Karl-Heinz Gräfe, Historiker und Mitglied der Historischen Kommission bei der Partei Die LINKE WIR-AG, Martin-Luther-Straße 21, 01099 Dresden Die Parlaments- und Präsidentenwahlen Russlands sind Anlass, die folgenden Fragen zu beantworten:
Impressum Links! Politik und Kultur für Sachsen, Europa und die Welt Herausgebergremium: Dr. Monika Runge, Verena Meiwald, Prof. Dr. Peter Porsch, Dr. Dr. Achim Grunke, Rico Schubert Verleger: Verein Linke Kultur und Bildung in Sachsen e.V., Großenhainer Str. 101, 01099 Dresden
- Warum scheiterte die Erneuerungsversuche des sowjetischen Staatssozialismus und der Weltmacht UdSSR? - Welche politische Kräfte tragen die Verantwortung für den Zerfall der Sowjetunion in 15 Staaten und deren kapitalistische Entwicklung? - Ist Russland ein demokratisch kapitalistischer Staat? Wie entwickelt sich der postsowjetische Raum von der Ukraine über Kaukasien bis Zentralasien? Leipzig, 15. März, 19.30 Uhr Buchvorstellung LEIPZIG LIEST »Gegen Nazis sowieso. Lokale Strategien gegen Rechts« mit den Autoren Yves Müller und Benjamin Winkler Das Buch »Gegen Nazis sowieso.« ist als 6. Band in der Reihe »Crashkurs Kommune« im VSA Verlag erschienen Rosa-Luxemburg-Stiftung, Harkortstraße 10, 04107 Leipzig Das Agieren rechter Parteien und Organisationen bedroht das Zusammenleben der Menschen in der Kommune. Doch welche Strategien verfolgen die Rechten dort? Wie nutzen sie kommunale Gremien, Vereine, Jugendeinrichtungen und öffentliche Orte? Und was können wir dagegen tun? Leipzig, 16. März, 18 Uhr Buchvorstellung LEIPZIG LIEST »Eine Reise nach Israel«* Mit Ali Salem, ägyptischer Autor und Träger des Zivilcourage-Preises der Train Foundation und Ruben Schenzle, Übersetzer der deutschen Ausgabe Rosa-Luxemburg-Stiftung, Harkortstraße 10, 04107 Leipzig Ali Salem wurde 1936 geboren. Er gilt als einer der bedeutendsten zeitgenössischen ägyptischen Dramatiker, der in seinen satirischen Stücken Missstände innerhalb der ägyptischen Gesellschaft, vor allem Bürokratie, Korruption und Despotismus scharf attackiert. Die Friedensinitiative Sadats und dessen Reise ins feindliche Israel im Jahr 1977 begrüßte er hingegen von BeNamentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder. Die Redaktion behält sich das Recht auf sinnwahrende Kürzungen vor. Termine der Redaktionssitzungen bitte erfragen. Die Papierausgabe wird in der Lausitzer Rundschau Druckerei GmbH in Cottbus in einer Auflage von 18000 Exempla-
ginn an. Ein großes Maß an Aufmerksamkeit, auch außerhalb Ägyptens, erregte ein bereits 1993 geplantes und im Frühjahr 1994 ausgeführte spektakuläre Unternehmen Ali Salems: Mit seinem eigenen Auto überquert er die Grenze zu Israel und bereist drei Wochen lang das ungeliebte Nachbarland, wo er sich mit Vertreter(inne)n der israelischen Friedensbewegung trifft, an Seminaren an israelischen Universitäten teilnimmt, Vorträge hält, Interviews gibt und als Tourist die Sehenswürdigkeiten des Landes besucht. Leipzig, 17. März, 18 Uhr Buchvorstellung LEIPZIG LIEST PolyluxMarx. Bildungsmaterial zur Kapitallektüre. Erster Band Mit Valeria Bruschi, Antonella Muzzupappa, Sabine Nuss, Anne Steckner, Ingo Stützle Rosa-Luxemburg-Stiftung, Harkortstraße 10, 04107 Leipzig Seit einigen Jahren ist Marx langsam wieder aus der Mottenkiste geklettert. Soziale Verwerfungen im globalen Kapitalismus, die Schwäche herrschender Erklärungsansätze für wirtschaftliche Zusammenhänge und schließlich die seit den 1990ern den Erdball erschütternden Krisen sorgen für eine erneute Beschäftigung mit Marx‘ Gesellschaftsanalyse. Leipzig, 17. März, 20.30 Uhr Buchvorstellung LEIPZIG LIEST »Gegen die Arbeit. Über die Arbeiterkämpfe in Barcelona und Paris 1936– 1938« Mit Lou Marin Rosa-Luxemburg-Stiftung, Harkortstraße 10, 04107 Leipzig Michael Seidman hat Arbeitsverweigerungen während der Spanischen Revolution in Barcelona und der Fabrikbesetzungen in Paris zwischen 1936 und 1938 untersucht. Er hat herausgefunden, dass ArbeiterInnen unter Revolution keineswegs verstanden, aus Begeisterung mehr zu arbeiten, sondern vielmehr weniger
oder gar nicht. Eine brisante Studie gegen die produktivistische Gesellschaftsutopie. Leipzig, 20. März, 18 Uhr Lesung und Gespräch »Chodorkowskij – Mythen, Legenden und andere Wahrheiten« Mit dem Autor Viktor Timtschenko, Journalist und Wirtschaftswissenschaftler, Leipzig Rosa-Luxemburg-Stiftung, Harkortstraße 10, 04107 Leipzig Das Urteil der Öffentlichkeit ist gefallen: Der russische Ministerpräsident Wladimir Putin statuiert an Michail Chodorkowskij ein Exempel, weil dieser es wagte, sich ungefragt in die Politik einzumischen – ein Verhalten, das der erfolgreiche, sozial engagierte Selfmademan nun mit dem Gefängnis bezahlt. Doch ist die Sache so einfach? Dresden, 20. März, 18 Uhr Reihe: Die junge Rosa Der rote Faden der Moral Mit Boris Krumnow, politischer Bildner, Leipzig WIR-AG, Martin-Luther-Straße 21, 01099 Dresden Dürfen Menschen... in den politischen »Hinterzimmern« kungeln, fremdgehen, Tiere töten? Sollen Menschen sich selbst verwirklichen, ein neues Auschwitz verhindern, an sich denken und damit allen anderen nützen, mit allen Mitteln den Kapitalismus bekämpfen? Chemnitz, 21. März, 18 Uhr Vortrag und Diskussion Wohin steuert Russland? Was aus dem sowjetischen Staatssozialismus wurde und wird. Zu den Parlaments und Präsidentenwahlen Mit Prof. Dr. Karl-Heinz Gräfe, Freital Rothaus, Lohstraße 2, 09111 Chemnitz Chemnitz, 22. März, 18 Uhr Vortrag und Diskussion Was ist Linux? Open Source und Freie Software Mit Thomas Winde und Frank Hoffmann Rothaus, Lohstraße 2, 09111 Chemnitz Ziel der Veranstaltung ist einen Einblick in das Thema alternative Betriebssysteme zu geben und die politische gesellschaftliche Idee dahinter
ren gedruckt. Redaktion: Kevin Reißig, Rico Schubert (V.i.S.d.P.) Kontakt: redaktion@linke-bildung-kultur.de Tel. 0351-84 38 9773 Bildnachweise: Archiv, iStockphoto, pixelio
scheint am 29.3.2012. Die Zeitung kann abonniert werden. Jahresabo 10 Euro incl. Versand.
Redaktionschluß: 22.2.2012 Die nächste Ausgabe er-
Internet www.links-sachsen.de
Abo-Service 0351-84389773 Konto: KontoNr. 3491101007, BLZ 85090000, Dresdner Volksbank
Seite 6 aufzugezeigen. Leipzig, 27. März, 18 Uhr Buchvorstellung und Gespräch »Juden in Europa. Historische Skizzen aus zwei Jahrtausenden« Mit Prof. Dr. Wolfgang Geier, Klagenfurt/Leipzig Rosa-Luxemburg-Stiftung, Harkortstraße 10, 04107 Leipzig In acht historischen Skizzen werden Ereignisse und Gestalten der Geschichte des europäischen aschkenasischen und sephardischen Judentums aus zwei Jahrtausenden in der Haggada beschrieben. So die Lage von Judenheiten unter spätrömischen Kaisern und die Entstehung des Judenhasses der Kirchväter, das sephardische Judentum auf der iberischen Halbinsel zwischen dem 8. und 15. Jahrhundert, Wahrnehmungen sephardischer Bevölkerungen und Gemeinden in Reiseberichten über das südöstliche Europa zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert, die Haggada von Sarajevo, demografische Situationen jüdischer Bevölkerungen im östlichen und südöstlichen Europa zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert u.a.m. Dresden, 28. März, 19 Uhr Vortrag und Diskussion Soziale Klassen? Gibt es die noch? Mit Christina Kaindl, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin WIR-AG, Martin-Luther-Straße 21, 01099 Dresden Der Begriff der Klasse stand im Zentrum vor allem der marxistischen Gesellschaftstheorie. Er hatte eine analytische und empirische Funktion: er zielte auf den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit und diente zur Beschreibung von sozialen Gruppen. Vielfach wurden in der marxistischen Tradition daraus Schlüsse über die Subjekte gesellschaftlicher Veränderungen gezogen. Und heute? Gibt es noch Klassen und wenn ja, welche und mit welcher Ausprägung? Oder spielen sich die wichtigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen auf anderen Ebenen und zwischen anderen sozialen Gruppierungen ab? Kann überhaupt noch von einer stabilen Gruppen- oder Klassenzugehörigkeiten ausgegangen werden oder gibt es nur noch Individuen in ständig wechselnden Milieus und sozialen Rollen? Leipzig, 30. März, 20.30 Uhr Lesung und Gesprächcom.dichter Mit Christina Esther Hansen (Lyrik), Florian Stern (Prosa) und Jonathan Böhm (Essay) hinZundkunZ, Georg-SchwarzStraße 9, 04177 Leipzig
Rezensionen
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Über Michail Gorbatschow gehen die Meinungen weit auseinander. Manche meinen zu wissen, dass er sich bereits in seiner Jugend geschworen habe, den Sozialismus abzuschaffen. Nicht wenige, die vor über 20 Jahren noch begeistert »Gorbi, Gorbi« riefen, sind enttäuscht und verbittert, fühlen sich von ihm verraten und verkauft. Die westlichen Medien hofieren ihn, und er redet gern seinen westlichen Gastgebern zu Munde (Was ein anständiger Kommunist nicht tut). »Von der Parteien Hass und Gunst verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte«, heißt es im »Wallenstein« von Friedrich Schiller. Nun schrieb ein ungarischer Marxist ein Buch über den Inkriminierten. György Dalos stützt sich auf ein intensives Quellenstudium. Nach dem Prolog werden Herkunft, Studium, Ehe und der Aufstieg im Partei- und Staatsapparat beschrieben. Es folgt die Schilderung der Reformversuche, die Gorbatschow als Parteiund Staatschef der UdSSR unternahm. Dalos berichtet über die verzweifelte ökonomische Lage, in die das Land nach Jahren der Stagnation, Missernten, mangelnder Innovation sowie Wettrüsten geraten war. Auch in der Außenpolitik hatte Gorbatschow eine Altlast aus der Breschnew-Ära
abzutragen, bemühte sich um Entspannung und lehnte fragwürdige »Bündnisangebote« von Staaten wie Syrien und Libyen ab. Gorbatschows Gegner im Partei- und Staatsapparat machten Front gegen ihn, vor allem die Militärs und Manager in den Rüstungsfabriken, die abgespeckt werden sollten. Frühzeitig gab es Warnungen vor einer nicht mehr zu beherrschenden Situation. Gorbatschow zog daraus die Konsequenz, die Bürden des Bündnisses nicht mehr länger zu tragen. Das verhärtete die Opposition. Alsbald trat Boris Jelzin auf den Plan, ein Demagoge, der unter den Provinzfürsten Verbündete suchte und fand. Gorbatschow proklamierte Glasnost und Perestroika, ein Ende von Zensur und geistiger Bevormundung. Dalos konstatiert: »So entstand zwischen 1985 und 1989 eine unstrukturierte und institutionslose Meinungsdemagogie, vielleicht die lebendigste und pluralistischste der damaligen Welt«. Die Intelligenzija nutzte die neuen Freiheiten, engagierte sich aber nicht für die Durchsetzung der Reformen. Gorbatschow berief sich auf Lenins Geist, die Moskauer Nomenklatura baute ihre Seilschaften aus und die Provinzfürsten forderten nun nationale Unabhängigkeit. Der
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Von der Parteien Hass und Gunst verwirrt
deutsche Imperialismus förderte die Separationswünsche der drei baltischen Republiken durch vorzeitige diplomatische Anerkennung. Wie Schachfiguren fielen die europäischen Verbündeten von Moskau ab. Ausführlich rekonstruiert Dalos das Ende der DDR. Nach der Öffnung des Brandenburger Tors gab es kein Halten mehr. Dalos lässt offen, wer am Ende wirklich für die Öffnung verantwortlich war: War es Sowjetbotschafter Kotschemassow oder der sowjetische Geheimdienstchef Krjutschkow, die den Auftrag gaben? Oder sollte dieses historische Ereignis einzig SED-Politbüromitglied
Schabowski angestoßen haben? Krjutschkow gehörte zu jenen Verschwörern, die Gorbatschows Sturz ermöglichten. Jelzin konnte sich dank der Putschisten zum Herren im Kreml aufschwingen. Er zwang Gorbatschow, öffentlich das Verbot der KPdSU zu verlesen und warf ihn dann aus seinen Amtsräumen. Am 25. Dezember 1991 musste Gorbatschow als Staatspräsident zurücktreten. Die UdSSR zerfiel. Das weitere Leben des Michail Sergejewitsch Gorbatschow wies wenig Würde auf. Zwar verteidigte er zunächst noch Honecker & Co. gegen ei-
ne rachsüchtige Bonner Justiz und protestierte gegen die neuen Kriege des US-Imperialismus. Andererseits verkaufte er sich für Werbespots westlicher Firmen; er benötigte, wie er 2011 in einem Interview erklärte, Geld für sein Moskauer Institut. Glaubt er selbst, was er da sagt? Dalos hat eine eindrucksvolle Biografie verfasst, die Verurteilungen meidet, aber Fehler, Irrtümer und Säumnisse klar benennt. Das Buch dürfte auch jene Sozialisten zum Nachdenken anregen, die in Gorbatschow nur den Verräter sehen und selbstkritische Reflexionen scheuen. Theodor Bergmann
el wohl so um CDU-Wulff: »Es ist nicht Aufgabe der Sozialdemokraten, den Rücktritt Wulffs zu fordern!« Der Zuschauer hört es und denkt, Gabriel? Ist der nicht auch, wie Wulff, wie Schröder, wie Maschmeyer ein Niedersachse? Will sich hier einer selbst retten? Prophylaktisch etwa? Was bedeutet dazu das laute Schweigen der Kanzlerin? Kurz: Ein besseres AufmacherThema als: »Du sollst nicht lügen! Aber warum eigentlich nicht?« als Startheft für ein neues Philosophie-Magazin aus Dresdens Partnerstadt Hamburg konnte es kaum geben. Hohe Luft, das wissen Hamburg-Kenner, ist ein Gebiet in der Hansestadt, wo auch die Redaktion zu Hause ist. Tiefgründiges Denken ist ja nun offenkundig nicht die Lieblingsbeschäftigung der meisten Politiker. Denn wüssten sie, was sie mit ihren Reden anrichten, sie würden wohl öfter schweigen – das betrifft
nicht nur die politisch Engagierten im bürgerlichen Lager. Da kommt so ein Thema – philosophisch von allen Seiten beleuchtet – gerade recht. Um die Problematik klar zu machen, beginnen die raffinierten Hamburger mit einem profanen Einstieg: Die schon auf dem Sterbebett liegende Tante äußert sich besorgt über ihre Goldfische, die freilich längst das Zeitliche gesegnet haben. Aber wer der Angehörigen wird die ohnehin Gebrechliche noch mit der Wahrheit foltern wollen? Hier wird es offensichtlich: Lüge ist nicht gleich Lüge. Es gab und gibt verschiedenen Auffassungen, und das Lügenthema zieht sich durch alle Bereiche: Firmen-, Umwelt- und Militärpolitik bis hin zu intimsten Beziehungsfragen mit dem eigenen Partner. Da gibt es den Brachial-Wahrheitsfanatiker Kant, aber auch den konzilianten Macchiavelli. Nicht ohne war auch Hemingway: »Die Lüge tötet die Liebe. Aber die Aufrichtigkeit tötet sie
erst recht.« Was meinten die alten Griechen dazu? Freilich: Es fehlen die Stimmen von außerhalb des westlichen Kulturkreises, das muss im gerade gestarteten Jahr des Drachens einfach mal gesagt werden. Wo bleibt Konfuzius? Was meinen Islam und Judentum zu der Frage? Vielleicht fehlte der Platz oder das Vorstellungsvermögen der Schreiber, das Leser so viel Genuss bei dem Thema empfinden können, dass es durchaus keine Überdehnung gewesen wäre, hätte jemand den Mut besessen, den Bogen noch weiter zu spannen. Aber – das kann man hoffen – das Thema ist ist einfach zu tragfähig, als dass man es übers Herz bringen könnte, darauf später nicht in der einen oder anderen Form zurückzukommen. Das Philosophie-Magazin für alle soll alle zwei Monate erscheinen. Es kostet 8 Euro und ist im Internet zu finden unter www.hoheluft-magazin.de Ralf Richter
Politik und Lüge »Hohe Luft« – ein neues Magazin aus Hamburg macht Lust auf philosophisches Denken Am besten sind die Wahlkämpfe, die der Gegner für einen führt: »Wir haben gelogen – früh, mittags und am Abend. Wir haben einfach immer gelogen.« Das sagte der sozialdemokratische Ex-Staatschef Ungarns Ferenc Gyurcsany unvorsichtigerweise in einem Telefonat, das mitgeschnitten wurde. Beim nächsten Wahlkampf brauchte dann die Opposition nur noch Lautsprecher aufzustellen oder mit dem Lautsprecher-Wagen durch die Straßen zu fahren. Das reichte. Kein Oppositionspolitiker brauchte sich noch selbst zu profilieren. Die Regierungspartei war bis auf die Knochen gedemütigt, und wer heute die
Macht der konservativen FIDESZ und Viktor Orbans beklagt, der sollte auch daran denken, durch welche Politik er spielend an die Macht gekommen ist. Die einstige Regierungspartei war schlicht unwählbar geworden. Ihre Anhänger blieben beschämt zu Hause und die Opposition ging triumphierend in die Wahlkabinen. Ohne Frage: Politik und Lüge sind überall auf der Welt beherrschende Themen. Unser Gutti und nun unser Wulffi – alles Lüge! Doch ist es so schlimm und mittlerweile so umfassend sumpfig – der tiefe Niedersachsensumpf, in dem jeder mit jedem kungelt und selbst die Baden-Württemberger mit Oettinger drinhängen –, dass eine wirkliche umfassende Aufklärung vermutlich das komplette Parteien- und Wirtschaftssystem der Bundesrepublik beim Demokratie-restgläubigen Bürger komplett diskreditieren würde. Deshalb sorgt sich SPD-Gabri-
Kultur
ACTA ad acta!
Welche Meldungen! Mehrere Zehntausende, vor allem junge Menschen, seien am 11. Februar in Deutschland auf die Straße gegangen. Je nach Medium konnte man auch von Hunderttausend Demonstranten lesen. Noch bevor der europaweite Protesttag stattfand, las man hier und da von vorsichtigem Erfolg. Polen würde ACTA vorerst nicht unterzeichnen, Tschechien und die Slowakei ebenso, Lettland und am Ende eben auch Deutschland. Die Ratifizierung des internationalen Handelsabkommens würde vorerst nicht stattfinden. ACTA ist dabei ein seltsames Akronym, welches für Anti-Counterfeiting Trade Agreement steht, also ein Handelsabkommen gegen Produktpiraterie. Ein undurchsichtiges Vertragswirrwarr, welches vor allem hinter verschlossenen Türen ausgearbeitet wurde. Dass die Großen der Unterhaltungsbranche hier massive Lobbyarbeit ausübten, ist ein allenfalls offenes Geheimnis. Im Großen und Ganzen würde es z. B. im Internet spürbare Auswirkungen haben. Denn das heute so beliebte Anschauen, Hören und Herunterladen von Musik und Videos wäre dann nicht mehr so einfach möglich. Denn die Internetprovider, also die, die den Zugang ins Internet überhaupt ermöglichen, sollen für die Handlungen ihrer Nutzer haftbar und verantwortlich gemacht werden. In ihrem eigenen Interesse müssten sie
dann den Datenverkehr eingehend überwachen. ACTA geht aber noch viel weiter. Auch die Verwendung sogenannter Generika, also wirkstoffgleiche Medikamente, die schon unter (teurem) Namen auf dem Markt sind, würde mittels ACTA weiter eingeschränkt werden. Die Verwendung von Medikamenten gegen Aids, z. B. in afrikanischen Ländern würde teurer und schwieriger werden. Dabei steht ACTA in einer Reihe von Abkommen, die in den letzten Jahren getroffen wurden oder zumindest angedacht waren. Prinzipiell regelt die »Welt der Patente« und deren Durchsetzung schon TRIPS (Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte am geistigen Eigentum), das aber zumindest Möglichkeiten offen lässt, was eben z. B. gerade genannte Generika angeht. ACTA hätte dies zementiert. Auch in den USA speziell gab es in den letzten drei Monaten glühende Proteste und Debatten über zwei Gesetzesvorhaben namens SOPA und PIPA. Auch hier sollte die Freiheit im Internet zugunsten von Rechteinhabern (also der Unterhaltungsbranche) eingeschränkt werden. Teils mit drakonischen Strafen, selbst bei »leichten« Vergehen, wie das Vergessen einer Namensnennung bei Fotos. Der Sturm der Entrüstung, der im Winter zur 24-stündige Abschaltung großer populärer amerikanischer Webseiten (z. B. Wiki-
tranzyt. Literatur aus Osteuropa Prosa und Lyrik, Gesellschaftspolitik und Fußball, Diktatur und Demokratie – die Literaturszenen in Polen, der Ukraine und Belarus versprechen neue Namen, spannende Themen und bewegende Geschichten. Zur Leipziger Buchmesse präsentieren vom 15. bis 18. März junge Wilde und preisgekrönte Routiniers erstmals den Programmschwerpunkt »tranzyt. Literatur aus Polen, der Ukraine und Belarus«. »Mit ‚tranzyt’ wollen wir gemeinsam mit unseren Partnern den Blick auf diese weitgehend unbekannten Literatur-Landschaften schärfen«, meint Oliver Zille, Direktor der Leipziger Buchmesse. Wie gehen Schriftsteller mit den historischen Ereignissen und den teils dramatischen, politischen Entwicklungen um? Welche Aufgaben kom-
men Autoren und Künstlern in der Diskussion über die Zivilgesellschaften gegen einen alles beherrschenden Staat zu? Wie können die Künstler als Kreative jenseits der jeweiligen Landespolitik wahrgenommen werden? Unterscheiden sich Prosa oder Lyrik aus diesen drei Ländern voneinander oder vom Rest der Welt? In 20 Veranstaltungen geben 32 Autoren aus Polen, der Ukraine und Belarus Antworten auf diese Fragen. Dazu gehören Joanna Bator, Sylwia Chutnik, Piotr Siemion und Andrzej Stasiuk aus Polen sowie Swetlana Alexijewitsch und Alhierd Bacharewitsch aus Belarus. Insgesamt 2.780 Autoren und Mitwirkende in 2.600 Veranstaltungen kommen zu Europas größtem Lesefest »Leipzig liest« nach Leipzig.
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Platz für den Adressaufkleber
pedia) führte, hatte aber Erfolg. SOPA und PIPA stehen vorerst nicht mehr zur Debatte. Im Moment weht der Wind auch scharf gegen ACTA, das
Bild: Wikimedia Commons
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im Gegensatz zu diesen nationalen Vorstößen ein weltweit gültiger Vertrag sein soll. Ob sich das Blatt noch einmal für ACTA wendet, ist dabei im Moment schwer abzusehen. Jedenfalls hat ACTA einmal
mehr gezeigt, dass Mobilisierung im Internet immer größere Ausmaße erreicht und eben auch genutzt wird. Vorbei die Zeit, in der das Netz ein seltsames neues Medium war, dass niemand so richtig verstand‘.
Heute streiten dessen Nutzer für die Freiheit und Unabhängigkeit - gegen Überwachung und Zensur. Und gehen dafür nun auf die Straße. Richtig so! Gregor Henker
Geld ist Leben Ach, was wäre die Linke ohne Brecht und Eisler! Fraglos vorhanden, aber wohl nicht so bunt und belebt. Musik stiftet Identität, und die politische Linke kann stolz sein auf ein riesiges Kaleidoskop an eigenem Liedgut, das sie menschlicher, emotionaler und zuweilen grimmiger wirken lässt als die oft kalten Technokraten der Gegenseite. Großen Anteil haben die beiden eingangs Erwähnten, die uns – der eine dichtend, der andere komponierend – mit zahlreichen immerfort aktuellen (Kampf-) Liedern ausstatteten. Denken wir etwa an Anmut sparet nicht noch Mühe, das prächtig als deutsche Nationalhymne geeignet wäre, an das Einheitsfrontlied, oder an den herrlich bissigen Kälbermarsch, die demaskierende Verballhornung des faschistischen Horst-Wessel-Liedes.
Ein solches Werk entstand auch 1933, als Eisler Brecht im dänischen Exil besuchte. Es kündet »von der belebenden Wirkung des Geldes« und ist heute vor allem durch die Interpretation von Gisela May bekannt. Man fühlt sich davon unweigerlich an jene Tragödie erinnert, die sich gerade in Europa abspielt: Die schleichende Kolonialisierung Griechenlands, angeführt von Merkel und Sarkozy. Eine ganze Volkswirtschaft verkümmert schrittweise, haucht ihr Leben aus – warum? »Ach, sie gehen alle in die Irre/Die da glauben, dass am Geld nichts liegt./ Aus der Fruchtbarkeit wird Dürre/Wenn der gute Strom versiegt«. Trocken ist er schon lang, der Strom, das Damoklesschwert der Staatspleite schwebt über dem ganzen Land. Mehr noch: Unter dem Druck der EU wird der Sozial-
staat abgewickelt, Kaufkraft zerschlagen, öffentliches Eigentum verscherbelt. Krawalle werden häufiger: »Vater, Mutter, Brüder: alles schlägt sich! Sehet, der Schornstein, er raucht nicht mehr!«. Die Folgen spüren die Griechen hart: »So ist‘s auch mit allem Guten und Großen. Es verkümmert rasch in dieser Welt./Denn mit leerem Magen und mit bloßen/Füßen ist man nicht auf Größe eingestellt«. Die Griechen aber brauchen die Wiederbelebung, und das geht nicht ohne Geld. Die Troika aus EU, IWF und EZB darf sie nicht weiterhin daran hindern, eigenes zu verdienen – fremdes Kapital macht abhängig. Für die Griechen ist die Welt derzeit jedenfalls »eine kalte Welt«, wie Brecht und Eisler wohl dazu sagen würden. Und aus Kälte folgt Erstarrung. Kevin Reißig